Einfacher Zugang zu schwerem Stoff

Lobby für Geschichtsrelativierung Dank dieser Herren erwarten Diktaturverbrecher in Chile oft nur milde Strafen (Bild aus Anticristo)

Bis heute ist die Vergangenheit der Militärdiktaturen der 1970er und 80er Jahre in Südamerika keinesfalls passé. So auch die zivil-militärische Diktatur in Chile zwischen 1973 und 1990: Viele Verbrechen, die in dieser Zeit begangen wurden, bleiben bis heute straflos. Der chilenische Zeichner Javier Rodríguez stellt in seinem Werk Anticristo heraus, wie unfassbar und verstörend es ist, dass viele Täter bis heute unbehelligt bleiben oder mit milden Strafen davonkommen. „Mit einem verzerrten und relativierenden Menschenrechts- und Geschichtsverständnis sowie unablässiger Lobbyarbeit im Kongress haben militärnahe Interessensgruppen versucht, es vielen der für Verbrechen gegen die Menschlichkeit inhaftierten Terroristen zu ermöglichen, ihre Strafe im Pflegeheim, im Krankenhaus und sogar bei sich zuhause zu verbüßen“, berichtet Rodríguez.

Die Aufarbeitung bleibt schwierig, denn die heutigen Gesellschaften sind nach wie vor gespalten. Filme und literarische Werke haben sich den schmerzlichen Geschichtskapiteln angenommen, manche fiktional, andere dokumentarisch. Auch in Comics machen sich Autor*innen und Zeichner*innen seit einigen Jahren erfolgreich daran, die Erinnerung an die Menschenrechtsverbrechen der Militärdiktaturen aufrecht zu erhalten.

Von Menschen, die sich damals nicht den Zuständen beugten, handelt die chilenische Graphic Novel Historias clandestinas. Was bedeutete es vor und nach dem Putsch 1973 gegen Allende, das eigene Leben für das Projekt eines anderen, gerechteren Chile zu riskieren? Um diese Frage dreht sich der Comic, der von den Geschwistern Sol und Ariel Rojas geschrieben und gezeichnet wurde. Sie schildern eindrucksvoll, wie sie als Schulkinder nach außen hin einer ganz normalen Familie anzugehören schienen – während ihre Eltern unter dem Schuppen im Garten verfolgte Mitstreiter*innen versteckten und Flugblätter und linke Schriften herstellten. Auf der Comicmesse 2023 in San Diego erzählt Ariel Rojas: „In dieser Graphic Novel sind wir beides: Autor*innen und Protagonist*innen unserer eigenen Geschichte. Und darum hat diese nichts von Fantasy, von Hollywood. Nichts von einer kühlen akademischen Intellektualisierung. Es ist die wahre Geschichte einer Familie, die während Pinochets Diktatur im Untergrund lebte, in einem sogenannten sicheren Haus, zehn Jahre lang.“ Das Haus habe Normalität vorgetäuscht. Für die Familienmitglieder habe das bedeutet, von vielen Dingen nichts mitzubekommen – aus Sicherheitsgründen. „Unsere individuellen oder persönlichen Erfahrungen sind wie eine Blaupause für die politischen und historischen Ereignisse in Chile und Lateinamerika in der Zeit der Militärdiktaturen. Unsere Erlebnisse und Stimmen stehen für tausende von Chilen*innen und Lateinamerikaner*innen.“

Die Perspektive von Kindern, die zwischen 1976 und 1983 in Argentinien Opfer der Militärdiktatur wurden, vermittelt der dokumentarische Comicband La niña comunista, el niño guerrillero von María Giuffra. Damit keine Zweifel aufkommen, steht „100 % Testimonial“ („100 Prozent Zeugenaussage“) im Untertitel des Bandes. Er versammelt erschütternde Berichte von zehn Interviewpartner*innen, die noch Kinder waren, als die Militärs Gräueltaten an ihren Familien verübten. „Ich erinnere mich, dass mir eine Flüssigkeit ins Gesicht spritzte, aber ich erinnere mich nicht, ob der Schuss ins Bein mir wehtat. Mein Gesicht blieb auf das Kinderbett vor mir gerichtet, ich sah Marcela und Adolfo schreien und heulen. Dann: ein Poltern gegen die Tür und hineinstürmten … ‚Soldaten‘, so dachte ich“, erzählt eine Zeitzeugin darin, sie war die Älteste von mehreren Geschwistern.

Unkommentiert dokumentiert Giuffra das Erlebte und findet in einer freien, drastischen wie poetischen Bildsprache in schwarz-weiß eine Form der Darstellung des Grauens. Doch auch letzte schöne Erinnerungen an die früh verlorenen Eltern hält der Comicband fest, denn sie sind essenziell für die Identität der Betroffenen. Viele Kinder von Desaparecidos – den gewaltsam Verschwundengelassenen – wurden zur Erziehung in Familien von Militärs gegeben.

Viele Oppositionelle wurden im Geheimgefängnis in der Marineschule ESMA in Buenos Aires gefoltert und ermordet. Juan Carrá und Iñaki Echeverría versuchen mit ihrer gleichnamigen Graphic Novel ESMA der jüngeren Generation die Geschehnisse der argentinischen Diktatur zu vermitteln. Dieser Comic wird in argentinischen Schulen im Unterricht verwendet.
Was Comics für die Vermittlung komplexer historischer Ereignisse so stark macht, liegt im Vorführen von dokumentarischem Material, persönlichen Erfahrungen und Alltagsgeschichten, die durch die visuelle Komponente anschaulich werden. Die realitätsnahen Figuren oder historischen Persönlichkeiten, die in den Zeichnungen lebendig werden, ermöglichen den Lesenden einen leichten Zugang zu den meist schweren Stoffen. So auch bei dem Comic ¡Ese maldito Allende! von Olivier Bras und Jorge González, das sich mit der chilenischen Militärdiktatur befasst und im Original auf Französisch erschien. Ein Einblick, Santiago de Chile im Jahr 2000: Victoria, französische Journalistin und Olivier, Exilchilene der zweiten Generation sowie Ich-Erzähler, nehmen ein Taxi. Beim Small Talk mit dem Fahrer Eduardo stellt sich heraus, dass seine Passagiere nicht als gewöhnliche Urlauber*innen im Land sind, sondern aus Interesse an Geschichtsaufarbeitung. Ihr Fazit: „Wir konnten spüren, dass das Thema noch immer das Land spaltet. Bei den Opfern des Putsches bleiben offene Wunden.“ Der Fahrer zögert, bevor er erwidert: „Nicht nur bei den Opfern.“ Er vertraut ihnen an, dass er 1973 gerade seinen Wehrdienst machte, als es zum Putsch kam. Er war Krankenwagenfahrer und musste Leichen zum Mapocho-Fluss bringen. „Es waren Männer, Frauen, Kinder. Viele Leichen wurden nie gefunden. Die Angehörigen haben nie erfahren, was mit ihnen passiert ist“. Die Ampel ist rot. Ein Bild bleibt weiß. Es wird grün, doch das Auto fährt nicht. Eduardo weint am Steuer. „Die Toten verfolgen mich. Ich lebe mit der Angst, irgendwann für das alles belangt zu werden. Aber ich musste es unbedingt einmal jemandem sagen.“

Die Szene geht unter die Haut. Sie zeigt auch, dass das Erinnern kollektiver Traumata wie den Militärdiktaturen Südamerikas ein heikles Thema ist. Gerade daher gehört die Beschäftigung mit memoria histórica – dem historischen Gedächtnis – und Menschenrechten in Chile inzwischen landesweit zum Schullehrplan.

Rodrigo Elgueta ist Kunstlehrer, Comiczeichner und jemand, der genau dafür in chilenische Schulen eingeladen wird. Im Interview mit npla erzählt er: „Die Lehrer*innen leisten wichtige Arbeit, was die Vermittlung unseres historischen Gedächtnisses angeht.“ Die Lehrkräfte brächten den Kindern bei, wie wichtig es ist, über die entscheidenden Momente der chilenischen Geschichte Bescheid zu wissen. Graphic Novels als zugängliche Lehrmittel spielten dabei eine wichtige Rolle, meint Elgueta, „denn den Lehrenden ist klar, dass es an ihnen hängt, eine Brücke von den Ereignissen von vor drei bis fünf Jahrzehnten für die heutige Generation zu schlagen, die von den eigenen Eltern oft nichts davon erfährt.“
Denn je mehr Zeit vergeht, desto weniger verankert ist das Wissen über die sozialistische Regierung Salvador Allendes und den Putsch 1973 in der Bevölkerung. Gemeinsam mit dem Comicautor Carlos Reyes schuf Rodrigo Elgueta die Graphic Novel Los años de Allende über die Ereignisse Anfang der 1970er Jahre in Chile (Die Jahre von Allende). Sie erzählen aus Sicht des US-amerikanischen Journalisten John und seiner chilenischen Freundin Claudia. Farblich ist der Comic in schwarz-weiß gehalten, mit Graustufen. Die Zeichnungen sind realistisch, sie greifen Pressefotos und Filmmaterial auf. Das Buch steht als einzige Graphic Novel auf der Liste der empfohlenen Schullektüren, freut sich Elgueta. Ob sie im Unterricht tatsächlich genutzt werde, sei jedoch sehr abhängig von der jeweiligen Lehrkraft.

Eine weitere Graphic Novel zum Putsch 1973 und den Folgen ist El Golpe von Nicolás Cruz und Quique Palomo. Sie beginnt mit Szenen der studentischen Proteste in Santiago 2011, auf die mit brutaler Polizeigewalt reagiert wurde. Über die Konfrontation der jungen Chilen*innen mit der Elterngeneration, die sie für die Misere verantwortlich machen und denen sie Konformismus vorwerfen, schlagen die Autoren eine Brücke zu den Erlebnissen der Eltern in den 1970er Jahren. Cruz und Palomo arbeiten ebenfalls mit Zeichnungen in Graustufen und bringen Originalzitate und historisches Material, wie collageartig in die Bilder eingearbeitete politische Plakate und Fotos. Allerdings: El Golpe hebt den Aktivismus hervor, den gesellschaftlicher Wandel braucht – damals wie heute. Dass solche Erfahrungen im Medium Comic Ausdruck finden und diese in der Bildungsarbeit aufgegriffen werden, ist eine positive Entwicklung. Denn nicht zuletzt ist Aufklärung extrem wichtig, um den aktuellen ultrarechten Tendenzen mit ihrer Geschichtsverzerrung entgegenwirken zu können.

“Diese Verfassung ist schlimmer und gefährlich”

“Für meine Oma, für meine Mama, für meine Schwester” Feministischer Demonstrationszug am 8. März 2022 auf der Alameda in Santiago (Foto: Josefa Jiménez)

Die feministische Bewegung gehörte zu den ersten Akteur*innen, die sich gegen die neue Verfassung ausgesprochen haben. Warum? Was war der entscheidende Moment?
Wir haben von Anfang an kritisch auf bestimmte Aspekte hingewiesen. Zuerst einmal darauf, dass alle sozialen Bewegungen von diesem Ver­fassungs­­­prozess ausgeschlossen waren. Der Prozess wurde von jenen politischen Kräften getragen, die in den vergangenen 30 Jahren das neoliberale System verwaltet und während der sozialen Revolte breite Ablehnung erfahren haben. Er sah keine Geschlechter­parität vor, keine reservierten Sitze für Indigene. Er war in gewisser Weise das Gegenteil des ersten verfassung­gebenden Pro­zesses und eine fast schon strafende Antwort darauf. Das war das erste Alarmsignal. Zum zweiten Mal schlugen wir Alarm, als mit der Republikanischen Partei eine ultrarechte und neoliberale Kraft eine Mehrheit im Verfassungsrat gewann. Das dritte Alarmsignal war für uns das Ergebnis ihrer Arbeit im Verfassungsrat.

Welches sind – aus feministischer Perspektive – die kritischsten Punkte des Textes?
Wir sehen darin Verfassungsnormen, die unsere Leben als Frauen in Gefahr bringen und unsere Lage sogar verschlechtern würden. Zum Beispiel die Norm, die das Recht auf Abtreibung in drei Fällen in Gefahr bringt. Eine weitere Verfassungsnorm könnte das sogenannte Papito Corazón-Gesetz außer Kraft setzen. Das Gesetz ist erst im Mai 2023 in Kraft getreten und ermöglicht es dem Staat, unterhaltspflichtige Personen – in Chile sind das zu 95 Prozent Männer – dazu zu bringen, ihrer Verantwortung nachzukommen. Das Gesetz ist ein historischer Erfolg der Mütter in Chile und steht jetzt auf dem Spiel. Kritisch sehen wir auch den Umgang mit Sorgearbeit in der Verfassung. Sorgear­beit wird darin aus­schließlich auf den familiären Rahmen bezogen, nicht etwa auf die Gesellschaft als Ganzes wie etwa im ersten Verfassungsentwurf. Als feministische Bewegung kämpfen wir seit langem für die Anerkennung einer gesellschaftlichen Verantwortung von Sorgearbeit.

Als Coordinadora 8M konntet ihr nicht aktiv auf die Ausarbeitung dieser Normen einwirken. Wie habt ihr den Prozess von außen begleitet?
Wir haben an diesem Prozess nicht teilgenommen, denn wir waren davon ausgeschlossen. Unsere Rolle bestand vor allem darin, über die Gefahren dieses Verfassungsprojekts zu infor­mieren. Wir sehen das als unsere Pflicht an, denn der Entwurf ist nicht nur eine Gefahr für Frauen, Kinder und Queers, sondern auch für das ganze Land: Er behält die neoliberalen Elemente bei, die wir seit 30 Jahren kritisieren und die unsere Leben arm gemacht haben, oder vertieft sie sogar noch.

