HEBE, UNSERE MADRE PUNK

Die punkigste aller Madres Hebe de Bonafini, Gründer der Mütterorganisation von der Plaza de Mayo (Illustration: Seelvana für LATFEM

Rebellisch, verrückt, herausfordernd; wir stellten uns der Macht entgegen und sagten: „Hier sind wir.“
Wir setzten den Körper ein, er war das Einzige, was wir dafür hatten.

Hebe de Bonafini

„Hebe ist gestorben“. Diese Nachricht machte schon so oft die Runde, dass wir auch dieses Mal dachten, sie wäre nicht wahr. Wir wussten von Hebes gesundheitlichen Beschwerden und dass sie kürzlich ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Aber wie konnte das sein? Wie konnte Hebe sterben, wenn sie doch ewig war? Wir wollten es nicht glauben, aber dieses Mal stimmte es: Am 20. November 2022 ist Hebe María Pastor de Bonafini, Präsidentin und eine der Gründerinnen der Madres de Plaza de Mayo, im Alter von 93 Jahren in La Plata gestorben. Ihre Asche wird für immer dort bleiben, wo sie 45 Jahre lang jeden Donnerstag protestiert hat: auf der Plaza de Mayo.

Hebe wurde 1928 in El Dique, einem Arbeiter*innenviertel von La Plata, geboren. Sie wollte Lehrerin werden, aber ihre Eltern erlaubten ihr nicht, zu studieren. 1949 heiratete sie Humberto „Toto“ Bonafini, mit dem sie drei Kinder hatte: Jorge, Raúl und Alejandra. In Historias de vida erinnert sich Hebe daran, dass sie während derer ganzen Kindheit auf eine Tragödie wartete. Ihr Mann hatte angefangen, bei der staatlichen Ölgesellschaft YPF zu arbeiten, sie liebten sich, hatten ein kleines Haus in La Plata. Es war einfach gewesen, schwanger zu werden, ihre Kinder waren gesund und die Familie konnte sogar etwas Geld sparen, um sich ab und zu kleine Wünsche zu erfüllen, essen zu gehen, sich neue Schuhe zu kaufen. Hebe konnte ihr Glück nicht fassen. Irgendetwas Schlimmes musste geschehen. „Meine Panik vor irgendeinem Unglück hielt an (tatsächlich blieb sie, bis die Kinder groß wurden). Humberto sagte immer wieder, es gäbe Leute, denen nie etwas passiert.“

Das erste Unglück ereignete sich am 8. Februar 1977. Jorge, ältester Sohn der Bonafinis, wurde entführt und verschwundengelassen. Von da an klapperte Hebe Polizeiwachen ab, beantragte Habeas Corpus und begann, mit einer Gruppe von Frauen zusammenzuarbeiten, die wie sie nach ihren Söhnen und Töchtern suchten. Sie begannen, sich auf der Plaza de Mayo zu versammeln. Hebe ging, ohne es zu wissen, die ersten Schritte auf ihrem Weg des politischen Engagements. Weitere Unglücke folgten. Am 6. Dezember 1977 nahm der Staat ihr Raúl, im nächsten Jahr María Elena Bugnone Cepeda, Jorges Freundin.

Im Jahr 1979 wurde Hebe zur Präsidentin der Madres de Plaza de Mayo gewählt. Seitdem war sie nicht mehr nur die Angehörige von Verschwundenen, sondern immer mehr die Mutter von allen. Die, die sich immer kümmerte und mit uns schimpfte, wenn es sein musste – so, wie es gute Mütter eben tun. Egal, wann und wo: Zu wissen, dass Hebe in der Nähe war, bedeutete zu wissen, dass ihr Mut uns beschützte.

