Kolumbien | Nummer 589/590 - Juli/August 2023

Petro setzt auf die Straße

Kolumbiens Linksregierung ist in der Defensive und künftig noch stärker auf soziale Bewegungen angewiesen

Am 7. August jährt sich der Amtsantritt der ersten linken Regierung Kolumbiens. Heute sieht sich Präsident Gustavo Petro zunehmenden Angriffen von rechts ausgesetzt. Seine Koalition ist auseinandergebrochen, wichtige Reformvorhaben stocken. Angesichts fehlender Mehrheiten im Parlament setzt die Regierung auf die Unterstützung sozialer Bewegungen. Gleichzeitig machen die Friedensverhandlungen mit der ELN-Guerilla Fortschritte.

Von Frederic Schnatterer

Nationaler Entwicklungsplan vorgestellt Präsident Gustavo Petro auf der Plaza Núñez in Bogotá (Foto: Departamento Naional de Planeación via Flickr , CC BY 2.0)

Das hollywoodreife Happy End der Rettung von vier indigenen Kindern kam für Kolumbiens Präsidenten Gustavo Petro wie gerufen. Anfang Juni wurden die Vermissten im Amazonasregenwald nach der intensiven Suchaktion „Operation Hoffnung“ gefunden, äußerlich unverletzt. 40 Tage zuvor, am 1. Mai, war die Propellermaschine abgestürzt, in der sie sich in Begleitung ihrer Mutter befanden. Die Geschwister – ein Junge und drei Mädchen im Alter von einem bis 13 Jahren – überlebten als einzige Passagiere inmitten des fast undurchdringlichen Dschungels. Petro, der die gute Nachricht per Twitter verkündete, erklärte euphorisch gegenüber der Presse: „Heute haben wir einen magischen Tag erlebt, voller Freude.“ Die Geretteten bezeichnete er als „Kinder Kolumbiens“.

Die Rettung ist für den Präsidenten eine der wenigen Erfolgsmeldungen der vergangenen Wochen. Seine Regierung befindet sich nach etwas weniger als einem Jahr im Amt in einer Krise. Dies wird besonders an den stockenden Reformvorhaben deutlich. Weder das Gesundheits- noch das Rentensystem konnten bisher verändert werden. Ebenso wenig geht es bei der Arbeitsreform voran, deren vorläufiges Scheitern Petro am 20. Juni per Twitter als „sehr ernst“ bezeichnete. Die Ablehnung durch das Parlament zeige, „dass der Wille zum Frieden und Sozialpakt bei den Mächtigen in der Wirtschaft nicht vorhanden ist. Die Kapitaleigner und die Medien haben es geschafft, den Kongress gegen die Würde der arbeitenden Bevölkerung in Stellung zu bringen.“

Petro hatte sein Amt im August des vergangenen Jahres mit großen Plänen angetreten. Laut Wahlprogramm will seine Regierung soziale Ungerechtigkeiten, Rassismus und andere Diskriminierungsformen bekämpfen, das Gesundheits-, Bildungs- und Rentensystem verbessern, die Umwelt schützen und aus der Förderung fossiler Energieträger aussteigen. Zudem soll dem vom jahrzehntelangen bewaffneten Konflikt gebeutelten Land endlich zu Frieden verholfen werden. Um das weitreichende Programm anzugehen, schmiedete Petros Parteienbündnis Pacto Histórico eine Koalition, der auch Vertreterinnen der sogenannten Mitte und Konservative angehörten. Der Pacto Histórico selbst verfügt nur über rund 25 Prozent der Sitze im Parlament.