Wie sieht eure aktuelle Arbeit aus?
Wir haben die „Kampagne von Frauen und Queers für das Dagegen“ gestartet, die sich vor allem an Frauen und Jugendliche richtet, die noch unentschieden sind. Unter dem Motto „Die Verfassung ist noch schlimmer und gefährlich“ arbeiten wir mit anderen feministischen Organi­sationen zusammen, zum Beispiel ABOFEM, einer Vereinigung feministischer Anwältinnen, oder den compañeras von La Rebelión del Cuerpo. Unsere Arbeit folgt zwei Achsen: erstens die Verbreitung über soziale Netzwerke und Medien, zweitens die Arbeit vor Ort mit Frauen, Nachbar­schaftsgruppen und lokalen gemeinschaftlichen Zusammen-hängen. Letzte Woche waren wir zusammen mit Universitätsstudierenden unter­wegs, denn für sie steht auch das staatliche System für Hochschulbildung auf dem Spiel. Außerdem könnte die Verfassung die jüngsten Fortschritte beim Umgang mit Missbrauch in Bildungs-einrichtungen zunichtemachen.
Es ist eine mühsame Arbeit, aber wir sind überzeugt, dass wir die Ultrarechten nicht gewinnen lassen dürfen, denn das würde eine direkte Gefahr für die Leben von Frauen und Queers bedeuten.

Wie stehen die Chancen für den 17. Dezember?
Im Allgemeinen sehen die Prognosen einen Vorsprung für das „Nein” voraus. Wir haben aber beschlossen, den Umfragen nicht zu vertrauen und uns nicht darauf auszuruhen. Denn es gibt noch immer einen großen Anteil unentschiedener Wähler*innen, der das Ergebnis umdrehen könnte. Wir haben also noch nicht gewonnen, sondern müssen unsere Anstrengungen verdoppeln, um mit der Kampagne noch mehr Menschen zu erreichen.

Welche Themen werden gerade am meisten diskutiert?
Die Rechte setzt Themen und Diskurse, die wir widerlegen müssen. Dazu gehört die Behauptung: „Wenn das ‚Ja’ gewinnt, werden wir als Land stabiler.“ Wir vertreten die Ansicht, dass das nicht stimmt. Denn die Probleme, die seit 30 Jahren ungelöst sind, werden damit nicht gelöst. Die Rechte spielt mit der Idee, den Verfassungs­konflikt abzuschließen und bringt viele Leute dazu, für die neue Verfassung zu stimmen – ganz unabhängig von ihrem Inhalt, sondern nur, weil die Leute es müde sind, in ständigem Konflikt zu sein. Wir sagen klar: Dieser Konflikt bleibt ungelöst, denn wir haben als Land noch keine Lösung für die Probleme gefunden, die während der sozialen Revolte, aber auch schon davor eine Rolle spielten: seit 2000 mit der Schüler*innen- und Studierenden­ewegung und mit den sozialen und Umwelt­bewegungen. Denn das ist das Gefährliche an der Verfassung: Sie stärkt das System der Privati­sierung unserer Rechte, die komplette Kontrolle des Marktes.

Ein Nein zur neuen Verfassung ist ein Ja dazu, die Pinochet-Verfassung zu erhalten. Wie geht ihr mit diesem Dilemma um?
Wir stehen vor der Wahl, entweder die Verfassung von Pinochet zu erhalten oder eine Verfassung anzunehmen, die von Pinochetisten geschrieben wurde. Aber diese Verfassung kann 50 Jahre nach dem Putsch nicht die Alternative sein. Sie ist das Ergebnis des Scheiterns der Demokratie in den vergangenen 30 Jahren und zeigt, dass wir es nicht geschafft haben, wiederaufkommenden pinochetistischen Kräften klare Grenzen aufzuzeigen. Dazu gehört es, Diskurse, die Menschenrechtsverletzungen gutheißen, nicht einfach zuzulassen. Es fehlt auch eine Politik gegen die Straflosigkeit, für die Entschädigung der Opfer und Bildung in Sachen Menschenrechte und Erinnerungspolitik. Im jetzigen Moment können wir uns nicht erlauben, Rückschritte zu machen. Wir können keine Verfassung verabschieden, die noch schlimmer ist, wir können die kleinen Fortschritte, die wir als soziale Bewegungen gemacht haben, nicht einbüßen. Aber ja, natürlich ist das eine brutale Entscheidung.

Mit der Arbeit im Verfassungskonvent haben 2021/2022 viele Bewegungen wie die Coordi­nadora aktiv an einem institutionellen Prozess teilgenommen. Wie seht ihr das heute?
Als Coordinadora sind wir eine undogmatische Organisation. Wir haben damals die Möglichkeit erkannt, die Lage analysiert und bereuen es nicht, in die Institution gegangen zu sein, denn es handelte sich beim Verfassungskonvent um eine außerordentliche Institution. Uns war es aber immer wichtig, unseren eigenständigen Charakter nicht zu verlieren: die Unabhängigkeit von politischen Kräften in Machtpositionen, auch linken Parteien. Jetzt gerade sehen wir, dass es keine Möglichkeit gibt, auf die Institutionen einzuwirken. Wir sehen weder kurz- noch langfristig eine Chance darin, wieder in die Institutionen zu gehen. Unsere Anstrengungen werden sich weiterhin auf die Arbeit vor Ort, auf den Dialog und die Eigenständigkeit beziehen, die schon seit langem die Arbeit der femi­nistischen Bewegung in Chile auszeichnet.

In Chile und vielen anderen Ländern gewinnt die Rechte gerade an Kraft. Wie versucht ihr, dieser Entwicklung entgegenzutreten?
Eine der wichtigsten Aufgaben für feministische und andere soziale Bewegungen ist es jetzt, wieder eigene Alternativen zu schaffen und attraktive politische Projekte aufzubauen. Wir haben zu lange nur reagiert, statt selbst die Initiative zu ergreifen. Eine andere unmittelbare Aufgabe ist die des Zuhörens. Wir müssen die Menschen, die Probleme und Nöte, die wir alle erleben, wieder hören, aufmerksam sein und in Dialog darüber treten. Außerdem müssen wir breite Bildungsprozesse von unten schaffen. Darauf konzentrieren wir uns als Coordinadora und wollen ein Ausbildungs­zentrum aufbauen. Es soll nicht darauf ausgelegt sein, dass die Leute nichts wissen und wir schon, sondern zu einem Dialog einladen.
Bei alledem geht es darum, die Rebellion und Frustration der Menschen aufzufangen. Die Rechte hat genau das geschafft: Sie hat der Aufsässigkeit und dem Ärger der Leute einen Sinn gegeben und ihnen eine Alternative angeboten. Wir wissen, dass uns diese Alternative am Ende nicht helfen wird, denn zumindest in Latein­amerika bedeutet sie den Erhalt und Ausbau des neoliberalen Systems. Die Linke und wir soziale Bewegungen scheitern immer nur. Wir müssen dieses Scheitern jetzt als Möglichkeit sehen, als Impuls. Denn noch können wir uns neue Welten, neue Arten des Zusammenlebens miteinander und mit der Umwelt erträumen. Diesen Wunsch nach einer anderen Welt müssen wir uns wieder aneignen. Und dafür ist jetzt ein fruchtbarer Moment.

“Esta Constitución es peor y peligrosa”

“Por mi abuela, por mi mamá, por mi hermana” Marcha feminista el 8 de marzo 2022 en la Alameda en Santiago (Foto: Josefa Jiménez)

El movimiento feminista ha sido uno de los primeros sectores sociales que se posicionó en contra de la nueva Constitución. ¿Por qué? ¿Cuál fue el momento decisivo?
Ya desde el inicio empezamos a advertir ciertos elementos de este proceso. Lo primero fue la exclusión total de todos los movimientos sociales: Fue un proceso levantado por las fuerzas políticas que durante 30 años administraron el sistema neoliberal y que habían sido impugnadas durante la revuelta social. Por lo tanto, ya desde el inicio advertimos una posición de alerta sobre este proceso. En su primer momento no tenía considerada la paridad, tampoco los escaños reservados. De alguna manera, era una antítesis del primer proceso constituyente y además una respuesta incluso castigadora de aleccionamiento. Esta fue la primera alerta. La segunda alerta fue cuando gana con mayoría el sector más conservador de Chile, la ultra derecha neoliberal, que son los Republicanos. Y la tercera alerta fue cuando empezamos a ver los resultados del trabajo.

Desde una perspectiva feminista, ¿cuáles son los puntos más críticos de este nuevo texto?
Una de las cosas que más nos pone en alerta son distintas normas que ponen en peligro nuestras vidas como mujeres y además nos ponen en un peor estado de lo que ya estamos. En uno de los artículos se pone en peligro la ley de aborto en tres causales. Otra de las alarmas fue que hay un artículo que hace inaplicable la Ley Papito Corazón. Esa ley es una de las herramientas que el Estado tiene para que los deudores de alimentos a sus hijos e hijas, que en mayoría — el 95% — en Chile son hombres, cumplan con sus responsabilidades. El Estado puede disponer de los fondos de las pensiones que acumulan estos hombres. Por lo tanto, algo que ha sido histórico en la lucha de las madres en Chile, que los varones, sobre todo los padres cumplen con el derecho que tienen todos los niños y niñas de alimentarse, corre peligro. Otra norma que nos pareció muy crítica fue la norma del sistema de cuidados que lo reduce exclusivamente a la familia. Entonces no hay un derecho socializado del cuidado, que era una de las cosas que sí proponíamos nosotras en nuestra propuesta de Constitución anterior. Históricamente, como movimiento feminista, hemos luchado por la socialización de los cuidados para volver con ese tema a la esfera pública.

Como Coordinadora 8M, no participaron activamente en el proceso. ¿Cómo acompañaron el trabajo del Consejo Constitucional, entonces?
No hemos participado de este proceso porque fue cerrado. Quedamos en los márgenes de la exclusión. ¿Y cuál sería nuestro rol entonces? Uno informativo y educativo. Creemos que tenemos este deber de informar, de educar, de advertir los peligros que contiene este nuevo proyecto constitucional. Es algo peligroso, no solamente para la vida de las mujeres, de los niños y las niñas, de las disidencias, sino que también para el país, porque es un proyecto que además mantiene — incluso en otros aspectos radicaliza — todos los elementos del neoliberalismo que hemos criticado los últimos 30 años y que han precarizado, han empobrecido a nuestras vidas.

¿Cómo intentan cumplir con estos deberes?
Nosotros levantamos la “Campaña de mujeres y Disidencias por el contra”, que está orientada principalmente hacia mujeres y jóvenes indecisas. Nuestra consigna es “Es peor y peligrosa”. En ese sentido, nos hemos agrupado con distintas organizaciones feministas, ABOFEM, por ejemplo, que es una asociación de abogadas feministas, y con compañeras de La Rebelión del cuerpo. Esta campaña tiene dos ejes centrales: Uno es la difusión por redes sociales y medios de comunicación. Por otro lado está el trabajo territorial con mujeres, juntas de vecinos y vecinas, agrupaciones comunitarias y territoriales. La semana pasada estuvimos articuladas con estudiantes universitarias porque también se juegan la gratuidad en el sistema de educación superior. Y también hay ciertas normas que ponen en peligro los avances respecto a los protocolos contra los acosos dentro de los espacios educacionales. Esto ha sido un trabajo bastante arduo, pero también con mucho convencimiento de que no podemos dejar que gane la ultraderecha, porque eso implica un peligro directamente hacia las vidas de las mujeres y disidencias.

Entonces, ¿qué posibilidades hay para el 17 de diciembre?
Generalmente, los pronósticos señalan que hay una ventaja del “en contra” versus el “a favor”. Pero nosotras hemos decidido no confiarnos en esas encuestas y no descansar, porque a pesar de que sí hay una balanza hacia el “en contra”, lo de los indecisos y las indecisas es un margen que cada vez se ha ido equilibrando. Entonces no es una batalla que hayamos ya ganado, y creemos que es necesario redoblar nuestros esfuerzos para hacer una campaña con mayor inserción.

¿Cuáles son los discursos más importantes en este momento?
Hay que desvirtuar ciertas ideas que se han puesto. Uno de los discursos es: “Si es que se gana el a favor, vamos a a estar más estables como país”. Nosotras hemos sostenido que no va a ser así, porque los problemas que venimos arrastrando hace 30 años no se van a solucionar y no vamos a tener mayor estabilidad. Y se ha jugado con esa idea porque se va a cerrar el conflicto, porque ya no vamos a tener más procesos constituyentes. Esa ha sido una de las ideas que más han llevado a gente a afirmar que está a favor, independientemente del contenido, porque las personas están cansadas de estar en conflicto. Por eso hay que señalar que este conflicto va a seguir abierto. Porque todavía no hemos encontrado una solución como país para estos problemas que en el estallido social aparecieron de manera mucho más patente; pero también eran problemas que, desde el 2000, el movimiento estudiantil ha venido afirmando, los movimientos socioambientales también. Eso es lo peligroso de esta Constitución: lo que hace es afirmar aún más este sistema de privatización de derechos, movido totalmente por el mercado.

Pero un voto “en contra” es un voto para mantener la Constitución de Pinochet, ¿no?
Estamos en una elección entre la Constitución de Pinochet o la que escribieron los pinochetistas. No es esa la disyuntiva a los 50 años del golpe que conmemoramos este año. Este es el resultado de un fracaso de la democracia de los últimos 30 años. De no haber sido capaz, ni los gobiernos de la Concertación, de generar un límite claro a las fuerzas pinochetistas que resurgieron. Un límite claro significa no permitir ciertos discursos que avalan, por ejemplo, la violación a los derechos humanos de manera tan simple y tan ligera, la falta de políticas públicas respecto a reparación, impunidad, la falta de educación en derechos humanos y en memoria. Estamos en un momento en que no podemos darnos el lujo de retroceder. No podemos tener una Constitución peor, no podemos perder ciertos avances muy pequeños que habíamos dado con ayuda de todos los movimientos sociales. Y sí, es una decisión bastante cruel.

