
Zwanzig Jahre ist es her, dass der frühere Anführer der Colonia Dignidad, Paul Schäfer, in seinem argentinischen Versteck entdeckt und verhaftet wurde. Doch bis heute gibt es keine Gedenkstätte, kein Dokumentationszentrum in jener 1961 gegründeten deutschen Siedlung in Chile, deren Bewohner*innen jahrzehntelang Zwangsarbeit und sexualisierter Gewalt unterworfen waren und in der chilenische Oppositionelle während der Diktatur (1973 bis 1990) gefoltert und ermordet wurden. Ein Teil des Geländes der deutschen Siedlung steht seit 2016 unter Denkmalschutz. Seit 2021 liegt ein von Gedenkstätten-Expert*innen im Auftrag einer deutsch-chilenischen Regierungskommission erstelltes Konzept für die Schaffung eines Gedenk-, Dokumentations- und Lernorts vor. Im Juni 2024 verkündete der chilenische Präsident Gabriel Boric – direkt vor einem Besuch in Deutschland – seine Regierung werde zur Umsetzung einer Gedenkstätte Teile des Geländes der Ex Colonia Dignidad enteignen. Anfang März – nun direkt vor einem Chilebesuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier – kündigten die chilenischen Minister Jaime Gajardo (Justiz und Menschenrechte) und Carlos Montes (Wohnen und Städtebau) an, das zu enteignende Gelände auf 116 Hektar vergrößern zu wollen. Demzufolge müssten mehrere Bewohner*innen der Villa Baviera ihre Wohnhäuser verlassen. Die Aufarbeitung der Colonia Dignidad stand neben Rohstoff- und Handelsfragen auf der Tagesordnung der Südamerikareise des Bundespräsidenten. Steinmeier kennt die Geschichte der deutschen Siedlung und der dort begangenen Verbrechen sehr gut. 2016 hatte er, damals als Außenminister, eine moralische Mitverantwortung der Bundesrepublik Deutschland eingeräumt. Denn Mitarbeiter*innen deutscher Behörden wussten von den Verbrechen der Colonia Dignidad, aber unterbanden sie nicht.
In der chilenischen Hauptstadt Santiago besuchte Steinmeier das Museum für Erinnerung und Menschenrechte. Dort präsentierte Stefan Rinke, Professor für lateinamerikanische Geschichte an der Freien Universität Berlin (FU) als Teil der deutschen Delegation die im Entstehen begriffene Medienstation „Interaktive Erinnerungen an die Colonia Dignidad“. Im Rahmen eines Kooperationsprojekts der FU mit dem Museum sollen zunächst Videointerviews von Zeitzeug*innen präsentiert werden, die bereits über das „Colonia Dignidad Oral History Archive“ verfügbar sind. Die Psychologin Evelyn Hevia Jordán, die viele der Interviews geführt hat, wird die Medienstation in den kommenden Jahren mit weiteren Dokumenten ausbauen. „Dieses Projekt soll die Erinnerungen der Zeitzeugen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen“, sagt sie. Es könne jedoch keinesfalls als Ersatz für eine Gedenkstätte und ein Dokumentationszentrum am historischen Ort gelten. Im Museum traf sich Steinmeier auch mit Opfern der Colonia Dignidad. Einer von ihnen ist Gabriel Rodríguez, der 1975 als politischer Gefangener in die deutsche Siedlung verschleppt wurde. „Ich habe darauf hingewiesen, dass es dringend notwendig ist, auf dem Gelände einen Gedenkort einzurichten“, erklärt Rodríguez, der heute als Journalist arbeitet. Es sei jetzt wichtig, einen Teil der Siedlung zu enteignen, damit ein Gedenkort endlich umgesetzt werde. „Für die Opfer ist die Situation skandalös. Es ist schwierig, auf das Gelände zu kommen und der Tourismusbetrieb geht unverändert weiter.“
Tourismus am ehemaligen Folterort
In der Villa Baviera leben heute etwa 120 Personen, sie betreiben Landwirtschaft und ein Tourismusunternehmen im bayerischen Stil. Chilenische und internationale Gäste kommen wegen der Ruhe, der frischen Luft und deutscher Hausmannskost in die am Fuß der Anden gelegene Siedlung. In die Villa Baviera hinein kommt man nur mit Anmeldung und Gebühr. Die Angehörigen der politischen Gefangenen, die in der Colonia Dignidad verschwundengelassen wurden, fordern freien Zugang und einen Ort, an dem sie an ihre Liebsten erinnern und um sie trauern können, so Rodríguez. Der chilenische Geheimdienst DINA hatte nach dem Putsch 1973 ein Gefangenenlager auf dem Gelände eingerichtet. Hunderte Oppositionelle wurden dort gefoltert. Dutzende wurden ermordet, in anonymen Gräbern verscharrt, 1978 laut Aussagen von Bewohner*innen der Siedlung wieder ausgegraben und verbrannt, ihre Asche in den angrenzenden Fluss geworfen. Bis heute finden auf dem Gelände forensische Grabungen statt.