Hebe hat sich immer zum Kampf ihrer Söhne bekannt (beide waren in der Kommunistisch-Marxistisch-Leninistischen Partei aktiv), ebenso zu ihren politischen Vorstellungen und Lebensläufen. Sie sagte, ihr größter Stolz sei es, „Mutter von Revolutionären“ gewesen zu sein. Wie viele der Madres erklärte sie immer wieder, ihre Söhne seien es gewesen, die die Aktivistin Hebe zur Welt gebracht hätten. „Bevor mein Sohn entführt wurde, war ich eine Durchschnittsfrau (…). Ich wusste viele Dinge nicht. (…) Die wirtschaftliche Frage und die politische Situation in meinem Land waren mir vollkommen fern, gleichgültig. Aber als mein Sohn verschwand, war da die Liebe, die ich für ihn empfand; das Streben, nach ihm zu suchen, bis ich ihn finde; zu flehen, zu bitten, zu fordern, dass sie ihn mir zurückgeben; das Zusammenkommen, die Unruhe, die ich mit anderen Müttern teilte, die die gleiche Sehnsucht empfanden wie ich. Das alles hat mich in eine neue Welt versetzt. Diese Gefühle haben mich vieles gelehrt und wertschätzen gelernt, von dem ich nichts wusste und wovon ich früher nichts wissen wollte“.

„Ich will nicht, dass ihr unseren Schmerz versteht – ich will, dass ihr unseren Kampf versteht“, sagte Hebe einmal und ermunterte uns dazu, für mehr Gleichheit und Gerechtigkeit zu kämpfen. Für ein Land ohne Vergeben und Vergessen, aber auch ein Land, in dem alle Brot, ein Dach über dem Kopf und Arbeit haben. Mit ihrem weißen Tuch machte sie aus der Mutterschaft eine kollektive Handlung – und verwandelte den Schmerz in Antrieb für ein unglaubliches Engagement für ein glückliches Leben für alle.

Hebe, die gegen alle und alles rebellierte, immer eine wütende Faust in die Höhe streckt

Hebe stand auch für uns ein. In der Universidad Popular de las Madres haben die, die von ihren Familien und den Institutionen vertrieben worden waren, ein Zuhause, Liebe, Freundinnen und eine queere Madre gefunden. „Im Jahr 2001 haben die Madres ihre Universität ohne Wenn und Aber für uns geöffnet. Aber wer hätte uns die Türen geöffnet, wäre Hebe nicht gewesen?“, erzählt die trans Aktivistin Marlene Wayar. In der gleichen Universität hat Lohana Berkins, unsere Kommandantin der Schmetterlinge, Journalismus studiert (Lohana Berkins war Pionierin der argentinischen Trans- und Travestibewegung. Sie stand dafür ein, den diskriminierenden Begriff mariposón, der Männer mit weiblichen Zügen und Travesti bezeichnet, umzukehren und rief zu einer „Revolution der Schmetterlinge“ (mariposas) auf, Anm. d. Übers.). Es begann eine tiefe Freundschaft zwischen ihr und Hebe (…). Einige Jahre zuvor war Lohana zur Donnerstagsrunde gekommen. Sie bat darum, den Travestis ihre Solidarität auszusprechen und die Polizeigewalt gegen sie zu verurteilen. „Mach dir keine Sorgen, wir wissen genau, was euer Kampf ist. Und wir alle wissen, dass es eigentlich sie (die Polizisten) sind, die am meisten auf den Strich gehen”, antwortete Hebe ihr.

Hebe, unsere punkige Madre, unsere Maradona der Menschenrechte

Es gibt kein politisches Ereignis in unserer jüngeren Geschichte, bei dem Hebe nicht als Protagonistin dabei war, siempre presente. Hebe auf der Plaza, wie sie mitten in der grausamen Diktatur und darüber hinaus fordert, dass ihre Söhne lebend wieder auftauchen. Hebe, die gegen jene kämpft, die uns zum Vergessen und Schweigen bringen wollen, und die stattdessen dafür sorgt, dass Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit aufkeimen und für immer bleiben. Hebe, wie sie öffentlich anprangert, wie der grausame Neoliberalismus das Elend geplant in Kauf nimmt. Hebe als ein Schild, das die Menschen im Jahr 2001 vor der berittenen Polizei abschirmt. Hebe, wie sie Fabriken betritt, die sich die Arbeiter*innen angeeignet haben. Hebe, wie sie in der Universidad de las Madres für Travestis einsteht – noch bevor der argentinische Feminismus es tut. Hebe, wie sie Huren empfängt und zur ersten Unterstützerin der argentinischen Sexarbeiter*innengewerkschaft wird. Hebe, wie sie Freiheit für Milagro Sala fordert. Hebe, unsere punkige Madre, unsere Maradona der Menschenreche, die gegen alle und alles rebelliert, immer eine wütende Faust in die Höhe streckt und uns zeigt, wie man sich den Widerstand auf die Fahnen schreibt.