Durante el primer proceso constituyente, varios movimientos sociales – como también la Coordinadora – decidieron participar en un proceso institucional que al final fracasó. ¿Hoy se arrepienten?
Como Coordinadora, no somos una organización dogmática. Vimos la posibilidad, hicimos una apuesta con nuestro análisis. Y no nos arrepentimos de haber entrado a la institucionalidad en ese sentido, porque era una institucionalidad extraordinaria. Pero, cuando entramos, nunca dejamos y perdimos nuestro carácter autónomo, caracterizado por la autonomía de los poderes fácticos, incluso de los partidos clásicos de la izquierda.
Ahora vemos que no hay una posibilidad para impugnar la institucionalidad. No hemos discutido y no nos vemos ni a corto ni a largo plazo ingresar a la institucionalidad, sino que nuestros esfuerzos van a seguir en los territorios, en las comunicaciones y sobre todo con la autonomía que ha caracterizado al movimiento feminista en Chile.

¿Qué se llevan de este proceso para futuras luchas?
Una de las cosas que nos llevó al Rechazo tiene que ver con la manipulación dirigida, sistemática y planificada que ha tenido la ultraderecha en todo el mundo de penetrar a los medios de comunicación mediante las fake news. Entonces, lo que hemos señalado como coordinadora es la importancia de tener medios masivos de comunicación propios. Imagínate, nosotros nunca tuvimos TikTok y ahora estamos intentando.

En Chile y otros paises como Argentina, la derecha está ganando fsuerza. ¿Cómo intentan enfrentarlo?
Una de las luchas importantes para el movimiento feminista y para los movimientos sociales es recuperar la perspectiva de alternativa, a construir proyectos políticos atractivos. Hemos mantenido una capacidad reactiva, pero no una capacidad propositiva. Hay que sistematizar ideas, sistematizar proyectos y generar proyectos alternativos.
Creo que otra tarea inmediata es una tarea de escucha, de volver a escuchar a las personas, a sus necesidades, a las problemáticas que vivimos todos y todas. Hay que generar más procesos de atención y diálogo. Y por otro lado, también creo que tenemos que generar procesos masivos de educación popular. En eso también nos hemos concentrado y queremos levantar una escuela de formación. No bajo el paradigma de que la gente no sabe y nosotras sí, sino que en el paradigma de volver a encontrarnos con las personas y poder hacer estos procesos de diálogo.
Todo eso tiene que ver con esa capacidad de captar la rebeldía y la frustración de las personas. Y es eso lo que ha hecho la ultraderecha: Ha sido capaz de darle un sentido común a la rebeldía y a la molestia que tienen las personas por el sistema y ofrecer una alternativa de salida. Aunque sabemos que no nos va a favorecer porque, al menos en Latinoamérica, es seguir manteniendo y profundizando el sistema neoliberal. La izquierda está llena de derrotas, los movimientos sociales estamos llenos de derrotas, y tenemos que verlo también como oportunidad para poder replantearnos y seguir adelante. Como un impulso para no abandonar nuestra lucha. Todavía tenemos abierta la posibilidad de seguir imaginando nuevos mundos, nuevas maneras de relacionarnos con los otros, con el sistema, con el Estado, con la naturaleza. Como movimientos sociales tenemos que recuperar esta capacidad de desear otras cosas. Porque también nos encontramos en un momento muy fértil para poder pensar otros proyectos.

Stimmen zum 50. Jahrestag des Putsches

Compañero presidente Das Bild Salvador Allendes ist auf den Gedenkdemos stets präsent (alle Fotos: Diego Reyes Vielma)

Die Regierung der Unidad Popular strebte in Chile 1970 bis 1973 einen demokratischen Sozialismus an. Das war ein Projekt, das weltweit viele ersehnten, schon weil mit dem Ungarn-Aufstand 1956 und dem Prager Frühling 1968 ähnliche Versuche gescheitert waren.
Am 11. September 1973 putschte das Militär, massiv unterstützt von der CIA, eine Junta aus den Oberkommandierenden der Teilstreitkräfte und der Polizei übernahm die Macht. Tausende Gegner des Militärs wurden verhaftet, gefoltert, ermordet oder verschwanden einfach. Sehr viele flohen ins Ausland. In Berlin entfaltete sich unmittelbar nach dem Putsch eine vielfältige Solidaritätsarbeit. Es gab eine spontane Demonstration am Olivaer Platz. Man traf sich am Sonntag in den Räumen der Evangelischen Studentengemeinde der Technischen Universität zur Gründung des Berliner Chile-Komitees. Die Auflage der schon vor dem Putsch gegründeten Solidaritätszeitschrift Chile-Nachrichten stieg von 200 auf 6.000 Exemplare. Bei einer Versammlung im Haus der Kirche nannte Helmut Gollwitzer den Putsch „Klassenkampf von oben“ und fragte nach dem Konto für den Widerstand in Chile. Die unvergessliche Elfriede Irral richtete es sofort ein. In den nächsten Jahren floss eine Million Mark nach Chile.
Fragt man sich heute, was aus all dem geworden ist, so ist hervorzuheben, dass die Solidarität nicht nachgelassen hat. Die Chile-Nachrichten existieren immer noch, wenn auch unter dem Namen Lateinamerika Nachrichten. Und die Redaktion ist jung geblieben.
Leider hat der politische Prozess in Chile nicht zu einer gründlichen Veränderung geführt. Die Verfassung der Militärs ist immer noch in Kraft. Es gibt also noch viel zu tun.

// Urs Müller-Plantenberg // Soziologe, Professor für Lateinamerikanistik, LN-Mitgründer // Berlin

Die Erinnerung am Leben halten Fotos von Verschwundenen auf einer Gedenkdemo

Seit meiner Kindheit habe ich in den Nachrichten immer wieder Frauen mit den Fotos ihrer verschwundenen Angehörigen gesehen. Jahr für Jahr habe ich von den Gräueltaten der Pinochet-Diktatur erfahren. Und so hoffte ich Jahr für Jahr auch, dass wir es irgendwann herausfinden würden: „Wo sind sie?“ Heute, 50 Jahre nach dem Putsch, leben immer weniger Beteiligte und es wird immer schwieriger, den Verbleib der Verschwundenen zu erfahren. Nach 50 Jahren leugnen Teile der chilenischen Gesellschaft immer mehr die Geschichte, indem sie Menschenrechtsverletzer zu Opfern erklären und die Figur Pinochets verherrlichen. Es macht mir Sorgen, dass es 50 Jahre nach dem Putsch an Erinnerung und Gerechtigkeit fehlt – in einem Land, in dem die Versöhnung mit jedem Tag weiter entfernt scheint. Ich hoffe, dass der Pakt des Schweigens zwischen den Militärs und ihren zivilen Handlangern eines Tages beendet wird, um eine echte Versöhnung zu erreichen.

// Diego Reyes Vielma // Fotograf // Santiago de Chile

Diktator Pinochet in Flammen Seine neoliberalen, autoritären Ideen leben weiter

Ich bin erst 32 Jahre alt, der Putsch war vor 50 Jahren. Ich habe ihn nicht erlebt, aber er hat sich in meine Erinnerung und in die kollektive Erinnerung meines Landes eingebrannt. Dass es bis heute keine Gerechtigkeit gibt, kommt uns teuer zu stehen: Es wird immer normaler, die Taten der Junta von Pinochet und der Diktaturverbrecher im Gefängnis von Punta Peuco zu rechtfertigen. Und die Ultrarechte, von der diese Rechtfertigungen kommen, könnte es bald ins Präsidentenamt schaffen.
Dass es in den 1990er und 2000er Jahren keine politischen und rechtlichen Konsequenzen gab, hat für das ganze Land schlimme Folgen. Das Weiterleben des von der Junta entworfenen autoritären Konzeptes der „geschützten Demokratie“, die fortgesetzte Machtposition des Militärs, die Selbstgefälligkeit der Mitte-Links-Regierungen der Postdiktaturzeit und die intensive Rebranding-Arbeit der Rechten haben uns in eine lächerliche Situation manövriert: Narrative aus der Mitte des 20. Jahrhunderts wie der sehr lebendige Antikommunismus hindern uns daran, uns gesellschaftliche Rechte zu erkämpfen.
Dieser 11. September war für mich ein düsteres Datum. Ich habe das Gefühl, wir haben lange von der Hoffnung, von Idealen und dem Kampf gelebt. Aber die ganze Zeit – ich meine dabei nicht nur 2019, sondern auch die sogenannte Revolution der Pinguine von 2006, die Bewegung der Studierenden von 2011 – wussten wir, dass die politische Gleichgültigkeit uns im Nacken sitzt. Die Rechte schaffte es stets, die Situation zu drehen und eine Bevölkerung, die ihren Alltag durch radikale Veränderungen bedroht sah, zu überzeugen.
Ich verliere also Stück für Stück die Hoffnung – aber nicht den Wunsch, dass die Dinge sich ändern. So dass wir alle zusammen sagen können: Nie wieder! NUNCA MÁS!

// Nicolás Palacios // Geograf // Zürich

An diesem 11. September habe ich gesehen, wie die Leugnung der Diktaturverbrechen durch die Rechte voranschreitet. Die Regierung konterte mit einem geschönten Bild von Allende als „Demokrat“, ohne das Programm der Unidad Popular zu erwähnen. Beim diesjährigen Gedenkmarsch zum Hauptfriedhof mussten sich teilnehmende Organisationen akkreditieren, damit der Präsident teilhaben konnte. Aber es kam wie üblich zu Repression. In Berlin stellte die chilenische Botschaft Fotos von Landbesetzungen während der Allendezeit aus. Gleichzeitig plant die Regierung ein Gesetz, das Räumungen erleichtert und Grundbesitzer*innen schützt, die ihren Besitz mit Kugeln verteidigen wollen.Während der sozialen Revolte von 2019 haben wir gesagt, dass die Übergriffe der Carabineros auf die Zivilbevölkerung Menschenrechtsverletzungen waren. Das bedeutete, dass man im September, wenn man auf die Verbrechen der Diktatur hinwies, indirekt auch von den sozialen Protesten sprach. Als die jetzige Regierung sich der Wiederherstellung des Images der Carabineros widmete und Gesetze durchsetzte, die ihnen Straffreiheit garantierten, untergrub sie damit nicht nur die Revolte, sondern auch die Kämpfe gegen die Diktatur: Wenn die Carabineros eine so ernstzunehmende Institution sind, haben sie dann wirklich Menschenrechtsverletzungen zu verantworten? Sind die Menschenrechtsverbrechen während der Diktatur dann nicht auch Übertreibungen? Ich frage mich: Kann der Gedenktag vor den Bürokrat*innen, die ihn heute verwalten, gerettet werden?

// Luis Cortés Vergara // Student // Berlin

Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal in Berlin sein würde. Noch weniger, dass ich den 50. Jahrestag des faschistischen Militärputsches dort erleben würde, der das Leben von Präsident Salvador Allende beendete und den Tod und das Verschwindenlassen Tausender zur Folge hatte.
Während ich auf der Demo in Berlin darauf wartete, meinen Redebeitrag zu halten, habe ich mich mit Chilenen unterhalten, die schon seit mehr als 48 Jahren in Deutschland leben. Sie haben mir erzählt, wie sie auf einmal aus Chile fliehen mussten. Unter dieser Barbarei litt ein großer Teil der Bevölkerung, vor allem die, die sich politisch oder sozial engagiert hatten. In meinem Redebeitrag habe ich von den neuen Herausforderungen unseres Landes berichtet und einen Bogen geschlagen: von unseren Problemen in den 1980er Jahren bis zu den riesigen Problemen, die die Diktatur hinterlassen hat. Ihre Gesetze haben die Ausplünderung und fehlende Wertschätzung reicher Ökosysteme bewirkt, die dem freien Markt überlassen wurden – bis hin zum Wasser, das bis heute in privatisiert ist.
Um es einfach auszudrücken: Ich habe den Gedenktag mit Heimweh und Freude erlebt. Heimweh, weil ich nicht zu Hause war. Freude, weil ich eine flüchtige Nähe mit meinen chilenischen Brüdern erlebt habe, die so weit weg von unserem Land leben.

// Jorge Díaz Marchant // Aktivist der Wasser- und Umweltbewegung MODATIMA // Puente Alto

„Heute fädeln wir den roten Faden unseres Gedenkens auf: In seinem Zentrum stehen die Kämpfe und Widerstände der Menschen, der Frauen und Queers während der tausend Tage der Regierung Allende und der zivil-militärischen Diktatur. Unsere Erinnerung ist der Motor und das Licht, um die Gegenwart infrage zu stellen und unsere Strategien und Kämpfe der Zukunft zu entwerfen. (…) Sie können uns weder unsere Erinnerung noch unsere Zukunft nehmen. Wie eine Beschwörung, die aus unserem Land und unserem Innersten kommt, erinnern wir heute daran: Als Feministinnen vergessen und verzeihen wir keinen Putsch und keinen Schlag.
Nicht weiter, nie wieder! Es leben die, die kämpften, kämpfen und kämpfen werden!”

