STUNDE NULL FÜR DEN PARALLELSTAAT

In den 14 Jahren, die Hugo Chávez bis zu seinem Tod 2013 regierte, gab es gefühlt zwei Venezuelas. Während Menschen in den informell erbauten barrios von sozialer Teilhabe, Demokratie und Revolution schwärmten, schimpften sie in den wohlhabenderen Vierteln über eine Castro-kommunistische Diktatur. Nachdem der politische Machtkampf Anfang April eskaliert ist und bei den beinahe täglichen Demonstrationen bereits etwa 100 Menschen getötet wurden, leben Regierung und Opposition nicht mehr nur gefühlt in zwei verschiedenen Welten. Sie stützen sich auch zunehmend auf unterschiedliche staatliche Strukturen.

Am 16. Juli organisierte das Oppositionsbündnis „Tisch der demokratischen Einheit“ (MUD) eine landesweite Volksbefragung. Am selben Tag führte der Nationale Wahlrat (CNE) eine Testabstimmung für die am 30. Juli geplante Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung durch. Beide Lager betonten hinterher die hohe Beteiligung an den Urnengängen– an denen jeweils nur die eigenen Anhänger*innen teilnahmen.

„Rechnerisch ist Nicolás Maduro heute abberufen worden“

„Rechnerisch ist Nicolás Maduro heute abberufen worden“, frohlockte Parlamentspräsident Julio Borges am Abend des 16. Juli. Nach Angaben der Opposition hatten sich über 7,5 Millionen der insgesamt etwa 19 Millionen Wahlberechtigten an der Abstimmung beteiligt, davon fast 700.000 im Ausland. Gemessen daran, dass aus den eigenen Reihen zuvor mit Zielvorgaben zwischen acht und zehn Millionen hantiert worden war, blieb das Ergebnis hinter den Erwartungen zurück. Zumal der venezolanische Präsident Nicolás Maduro bei der Wahl 2013 etwas mehr Stimmen auf sich vereinen konnte, als die nun registrierten 7,5 Millionen. Rechtlich ist die Abstimmung ohnehin irrelevant. Laut Verfassung darf alleine der Nationale Wahlrat (CNE) verbindliche Wahlen und Abstimmungen ansetzen. Der MUD betrachtet die symbolische Befragung dennoch als Erfolg und leitet daraus ein politisches Mandat für eine pathetisch als „Stunde Null“ bezeichnete neue Phase des Protestes ab. Mehrere lateinamerikanische Länder, die EU sowie die USA stärkten dem MUD rhetorisch den Rücken. US-Präsident Donald Trump drohte der venezolanischen Regierung gar Sanktionen an, sollte sie nicht die geplante Verfassunggebende Versammlung stoppen.

Zur Abstimmung bei der Volksbefragung standen drei Fragen, die jeweils zwischen 98 und 99 Prozent Zustimmung erhielten: „1. Lehnen Sie die Durchführung der von Präsident Nicolás Maduro vorgeschlagenen Verfassunggebenden Versammlung ohne die vorherige Zustimmung der venezolanischen Bevölkerung ab und erkenne sie nicht an? 2. Verlangen Sie von den Streitkräften und allen staatlichen Funktionären, die Verfassung von 1999 zu verteidigen und die Entscheidungen der Nationalversammlung zu unterstützen? 3. Billigen Sie, dass die Staatsgewalten unter den von der gültigen Verfassung vorgegebenen Bedingungen erneuert werden und freie und transparente Wahlen durchgeführt werden, sowie eine Regierung der nationalen Einheit gebildet wird, um die verfassungsgemäße Ordnung wiederherzustellen?“

Nicmer Evans aus den Reihen des kritischen Chavismus, der sich aus unzufriedenen, ehemaligen Regierungsanhänger*innen zusammensetzt, hatte vorgeschlagen, lediglich eine einzige Frage nach der Verfassunggebenden Versammlung zu stellen. Dadurch hätte die Beteiligung nach seinen Vorstellungen auf über zehn Millionen gehoben werden können. Doch der MUD ging nicht darauf ein. Ansonsten sprachen sich die kritischen Chavist*innen deutlich sowohl gegen die Verfassunggebende Versammlung als auch die parallelen staatlichen Strukturen des MUD aus.