Hasta siempre, Hebe.

SCHWERER STAND FÜR MENSCHENRECHTE

Foto: Bettina Müller

„Ob es 9.000 Verhaftete und Verschwundene oder 30.000 waren, ich weiß es nicht. Für mich macht diese Debatte keinen Sinn.“ Mit dieser Aussage macht sich Mauricio Macri gemein mit denjenigen, die die Verbrechen der letzten argentinischen Militärdiktatur von 1976-83 relativieren wollen. Macri tätigte diese Aussage in einem Interview zum 41. Jahrestag des Putsches am 24. März. So wie er, sehen es auch Parteimitglieder und regierungsnahe Politiker*innen. Wahlweise drücken sie Zweifel an der im kollektiven Gedächtnis verankerten Zahl der 30.000 Verhaftet-Verschwundenen unter der vergangenen Militärdiktatur aus, einer Zahl, die von den Menschenrechtsorganisationen immer wieder bestätigt wurde, verneinen schlicht, dass diese ein systematisches Programm zur Eliminierung subversiver, linksorientierter Kräfte vorantrieb.

Schon vor seinem Amtsantritt am 10. Dezember 2015 hatte der argentinische Präsident Mauricio Macri angekündigt, dass er mit dem „Schwindel der Menschenrechte“, die in den zwölf Jahren Kirchner-Regierungen eine zentrale Rolle eingenommen hatten, Schluss machen würde – und er hat Ernst gemacht.

Es ist nicht nur die Zahl der Opfer der Militärdiktatur, die die Regierung wenig interessiert. Allgemein steht das Thema Menschenrechte und die Aufarbeitung der Verbrechen unter der Militärdiktatur sowie der Verfolgung derjenigen, die diese begangen haben, nicht sonderlich weit oben auf ihrer Prioritätenliste. Es verwundert also nicht, dass Estella Carlotto, eine der sichtbarsten Figuren der Großmütter der Plaza de Mayo, dem Präsidenten nach einem Jahr Regierungszeit ein Armutszeugnis im Bezug auf die Wahrung der Menschenrechte ausstellte – und sie ist nicht allein mit ihrer Kritik.

Während die Regierung Unsummen in Eigenwerbung steckt, um trotz der desaströsen Lage im Land ein Gefühl des Fortschrittes zu generieren, hat sie an anderen Stellen massiv eingespart. Mit zwischen 15 Prozent und bis zu 50 Prozent weniger finanziellen Mitteln als noch im vergangenen Jahr müssen das Sekretariat für Menschenrechte und eine Reihe von Programmen, die sich unter anderem mit der Begleitung der Opfer der Diktatur befassen, 2017 auskommen.

Auch bei der Strafverfolgung der Täter der Militärdiktatur „spart“ die Regierung ein.

Auch bei der Strafverfolgung der Täter der Militärdiktatur „spart“ die Regierung ein. Waren es von 2011 bis 2015 jährlich mindestens 20 Verurteilungen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sank diese Zahl 2016 auf neun. Gleichzeitig profitierten aber 50 der verurteilten Verbrecher von einer Minderung ihres Strafmaßes und wurden in den Hausarrest entlassen. Zudem stieg der Staat als Ankläger aus einer Reihe von Verfahren gegen Verbrecher der Militärdiktatur aus. Gingen noch bis vor 17 Monaten Menschenrechtsorganisationen im Justizministerium ein und aus, sind es heute die Familienmitglieder der verurteilten Verbrecher*innen und ihre Anwält*innen, zu denen der derzeitige Justizminister Germán Garavano aktive Beziehungen unterhält.