// Die Coordinadora Feminista 8M in der chilenischen Le Monde Diplomatique

Wieder Tränengas auf den Straßen von Santiago Die Demo zum 50. Jahrestag des Putsches wurde von den Carabineros unterbrochen

50 Jahre sind vergangen seit dem Putsch in Chile. Vorbereitet wurde er auch in der Colonia Dignidad: In der deutschen Sektensiedlung, die stets gute Beziehungen zur deutschen Botschaft und zum Auswärtigen Amt unterhielt, fanden paramilitärische Übungen mit Rechtsextremen statt. Sie war ein Umschlagplatz für Waffen – mit Beteiligung oder zumindest mit Wissen des BND. Nach dem Putsch wurden politische Gefangene dort gefoltert und ermordet, ihr Schicksal wurde nie aufgeklärt, noch immer werden Leichen in Gräbern auf dem Gelände vermutet. Die chilenische Justiz ermittelt zwar noch, doch die Aussichten auf Aufklärung sind gering. Vor der deutschen Justiz sind alle Verbrechen der Colonia Dignidad straflos geblieben, Täter finden hierzulande einen sicheren Hafen. Zur Aufklärung der bundesdeutschen Verantwortung müssen auch die Akten des BND endlich freigegeben werden.Die aktuellen Mitte-Links-Regierungen in Chile und Deutschland könnten nun, 50 Jahre später, ihr kurzes Zeitfenster nutzen und gemeinsam zumindest eine Gedenkstätte auf den Weg bringen. Den Angehörigen der Verschwundenen, die einen Ort zum Trauern brauchen, sind sie es ohnehin schuldig. Es ist untragbar, dass die deutsche Siedlung heute ein Ausflugslokal mit Hotel-Restaurant im bayerischen Stil ist, in dem von der Geschichte kaum etwas zu sehen ist. Im Kontext des 50. Jahrestag des Putsches hatte die chilenische Regierung geplant, Gedenktafeln an historischen Orten der ehemaligen Colonia Dignidad anzubringen – doch daraus wurde nichts. Auch bei der Gründung einer Trägerorganisation für den Gedenkort stockt es. Die deutsche Regierung hält sich vornehm zurück und verweist darauf, der Ball liege in Chile. Doch beide Regierungen tragen eine große Verantwortung: Ein Dokumentations-, Gedenk- und Lernort wäre wenigstens ein Punktgewinn gegen das Erstarken der extremen Rechten, die auch in Chile versucht, die Geschichte von Putsch und Diktatur wieder auf ihre Art und Weise umzuschreiben.

// Ute Löhning // Freie Journalistin // Berlin

Angesichts des Schweigens (Ausschnitt)

Zuerst kamen die Spanier
sie haben es nicht geschafft, uns zu beherrschen
sie mussten uns anerkennen
als freies und souveränes Volk.

Danach kamen die Chilenen,
… aber ich bin nicht in Chile geboren
Chile wurde auf unserem Territorium geboren
und als es geboren wurde,
machte es Versprechungen, die es nicht hielt.
So wie der Vertrag von Tapihue von 1825,
als sie versprachen, unsere Territorien,
unsere Souveränitat und Lebensphilosophie zu respektieren

aber sie haben uns den Krieg erklärt
sie nannten ihn Befriedung der Araucanía.
Sie töteten, vergewaltigten,
raubten, verbrannten die Häuser der Mapuche.
Es war ein Genozid, aber sie nennen ihn nicht Genozid
weil sie es sind, die die Definitionsmacht haben
und weil wir nicht weiß waren
sondern “indios”.

Mein Vater hat mir erzählt,
dass seine Großmutter ihm erzählte,
dass der letzte organisierte Aufstand gegen die Kolonisatoren
im Jahr 1881 war.
Und es ist kein Zufall, dass sie 1883
in Paris, Berlin und Hamburg 14 Mapuche ausstellten
wie Tiere
in den sogenannten Menschenzoos.

Aus dieser Geschichte komme ich,
die, die weiter zurückgeht als ins Jahr 73
weiter zurückgeht als bis zu Pinochets Militärputsch

Eine Geschichte struktureller Gewalt
dem Aufzwingen einer Sprache,
der Ausplünderung,
der Unsichtbarmachung und Abwertung unserer Kultur
und unserer Art, zu leben.

Aus dieser Geschichte komme ich
und diese Geschichte ist noch nicht vorbei

// Llanquiray Painemal // als Mapuche in verschiedenen migrantischen Kollektiven aktiv // Berlin
Das Gedicht „Angesichts des Schweigens“ wurde anlässlich des 11. September 2023 geschrieben und während einer Gedenkveranstaltung im Haus der Kulturen der Welt in Berlin vorgetragen.

Hoffnungsvolle Revolte, gescheiterte Verfassung

Massenhaft Krach machen Diese Collage von cacerolas zierte im Dezember 2019 das Cover der LN (Foto: Moisés Sepúlveda)

Von der Gründungszeit der LN bis in die Gegenwart waren die politischen Entwicklungen in Chile stets für große Emotionen gut – im Positiven wie im Negativen. Als die Schüler*innen im Oktober 2019 den nach 30 Jahren Neoliberalismus angestauten Frust zur Explosion brachten, gewannen die Chilen*innen mit Begeisterung den Glauben daran zurück, in ihrem Land etwas zum Besseren verändern zu können.

Drei Jahre später hat sich Ernüchterung breitgemacht: Während linke Chilen*innen nach der Ablehnung der neuen Verfassung an der Urne in eine Art kollektive Depression verfallen sind, dominiert die chilenische Rechte die politische Dynamik und den Diskurs. Und wir bei LN, die seit Oktober 2019 mit den Protestierenden fieberten, fragen uns immer noch: Wie konnte das nach den ebenso lauten wie tiefgreifenden Forderungen der Revolte passieren?

Im Editorial vom Dezember 2019 blickten wir zurück auf das Referendum von 1988, das zwar die Diktatur beendete, nicht jedoch den Neoliberalismus. Denn Pinochet bestimmte und bestimmt durch die 1980 eingeführte Verfassung weiterhin die Spielregeln. Interessanterweise passierte nach der Revolte von 2019 etwas Ähnliches: Auch jetzt ist die Rechte tonangebend und hat – wie wir befürchteten – alles getan, um das neoliberale System zu retten: In dem „Übereinkommen für den sozialen Frieden und die neue Verfassung“ vom 15. November 2019 setzte sie dem Prozess inhaltliche und zeitliche Grenzen. Die rechtsgerichteten Medien polemisierten von Anfang an gegen die Arbeit des Verfassungskonvents und traten eine beispiellose Fake-News-Kampagne los, der der Konvent mangels finanzieller und personeller Ausstattung nie wirklich etwas entgegensetzen konnte. Dazu kamen Fehler der Linken: Es gab Skandale und Skandälchen um Konventsmitglieder, die linken Delegierten unterschätzten die Herausforderung, die Bedeutung der Inhalte der Verfassung für das konkrete Leben der Bürger*innen besser zu erklären. Und auch die Regierung Boric schafft es bislang nicht, die Vorteile linker politischer Ideen im alltäglichen Leben der Menschen greifbar zu machen.

Wenn sich Pinochets Putsch im September zum 50. Mal jährt, wird Chile noch immer seine Verfassung haben

Als Folge der niederschmetternden Ablehnung der neuen Verfassung im Jahr 2022 ist das zuvor so klare Nein zum neoliberalen System heute leiser geworden. Die Hoffnung auf eine progressive und demokratische Verfassung hat sich vorerst in Luft aufgelöst: Wenn sich Pinochets Putsch im September zum 50. Mal jährt, wird Chile noch immer seine Verfassung haben. Und auch der Entwurf einer Expert*innenkommission, der derzeit im Verfassungsrat diskutiert wird, verspricht keine Abkehr vom Neoliberalismus.

Nahezu ironisch ist, dass sich viele linke soziale Bewegungen nach Beginn der Revolte im Oktober 2019 gar nicht an dem Prozess hin zu einer neuen Verfassung beteiligen wollten – sie schätzten die Aussicht auf wirkliche Veränderung auf diesem Wege als zu gering ein. Das änderte sich mit Beginn der Covid-19-Pandemie wenige Monate später, als die Mobilisierung im öffentlichen Raum unmöglich wurde und der institutionelle Prozess fast die einzige Möglichkeit war, überhaupt noch etwas zu tun. Die überwältigende Zustimmung im Referendum vom Oktober 2020 war dann eine weitere Motivation.

Als der Konvent seine Arbeit aufnahm und die neue, progressive Verfassung Gestalt annahm, wuchs die Hoffnung auf dauerhafte Veränderung sowohl in Chile als auch in der internationalen Linken beständig. Im Rückblick müssen auch wir bei LN uns eingestehen, dass sich in unserem Editorial vom Juni 2021 pures Wunschdenken spiegelt: Zweifel hatten wir damals nicht an der Annahme der Verfassung im Referendum, sondern eher an ihrer vollständigen Implementierung. Damit waren wir nicht allein. Chile wurde zu dieser Zeit, wie schon zu Zeiten Allendes, zu einer Projektionsfläche der internationalen Linken, die aber im September 2022 abrupt in sich zusammenbrach. Diese Beobachtung teilte auch die chilenische Soziologin Pierina Feretti bei einem Besuch bei LN und FDCL im Mai dieses Jahres.

Viele fühlen also heute den „bleiernen Ballast vieler Jahre“ wieder auf ihren Schultern. Doch mit der Fokussierung auf die intensive Arbeit des Verfassungskonvents 2021/2022 ist etwas Wichtiges aus dem Blickfeld geraten: Das Scheitern der Verfassung konnte die Angst vor den Sicherheitskräften nicht zurückbringen. Das durch die Diktatur Pinochets zerstörte soziale Gefüge ist mit der Revolte in Asambleas, Basisorganisierung, durch die Politisierung der Jugend und die feministische Bewegung wiederaufgelebt und wird nun Bestand haben. Und das ist unabhängig vom Scheitern der neuen Verfassung bedeutsam: Denn langfristig wird die Revolte von 2019 vermutlich eine nachhaltigere Wirkung haben als die Arbeit des Verfassungskonvents.

Rückblickend sind sich viele darin einig, dass es strategisch vermutlich besser gewesen wäre, die Energie nicht allein in den Verfassungskonvent, sondern auch in eine nachhaltige Organisierung von links zu stecken. Nun, nach dem vorläufigen Scheitern einer möglichen Veränderung auf dem institutionellen Weg, bleibt der chilenischen Linken die Möglichkeit, andere politische Wege auszuloten. In diesem Prozess ist es umso wichtiger, dass wir als internationale Linke weiterhin auf Chile blicken und jenen, die für echte Veränderung kämpfen, dauerhaft unsere Unterstützung und Solidarität zeigen.

Martin Schäfer & Susanne Brust sind seit 2018 im LN-Kollektiv und behalten Chile nicht erst seit der Revolte 2019 im Blick.

“DE FACTO EINE GROSSE KOALITION”

Hier soll sich bald einiges ändern Chiles neuer Präsident Boric bei seinem Vorgänger Piñera (Foto: Diego Reyes Vielma)

Bei dieser Stichwahl habe Chile den pinochetismo zum zweiten Mal abgewählt, meint die chilenische Politologin Marta Lagos. „Es passierte zweimal in der Geschichte: am 5. Oktober 1988 und am 19. Dezember 2021“, so Lagos in einem Interview mit dem argentinischen Sender AM 750. Der Wahlsieg des Linkskandidaten Boric habe also das „Nein“ zu Pinochet von 1988 bestätigt. Denn Borics Kontrahent José Antonio Kast, ein bekennender Anhänger der Pinochet-Diktatur, war bei der Wahl im Dezember fast zwölf Prozentpunkte hinter Borics Ergebnis von 56 Prozent der Stimmen zurückgeblieben.

Mitte Januar hat der gewählte Präsident Boric das Kabinett vorgestellt, mit dem er am 11. März sein Amt antreten will. Bei der Vorstellung im Nationalmuseum für Naturgeschichte beschrieb er die Vielfältigkeit des Regierungsteams: Es handele sich um eine Gruppe „mit politischer Pluralität, unterschiedlichen Standpunkten und einer starken Präsenz von Unabhängigen und Aktivisten politischer Parteien“. Vielfalt gebe es auch unter den vertretenen Regionen und Generationen.

Nach Ansicht der Politologin Lagos war Boric bei der Benennung des künftigen Kabinetts mutig. „Was er getan hat, war vor einem Monat noch undenkbar“, so die Gründerin der Nichtregierungsorganisation Latinobarometro. Borics Team habe stets argumentiert, dass eine Erneuerung erforderlich wäre, um die Fehler der traditionellen Mitte-Links-Koalition Concertación auszubügeln. Denn seit seiner Zeit als führender Aktivist der Studierendenbewegung galt Boric als Kritiker der Concertación, die die Jahrzehnte nach der Pinochet-Diktatur politisch geprägt hatte. Doch nun bezieht er Vertreter*innen der Seite ein, die er zuvor angegriffen hatte. Mit der Entscheidung habe Boric „de facto eine große Koalition gebildet – so, wie parlamentarische Regierungen eben gemacht werden“, erklärt die Analystin Lagos.

Da Boric mit dem Wahlversprechen angetreten ist, das während der Diktatur eingeführte neoliberale Modell abzulösen, wird er bei der Umsetzung von Strukturreformen sehr wahrscheinlich viel Gegenwind erhalten. Seine Regierungsziele beinhalten die Einführung eines öffentlichen Rentensystems und einer universellen Kranken-
versicherung, eine Reform des Streikrechts, eine Steuerreform zur Finanzierung sozialer Projekte, mehr Anerkennung für Care-Arbeit und eine Strukturreform der Militärpolizei Carabineros: „Wir werden Schritt für Schritt alle von uns vorgeschlagenen Änderungen vornehmen, weil wir davon überzeugt sind, dass die große Mehrheit der Chilenen strukturelle Änderungen fordert“, sagte er am Tag des Wahlsiegs. 

Zehn Jahre nach den Protesten von Studierenden sitzen mehrere Aktivist*innen in der Regierung


Tatsache ist, dass Boric Allianzen mit dem traditionellen Mitte-links-Lager benötigt, um Mehrheiten in den zwei Kammern des Nationalkongresses zu erreichen. Borics Wahlbündnis Apruebo Dignidad hat in der Abgeordnetenkammer nur 37 von 155 Sitzen und im Senat fünf von 50 Sitzen. Durch die Berufung parteiunabhängiger Minister*innen und Vertreter*innen von Parteien außerhalb des Bündnisses erweitert der künftige Präsident nun seine Koalition. Dazu gehören die Sozialistische Partei (PS), die Partei für Demokratie (PPD), Radikale Partei (PR) und Liberale Partei (PL).

