Erinnern, erhalten, entfalten

Forderungen nach Gerechtigkeit Proteste gegen die Verantwortlichen im Jahr 2006 (Foto: Tony1940 via wikimedia commons – Public Domain)

Der Supermarkt Ycuá Bolaños öffnete am 7. Dezember 2001 erstmalig seine Türen. Das zweistöckige Gebäude verfügte über einen geräumigen Parkplatz im Untergeschoss und bot eine Vielzahl von Einkaufsmöglichkeiten, darunter eine kleine Bäckerei und eine Küche, die frische Speisen zubereitete. Doch trotz dieser modernen Einrichtungen zeigen die späteren Ermittlungen der Behörden, dass grundlegende Sicherheitsvorkehrungen vernachlässigt wurden. Die Räume waren mangelhaft belüftet, und es fehlte an essenziellen Schutzmaßnahmen wie einer Sprinkleranlage, zudem waren die Rauchmelder defekt.

Am schicksalhaften 1. August 2004 bricht im ersten Stock des Supermarktes ein Feuer aus, vermutlich ausgelöst durch einen defekten Grill, dessen brennbare Gase die Decke entzünden. Zwei heftige Explosionen folgen, und das Feuer breitet sich langsam, aber unaufhaltsam über die Treppen hinunter zur Hauptverkaufsfläche aus. Die im Untergeschoss geparkten und vollgetankten Autos geraten schnell in Brand, und einige von ihnen explodieren. Damit ist eine Flucht über diesen Weg unmöglich. Über sieben Stunden toben die Flammen, bevor die Feuerwehr sie schließlich unter Kontrolle bringen kann. Ein an der Rettung beteiligter Feuerwehrmann fasst die Tragödie später mit diesen Worten zusammen: „Stellen Sie sich die immense kriminelle Energie der Betreibenden vor, denn der Befehl war, die Türen zu schließen. Ein Befehl, der den Wert der Waren über den Wert des Lebens selbst stellt.“

Zahlreiche Überlebende berichten von dem grauenhaften Moment, als sie feststellten, dass die Fluchttüren verriegelt waren. Ein Sicherheitsbeauftragter hatte die Türen auf Anweisung des Inhabers des Supermarktes, Juan Pío Paiva, und dessen Sohn Victor Daniel Paiva, verschlossen. Ihre Angst vor Plünderungen und Diebstählen führte zu einer Entscheidung mit verheerenden Konsequenzen: Die Türen wurden geschlossen und die Fluchtwege damit versperrt.

Als das Feuer ausbricht, befinden sich etwa 1.000 Personen im Supermarkt. Ein Rettungssanitäter, der vor Ort ist, sagt später: „Sich zu erinnern ist schmerzhaft. Es gibt nur wenige Leute, die über dieses Thema sprechen wollen, weil es keine schöne Anekdote ist. Viele halten uns für Helden und so weiter. Aber was sind Helden? Wir haben nur getan, was wir tun mussten.“ Die medizinischen Berichte der Krankenhäuser offenbaren das Ausmaß des Grauens: Insgesamt werden mehr als 350 Personen mit schweren Verbrennungen dritten Grades und gravierenden Verletzungen der Atemwege eingeliefert. Die Mehrheit der Opfer hat zum Zeitpunkt des Brandes nicht einmal das 30. Lebensjahr erreicht. Sie verbrannten in den Flammen oder erstickten an den giftigen Gasen.

Zwei Jahre nach der Katastrophe werden die drei Hauptverantwortlichen wegen fahrlässiger Tötung zu jeweils fünf Jahren Gefängnis verurteilt, obwohl die Staatsanwaltschaft eine deutlich härtere Strafe von 25 Jahren gefordert hatte. Dieses milde Urteil löst massive Proteste in ganz Asunción aus. Die Empörung der Bevölkerung ist groß, und die Protestierenden fordern ein neues Verfahren, das gerechtere Strafen bringen soll. Ihre Stimmen werden gehört, und im Februar 2008 findet das neue Verfahren statt. Das Gericht verschärft die Strafen erheblich: Juan Pío Paiva wird zu zwölf Jahren Haft verurteilt, sein Sohn erhält eine zehnjährige Gefängnisstrafe, und der Sicherheitsbeauftragte muss fünf Jahre ins Gefängnis. Darüber hinaus werden auch der Aktionär Humberto Casaccia und der Architekt Ernardo Ismachowiez wegen fahrlässigen Verhaltens verurteilt.

Doch die Verantwortlichen bleiben nicht lange hinter Gittern. Seit 2014 ist keiner von ihnen mehr in Haft. Pío Paiva und sein Sohn werden aufgrund guter Führung vorzeitig entlassen, was bei den Überlebenden und den Angehörigen der Opfer erneut für Empörung sorgt. Victor Daniel Paiva, der Sohn des Inhabers, verstirbt im Jahr 2020 an Komplikationen infolge einer Covid-19-Erkrankung.

