Chile | Nummer 593 - November 2023

Stimmen zum 50. Jahrestag des Putsches

Menschen teilen ihre Eindrücke zum 11. September 2023

Von Urs Müller-Plantenberg, Diego Reyes Vielma, Nicolás Palacios, Luis Cortés Vergara, Jorge Díaz Marchant, Coordinadora Feminista 8M, Ute Löhning, Llanquiray Painemal (Koordination & Übersetzung: Susanne Brust, Tabea Fehr & Martin Schäfer)
Compañero presidente Das Bild Salvador Allendes ist auf den Gedenkdemos stets präsent (alle Fotos: Diego Reyes Vielma)

Die Regierung der Unidad Popular strebte in Chile 1970 bis 1973 einen demokratischen Sozialismus an. Das war ein Projekt, das weltweit viele ersehnten, schon weil mit dem Ungarn-Aufstand 1956 und dem Prager Frühling 1968 ähnliche Versuche gescheitert waren.
Am 11. September 1973 putschte das Militär, massiv unterstützt von der CIA, eine Junta aus den Oberkommandierenden der Teilstreitkräfte und der Polizei übernahm die Macht. Tausende Gegner des Militärs wurden verhaftet, gefoltert, ermordet oder verschwanden einfach. Sehr viele flohen ins Ausland. In Berlin entfaltete sich unmittelbar nach dem Putsch eine vielfältige Solidaritätsarbeit. Es gab eine spontane Demonstration am Olivaer Platz. Man traf sich am Sonntag in den Räumen der Evangelischen Studentengemeinde der Technischen Universität zur Gründung des Berliner Chile-Komitees. Die Auflage der schon vor dem Putsch gegründeten Solidaritätszeitschrift Chile-Nachrichten stieg von 200 auf 6.000 Exemplare. Bei einer Versammlung im Haus der Kirche nannte Helmut Gollwitzer den Putsch „Klassenkampf von oben“ und fragte nach dem Konto für den Widerstand in Chile. Die unvergessliche Elfriede Irral richtete es sofort ein. In den nächsten Jahren floss eine Million Mark nach Chile.
Fragt man sich heute, was aus all dem geworden ist, so ist hervorzuheben, dass die Solidarität nicht nachgelassen hat. Die Chile-Nachrichten existieren immer noch, wenn auch unter dem Namen Lateinamerika Nachrichten. Und die Redaktion ist jung geblieben.
Leider hat der politische Prozess in Chile nicht zu einer gründlichen Veränderung geführt. Die Verfassung der Militärs ist immer noch in Kraft. Es gibt also noch viel zu tun.

// Urs Müller-Plantenberg // Soziologe, Professor für Lateinamerikanistik, LN-Mitgründer // Berlin

Die Erinnerung am Leben halten Fotos von Verschwundenen auf einer Gedenkdemo

Seit meiner Kindheit habe ich in den Nachrichten immer wieder Frauen mit den Fotos ihrer verschwundenen Angehörigen gesehen. Jahr für Jahr habe ich von den Gräueltaten der Pinochet-Diktatur erfahren. Und so hoffte ich Jahr für Jahr auch, dass wir es irgendwann herausfinden würden: „Wo sind sie?“ Heute, 50 Jahre nach dem Putsch, leben immer weniger Beteiligte und es wird immer schwieriger, den Verbleib der Verschwundenen zu erfahren. Nach 50 Jahren leugnen Teile der chilenischen Gesellschaft immer mehr die Geschichte, indem sie Menschenrechtsverletzer zu Opfern erklären und die Figur Pinochets verherrlichen. Es macht mir Sorgen, dass es 50 Jahre nach dem Putsch an Erinnerung und Gerechtigkeit fehlt – in einem Land, in dem die Versöhnung mit jedem Tag weiter entfernt scheint. Ich hoffe, dass der Pakt des Schweigens zwischen den Militärs und ihren zivilen Handlangern eines Tages beendet wird, um eine echte Versöhnung zu erreichen.