„Die Zusammensetzung dieses Kabinetts ist in mehrfacher Hinsicht etwas Außergewöhnliches“, meint die chilenische Psychoanalytikerin Constanza Michelson. Es gehe vor allem darum, „das Ende einer Phase von Kämpfen zu besiegeln, in der der Feminismus am Rande der Macht stand, um nun an die Macht zu kommen“, so Michelson in einem Interview mit der argentinischen Tageszeitung Página 12. Mehrere Schlüsselressorts werden künftig Frauen übernehmen: Die Außenpolitik leitet ab März die parteiunabhängige Rechtsanwältin Antonia Urrejola. Verteidigungsministerin wird, fast 50 Jahre nach dem Militärputsch von 1973, die Allende-Enkelin Maya Fernández, die für die Sozialistische Partei in der Hauptstadtregion in die Abgeordnetenkammer gewählt wurde. Von Ministerinnen geführt werden außerdem die Ressorts für Arbeit und Soziales sowie Gesundheit und auch Bergbau: Die designierte Ministerin Marcela Hernando Pérez (PR) soll zwei wichtige Vorhaben in Bezug auf die Bergbaupolitik umsetzen, wie das chilenische Onlinemedium El Ciudadano berichtete. Zum einen die Einführung einer Steuer im Kupferbergbau, die Zusatzeinnahmen im Umfang von einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts einbringen soll. Zum anderen die Gründung eines staatlichen chilenischen Lithiumunternehmens, bei dem die Interessen betroffener Gemeinden im Mittelpunkt stehen.

Mit der Benennung der parteiunabhängigen Klimatologin und Mitautorin des Sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarats, Maisa Rojas, hat Boric eine Expertin in Sachen Klimawandel für das Amt der Umweltministerin benannt. Rojas‘ Nominierung deutet an, dass der Kampf gegen die Klimakrise – wie schon im Wahlkampf angekündigt – künftig einen hohen Stellenwert haben könnte. Im Interview mit The Guardian kündigte die Klimawissenschaftlerin, die die chilenische Regierung bereits bei der COP25 beraten hat, grundlegende Veränderungen an: „Wir müssen uns mit den strukturellen Elementen unserer Gesellschaft befassen, was auch bedeutet, dass wir unseren Pfad der Entwicklung ändern müssen.“

Auch drei der fünf Positionen im comité político (innerer Entscheidungszirkel im Kabinett, Anm. d. Red.) – Inneres, Finanzen, Frauen, Regierungssprecher*in und Generalsekretariat der Präsidentschaft – werden ab dem 11. März Frauen leiten. Als wichtigster Kabinettsposten gilt in Chile das Innenministerium. Diese Rolle fällt nun zum ersten Mal einer Frau zu, der künftigen Innen- und Sicherheitsministerin Izkia Siches. Sie leitete Borics Wahlkampagne und war von 2017 bis 2021 Vorsitzende des Berufsverbands der Ärzt*innen. Die künftige Ministerin für Frauen und Geschlechtergleichheit ist die Feministin und Journalistin Antonia Orellana von der Convergencia Social (CS), Gabirel Borics Partei. Karina Nohales, Vertreterin der feministischen Dachorganisation Coordinadora Feminista 8M, begrüßte ihre Benennung auf Twitter: „Sie ist eine engagierte Feministin, die sich für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen, für das Recht auf legale, freie und sichere Abtreibung und würdevolle Arbeitsbedingungen einsetzt.“

59 Prozent sind laut Umfragen mit dem Kabinett Boric zufrieden

Neuer Finanzminister wird der bisherige Chef der chilenischen Zentralbank, der parteiunabhängige Mario Marcel, der bereits an allen Regierungen der Concertación beteiligt war. Seine Ernennung löste bei Vertreter*innen sozialer Bewegungen ungläubiges Entsetzen und Unverständnis aus. Für Luis Mesina aus der No+AFP-Bewegung, die das derzeitige chilenische Rentenversicherungssystem ablösen will, stellt die Ernennung Marcels eine Wiederbelebung der 2017 abgewählten Concertación dar. „Dafür haben die Wähler*innen nicht gestimmt, sie wollen Veränderungen“, betont er. Auch Ramón López, ehemaliger Wirtschaftsberater von Daniel Jadue (Präsidentschaftskandidat der Kommunistischen Partei), kritisierte die Personalentscheidung und die Botschaft dahinter scharf: So behaupte die Regierung, tiefgreifende wirtschaftliche Veränderungen zu befürworten, benenne dann jedoch einen Finanzminister, der sich alledem widersetze. „Wo bleibt die Glaubwürdigkeit?“, fragt sich López.

Doch auch zwei bekannte Gesichter aus der Studierendenbewegung hat Boric ins Kabinett geholt. Regierungssprecherin wird Camila Vallejo (Kommunistische Partei), Präsidentschaftssekretär wird Giorgio Jackson von der Partei Revolución Democrática, neben der CS die führende Partei im Parteienbündnis Frente Amplio. Beide Personen führten mit Boric die studentischen Proteste von 2011 und 2012 an, die bis dahin größten Demonstrationen in Chile seit Ende der Diktatur. Ihre nun zehn Jahre alten Forderungen nach bezahlbarem Studium für alle und ihre Kritik am privatisierten Bildungssystem sind noch heute aktuell. Als Mitglieder der neuen Regierung haben die drei ehemaligen Aktivist*innen nun die Möglichkeit, sie in die Tat umzusetzen.

Die künftigen Minister für Wohnen und Urbanistik (Carlos Montes), Verkehr und Telekommunikation (Juan Carlos Muñoz) sowie für Öffentliche Baumaßnahmen (Juan Carlos García) gelten alle als Experten auf ihrem Gebiet. Laut dem Magazin The Clinic seien die Erwartungen an diese Minister daher besonders hoch. García fordert etwa, das Zugnetz zu erweitern und die verschiedenen Verkehrsträger besser zu koppeln.

Mit Borics Wahlsieg und Kasts Niederlage erhält außerdem der aktuelle verfassunggebende Prozess Rückenwind. Für das Regierungsmandat Borics wird die Unterstützung des Verfassungskonvents eine wichtige Etappe zu Beginn der Amtszeit sein. Seine Präsidentschaft könnte den verfassunggebenden Prozess stützen. Bis Juli 2022 soll im Verfassungskonvent eine progressive, neue Verfassung erarbeitet werden. Wenn die Mehrheit der chilenischen Wähler*innen dafür stimmt, wird die alte Verfassung, ein Erbe aus Diktaturzeiten, nach vier Jahrzehnten abgelöst. Boric hat angekündigt, die Unabhängigkeit der Arbeit des Verfassungskonvents zu sichern und besuchte seine Mitglieder bereits kurz nach der Wahl, um ihnen seine Unterstützung auszusprechen.

Mit der Wahl Borics hat die Mehrheit der Chilen*innen gezeigt, dass sie sich entschlossen gegen den pinochetismo stellen. Eine Woche, nachdem der gewählte Präsident sein Regierungskabinett vorgestellt hatte, veröffentlichte das private chilenische Meinungsforschungsinstitut Cadem aktuelle Umfrageergebnisse. Demnach bewerteten 59 Prozent der Befragten die Personalauswahl als positiv. Es sind sieben Punkte mehr als beim vergangenen Kabinett Piñera (2018) und sogar 30 Punkte mehr als beim Kabinett Bachelet II (2014). Die Hoffnung der Bevölkerung auf einen Wandel scheint also da zu sein. Ob das Regierungsteam es schaffen wird, politische Mehrheiten zu erhalten und gleichzeitig seiner Linie, mit den Relikten der Vergangenheit aufzuräumen, treu zu bleiben? Die nächsten vier Jahre werden das zeigen.

SCHOCKSTARRE ODER WANDEL

“Nein zum Faschismus von Kast” Proteste gegen den extrem rechten Präsidentschaftskandidaten José Antonio Kast in Chile (Foto: Ute Löhning)

Für viele Chilen*innen ist es ein Schock. Die Schatten der Diktatur unter General Augusto Pinochet (1973-1990) scheinen nochmals aufzuleben. „Wir haben eine verdammte Angst“, sagt Isabel Aguilera Anfang Dezember am Rande einer Kundgebung, die sie und andere Anwohner*innen im Santiaguiner Stadtteil Ñuñoa organisiert haben und zu der etwa 500 Personen zusammengekommen sind. „Weil Kast so viele Stimmen erhalten hat, müssen wir der Ultrarechten etwas entgegensetzen und Gabriel Boric im zweiten Wahlgang unterstützen“, erklärt die Aktivistin.

Die Musikerinnen Isabel und Tita Parra, die Ende November mit über 1.000 Künstler*innen ihre Unterstützung für Boric ausgesprochen hatten, singen bei der Kundgebung Lieder aus der Zeit der Diktatur. Das Publikum – alt wie jung – singt und klatscht mit. Balconeras werden verteilt, das sind Transparente, die aus Fenstern oder Balkonen gehängt werden können, mit der Aufschrift „Zusammen für den Wandel – Boric Presidente“.

Insgesamt fiel das Ergebnis der Wahlen im November deutlich konservativer aus als das des Verfassungsreferendums im Oktober 2020 und der Wahl zum Verfassungskonvent im Mai 2021, bei der linke, feministische, ökologische und oftmals parteiunabhängige Kandidat*innen stark abschnitten (Siehe LN 564). Dass Kast und seine Republikanische Partei so viele Stimmen bekommen haben, sei „nicht nur eine Reaktion auf die soziale Protestbewegung, sondern vor allem auf die Erfolge der feministischen Bewegung“, meint Isabel Aguilera, „aber wir Feministinnen machen weiter“. Tatsächlich würde der bekennende Katholik Kast Abtreibungen selbst nach einer Vergewaltigung oder bei Lebensgefahr für Mutter oder Kind ebenso wie die kürzlich im Kongress beschlossene gleichgeschlechtliche Ehe gerne wieder verbieten.

Die feministische Bewegung hat sich nach der ersten Wahlrunde schnell (re-)organisiert. Bei einer „Asamblea Feminista“ haben Ende November rund 5.000 Feministinnen – teils in Präsenz, teils online – über weitere Schritte diskutiert. Um feministische Errungenschaften der letzten Jahre zu verteidigen und weiter auszubauen, wollen sie unbedingt verhindern, dass Kast Chiles neuer Präsident wird. Anlässlich des Internationalen Tages zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen am 25. November zogen Tausende Feministinnen bereits mit „Nein zum Nazi“ Sprechchören und antifaschistischen Transparenten durch Santiago.

José Antonio Kast ist Sohn des 1950 nach Chile eingewanderten früheren Offiziers der deutschen Wehrmacht Michael Kast, der seit 1942 auch Mitglied der NSDAP war. Das belegen Recherchen des chilenischen Journalisten Mauricio Weibel, der kritisiert, dass Kast Junior die Rolle seines Vaters im NS-Regime verharmlost und dessen Parteimitgliedschaft bestritten hatte.

Bis heute bewahrt der extrem Rechte auch seine inhaltliche Nähe zu Ex-Diktator Augusto Pinochet. Er stellt die Legitimität von Urteilen gegen Militärs der Diktatur infrage, wie etwa im Fall des wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilten chilenischen Ex-Offiziers Miguel Krassnoff. Bis 2016 war Kast Mitglied der Pinochet-treuen Partei UDI. 2019 gründete er die Republikanische Partei und den Thinktank Republikanische Ideen, der die „Ideen der Rechten“ repräsentieren soll. Kast ist Anhänger des neoliberalen Wirtschaftsmodells, das sein älterer Bruder Miguel als Vertreter der ökonomischen Schule der „Chicago Boys“ nach dem Putsch 1973 in Chile mit eingeführt hatte: als Minister unter Pinochet und Chef der chilenischen Zentralbank.

Kast ist gut vernetzt mit dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro und dessen Sohn Eduardo. Nach Angaben der brasilianischen Zeitung O Globo fungiert der deutsch-chilenische Wirtschaftsingenieur Sven von Storch als Berater in internationalen Fragen für José Antonio Kast. Von Storch, der selbst wenig in der Öffentlichkeit auftritt, steht nach eigenen Angaben in regelmäßigem Austausch mit dem ultrarechten US-Ideologen Steve Bannon und orientiert sich an extrem rechten Bewegungen in Lateinamerika und Europa. Er ist der Ehemann der stellvertretenden Bundessprecherin der AfD, Beatrix von Storch, und Betreiber der Nachrichten- und Kommentarseite Freie Welt.

Punkten kann der 55 Jahre alte Rechtsanwalt Kast auch mit einem Diskurs von Sicherheit und autoritärer Ordnung. Damit spricht er breite Teile der chilenischen Bevölkerung und deren Ängste vor Narco- oder Bandenkriminalität an. Im gleichen Atemzug hetzt er gegen die Protestbewegung seit 2019: „Falls die Linke an die Macht kommen sollte, gibt es keinen Weg mehr zurück. Dann werden sich Wut und Gewalt ausbreiten. Das sind die politischen Methoden der Linken“, verkündet Kast und droht: „Das werden wir ihnen nie wieder erlauben“.