Denkmal bringt Menschen zusammen

18 Jahre nach der Tragödie wird schließlich ein Denkmal zur Erinnerung an das verheerende Feuer im Ycuá Bolaños Supermarkt errichtet. An der Stelle des ehemaligen Supermarktes steht nun ein Ort des Gedenkens, der Erlösung und der Resilienz. Das Denkmal soll nicht nur an die Verstorbenen erinnern, sondern auch als Raum für kulturelle, religiöse und öffentliche Veranstaltungen dienen. Ziel ist es, einen Ort der Widerstandsfähigkeit zu schaffen, der die Erinnerung an die Tragödie wachhält und gleichzeitig Hoffnung für die Zukunft vermittelt.

Das Denkmal besteht sowohl aus alten Betonfragmenten des Supermarktes als auch aus neuen architektonischen Elementen. Es gibt Räume, die zum Zusammenkommen einladen, und bepflanzte Wände, die die Geräusche der Stadt dämpfen, um stille Orte der Reflexion zu schaffen. Eine erhöhte Plattform ermöglicht es den Besucher*innen, in die Ferne zu blicken und symbolisiert möglicherweise den Ausblick in eine hoffnungsvollere Zukunft.

Das Denkmal verbindet nun verschiedene Nachbarschaften, die zuvor durch den Supermarkt getrennt waren. Im Erdgeschoss, wo sich einst der Parkplatz befand, ist heute ein zentraler Wasserspiegel angelegt. Über diesem Wasser hängt eine Platte, die mit über 300 kleinen Löchern durchsetzt ist. Durch sie fällt das Licht ein und spiegelt sich im Wasser wider, was eine beruhigende und gleichzeitig tief berührende Atmosphäre schafft. Diese Lichtspiele sollen an die vielen Menschen erinnern, die bei dem verheerenden Feuer ihr Leben verloren haben.

Zur feierlichen Eröffnung des Denkmals und des kulturellen Zentrums Ycuá Bolaños spricht der damalige Kulturminister Rubén Capdevila bewegende Worte an die Angehörigen der Verstorbenen: „Ab heute werden die Türen nicht mehr geschlossen sein.“


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„EIN RAUM FÜR UNS“

Kampf für einen Ort der Erinnerung Straßenperformance des Kollektivs La Jauría (Foto: Celeste Pérez Álvarez. Colectiva La Jauría)

„Venda Sexy“ oder „Discotéque“ heißt das ehemalige Folterzentrum, in dem während der chilenischen Militärdiktatur vor allem studentische Mitglieder der Bewegung der revolutionären Linken (MIR) festgehalten, gefoltert und sexuell missbraucht wurden. „Venda“ heißt Augenbinde und soll darauf hindeuten, dass die Verhafteten mit verbundenen Augen in das Haus kamen. Der Name „Discotéque“ ist eine Anspielung auf die laute Musik, die während der Foltersitzungen gespielt wurde, um die Schreie der Opfer zu übertönen. „Die Opfer waren sowohl Frauen wie Männer“, erklärt Patricia Artés vom feministischen Kollektiv La Jauría. „Allerdings wurde die Gewalt an Frauen besonders systematisch und unverhältnismäßig ausgeführt. Daher kann man hier auch von geschlechtsspezifischer Gewalt sprechen.“
Das Anwesen im Stadtviertel Macul, das dem ehemaligen Geheimdienst DINA in den Jahren 1974 und 1975 als Folterzentrum diente, ist heute in Privatbesitz. 2016 wurde es vom Ministerium für öffentliche Liegenschaften zum Erinnerungsort erklärt, gleichzeitig bot der Staat der Familie, in deren Besitz sich das Haus befand, 356 Millionen Pesos (umgerechnet 450.000 Euro) für den Verkauf an. Diese lehnte allerdings mit der Begründung ab, der angebotene Preis sei zu gering. Im Mai dieses Jahres wurde jedoch bekannt, dass sie das Haus für einen geringeren Betrag an eine Immobilienfirma verkauft hat. Dabei dürfen Erinnerungsorte nach chilenischem Gesetz nicht ohne staatliche Erlaubnis verkauft oder umgebaut werden.

