Verbrechen in der Colonia Dignidad Der deutsche Staat war mitverantwortlich (Foto: AFDD Talca/FDCL)
Das in Berlin ansässige European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) hatte im April 2018 Strafanzeige gegen Reinhard Döring erstattet und der Staatsanwaltschaft Münster Hinweise auf dessen mögliche Beteiligung an Mordtaten vorgelegt. Aussagen ehemaliger Bewohner*innen der Sektensiedlung Colonia Dignidad aus vorherigen Gerichtsverfahren in Chile belegen, dass nach dem Militärputsch vom 11. September 1973 in der Colonia dutzende Gegner*innen der Pinochet-Diktatur erschossen und ihre Leichen verscharrt wurden. Wenige Jahre später wurden die Leichen wieder ausgegraben und verbrannt. Die betreffenden Aussagen stammen zu großen Teilen aus der Zeit nach März 2005, als der Sektenführer Paul Schäfer festgenommen wurde und die chilenischen Strafverfolgungsbehörden unter hohem Ermittlungsdruck standen. Der Beschuldigte Döring hatte sich jedoch bereits im Jahr 2004 nach Deutschland abgesetzt, sodass er in Chile nicht vernommen werden konnte. Deshalb seien die Informationen über ihn aus den chilenischen Ermittlungen spärlich, erklärt Jan Stehle vom Berliner Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL), der seit Jahren zu dem Fall Colonia Dignidad forscht. Verschiedene Beschuldigte deckten sich in diesem Verfahren bis heute gegenseitig, so die Einschätzung Stehles. 2005 wurde Döring von der chilenischen Justiz international zur Fahndung ausgeschrieben. Die deutschen Justizbehörden ignorierten das chilenische Festnahmeersuchen allerdings und leiteten bis 2016 auch keine eigenen Ermittlungen gegen Döring ein.
In einem anderen Verfahren bei der Staatsanwaltschaft Bonn hatte Reinhard Döring im Jahr 2009 als Zeuge ausgesagt und Straftaten wie die Bewachung von Gefangenen zugegeben, jedoch eine Beteiligung an Mordhandlungen verneint. Obwohl es Hinweise darauf gebe, so der Wissenschaftler Stehle, dass Döring Gefangene zu Erschießungen führte, wurden diese von der Staatsanwaltschaft Münster nicht als ausreichend relevant erachtet, um einen Anfangsverdacht wegen Beihilfe zum Mord zu begründen. „Der Beschuldigte war nach den vorliegenden Erkenntnissen lediglich als Bagger- und Kraftfahrzeugführer beschäftigt […]“, so lautet nun die Mitteilung der Staatsanwaltschaft Münster. Paul Schäfer habe niemals eine Person „von Anfang bis Ende“ in die Verbrechensbegehung eingeweiht, so will es die Münsteraner Staatsanwaltschaft aus einer Aussage eines weiteren, nicht näher benannten Colonia-Mitglieds, das Gefangene bewacht hat, erfahren haben. Die Staatsanwaltschaft Münster habe diese Aussagen eines Beschuldigten nicht durch eigene Ermittlungen überprüft und mit anderslautenden Aussagen kontrastiert, kritisiert Jan Stehle vom FDCL. Stattdessen zitiere sie in der Einstellungsmitteilung einen Brief des Beschuldigten Döring und erwähne, dass dieser „unwiderlegbar angegeben“ habe, in der Colonia Dignidad selbst Opfer einer nicht näher bezeichneten Straftat geworden zu sein. „Dies ist ein düsterer Tag für die Angehörigen der in der Colonia Dignidad Ermordeten und für alle, die sich seit Jahrzehnten für eine Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad einsetzen“, resümiert Stehle. Die Staatsanwaltschaft Münster habe es nicht für notwendig erachtet, den Beschuldigten zu vernehmen, so sein Fazit. Allem Anschein nach seien keine eigenen Ermittlungsschritte unternommen worden, obwohl viele Ansätze dazu vorlägen, sagt der Mitarbeiter des FDCL. Stattdessen würde der Version des Täters unhinterfragt übernommen. „Kann es tatsächlich sein, dass in zweieinhalb Jahren sogenannter Ermittlungen nur einige Altakten gelesen und Briefe nach Chile geschrieben wurden? Wer so handelt, kapituliert vor einer Verbrechensgeschichte, die Hunderten von Menschen immenses Leid zugefügt hat“, urteilt Stehle. Die Begründung für die Einstellung lasse vermuten, dass sich die Staatsanwaltschaft entweder mit der Komplexität des Sachverhalts überfordert sehe – oder kein wirkliches Aufklärungsinteresse habe.
„Dass es nicht einfach ist, vier Jahrzehnte zurückliegende Verbrechen in einem anderen Land aufzuklären, steht außer Frage. Wer jedoch nach jahrzehntelanger Untätigkeit – wie die nordrhein-westfälische Justiz im Fall Colonia Dignidad – heute Ermittlungsansätze ignoriert und stattdessen die Täterdiskurse salonfähig macht, arbeitet eher einer Aufklärung zuwider als sie zu befördern. Dies ist traurig und in einem Rechtsstaat ein Skandal“, stellt Stehle fest. Auch die Rechtsanwältin Petra Isabel Schlagenhauf, Anwältin von Opfern der Colonia Dignidad, kritisiert das Münsteraner Gericht scharf. „Diese Entscheidung reiht sich ein in die lange Reihe von Versagen der deutschen Justiz im Umgang mit den Verbrechen, die in der Colonia Dignidad geschehen sind“, so die Berliner Anwältin. Die Exekution dutzender Personen sei durch mehrere Aussagen von Zeug*innen belegt. Dies gelte ebenso für die Tatsache, dass die Leichen der Menschen in Massengräbern vergraben und nach Jahren wieder ausgegraben wurden. „Wie man dies als nicht gesichert darstellen kann, ohne überhaupt die Zeugen, die hierzu aussagen können – und auch teilweise in anderen Verfahren dazu ausgesagt haben – zu vernehmen, bleibt das Geheimnis der Staatsanwaltschaft Münster“, so Schlagenhauf. Dass die Colonia Dignidad in der Diktaturzeit ein Folterzentrum des Geheimdienstes beherbergte, und dass dort politische Gefangene umgebracht wurden, wird nicht ernsthaft bestritten. Aber auch zum Verdacht gegen den in diesem Verfahren Beschuldigten hätte man nach Ansicht von Schlagenhauf und Stehle weitere sinnvolle Ermittlungen anstellen können. „Dies ist scheinbar aber nicht gewollt“, so deren bitteres Resümee.