„Diese Initiative gehört nicht mehr mir, sie liegt nun in den Händen des Volkes“

Der venezolanische Präsident Maduro zeigte sich derweil unbeeindruckt und bekräftigte, an der Verfassunggebenden Versammlung festzuhalten. „Diese Initiative gehört nicht mehr mir, sie liegt nun in den Händen des Volkes“, sagte er und rief die Opposition zum Dialog auf.

Laut den vom CNE verabschiedeten Regelungen sollen am 30. Juli insgesamt 545 Teilnehmer*innen gewählt werden, davon 181 in festgelegten gesellschaftlichen Sektoren und 364 auf territorialer Ebene in Wahlkreisen. Die rechte wie linke Opposition befürchtet, die Regierung wolle den Staat für ihre Zwecke reformieren und die Demokratie abschaffen. Das von Maduro am 1. Mai angekündigte Vorhaben hat auch innerhalb des Chavismus eher die Spannungen verschärft, als dass es einen Ausweg aus der politischen Krise weisen würde.

Doch so symbolisch die oppositionelle Volksbefragung war, so symbolisch ist zunächst auch die ausgerufene „Stunde Null“. Die Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung mag in Bezug auf die Wahlbeteiligung ein Flop werden, verhindern kann die Opposition sie kaum.

Der Aufruf an das Militär, die Seiten zu wechseln, wird zumindest so lange keinen Erfolg haben, wie die chavistisch geschulte Armeeführung wirtschaftlich von Maduros Regierung profitiert.
Und auch der vom MUD nach der Volksbefragung vorgestellte Plan für eine zukünftige „Regierung der nationalen Einheit“ und die Ernennung neuer Richter*innen des Obersten Gerichts (TSJ), die das bestehende TSJ umgehend als illegal zurückwies, sind zunächst reine Symbolpolitik.

Im venezolanischen Machtkampf stehen aktuell also die Regierung Maduro, das Oberste Gericht und der Wahlrat dem oppositionell dominierten, aber vom TSJ blockierten Parlament, einem parallelen TSJ und demnächst vielleicht einer Parallelregierung „der nationalen Einheit“ (ohne Chavist*innen) gegenüber. Die Generalstaatsanwältin Luisa Ortega wiederum hat sich gegen die Regierung gestellt und erhält Unterstützung von der Opposition, könnte aber in einem politisch motivierten Verfahren durch das TSJ abgesetzt werden.

Bisher zeigen sich weder Regierung noch Opposition kompromissbereit, sieht man davon ab, dass der prominente Oppositionspolitiker Leopoldo López seine Strafe seit Anfang Juli zu Hause verbüßen darf. Wegen Anstachlung der Unruhen 2014 war er zu über 13 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die von beiden Seiten ausgehende Gewalt reißt derweil nicht ab. In den vergangenen Wochen häuften sich zudem Zwischenfälle, die darauf hindeuten könnten, dass sich der Konflikt gewissermaßen verselbständigt und den Führungen beider politischer Lager vollends zu entgleiten droht: So griff Ende Juni ein ehemaliger Kriminalpolizist von einem Hubschrauber aus in Rambo-Manier ein Gebäude des Obersten Gerichtes sowie des Innenministeriums an. Am 5. Juli, dem venezolanischen Nationalfeiertag, stürmten mutmaßlich organisierte Gruppen aus den Armenvierteln unter den Augen der Nationalgarde eine Sitzung des Parlaments und besetzten dieses stundenlang.

Sollte die Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung wie geplant stattfinden, droht eine weitere Eskalation, die entweder in einer Art Verhandlungslösung oder schlimmstenfalls in einen Bürgerkrieg münden könnte. Die Opposition will den Druck auf die venezolanische Regierung jedenfalls zunächst weiter steigern. Am 20. Juli rief sie zu einem 24-stündigen Generalstreik auf. Auch über dessen Ausmaß gingen die Einschätzungen auseinander. Während Oppositionsführer Henrique Capriles Radonski sagte, der Tag „gleiche in einigen Städten einem 1. Januar“, betonte Maduro, dass „die 700 größten Unternehmen des Landes zu 100 Prozent arbeiten“. Beide bezogen sich dabei auf Venezuela, jeder auf das seine.