Doch lange hielt die Regierungskoalition nicht. Ende April kündigte Petro das Bündnis auf, nachdem der Streit um die geplante Gesundheitsreform eskaliert war. Umsetzen konnte die Linksregierung bis dahin vor allem zwei große Vorhaben: Im November des vergangenen Jahres stimmte das Parlament der Steuerreform zu. Laut dem damaligen Finanzminister José Antonio Ocampo ist diese die „progressivsten Steuerreform der Geschichte Kolumbiens“. Die Neuregelung sieht unter anderem eine stärkere Besteuerung Vermögender und von Konzernen, die fossile Brennstoffe fördern, vor. Sie erzeugte heftigen Widerstand, der bis heute in Form von Verfassungsklagen anhält. Ebenfalls im November 2022 schuf die Legislative mit dem „Gesetz für den totalen Frieden“ die Basis für weitreichende Friedensverhandlungen mit unterschiedlichsten bewaffneten Akteuren im Land.

Dass Petro die Regierungskoalition platzen ließ, wurde von Beobachterinnen gemeinhin als „Radikalisierung“ des Präsidenten interpretiert. Statt Kompromisse zu suchen, wolle Petro zukünftig mit ihm politisch Nahestehenden regieren, hieß es. Die spanische Tageszeitung El País schrieb am 26. Juni, also zwei Monate nach Beendigung der Koalition, der Staatschef habe seinen Diskurs „radikalisiert“, „die Linke“ ins Kabinett geholt und „die Basis mobilisiert“, während er zu Beginn seiner Amtszeit noch „versöhnlich“ auf Verhandlungen gesetzt habe. Tatsächlich tauschte Petro gleich sieben Ministerinnen aus. Die neu nominierten Ressortchefinnen gelten als Vertraute des Präsidenten. Begleitet wurden die Veränderungen im Kabinett von Appellen Petros an die Basis, ab sofort verstärkt die Unterstützung seiner Regierung zu mobilisieren. Er erklärte, seine Regierung werde die „sozialen Reformen des Wandels“ durchsetzen. Dafür sei unter anderem eine Bauernbewegung notwendig, „die sich in Würde erhebt“.

In Kolumbien wird immer deutlicher, dass die Regierungsmacht nicht automatisch bedeutet, auch über die Macht im Land zu verfügen. Von Beginn an war Petro den Angriffen der Rechten ausgesetzt, die diese mittlerweile verstärkt hat. Seit Ende Mai warnt der Präsident vor der Möglichkeit eines „sanften Putsches“ gegen ihn. Auch fast 400 internationale Politikerinnen und Intellektuelle unterzeichneten einen offenen Brief, in dem sie vor der Gefahr eines Staatsstreichs in Kolumbien warnen. In dem Anfang Juni veröffentlichten und von der „Progressiven Internationale“ initiierten Schreiben heißt es: „Die traditionellen Mächte des Landes setzen die geballte institutionelle Macht der Regulierungsbehörden, der Medienkonglomerate und der Justiz des Landes ein, um die Reformen (der Regierung Petro, Anm. d. Red.) zu stoppen, ihre Unterstützenden einzuschüchtern, ihre Führung zu stürzen und ihr Image auf der internationalen Bühne zu diffamieren.“

Den Kräften hinter den Angriffen gehe es darum, „eine Ordnung wiederherzustellen, die von extremer Ungleichheit, Umweltzerstörung und staatlich geförderter Gewalt geprägt ist“, heißt es weiter in dem offenen Brief. Konkret werden das Büro der Generalinspektion unter der Leitung von Margarita Cabello und die Generalstaatsanwaltschaft unter der Leitung von Francisco Barbosa genannt, die „aktiv Mitglieder des Pacto Histórico ins Visier“ nähmen. Derzeit laufen mehrere Verfahren gegen Politikerinnen des Pacto Histórico, zum Beispiel gegen den Senator Wilson Arias. Cabello, Justizministerin unter dem rechten Expräsidenten Iván Duque, versucht Arias aus dem Senat zu entfernen. Sie wirft ihm vor, der Senator habe sich während der Protestwelle 2021 gegen Polizeigewalt ausgesprochen.