Außer den Angehörigen der Verschwundenen und den in der Siedlung während der Diktatur Gefangenen und Gefolterten müssten auch alle anderen Opfergruppen in einer Gedenkstätte berücksichtigt werden, betont Rodríguez. Dabei geht es auch um die deutschen und chilenischen Opfer von sklavenartiger Arbeit, Zwangsadoptionen und sexualisierter Gewalt, und um die Bauernfamilien, die auf dem weitläufigen Gelände lebten, bis sie Anfang der 1970er Jahre von der Führung der Colonia Dignidad in Zusammenarbeit mit Militär und Polizei vertrieben wurden.
Bei dem Gespräch mit Betroffenen war als Mitglied von Steinmeiers Delegation auch die Psychologin Susanne Bauer dabei. Zwischen 2005 und 2008 hatte sie in der Ex Colonia Dignidad Therapien mit Bewohner*innen geleitet, finanziert vom Auswärtigen Amt. Damals habe sie „verstörte Menschen“ vorgefunden, berichtet Bauer und ergänzt, die Wahrscheinlichkeit, dass die traumatischen Erfahrungen über Generationen weitergegeben werden, sei sehr groß. Umso bemerkenswerter findet sie es, dass die verschiedenen Betroffenengruppen inzwischen aufeinander zugegangen sind und sich untereinander verständigen konnten. Zwischen ihnen bestehen Kontakte, auch weil ein Team von Expert*innen rund um Elke Gryglewski, Leiterin der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten, von 2014 bis 2022 einmal jährlich Dialogveranstaltungen und Seminare mit ihnen organisierte (siehe LN 607).
Angesichts der aktuellen Enteignungspläne betont Bauer, Entscheidungen, die die Wohnhäuser und die Lebensrealität der Bewohner*innen der Siedlung beträfen, sollten nicht über ihre Köpfe hinweg gefällt werden, sondern aus gemeinsamen Gesprächen von Regierungsvertreter*innen und Betroffenen hervorgehen.
Die schwierigste Frage sei vermutlich, wem die vom Staat zu leistenden Entschädigungszahlungen für die Enteignung zugutekommen werden, denn der Umgang mit Geld sei in der Siedlung ohnehin intransparent, so Bauer. Tatsächlich besetzen nur wenige Personen, größtenteils Nachfahren der ehemaligen Führungsriege der Colonia Dignidad, die entscheidenden Posten im Geflecht von Aktiengesellschaften, die zusammen die Firmenholding der Villa Baviera bilden. Zum wiederholten Male protestierte am Wochenende vor Steinmeiers Ankunft in Chile auch eine Gruppe selbsternannter „empörter Bewohner“ der Ex Colonia Dignidad und besetzte die Zufahrtsstraße zur Siedlung. Als Opfer von 40 Jahre langer Zwangsarbeit fordern sie die Auflösung der Firmenholding und die Nachzahlung ausstehender Löhne.