Anfang Mai erreichte die von der Regierung gelebte Politik der Geschichtsvergessenheit ihren vorläufigen Höhepunkt. Der 2011 zu 13 Jahren verurteilte Luis Muiña, der im geheimen Folterzentrum des Krankenhauses Posadas wirkte, sollte bereits nach der Hälfte der Zeit aus dem Gefängnis entlassen werden, so der Oberste Gerichtshof Argentiniens. Die Richter*innen beriefen sich bei ihrer Entscheidung auf ein Gesetz, dass es Straffälligen möglich macht, bei guter Führung und unter Berücksichtigung einiger weiterer Faktoren, nach der Hälfte der Zeit frei zu kommen. Dieses Gesetz war jedoch 2001 abgeschafft worden und galt ohnehin nie für Täter*innen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. So begründeten auch zwei der fünf Richter*innen ihre Entscheidung gegen die Minderung des Strafmaßes von Luis Muiña, wobei sie jedoch von den drei anderen, Elena Highton de Nolasco, Carlos Rosenkrantz und Horacio Rosatti, überstimmt wurden. Rosenkrantz und Rosatti wurden übrigens per Dekret von Präsident Macri ernannt und in zweiter Instanz durch den Senat bestätigt.
Die Antwort der Menschenrechtsorganisationen, sozialer Bewegungen und von einem Großteil der Parteien und Gewerkschaften erfolgte umgehend. Noch am selben Tag, dem 3. Mai, zirkulierten eine Vielzahl von Erklärungen, die die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes verurteilten. Keine Woche darauf, einem Aufruf des Zusammenschlusses von Menschenrechtsorganisationen „Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit“ folgend, versammelten sich mehr als 500.000 Menschen vor dem Regierungsgebäude auf der Plaza de Mayo, um ihre Sorge zur Lage der Menschenrechte im Land zum Ausdruck zu bringen. „Verbrechen gegen die Menschlichkeit dürfen nicht begnadigt werden und sie verlieren auch nichts an ihrer Schwere über die Zeit“, so Nora Cortiñas, eine der Mütter der Plaza de Mayo, während der Kundgebung.

Der öffentliche Druck auf die Regierung war derart groß, dass Mauricio Macri, kaum hatte das Parlament die Nicht-Anwendbarkeit des strafmaßmindernden Gesetzes auf Verbrecher*innen der Militärdiktatur erneut ratifiziert, diese Entscheidung bestätigte und sich von den Richter*innen distanzierte.

Doch die Sorge um die Lage der Menschenrechte im Land bleibt.

Doch die Sorge um die Lage der Menschenrechte im Land bleibt. Bereits im vergangenen Jahr gab Mauricio Macri dem Militär die Autonomie zurück, die der damalige Präsident Raúl Alfonsín nach dem Ende der Diktatur eingeschränkt hatte. Außerdem lud er Militärs, die sich mehrfach positiv zur Diktatur geäußert hatten, zu offiziellen Regierungsfeierlichkeiten ein, so erst jüngst zum 207. Jahrestag der Unabhängigkeit am 25. Mai.
Auch immer häufiger auftretende Polizeirazzien an Schulen, Universitäten und in Stadtteilzentren, wo deren Präsenz eigentlich per Gesetz untersagt ist, und das Schweigen der Regierung diesbezüglich, sind äußerst bedenklich. Hinzu kommt die Verfolgung von politischen Aktivist*innen und Gewerkschaftsführer*innen. Ein Fall, der sogar die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte auf den Plan rief, ist jener der Anführerin der Tupac Amaru, Milagro Sala, die seit über einem Jahr in der nördlichen Provinz Jujuy im Gefängnis sitzt, angeblich, weil sie auf einer Demonstration mit Eiern warf.

Unter Berufung auf das von der Regierung verabschiedete Protokoll zur Unterbindung von Straßenbarrikaden (Protocolo Antipiquete) ordnete die Sicherheitsministerin Patricia Bullrich zudem in jüngster Zeit verstärkt die Unterdrückung sozialer Proteste an. Spätestens seit im März auf den Straßen des Landes fast täglich Demonstrationen stattfanden, versucht die Regierung, die Idee der destabilisierenden Gefahr von Links im öffentlichen Raum zu etablieren.

Auch die wachsende Diskriminierung von Migrant*innen und die nicht zu übersehende Verstrickung des Clans Macri mit der Militärjunta sollten nicht unerwähnt bleiben: Die Firmengruppe SOCMA (SOCiedad MAcri) wuchs zwischen 1976 und 1983 von sieben auf 46 Unternehmen an und sie profitierte von der Verstaatlichung der privaten Schulden 1982. Die Regierung Macri hat viele Wahlversprechen gebrochen, eines nicht: Die Menschenrechte und die Kultur der Erinnerung nebensächlich laufen zu lassen.

Newsletter abonnieren