Kast verzerrt den ursprünglichen Sinn des Nunca Más (Nie Wieder), mit dem die Diktatur abgeschlossen und ihre Wiederholung für immer verhindert werden sollte und instrumentalisiert es gegen seine politischen Gegner: „Um es ganz klar zu sagen: Gabriel Boric und die Kommunistische Partei wollen die Vandalen begnadigen“, sagt er in der landesweit ausgestrahlten offiziellen Ansprache am Abend nach dem ersten Wahlgang: „Sie treffen sich mit Terroristen und Mördern. Sie wollen die Grenzen für den Handel schließen und unser Land in Instabilität, Hass und Zerstörung halten. Das muss aufhören.“

Bei vielen Chilen*innen verfängt auch dieses Zerrbild, dass Chile unter einem Präsidenten Boric wirtschaftliche Instabilität drohe und es sich zu einem zweiten Venezuela entwickeln würde. Ein venezolanisches Paar, das seit fünf Jahren in Chile lebt, ist zu Kasts Wahlkampfabschluss gekommen: „Hier leben wir viel besser“, sagt der Chemiker Manuel Chivit. Er erklärt: „Wir haben Venezuela vor allem aus wirtschaftlichen Gründen verlassen und finden es richtig, eine klare, rechte Position einzunehmen gegen das, was wir in Venezuela gelebt haben“. Tatsächlich verdienen einige Sektoren der chilenischen Bevölkerung gut bis sehr gut, für die Mehrheit gilt das allerdings nicht.

Für die Forderungen der sozialen Proteste seit 2019, den Ausbau der sozialen Infrastruktur und des Gemeinwohls steht Gabriel Boric als Präsidentschaftskandidat des Bündnisses von Frente Amplio und der kommunistischen Partei. „Seit heute stehen wir vor einer Herausforderung und einer enormen Verantwortung“, sagt der gerade mal 35 Jahre alte ehemalige Studierendenführer Boric in seiner Rede nach dem ersten Wahlgang: „Wir haben die Aufgabe, für die Demokratie zu streiten, und für eine Gesellschaft, die inklusiv und gerecht ist, und die allen ein Leben in Würde ermöglicht“. Es gebe keine Zeit zu verlieren, ergänzt er: „Wir müssen den Klimawandel aufhalten, die Umwelt schützen, das Recht auf Wasser für alle sichern. Für uns und die folgenden Generationen“.

Zwar gelten radikaleren Teilen der Protestbewegung Boric und die Frente Amplio als zu etabliert. In Anbetracht der knappen Kräfteverhält- nisse zwischen Boric und Kast fordern viele Linke allerdings, diesen Konflikt momentan zurückzustellen. „Boric muss auch den verfassungsgebenden Prozess verteidigen“, sagt Isabel Aguilera. Denn Kast ist bereits mehrfach als Gegner einer neuen Verfassung aufgetreten, die der Verfassungskonvent derzeit schreibt und über deren Inkraftsetzung die Bevölkerung Mitte 2022 abstimmen soll. Gleichzeitig fahren die Republikanische Partei und andere Organisationen, die sich rund um die „Patriotische Widerstandsbewegung“ (MRP) assoziieren, unter dem Motto „Chile retten“ eine mediale Delegitimierungskampagne gegen den Verfassungskonvent und dessen Vorsitzende, die Mapuche-Vertreterin Elisa Loncón. Zwar kann ein Präsident diesen Prozess nicht aussetzen, durch Delegitimierung jedoch empfindlich behindern.

Ein breites Spektrum von Mitte-Links- und christdemokratischen Parteien hat daher für die Stichwahl inzwischen zur Wahl Borics aufgerufen. Die knapp 13 Prozent der Wähler*innen, die im ersten Wahlgang für Sebastián Sichel aus dem Lager des aktuellen Präsidenten Piñera gestimmt hatten, dürften im Dezember für Kast stimmen. Diejenigen, die den in den USA lebenden drittplatzierten Franco Parisi gewählt hatten, sind schwerer einzuschätzen. So wie Parisi selbst Alimente für seine Kinder nicht zahlt und deshalb in den USA (erfolglos) Asyl beantragt und Chile während des ganzen Wahlkampfs nicht einmal betreten hat, scheinen auch seine Anhänger*innen – immerhin zwölf Prozent der Wähler*innen – ein Lebenskonzept zu favorisieren, das auf bedingungslosen Profit und Konsumorientierung setzt.

Am 21. November haben nur 47 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben – zwar mehr als 2017 und doch weniger als erwartet. Allemal ist es ein Ausdruck der weit verbreiteten Parteien- und Wahlverdrossenheit. Isabel Aguilera will vor der knappen Stichwahl am 19. Dezember „von Tür zu Tür gehen“, um die Menschen in der Nachbarschaft anzusprechen. Denn für sie ist es eine Schlüsselfrage, „diejenigen zu erreichen, die nicht gewählt haben“.

LUISA TOLEDO ODER: DIE WÜRDE VON CHILE

Der 6. Juli 2021 war ein trauriger Tag für die sozialen Bewegungen in Chile. An diesem Tag erlag Luisa Toledo, Mutter der während der zivil-militärischen Diktatur unter Augusto Pinochet ermordeten Brüder Vergara Toledo, mit 82 Jahren einem Krebsleiden. Im engen Kreis verabschiedete sich ihre Familie in ihrem Haus im Arbeiter*innenviertel Villa Francia in Santiago von der „Mutter der kämpferischen Jugend“: „Mit Stolz verabschieden wir diese unermüdliche, ewige, unverzichtbare Frau. Obwohl Luisa nicht mehr unter uns ist, hat ihr Vermächtnis eine tiefe Spur in der Geschichte derer hinterlassen, die kämpfen – auch über die Grenzen dieses Gebietes namens Chile hinaus“.

Es war der 29. März 1985, der das Leben der Familie Vergara Toledo für immer veränderte. An diesem Tag wurden der 18-jährige Rafael und der 20-jährige Eduardo Vergara Toledo, Mitglieder der Bewegung der revolutionären Linken (MIR), während eines Polizeieinsatzes in Villa Francia mit mehreren Schüssen in den Rücken ermordet. Erst im Jahr 2008 verurteilte ein Gericht die drei geständigen Polizisten zu mehrjährigen Haftstrafen, zwei von ihnen wurden jedoch vorzeitig auf Bewährung entlassen. Dem an den Brüdern Vergara Toledo verübten Verbrechen wird in Chile jedes Jahr mit einem Kampf- und Gedenktag, dem „Tag des jungen Kämpfers“ gedacht.

Am 5. November 1988 dann erschütterte ein weiterer Todesfall das Leben von Toledo: Gemeinsam mit dem 26-jährigen Araceli Romo wurde ihr jüngerer Sohn Pablo Vergara Toledo nach einer angeblichen Bombenexplosion in Temuco tot aufgefunden. Obwohl mittlerweile als sicher gilt, dass es sich dabei um eine Inszenierung des Geheimdienstes CNI zur Exekution der linken Aktivisten handelte, bleibt der Fall bislang straflos.

Geprägt von diesem großen Verlust wurden Luisa Toledo und ihr Mann Manuel Vergara zu Symbolfiguren des Kampfes für Gerechtigkeit. In ihrem Viertel, der emblematischen Villa Francia in Estación Central, widmete Toledo ihr Leben der Organisation des barrios und den Kämpfen für die Rechte der Armen. Ob es für Menschenrechte oder gegen die Repression der Polizei ging, Toledo war ständig an widerständigen Aktionen beteiligt, immer an vorderster Front, um zur Rebellion gegen die Ungerechtigkeiten des postdiktatorischen Chile zu ermutigen.

Während des jüngsten Aufstands im Oktober 2019, der auch die Risse in Chiles Geschichte offengelegt hat, tauchte die Figur von Luisa Toledo wieder als Beispiel für Würde und Kampf auf. Für viele war Luisa Quelle revolutionärer Kraft. Um mit ihren Worten zu schließen: „Für mich bedeutet die Revolte sehr viel, denn irgendwann begann ich mich zu fragen, ob es die vielen Opfer wert war, den vielen Tod, die vielen Verschwundenen, all die Menschen, die in der Zeit der Diktatur gelitten haben. Als ich mir diese Frage stellte, kam plötzlich der estallido social (etwa: „sozialer Knall“), laut wie ein überall widerhallender Schrei. Er erlaubte es, aufzuatmen, Hoffnung zu schöpfen und endlich meine Söhne in diesen Kämpfen wieder vertreten zu sehen. Von da an war ich mir wieder sicher, dass es all die Opfer wert ist, die erbracht werden, um diese Gesellschaft zu verändern“. ¡Luisa Toledo presente, ahora y siempre!

// AUFGEWACHT

Nicht zum ersten Mal sagen die Chilen*innen derzeit laut und deutlich, dass das herrschende System sich ändern soll: Im Oktober 1988 stimmte die Mehrheit in einem Plebiszit gegen die Fortführung der Diktatur Pinochets. Das Land bekam danach eine gewählte Regierung, in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht änderte sich jedoch fast nichts. Patricio Bañados, damals Fernsehsprecher der NO-Kampagne, bilanzierte daher im Jahr 2007: „Es haben mehr Leute mit ‚Nein‘ gestimmt, aber gewonnen hat das ‚Ja‘.“ Ähnliches hatten auch die Redakteur*innen der Lateinamerika Nachrichten bereits im Editorial vom Oktober 1988 prognostiziert (siehe hier). Heute fühlen sich viele der seit Wochen in Massen auf der Straße protestierenden Chilen*innen an die Atmosphäre nach dem Sieg des „NO“ erinnert, an das Gefühl, dass der bleierne Ballast vieler Jahre von ihren Schultern abgefallen ist: „Chile Despertó“, Chile ist aufgewacht – endlich!

Abgefallen scheint selbst die Angst vor den Militärs, die bis in Führungspositionen hinein immer noch die Folterknechte der Diktatur schützen und während der Proteste nun erneut im Verdacht stehen, zu foltern. Ganz anders dagegen die Privilegierten. In einem geleakten Audio eines Gesprächs mit einer Freundin sagte die Präsidentengattin nach Beginn der breiten Proteste: „Wir sind total überfordert, es ist wie eine Invasion Außerirdischer (…). Wir werden wohl auf einen Teil unserer Privilegien verzichten und mit den anderen teilen müssen.“

Eine ganze Generation von Reichen und Mächtigen hat sich in Chile daran gewöhnt, dass das Land ihnen gehört. Strom, Wasser, Gesundheit, Rente, Universitäten, Rohstoffe, Presse, Fernsehen und mehr: fast alles ist heute in den Händen weniger superreicher Familien sowie ausländischer Konzerne. Pinochet hatte die meisten Staatsbetriebe nach dem Sieg des „NO“ noch schnell zu einem Bruchteil ihres Wertes verkauft – an Freund*innen seines Regimes. Unter den Profiteur*innen dieses unverfrorenen Diebstahls von Staatsvermögen: der heutige Präsident Piñera, dem lange ein Fernsehkanal und die nationale Fluglinie gehörten. Der heutige Vorstandsvorsitzende und Mehrheitsaktionär der Firma Soquimich, die die umfangreichen Lithiumvorräte Chiles kontrolliert, war sogar Pinochets Schwiegersohn.

Pinochets Verfassung sorgt dafür, dass diese Umverteilung auf Kosten der Chilen*innen bis heute Bestand hat: dass der Staat kaum die Mittel hat, seiner Verpflichtung zur Daseinsfürsorge nachzukommen, selbst wenn er es denn wollte; dass nur der Profit zählt, nicht aber das Wohl der Menschen; dass Unternehmen beispielweise Anwohner*innen vergiften oder ihnen das Trinkwasser zugunsten von Plantagen wegnehmen dürfen, während die Menschen sich verschulden müssen, um U-Bahn-Fahrkarten und Stromrechnung zu bezahlen. Kein Wunder also, dass sich die Protestierenden heute nicht von ein paar Euro mehr Mindestlohn und Rente abspeisen lassen und eine verfassunggebende Versammlung einfordern.

Die rechte Regierung wird trotz geringfügiger Zugeständnisse alles tun, um das neoliberale System zu retten. Protegiert durch die Diktatur, begannen wichtige Politiker*innen der Regierungsparteien ihre Karrieren und haben sich, wie Piñera selbst, durch die Privatisierungen bereichert. Jaime Guzmán, Gründer der ultrarechten Partei Unabhängige Demokratische Union (UDI), galt sogar als Architekt der aus der Diktatur stammenden Verfassung, seine Gefolgsleute sind bis heute einflussreich.

Die Protestierenden werden also noch einen langen Atem brauchen. Dafür verdienen sie alle Unterstützung. Dass Deutschlands öffentlich-rechtliche Medien bisher ähnlich unausgewogen wie die chilenische Presse über die Proteste berichteten, beschämt uns daher. Und die Bundesregierung wäre gut beraten, in Chile nicht wie bisher nur einen Lieferanten für wichtige Rohstoffe und Freihandel zu sehen, sondern sich auch dann für Menschenrechte und Demokratie einzusetzen, wenn es ihren wirtschaftlichen Interessen zuwiderläuft.

 

SPUREN DER DIKTATUR

Mariana gehört der Oberschicht Chiles an: Sie muss sich um Geld keine Sorgen machen, nicht um den Haushalt kümmern, und verbringt ihre Tage mit Shopping, dem Leiten einer Kunstgalerie und lässt sich – eher widerwillig – mit Hormonspritzen behandeln, da sich ihr Ehemann Kinder wünscht. Es ist ein sorgloses Leben, aber auch ein monotoner Alltag. Um dieser Routine zu entfliehen, nimmt Mariana Reitstunden beim 20 Jahre älteren Juan, „El Coronel“ genannt. Schnell erfährt sie, dass gegen ihn wegen Menschenrechtsverletzungen ermittelt wird. Welche Rolle hatte Juan während der Diktatur inne? Und was weiß er von verschwundenen linken Aktivist*innen in den siebziger Jahren? Anstatt sich mit diesen Fragen zu beschäftigen und auf Abstand zu gehen, erhöht in Marianas Augen das Wissen um Juans Schuld seine Attraktivität.