Juristische Angriffe und mediale Schmutzkampagne gegen Petro

Begleitet werden diese juristischen Angriffe von einer Schmutzkampagne gegen die Regierung, bei der die Medien eine fundamentale Rolle spielen. Besonders aktiv ist die weit nach rechts abgedriftete Wochenzeitschrift Semana, die (vermeintliche) Skandale direkt konstruiert. Andere Themen wie kompromittierende Aussagen ehemaliger Paramilitärs über Verstrickungen des Staates in schwerste Menschenrechtsverletzungen, die Reformpläne der Regierung oder die Friedensverhandlungen mit der größten noch aktiven Guerillaorganisation „Nationale Befreiungsbewegung“ (ELN) werden hingegen unterschlagen. Auf die Kritik Petros an der diffamierenden Berichterstattung reagieren Vertreterinnen rechter Medien mit lautem Gezeter, die Pressefreiheit sei in Gefahr. Angesichts der fehlenden Durchsetzungsfähigkeit im Parlament versuchen Petro und sein Pacto Histórico auf der einen Seite, Verbündete für einzelne Vorhaben in anderen Parteien zu gewinnen. Auf der anderen Seite setzen sie wegen der zunehmenden Angriffe von Rechts auf die Unterstützung der Straße. Am 7. Juni rief der Präsident zu Massendemonstrationen „zur Verteidigung des Reformkurses“ der Regierung auf. Gegenüber dem Fernsehen erklärte er, der Kongress solle wissen, „dass die vorgelegten Reformen keine Laune des Präsidenten der Republik sind, sondern die Wünsche und der Lebenswille des gesamten kolumbianischen Volkes“. Zudem rief er die Bevölkerung dazu auf, „Volksversammlungen“ (asambleas populares) einzuberufen um die Regierungsvorhaben zu diskutieren – ein Vorschlag, der von der rechten Presse in antikommunistischer Manier als „radikal“ diffamiert wurde.

Gerade die Friedensverhandlungen mit der ELN könnten der Regierung die Möglichkeit bieten, ihre Verankerung in der Gesellschaft zu stärken. Am 9. Juni unterzeichneten Petro und Vertreter nnen der Guerilla in der kubanischen Hauptstadt Havanna einen sechsmonatigen bilateralen Waffenstillstand – wodurch sich der Präsident dazu hinreißen ließ, ein Ende des bewaffneten Konflikts für das Jahr 2025 zu prophezeien. Obwohl der Waffenstillstand offiziell erst am 3. August in Kraft treten sollte, kündigten sowohl das Zentralkommando der Guerilla als auch die Regierung an, bereits ab dem 6. Juli auf offensive Aktionen zu verzichten. Mehrere militärische Scharmützel zwischen ELN und kolumbianischen Streitkräften Ende Juni und Anfang Juli zeigen jedoch, dass die bilaterale Waffenruhe kein Selbstläufer werden wird. Am 10. August sollen die Friedensverhandlungen in der venezolanischen Hauptstadt Caracas mit der vierten Runde fortgesetzt werden.

Deutlich weniger Beachtung in der Presse fand das ebenfalls am 6. Juni unterzeichnete Abkommen über die Beteiligung der kolumbianischen Zivilgesellschaft an den Verhandlungen, was besonders der Guerilla im Friedensprozess von Beginn an ein zentrales Anliegen war. Die Übereinkunft sieht vor, dass am 25. Juli ein Nationales Komitee für die zivilgesellschaftliche Beteiligung einberufen wird, das aus Vertreter*innen ethnischer Gruppen, Gewerkschaften, sozialer Bewegungen und anderer Organisationen und Institutionen besteht. Es soll Vorschläge aus der Bevölkerung sammeln und systematisieren, um diese anschließend in die Verhandlungen einbringen. Ziel ist es, „die Ursache für den politischen, sozialen, ökologischen und bewaffneten Konflikt zu identifizieren und zu untersuchen, um umfassende Lösungen zu formulieren“. Nimmt die Regierung diese Vorschläge ernst, könnte die Unterstützung durch soziale Bewegungen weiter wachsen. Angesichts fehlender parlamentarischer Mehrheiten braucht sie diese in Zukunft noch mehr.

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