// Diego Reyes Vielma // Fotograf // Santiago de Chile

Diktator Pinochet in Flammen Seine neoliberalen, autoritären Ideen leben weiter

Ich bin erst 32 Jahre alt, der Putsch war vor 50 Jahren. Ich habe ihn nicht erlebt, aber er hat sich in meine Erinnerung und in die kollektive Erinnerung meines Landes eingebrannt. Dass es bis heute keine Gerechtigkeit gibt, kommt uns teuer zu stehen: Es wird immer normaler, die Taten der Junta von Pinochet und der Diktaturverbrecher im Gefängnis von Punta Peuco zu rechtfertigen. Und die Ultrarechte, von der diese Rechtfertigungen kommen, könnte es bald ins Präsidentenamt schaffen.
Dass es in den 1990er und 2000er Jahren keine politischen und rechtlichen Konsequenzen gab, hat für das ganze Land schlimme Folgen. Das Weiterleben des von der Junta entworfenen autoritären Konzeptes der „geschützten Demokratie“, die fortgesetzte Machtposition des Militärs, die Selbstgefälligkeit der Mitte-Links-Regierungen der Postdiktaturzeit und die intensive Rebranding-Arbeit der Rechten haben uns in eine lächerliche Situation manövriert: Narrative aus der Mitte des 20. Jahrhunderts wie der sehr lebendige Antikommunismus hindern uns daran, uns gesellschaftliche Rechte zu erkämpfen.
Dieser 11. September war für mich ein düsteres Datum. Ich habe das Gefühl, wir haben lange von der Hoffnung, von Idealen und dem Kampf gelebt. Aber die ganze Zeit – ich meine dabei nicht nur 2019, sondern auch die sogenannte Revolution der Pinguine von 2006, die Bewegung der Studierenden von 2011 – wussten wir, dass die politische Gleichgültigkeit uns im Nacken sitzt. Die Rechte schaffte es stets, die Situation zu drehen und eine Bevölkerung, die ihren Alltag durch radikale Veränderungen bedroht sah, zu überzeugen.
Ich verliere also Stück für Stück die Hoffnung – aber nicht den Wunsch, dass die Dinge sich ändern. So dass wir alle zusammen sagen können: Nie wieder! NUNCA MÁS!

// Nicolás Palacios // Geograf // Zürich

An diesem 11. September habe ich gesehen, wie die Leugnung der Diktaturverbrechen durch die Rechte voranschreitet. Die Regierung konterte mit einem geschönten Bild von Allende als „Demokrat“, ohne das Programm der Unidad Popular zu erwähnen. Beim diesjährigen Gedenkmarsch zum Hauptfriedhof mussten sich teilnehmende Organisationen akkreditieren, damit der Präsident teilhaben konnte. Aber es kam wie üblich zu Repression. In Berlin stellte die chilenische Botschaft Fotos von Landbesetzungen während der Allendezeit aus. Gleichzeitig plant die Regierung ein Gesetz, das Räumungen erleichtert und Grundbesitzer*innen schützt, die ihren Besitz mit Kugeln verteidigen wollen.Während der sozialen Revolte von 2019 haben wir gesagt, dass die Übergriffe der Carabineros auf die Zivilbevölkerung Menschenrechtsverletzungen waren. Das bedeutete, dass man im September, wenn man auf die Verbrechen der Diktatur hinwies, indirekt auch von den sozialen Protesten sprach. Als die jetzige Regierung sich der Wiederherstellung des Images der Carabineros widmete und Gesetze durchsetzte, die ihnen Straffreiheit garantierten, untergrub sie damit nicht nur die Revolte, sondern auch die Kämpfe gegen die Diktatur: Wenn die Carabineros eine so ernstzunehmende Institution sind, haben sie dann wirklich Menschenrechtsverletzungen zu verantworten? Sind die Menschenrechtsverbrechen während der Diktatur dann nicht auch Übertreibungen? Ich frage mich: Kann der Gedenktag vor den Bürokrat*innen, die ihn heute verwalten, gerettet werden?

// Luis Cortés Vergara // Student // Berlin

Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal in Berlin sein würde. Noch weniger, dass ich den 50. Jahrestag des faschistischen Militärputsches dort erleben würde, der das Leben von Präsident Salvador Allende beendete und den Tod und das Verschwindenlassen Tausender zur Folge hatte.
Während ich auf der Demo in Berlin darauf wartete, meinen Redebeitrag zu halten, habe ich mich mit Chilenen unterhalten, die schon seit mehr als 48 Jahren in Deutschland leben. Sie haben mir erzählt, wie sie auf einmal aus Chile fliehen mussten. Unter dieser Barbarei litt ein großer Teil der Bevölkerung, vor allem die, die sich politisch oder sozial engagiert hatten. In meinem Redebeitrag habe ich von den neuen Herausforderungen unseres Landes berichtet und einen Bogen geschlagen: von unseren Problemen in den 1980er Jahren bis zu den riesigen Problemen, die die Diktatur hinterlassen hat. Ihre Gesetze haben die Ausplünderung und fehlende Wertschätzung reicher Ökosysteme bewirkt, die dem freien Markt überlassen wurden – bis hin zum Wasser, das bis heute in privatisiert ist.
Um es einfach auszudrücken: Ich habe den Gedenktag mit Heimweh und Freude erlebt. Heimweh, weil ich nicht zu Hause war. Freude, weil ich eine flüchtige Nähe mit meinen chilenischen Brüdern erlebt habe, die so weit weg von unserem Land leben.

// Jorge Díaz Marchant // Aktivist der Wasser- und Umweltbewegung MODATIMA // Puente Alto

„Heute fädeln wir den roten Faden unseres Gedenkens auf: In seinem Zentrum stehen die Kämpfe und Widerstände der Menschen, der Frauen und Queers während der tausend Tage der Regierung Allende und der zivil-militärischen Diktatur. Unsere Erinnerung ist der Motor und das Licht, um die Gegenwart infrage zu stellen und unsere Strategien und Kämpfe der Zukunft zu entwerfen. (…) Sie können uns weder unsere Erinnerung noch unsere Zukunft nehmen. Wie eine Beschwörung, die aus unserem Land und unserem Innersten kommt, erinnern wir heute daran: Als Feministinnen vergessen und verzeihen wir keinen Putsch und keinen Schlag.
Nicht weiter, nie wieder! Es leben die, die kämpften, kämpfen und kämpfen werden!”