Vieles bleibt unausgesprochen

In ihrem zweiten Spielfilm Los Perros zeigt die Regisseurin Marcela Said, wie aktuell die Vergangenheit sein kann. Auch nahezu 30 Jahre nach dem Übergang in die Demokratie sind die Spuren der Diktatur in Chile deutlich sichtbar, viele der Täter nach wie vor auf freiem Fuß. Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden aber nicht nur von Einzelpersonen begangen. In diesem Land gebe es zu viele passive Komplizen, sagt der ermittelnde Polizist. Zu denen gehört auch Mariana. Nicht nur ignoriert sie bewusst, warum sich ihr Vater und Juan bereits seit der Diktatur kennen; zwischen ihr und Juan entwickelt sich außerdem eine Affäre. Und eben dadurch wird Mariana zur Komplizin.

Inhaltlich wie optisch ist Los Perros ein kühler, mitunter schwer zugänglicher Film, in dem vieles unausgesprochen bleibt. Grandios sind Antonia Zegers und Alfredo Castro, die gekonnt diese arroganten, leeren, ambivalenten und auf faszinierende Weise abstoßenden Protagonist*innen darstellen, bei denen nie klar ist, wer eigentlich wen dominiert.
Gerade Mariana ist sehr komplex: Einerseits kann und möchte man für diese Frau, die genauso leer ist wie ihr Gegenüber, keine Empathie aufbringen. Andererseits wird ihr Wunsch nach Ausbruch bedingt durch die Art, wie sie die Männer in ihrem Leben behandeln, ein wenig verständlich – mit ihrem Ehemann findet kaum Kommunikation statt, der Vater nimmt sie als Geschäftspartnerin nicht ernst.
Die Botschaft von Los Perros ist deutlich: Auf Gerechtigkeit darf man nicht hoffen. Bei aller Schuld, welche die Elite Chiles durch ihre Kollaboration und ihr Schweigen auf sich nimmt, ist der Preis, den die Figuren am Ende zahlen, trotzdem hoch: allumfassende Einsamkeit.

DIE STIMME DER MARGINALISIERTEN HOMOSEXUALITÄT

Foto: © Joanna Reposi Garibaldi, Gabriela Jara


Wer ist Pedro Lemebel? Er ist ein Erdbeben. Er ist die Straße. Er ist die unaufhaltsame Kraft, die von der armen, marginalisierten Homosexualität ausgeht. “Wenn dieser Homosexuelle AIDS hat, aus der dritten Welt kommt, arm und Indianer ist, wird er ermordet”, sagt Lemebel.

Er ist einer der bedeutendsten Künstler und Schriftsteller Chiles, in der Welt jedoch so gut wie unbekannt. Mit seinem Werk konfrontierte er das Land sowohl während der Pinochet-Diktatur als auch während der jüngsten chilenischen Demokratie in den neunziger Jahren mit unbequemen Themen.

© Joanna Reposi Garibaldi, Gabriela Jara

Wer sich für Ihn interessiert, hat jetzt die Möglichkeit den Dokumentarfilm Lemebel (Panorama Dokumente) von der Regisseurin Joanna Reposi Garibaldi auf der 69. Berlinale zu sehen. Der Film benutzt zahlreiche Archivaufnahmen seiner provokanten und teils riskanten Performances, die sich an Grenzsituationen vorwagen, sowie öffentliche Lesungen seiner scharfzüngigen Texte und TVInterviews, die den/die Zuschauer*innen Lemebel’s Werk und Genie entdecken lassen.

Gleichzeitig ist der Film eine Art audiovisuelles essayhaftes Porträt und Erinnerungsstück, das die Regisseurin mit intimen Aufnahmen und Interviews anreichert. Während der acht Jahre bis zu seinem Tod im Jahr 2015 wurde Lemebel von ihr gefilmt. Persönliche Reflexionen des Künstlers über seine Kindheit, seine Ängste, seine Beziehung zu den Eltern, der Horror der Diktatur und Probleme mit Alkoholismus werden in diesem Material festgehalten. Lemebel’s Stimme führt durch den Film. Dazwischen sprechen sein Bruder Jorge und die Dichter*innen Sergio Parra und Carmen Berenguer. Die Regisseurin schafft durch die Projektion von Fotografien Lemebels und Bilder seiner Performances gegen die nde in seinem einstigen Wohnviertel zusätzliche visuelle Ebenen. Eine innovative Art von Ästhetik, die sie als repetitives Hilfsmittel in dem Film einsetzt.

© Joanna Reposi Garibaldi, Gabriela Jara

Auf die traditionelle, dokumentarische Form und ebenso auf die Vermittlung von Hintergrundinformation über die chilenische Geschichte, die für den/die Zuschauer*innen wichtig sein könnten, verzichtet dieser Dokumentarfilm. Das Anliegen des Films von Joanna Reposi Garibaldi ist, vermittels des mit dem Künstler geführten intimen Gesprächs, sein Werk, seine Kraft und seine Stimme in der Welt bekannter zu machen.

Dafür ist die Berlinale die richtige Bühne.

 

EIGENE ERMITTLUNGEN UNNÖTIG

Verbrechen in der Colonia Dignidad Der deutsche Staat war mitverantwortlich (Foto: AFDD Talca/FDCL)

Das in Berlin ansässige European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) hatte im April 2018 Strafanzeige gegen Reinhard Döring erstattet und der Staatsanwaltschaft Münster Hinweise auf dessen mögliche Beteiligung an Mordtaten vorgelegt. Aussagen ehemaliger Bewohner*innen der Sektensiedlung Colonia Dignidad aus vorherigen Gerichtsverfahren in Chile belegen, dass nach dem Militärputsch vom 11. September 1973 in der Colonia dutzende Gegner*innen der Pinochet-Diktatur erschossen und ihre Leichen verscharrt wurden. Wenige Jahre später wurden die Leichen wieder ausgegraben und verbrannt. Die betreffenden Aussagen stammen zu großen Teilen aus der Zeit nach März 2005, als der Sektenführer Paul Schäfer festgenommen wurde und die chilenischen Strafverfolgungsbehörden unter hohem Ermittlungsdruck standen. Der Beschuldigte Döring hatte sich jedoch bereits im Jahr 2004 nach Deutschland abgesetzt, sodass er in Chile nicht vernommen werden konnte. Deshalb seien die Informationen über ihn aus den chilenischen Ermittlungen spärlich, erklärt Jan Stehle vom Berliner Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL), der seit Jahren zu dem Fall Colonia Dignidad forscht. Verschiedene Beschuldigte deckten sich in diesem Verfahren bis heute gegenseitig, so die Einschätzung Stehles. 2005 wurde Döring von der chilenischen Justiz international zur Fahndung ausgeschrieben. Die deutschen Justizbehörden ignorierten das chilenische Festnahmeersuchen allerdings und leiteten bis 2016 auch keine eigenen Ermittlungen gegen Döring ein.

In einem anderen Verfahren bei der Staatsanwaltschaft Bonn hatte Reinhard Döring im Jahr 2009 als Zeuge ausgesagt und Straftaten wie die Bewachung von Gefangenen zugegeben, jedoch eine Beteiligung an Mordhandlungen verneint. Obwohl es Hinweise darauf gebe, so der Wissenschaftler Stehle, dass Döring Gefangene zu Erschießungen führte, wurden diese von der Staatsanwaltschaft Münster nicht als ausreichend relevant erachtet, um einen Anfangsverdacht wegen Beihilfe zum Mord zu begründen. „Der Beschuldigte war nach den vorliegenden Erkenntnissen lediglich als Bagger- und Kraftfahrzeugführer beschäftigt […]“, so lautet nun die Mitteilung der Staatsanwaltschaft Münster. Paul Schäfer habe niemals eine Person „von Anfang bis Ende“ in die Verbrechensbegehung eingeweiht, so will es die Münsteraner Staatsanwaltschaft aus einer Aussage eines weiteren, nicht näher benannten Colonia-Mitglieds, das Gefangene bewacht hat, erfahren haben. Die Staatsanwaltschaft Münster habe diese Aussagen eines Beschuldigten nicht durch eigene Ermittlungen überprüft und mit anderslautenden Aussagen kontrastiert, kritisiert Jan Stehle vom FDCL. Stattdessen zitiere sie in der Einstellungsmitteilung einen Brief des Beschuldigten Döring und erwähne, dass dieser „unwiderlegbar angegeben“ habe, in der Colonia Dignidad selbst Opfer einer nicht näher bezeichneten Straftat geworden zu sein. „Dies ist ein düsterer Tag für die Angehörigen der in der Colonia Dignidad Ermordeten und für alle, die sich seit Jahrzehnten für eine Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad einsetzen“, resümiert Stehle. Die Staatsanwaltschaft Münster habe es nicht für notwendig erachtet, den Beschuldigten zu vernehmen, so sein Fazit. Allem Anschein nach seien keine eigenen Ermittlungsschritte unternommen worden, obwohl viele Ansätze dazu vorlägen, sagt der Mitarbeiter des FDCL. Stattdessen würde der Version des Täters unhinterfragt übernommen. „Kann es tatsächlich sein, dass in zweieinhalb Jahren sogenannter Ermittlungen nur einige Altakten gelesen und Briefe nach Chile geschrieben wurden? Wer so handelt, kapituliert vor einer Verbrechensgeschichte, die Hunderten von Menschen immenses Leid zugefügt hat“, urteilt Stehle. Die Begründung für die Einstellung lasse vermuten, dass sich die Staatsanwaltschaft entweder mit der Komplexität des Sachverhalts überfordert sehe – oder kein wirkliches Aufklärungsinteresse habe.

„Dass es nicht einfach ist, vier Jahrzehnte zurückliegende Verbrechen in einem anderen Land aufzuklären, steht außer Frage. Wer jedoch nach jahrzehntelanger Untätigkeit – wie die nordrhein-westfälische Justiz im Fall Colonia Dignidad – heute Ermittlungsansätze ignoriert und stattdessen die Täterdiskurse salonfähig macht, arbeitet eher einer Aufklärung zuwider als sie zu befördern. Dies ist traurig und in einem Rechtsstaat ein Skandal“, stellt Stehle fest. Auch die Rechtsanwältin Petra Isabel Schlagenhauf, Anwältin von Opfern der Colonia Dignidad, kritisiert das Münsteraner Gericht scharf. „Diese Entscheidung reiht sich ein in die lange Reihe von Versagen der deutschen Justiz im Umgang mit den Verbrechen, die in der Colonia Dignidad geschehen sind“, so die Berliner Anwältin. Die Exekution dutzender Personen sei durch mehrere Aussagen von Zeug*innen belegt. Dies gelte ebenso für die Tatsache, dass die Leichen der Menschen in Massengräbern vergraben und nach Jahren wieder ausgegraben wurden. „Wie man dies als nicht gesichert darstellen kann, ohne überhaupt die Zeugen, die hierzu aussagen können – und auch teilweise in anderen Verfahren dazu ausgesagt haben – zu vernehmen, bleibt das Geheimnis der Staatsanwaltschaft Münster“, so Schlagenhauf. Dass die Colonia Dignidad in der Diktaturzeit ein Folterzentrum des Geheimdienstes beherbergte, und dass dort politische Gefangene umgebracht wurden, wird nicht ernsthaft bestritten. Aber auch zum Verdacht gegen den in diesem Verfahren Beschuldigten hätte man nach Ansicht von Schlagenhauf und Stehle weitere sinnvolle Ermittlungen anstellen können. „Dies ist scheinbar aber nicht gewollt“, so deren bitteres Resümee.

 

 

FEST AN DER SEITE DER BEVÖLKERUNG

Misstrauen gegenüber Parteien Das Lebensmotto von Victor Pey (Foto: Nils Brock)

Victor Pey wurde im August 1915 in Madrid geboren. Er wuchs in einem anti-autoritären Ambiente und einem Elternhaus voller kritischer Ideen auf. Sein Vater Segismundo war Schriftsteller und antiklerikaler Priester, der zivilen Ungehorsam predigte und die Soutane irgendwann ganz an den Nagel hing. Von seinem Sohn Víctor wissen wir, dass er sich während des spanischen Bürgerkriegs (1936-1939) den Anarchosyndikalist*innen anschließt und am 24. Juli 1936 mit der “Kolonne Durruti” von Barcelona los zieht, um die Stadt Zaragoza aus den Händen der frankistischen Truppen zu befreien. Später ist er für die republikanische Regierung in Barcelona aktiv, um die zivile Industrie Kataloniens auf die Kriegsproduktion umzustellen. Als Barcelona fällt, flüchtet er mit seinem Bruder Raúl zu Fuß über die Pyrenäen. „Zum Glück hatten wir einen Kompass mit“, erinnert sich Pey in einem Interview mit dem Rechercheprojekt Allendes Internationale. „Aus Angst vor Bombenangriffen war auf spanischer Seite nachts alles abgedunkelt. Als wir eines Tages Lichter sahen, war uns klar, dass wir französischen Boden erreicht hatten.“
Die Familie Pey wird eine Zeit lang im Konzentrationslager Rivesaltes, in der Nähe von Perpiñán interniert. Französische Freimaurer erreichen ihre Freilassung und bringen sie nach Lyon, von wo aus Víctor heimlich nach Paris weiterreist. Abends arbeitet er für die Exilregierung der spanischen Republik in der Rue Salazar, tagsüber sucht er fieberhaft nach einem persönlichen Ausweg.