Heutige und frühere Bewohner*innen der Siedlung, die sich zur Vereinigung für Wahrheit, Gerechtigkeit, Entschädigung und Würde der Ex Colonos (ADEC) zusammengeschlossen haben, überbrachten Chiles Präsident Boric eine Erklärung, in der sie ihre Unterstützung für die geplante Teilenteignung und Errichtung der Gedenkstätte ausdrücken. Sie fordern, die Zahlungen für die geplante Enteignung sollten als Entschädigung der Opfer verwendet werden und nicht an die Leitungen der Aktiengesellschaften gehen. Bei Fragen der Umsetzung wollen sie einbezogen werden.
Konkrete Schritte lassen auf sich warten
Die Leitung der Firmenholding, die für ihre Lobbyarbeit die PR-Firma Extend beauftragt hat, antwortete auf Anfragen von LN nicht. Gegenüber der chilenischen Zeitung La Tercera erklärten Dorothee Münch und Markus Blanck aus den Leitungsgremien der Firmenholding, grundsätzlich seien sie mit einer Gedenkstätte einverstanden, solange diese nur einzelne Gebäude umfasse. Gegen die Enteignungspläne wollen sie jedoch auch juristisch vorgehen. Steinmeier erklärte bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Boric, das „gemeinsame Ziel“ der Einrichtung einer Gedenkstätte verbinde Deutschland und Chile. Man sei gegenüber den Opfern dafür „verantwortlich, dass diese Gedenkstätte entsteht.“ Doch dazu braucht es konkrete Schritte. Zunächst muss die chilenische Regierung ein Dekret zur Enteignung erlassen und den zu zahlenden Preis ermitteln, der bei einer Enteignung nicht dem Marktwert, sondern einer Art Buchwert entspricht. Das könnte die Regierung Boric in Kürze tun, doch wird sich der Prozess wegen der von der Firmenholding der Villa Baviera bereits angekündigten juristischen Interventionen hinziehen. Für den zweiten Schritt der Errichtung einer Gedenkstätte braucht es eine Stiftung oder andere nicht gewinnorientierte Einrichtung als Träger. Dabei könnte Deutschland kooperieren, auch finanziell. Deutschland müsse „versuchen zu unterstützen, wo es geht“, denn die Ankündigung der Enteignung habe in der Frage der Gedenkstätte einen „Durchbruch“ gebracht, sagt die Bundestagsabgeordnete Isabel Cademartori (SPD), die Steinmeier auf seiner Reise begleitete, gegenüber LN. Sie ist Teil einer Gemeinsamen Kommission von Bundestagsabgeordneten und deutschen Regierungsbeamt*innen, die Hilfszahlungen des deutschen Staates an 190 Opfer der Colonia Dignidad koordiniert und einen Fonds zur Unterstützung pflegebedürftiger Bewohner*innen aufgesetzt hat. Auch die aus dem Bundestag und der Gemeinsamen Kommission scheidende Abgeordnete Renate Künast (Grüne) betont, wie wichtig es sei, dass „Deutschland sich an der Finanzierung und Gestaltung einer Gedenk- und Erinnerungsstätte vor Ort beteiligen will und muss.“ „Wir sind müde von vielen Gesprächen über das Thema, ohne konkrete Veränderungen zu sehen“, sagt Gabriel Rodríguez, der 1975 in die Colonia Dignidad verschleppt wurde. Er warnt: „Wenn es jetzt keine schnellen Fortschritte gibt, stehen wir am Jahresende wieder nur mit Absichtserklärungen da und eine neue Regierung kann alles stoppen.“ Im November finden in Chile Präsidentschaftswahlen statt – Umfragen zufolge liegen Kandidat*innen der politischen Rechten vorne.