„Cuerpas en guerra“ Das Kollektiv La Jauría inszeniert in Santiago „Körper im Krieg“ (Foto: Celeste Pérez Álvarez. Colectiva La Jauría)

Nun arbeiten verschiedene Gruppen mit Überlebenden des Folterzentrums zusammen, um das Gebäude wiederzuerlangen. Eine dieser Organisationen ist das Kollektiv La Jauría, das aus einem feministischen Theaterprojekt entstand. Anfangs näherte sich das Kollektiv den Beziehungen Frau-Körper, Frau-Liebe und Frau-Klasse vom Theater her an. Ausgehend von der Erforschung dieser Aspekte, die verschiedene Vorstellungswelten, Aussagen und Erfahrungen miteinander verband, entwickelten die Frauen das Theaterstück „Cuerpas en Guerra“ (Körper im Krieg). Dieses Jahr haben sich die Aktivistinnen im Wirbel feministischer Bewegungen an verschiedenen Besetzungen von Bildungseinrichtungen vor dem Hintergrund der Forderung nach einer nicht-sexistischen Bildung beteiligt. „Wir hatten als Kollektiv das Gefühl, dass das Theaterstück als Mittel für unseren Kampf nicht ausreichte, also haben wir angefangen, Performances auf der Straße zu machen“, erklärt Patricia Artés.
Eine ihrer ersten Aktionen realisierte die Gruppe während des Papst-Besuchs in Chile, dann brachten sie sich bei den feministischen Bewegungen ein und schließlich auch bei den überlebenden Frauen der Militärdiktatur. Dabei befassen sie sich hauptsächlich mit sexueller Belästigung als geschlechtsspezifische Form der Aggression. „An diesem Punkt knüpfen wir an die Erinnerungsarbeit des Kollektivs Rebeldías Feministas an“, so Patricia Artés. „Seit letztem Jahr machen wir zusammen mit ihnen Performances für die Zurückgewinnung des ehemaligen Folterzentrums. Es soll den Frauen als Ort der Konstruktion eines kollektiven Gedächtnisses überlassen werden.“

 „Hier wurde gefoltert“ Das politisch-künstlerische Schaffen von La Jauría entspricht keiner festen künstlerischen Gattung (Foto: Celeste Pérez Álvarez. Colectiva La Jauría)

Vor dem Hintergrund des nun erfolgten Verkaufs des Hauses fordern Feministinnen und Menschenrechtsorganisationen die Intervention des Ministeriums für öffentliche Liegenschaften, damit der Verkauf nicht rechtskräftig abgeschlossen werden kann. La Jauría entwickelt zusammen mit anderen Organisationen ein generationenübergreifendes Projekt mit dem Ziel, „die Gewalt des Staates, die Gewalt des Patriarchats und die politisch-sexuelle Gewalt als geschlechtsspezifisches Verbrechen sichtbar zu machen“, erklärt Patricia Artés. Vor allem mit Beatriz Bataszew, einer der Überlebenden des Folterzentrums und Leiterin des feministischen Kollektivs Coordinadora 8M, arbeitet La Jauría eng zusammen. „Sie verleiht dir Energie, nicht nur durch die Tatsache, dass sie das Folterzentrum überlebt hat, sondern auch durch ihr konsequentes, politisches und feministisches Engagement“, meint Patricia Artés.
Das politisch-künstlerische Schaffen von La Jauría entspricht keiner festen künstlerischen Gattung, Aktionen im Sinne des experimentellen Theaters stehen im Vordergrund. Patricia Artés erklärt es so: „Das heißt nicht, dass uns Kunst nicht interessiert. In unserem künstlerischen Ausdruck kommt der Gegenstand aus der Wirklichkeit. Aus diesem Grund ist das Werk, das wir mit unseren eigenen Materialien ausgehend von dem Theaterprojekt erschaffen haben, ganz klar performativ und hat den Charakter eines Zeugnisses. In unserer Selbstverortung sind wir mit dem klassischen Kunst-Aktivismus verzahnt, den Feministinnen im Laufe der Geschichte entwickelt haben. Dieser Aktivismus ergibt sich aus der Dringlichkeit der Themen, aus der Anklage.“ Die Performances finden auf der Straße statt. Die Aktivistinnen besetzen bestimmte Plätze, verlesen Texte und stellen Szenen dar. Manchmal spielen sie auch Musik und singen. Dabei sind sie immer schwarz gekleidet, einige vermummt. Auf ihrer Kleidung tragen sie Botschaften, wie „Hier wurde gefoltert“.
Für Straßen-Performances vor dem „Venda-Sexy“ und einem weiteren ehemaligen Folterzentrum im September wurden Frauen mit und ohne Theatererfahrung aus verschiedenen Bereichen eingeladen. Diese Performances betrachtet das Kollektiv als Werkzeug, „das uns ermöglicht, uns auf den Straßen zu positionieren, um die sozialen und feministischen Kämpfe zu unterstützen.“ Der Kampf um die Zurückgewinnung des ehemaligen Folterzentrums ist nicht nur eine Verhandlung seitens der Bürokratie und der bekannten Menschenrechtsorganisationen. Die mögliche Zurückgewinnung wäre auch ein Erfolg der Mobilisierungen von Frauen und Feminist*innen. Für La Jauría und alle anderen Beteiligten besteht die Aufgabe laut Patricia Artés nun darin, „anzufangen, sich vorzustellen, was wir machen würden, wenn wir einen Raum nur für uns hätten“.

 


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