Pablo Neruda als Fluchthelfer

Beim Spazierengehen liest er eines Nachmittags an einem Zeitungskiosk die Nachricht, der Dichter Pablo Neruda halte sich als Sonderbeauftragter Chiles in Paris auf, um spanische Flüchtlinge auszuwählen, die in seinem Land politisches Asyl erhalten würden. Unverzüglich sucht Pey das Gespräch mit ihm. Neruda notiert seinen Namen, verspricht aber nichts. Monate später, am 4. August 1939, legen Pey und seine Familie an Bord des Ozeandampfers Winnipeg in Bordeaux ab. “Ich erinnere mich an diesen Moment, als die Winnipeg den Anker lichtete und sich in Bewegung setzte”, erzählt Pey. “Auf dem Achterdeck hatte sich ein Chor aus Katalonen gebildet und intonierte das Lied „L’Emigrant“. Mich hat das tief beeindruckt, das ist unvergesslich.“ Einige Tage später trifft das Schiff in Valparaiso ein und noch während der Begrüßung der spanischen Flüchtlinge lernt Pey den damaligen Gesundheitsminister Salvador Allende kennen – der Beginn einer großen Freundschaft, die erst mit dem gewaltsamen Tod Allendes am 11. September 1973 endet. Pey findet eine Beschäftigung als Landvermesser und ermöglicht so seiner Familie eine gesicherte Existenz. Noch in den 1940er Jahren beginnt er Artikel für die Zeitschrift La Hora zu schreiben. Während dieser Zeit freundet er sich mit dem Journalisten Darío Sainte-Marie an, der in den 1950er Jahren die Tageszeitung Clarín gründen wird. Dieses Blatt erlangt sehr bald große Beliebtheit. Nicht nur aufgrund seiner gewagten Sprache, sondern auch wegen seiner teils reißerischen Schlagzeilen und Aktfotos (mitunter begleitet von machistischen und homophoben Kommentaren). In den 1960er Jahren hatte die Auflage bereits 150.000 Exemplare erreicht. Das Motto des Clarín lautete: “firme junto al Pueblo”, was soviel heißt wie “fest an der Seite der Bevölkerung”.Dem Clarín gelingt es, die Hegemonie der rechten Unternehmer-Blätter zu brechen. Die Zeitung repräsentierte die Aufstiegsambitionen der breiten Masse und unterstützte ab 1969 die Präsidentschaftskandidatur von Allende. Pey war es dann, der den Clarín 1972 kaufte und damit fortan “beständig und schlagkräftig” die Politik der Regierung bis zum letzten Tag verteidigte. “Jeden Tag, wenn ich gegen halb acht abends aus der Druckerei kam, brachte ich dem Präsidenten das neueste Exemplar”, erzählt Pey. So auch am 10. September 1973. Am nächsten Morgen jedoch, um 4 Uhr verhindern Armeeeinheiten die Auslieferung der aktuellen Ausgabe. Wenige Tage später konfisziert die Militärjunta den Sitz des Clarín. Nach Herausgeber Pey wird gefahndet und einmal mehr ist er gezwungen, um Asyl zu bitten, diesmal in der Botschaft Venezuelas, von wo aus er zuerst nach Caracas und später nach Paris reiste.

In den 1990er Jahren gründet Pey gemeinsam mit seinem Freund, dem spanischen Anwalt Joan Garcés, der in Chile als Berater der Regierung der Unidad Popular gewirkt hatte, die Stiftung “Fundación española Salvador Allende”. Die Institution hat 1998 entscheidenden Anteil an der Verhaftung von Augusto Pinochet in London und dem darauf folgenden Prozess wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Bereits einige Jahre vorher, nach Ende der Diktatur, war Pey nach Chile zurückgekehrt und beteiligte sich aktiv am Kampf für die Menschenrechte sowie an der Erinnerungsarbeit für die Unidad Popular. 2015 ehrte ihn die Universität von Chile zu seinem 100. Geburtstag mit der “Medaille des Rektorats”. Bei der Verleihung sagte Pey: “Für uns bedeutet Chile Freiheit, wir fanden eine Beschäftigung, hier arbeitete ich, hier verliebte ich mich […], hier unterstütze ich die Regierung von Salvador Allende, den Anführer eines Sozialismus ohne Blutvergießen, den chilenischen Weg zum Sozialismus, mit Empanadas und Rotwein [und] hier stehe ich jetzt vor euch, bei dieser Hommenage die mir so viel bedeutet.”

Eine Entschädigung für die Enteignung der Zeitung Clarín erreicht Pey bis zuletzt nicht

Bis zu seinem Tod am 5. Oktober 2018 versuchte Pey das Grundstück vom Clarín zurückzubekommen und von Chile eine Entschädigung für die Enteigung zu erwirken – ohne Erfolg. Dabei hatte eine internationales Schiedsgericht der Weltbank (Ciadi) die Rückgabe angeordnet und den chilenischen Staat zur Zahlung von 10 Millionen Dollar verurteilt. Doch der Fall konnte nie abgeschlossen werden, da sich ausnahmslos alle Regierungen nach Ende der Diktatur weigerten, dem Schiedspruch nachzukommen.
Im Alter von 103 Jahren erinnert sich Pey besonders gern an seine Zeit als Professor für Industrieingenieurwesen an der Staatlichen Technischen Universtität (UTE) und die langen, schlaflosen Nächte, in denen er Allende beriet. Über die revolutionären Zeiten die Pey mitgestaltete, sagte er: “Meine Position allem gegenüber war stets eine misstrauische Haltung gegenüber politischen Parteien. Das ist meine libertäre Essenz, die ich mir immer bewahrt habe.”

ENDLICH AUFARBEITUNG?

Besuche im Knast lohnen sich wohl doch manchmal. Mario Carroza, seines Amtes Richter in der chilenischen Hauptstadt Santiago besuchte am 25. August 2017 das Gefängnis von Cauquenes, etwa 300 Kilometer südlich von seinem Arbeitsplatz. Dort verhörte er die Funktionäre der ehemaligen Sektensiedlung Colonia Dignidad Kurt Schellenkamp (90), Gerd Mücke (87) und Gunter Schafrik (62), die alle drei wegen Sexualdelikten gegen Kinder zu Haftstrafen verurteilt wurden.

Obwohl bereits in den 1960er Jahren einzelne Colonos (Siedler*innen) entkommen konnten, die von den Grausamkeiten in der Siedlung berichteten, hielt sich die Siedlung, die heute Villa Baviera (Bayerisches Dorf) heißt, bis Mitte der 1990er. Möglich war dies unter anderem aufgrund der Verbindungen hochrangiger Sektenmitglieder zu deutschen Politiker*innen und Diplomat*innen und weil die deutsche Botschaft in der Hauptstadt Santiago de Chile sich taub stellte, wenn über die Verbrechen der Colonia berichtet wurde.

Sektenführer Paul Schäfer war im Jahr 2006 in Chile zu 20 Jahren Haft verurteilt worden und starb 2010 im Gefängnis. Und auch wenn mittlerweile einige ehemalige Funktionäre der Sekte in Haft sind, gibt es noch einiges an Aufarbeitung zu tun. Unter anderem sind noch immer Gräber von gewaltsam Verschwundenen der Militärdiktatur unentdeckt. Eben wegen der Suche nach einem dieser Gräber machte sich Carroza auf den Weg zum Gefängnis von Cauquenes, um dann direkt weiter zu fahren, um Hinweisen von Willy Malessa (68), einem ehemaligen Colono nachzugehen. Dieser berichtete von einem Grab, circa zwölf Kilometer vom Eingang der Colonia entfernt. Die Ermittlungen und Ausgrabungen dazu sind noch im Gange, Myrna Troncoso von der Vereinigung der Angehörigen der verhafteten Verschwundenen und politisch Hingerichteten in Talca, mahnt aber trotzdem, die Erwartungen nicht zu hoch zu schrauben: „Es gibt eine neue Spur, einen neuen Hoffnungsschimmer dafür, dass diese Erde einen oder mehrere unserer geliebten Angehörigen versteckt. „Wir dürfen keine Erwartungen aufbauen, die über das hinausgehen, was die Wissenschaft und das korrekte Handeln von Herrn Mario Carroza uns sagt.“ Man müsse nun vorsichtig und behutsam sein.

Während in Chile also zumindest etwas Hoffnung besteht, dass die sterblichen Überreste einiger der im Auftrag der Militärdiktatur gewaltsam Verschwundenen gefunden werden können, wurden in den letzten Sitzungswochen des Bundestages die Weichen dafür gestellt, dass auch in Deutschland Aufarbeitung stattfinden kann. Nach monatelangem Hin und Her und den üblichen unwürdigen parteipolitischen Spielchen wurde am 29. Juni ein von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und Grünen eingebrachter Antrag mit dem Titel „Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad“ einstimmig beschlossen. Auch die Linkspartei, die bei der Antragsausarbeitung ausgeschlossen wurde, unterstützte den Antrag. „Leider konnte die Union auch in diesem Fall nicht über ihren ideologischen Schatten springen“, so der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Jan Korte.

Neben einem Hilfsfond für die Opfer der Sekte, soll eine Begegnungs- und Gedenkstätte eingerichtet, sowie eine deutsch-chilenischen Expertenkommission eingesetzt werden.

Neben einem Hilfsfond für die Opfer der Sekte, soll eine Begegnungs- und Gedenkstätte eingerichtet, sowie eine deutsch-chilenischen Expertenkommission eingesetzt werden. Die Opfer sollen psychosozial betreut und gegebenenfalls finanziell unterstützt werden. Dafür sollen nach dem Willen der Parlamentarier auch Mittel aus dem Vermögen der Sekte herangezogen werden. Bemerkenswert an dem Antrag ist, dass die Opfer der chilenischen Militärdiktatur ausdrücklich erwähnt werden.

Vor allem aber verpflichtet der Antrag die Bundesregierung bis zum 30. Juni 2018 „ein Konzept für Hilfsleistungen zur Beratung vorzulegen und dessen Finanzierung zu prüfen.“ „Durch die konkrete Frist ist sichergestellt, dass Fragen mit finanziellen Konsequenzen nicht nur geprüft, sondern auch umgesetzt werden“, so Christian Flisek (SPD) gegenüber den LN. „Im vorliegenden Antrag wird jede eindeutige Zusage für die Förderung der Aufarbeitungs- und Gedenkarbeit sowie einer Hilfe für die Opfer vermieden“, kritisiert hingegen Jan Korte.

Laut Jan Stehle vom Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile Lateinamerika (FDCL) ist der Antrag ein wichtiges und Hoffnung gebendes Signal. „Zum Feiern ist es aber noch zu früh. Es gab ja schon 2002 einen Bundestagsbeschluss mit dem Titel ‘Hilfe für die Opfer der Colonia Dignidad’, der nicht angemessen umgesetzt wurde“. Stehle erinnert zudem daran, dass auf chilenischer Seite auch noch viel passieren muss, da viele der im Antrag beschlossenen Maßnahmen nur bilateral umgesetzt werden könnten.

Die Entwicklungen in Deutschland werden auch in Chile kritisch begleitet. „Das ist das erste echte Signal dafür, dass die Schäden, die die Sekte von Paul Schäfer angerichtet hat, beglichen werden“, sagte Myrna Troncoso von der Vereinigung der Angehörigen gegenüber den LN.
Tatsächlich scheinen dieses Mal den Ankündigungen und Willensbekundungen des Bundestages Taten zu folgen. Der Regionalbeauftragte für Lateinamerika und Karibik, Botschafter Dieter Lamlé, und der Botschafter der Republik Chile, Patricio Pradel, haben schon am 12. Juli Absprachen über die Einsetzung einer chilenisch-deutschen Kommission unterschrieben. Klar ist bis jetzt, dass diese Kommission die Vergangenheit der Colonia aufarbeiten, deren Vermögen untersuchen, sowie eine Gedenkstätte einrichten soll.

Unklar ist allerdings wer in der Kommission vertreten sein wird. „Wir hoffen, dass zivilgesellschaftliche Organistionen und Experten nicht nur angehört, sondern in die Arbeit der Kommssion von Beginn an mit eingebunden werden. Im besten Fall ist dies der erste Schritt für die Schaffung einer Wahrheitskommission, die zur umfassenden Aufklärung aller Verbrechen der Colonia beitragen kann“, so Jan Stehle. Zum ersten Treffen der Kommission im Oktober in Chile sollen nach jetzigem Stand allerdings nur Regierungsvertreter*innen kommen. Immerhin wird aber schon vor den im November und Januar anstehenden Wahlen die Arbeit aufgenommen. Sollte nämlich der Konservative Sebastian Piñera als Sieger aus den Präsidentschaftswahlen in Chile hervorgehen, dürfte dies die Arbeit der Kommission noch schwerer und langsamer machen, als sie sowieso schon ist.

Erstaunliche Geschwindigkeit aufgenommen hat wiederum das Vollstreckungsersuchen gegen den ehemaligen Sektenarzt Hartmut Hopp, der in Chile wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauch zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Dieses lag dem Landgericht Krefeld seit 2015 vor. Es geht dabei um die Frage, ob Hopp die gegen ihn verhängte Haftstrafe in Deutschland verbüßen muss. Das Gericht war wiederholt für seine langsame Vorgehensweise kritisiert worden. Am 14. August erklärte es überraschenderweise das chilenische Urteil für in Deutschland vollstreckbar. Petra Isabel Schlagenhauf, Kooperationsanwältin des European Center for Constitutional and Human Rights sagte dazu in einer Presseerklärung: „Die Entscheidung des Landgerichts Krefeld gegen Hartmut Hopp wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauch in der Colonia Dignidad begrüße ich sehr. Sie lässt darauf hoffen, dass in diesem Teilbereich der in der Colonia Dignidad begangenen Verbrechen die Aussicht für die Opfer besteht, dass Gerechtigkeit geschieht. Sie bestätigt außerdem, dass die Verurteilung von Hartmut Hopp in Chile in einem rechtsstaatlichen Verfahren erfolgt ist.” Die Entscheidung ist allerdings noch nicht rechtskräftig, da Hopp, der unbehelligt in Krefeld lebt, Rechtsmittel eingelegt hat. Zumindest aber ist es nun im Bereich des Möglichen, dass mit ihm ein weiterer Colonia-Funktionär für seine Taten zur Rechenschaft gezogen wird.

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