// Die Coordinadora Feminista 8M in der chilenischen Le Monde Diplomatique

Wieder Tränengas auf den Straßen von Santiago Die Demo zum 50. Jahrestag des Putsches wurde von den Carabineros unterbrochen

50 Jahre sind vergangen seit dem Putsch in Chile. Vorbereitet wurde er auch in der Colonia Dignidad: In der deutschen Sektensiedlung, die stets gute Beziehungen zur deutschen Botschaft und zum Auswärtigen Amt unterhielt, fanden paramilitärische Übungen mit Rechtsextremen statt. Sie war ein Umschlagplatz für Waffen – mit Beteiligung oder zumindest mit Wissen des BND. Nach dem Putsch wurden politische Gefangene dort gefoltert und ermordet, ihr Schicksal wurde nie aufgeklärt, noch immer werden Leichen in Gräbern auf dem Gelände vermutet. Die chilenische Justiz ermittelt zwar noch, doch die Aussichten auf Aufklärung sind gering. Vor der deutschen Justiz sind alle Verbrechen der Colonia Dignidad straflos geblieben, Täter finden hierzulande einen sicheren Hafen. Zur Aufklärung der bundesdeutschen Verantwortung müssen auch die Akten des BND endlich freigegeben werden.Die aktuellen Mitte-Links-Regierungen in Chile und Deutschland könnten nun, 50 Jahre später, ihr kurzes Zeitfenster nutzen und gemeinsam zumindest eine Gedenkstätte auf den Weg bringen. Den Angehörigen der Verschwundenen, die einen Ort zum Trauern brauchen, sind sie es ohnehin schuldig. Es ist untragbar, dass die deutsche Siedlung heute ein Ausflugslokal mit Hotel-Restaurant im bayerischen Stil ist, in dem von der Geschichte kaum etwas zu sehen ist. Im Kontext des 50. Jahrestag des Putsches hatte die chilenische Regierung geplant, Gedenktafeln an historischen Orten der ehemaligen Colonia Dignidad anzubringen – doch daraus wurde nichts. Auch bei der Gründung einer Trägerorganisation für den Gedenkort stockt es. Die deutsche Regierung hält sich vornehm zurück und verweist darauf, der Ball liege in Chile. Doch beide Regierungen tragen eine große Verantwortung: Ein Dokumentations-, Gedenk- und Lernort wäre wenigstens ein Punktgewinn gegen das Erstarken der extremen Rechten, die auch in Chile versucht, die Geschichte von Putsch und Diktatur wieder auf ihre Art und Weise umzuschreiben.

// Ute Löhning // Freie Journalistin // Berlin

Angesichts des Schweigens (Ausschnitt)

Zuerst kamen die Spanier
sie haben es nicht geschafft, uns zu beherrschen
sie mussten uns anerkennen
als freies und souveränes Volk.

Danach kamen die Chilenen,
… aber ich bin nicht in Chile geboren
Chile wurde auf unserem Territorium geboren
und als es geboren wurde,
machte es Versprechungen, die es nicht hielt.
So wie der Vertrag von Tapihue von 1825,
als sie versprachen, unsere Territorien,
unsere Souveränitat und Lebensphilosophie zu respektieren

aber sie haben uns den Krieg erklärt
sie nannten ihn Befriedung der Araucanía.
Sie töteten, vergewaltigten,
raubten, verbrannten die Häuser der Mapuche.
Es war ein Genozid, aber sie nennen ihn nicht Genozid
weil sie es sind, die die Definitionsmacht haben
und weil wir nicht weiß waren
sondern “indios”.

Mein Vater hat mir erzählt,
dass seine Großmutter ihm erzählte,
dass der letzte organisierte Aufstand gegen die Kolonisatoren
im Jahr 1881 war.
Und es ist kein Zufall, dass sie 1883
in Paris, Berlin und Hamburg 14 Mapuche ausstellten
wie Tiere
in den sogenannten Menschenzoos.

Aus dieser Geschichte komme ich,
die, die weiter zurückgeht als ins Jahr 73
weiter zurückgeht als bis zu Pinochets Militärputsch

Eine Geschichte struktureller Gewalt
dem Aufzwingen einer Sprache,
der Ausplünderung,
der Unsichtbarmachung und Abwertung unserer Kultur
und unserer Art, zu leben.

Aus dieser Geschichte komme ich
und diese Geschichte ist noch nicht vorbei

// Llanquiray Painemal // als Mapuche in verschiedenen migrantischen Kollektiven aktiv // Berlin
Das Gedicht „Angesichts des Schweigens“ wurde anlässlich des 11. September 2023 geschrieben und während einer Gedenkveranstaltung im Haus der Kulturen der Welt in Berlin vorgetragen.

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