„DIE REGIERUNG WILL EINE SIMULIERTE DEMOKRATIE“

GONZÁLO GÓMEZ ist Mitglied bei Marea Socialista (Sozialistische Flut), einer Abspaltung der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV). Im Jahr 2002 gehörte er zu den Mitbegründern der chavistischen Informations- und Debattenplattform Aporrea.org. (Foto: privat)

Herr Gómez, seit Anfang April erlebt Venezuela fast täglich Proteste. Droht eine weitere Eskalation?
Sowohl Regierung als auch Opposition setzen auf Konfrontation, aber niemand kümmert sich um die Probleme des Landes und der Bevölkerung. Die Politiker glauben anscheinend, dass ihnen dieser Faustkampf am Ende Vorteile für eine mögliche Verhandlungslösung verschafft. Dies könnte zu einer sozialen Explosion führen, die weit über die oppositionsnahen Sektoren hinaus geht.

Marea Socialista hat sich bereits 2014 von der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) abgespalten. Warum haben Sie mit der Regierung gebrochen?
Man muss die Regierung vor allem aufgrund ihrer konkreten Politik und nicht aufgrund des Diskurses oder ihrer Herkunft einordnen. In der Praxis betreibt Maduro eine konterrevolutionäre Politik, die durch eine linke, antiimperialistische und gegen die Bourgeoisie gerichtete Sprache verschleiert wird. Die Regierung zieht die Repression dem Dialog vor, wird immer autoritärer und will die partizipative und protagonistische Demokratie durch eine simulierte Demokratie ersetzen.

Was meinen Sie mit simulierter Demokratie?
Die Kunst besteht darin, eine breite Partizipation vorzugaukeln, obwohl die Regierungspartei PSUV alle Fäden in der Hand hält. Während Referenden behindert und die Regionalwahlen verschoben werden, will Maduro eine Verfassunggebende Versammlung gegen die offensichtliche Mehrheit der Bevölkerung durchsetzen (siehe Kasten). Aber es geht ihm nicht darum, mit der Revolution voranzukommen und die Rechte der Bevölkerung auszuweiten. Vielmehr soll die Verfassung von Chávez demontiert werden. Denn obwohl die Regierung ständig dagegen verstößt, stellt diese eine gewisse Bremse auf dem Weg in den Autoritarismus dar. Die vom Nationalen Wahlrat beschlossenen Regeln für die Wahl der Verfassunggebenden Versammlung verschaffen der Regierung einen klaren Vorteil und die Bevölkerung darf nicht einmal in einem Referendum darüber entscheiden, ob sie überhaupt eine neue Verfassung will. All dies nimmt dem Vorhaben die Legitimität.

Die rechte Opposition lehnt die Verfassunggebende Versammlung mit ähnlichen Argumenten ab …
… aber sie war es, die während des Putsches 2002 die aktuelle Verfassung abgeschafft hat! Erst der Autoritarismus der Regierung hat sie dazu gebracht, auf die demokratische Karte zu setzen, das ist opportunistisch und verlogen. Wir haben heute eine klassische Rechte, die sich im „Tisch der demokratischen Einheit“ (MUD) organisiert und eine neue Rechte, die in der Regierung sitzt. Natürlich sind sie nicht identisch, aber beide konkurrieren um Geschäfte und die Macht, manchmal überlagern und kreuzen sich die Interessen dabei. Die Regierung setzt längst eine Strukturanpassung durch, aber mit chavistischen Symbolen und sozialer Kontrolle.

Wie äußert sich dies?
Maduro führt die Versorgungskrise auf einen Wirtschaftskrieg zurück. Ich bestreite nicht, dass es diesen gibt. Aber es ist eine freiwillig getroffene Entscheidung der PSUV-Regierung, die Importe, auch von Lebensmitteln und Medizin, extrem zu beschränken, und gleichzeitig illegitime Schulden zu bedienen, die vermutlich zu einem großen Teil durch Korruption entstanden sind. Dies über die Bedürfnisse der Bevölkerung zu stellen, hat nichts mit Sozialismus zu tun. Viele Leute aus dem Umfeld der Regierung besitzen prall gefüllte Bankkonten, Luxusanwesen und Landgüter in den USA. Transnationalen Bergbaukonzernen stellt Maduro im Süden Venezuelas ein Gebiet von der Größe Portugals zur Verfügung. Wirtschaftliche Ansätze, von denen Chávez gesprochen hat, wie „endogene Entwicklung“ oder „Ernährungssouveränität“ wurden hingegen größtenteils zerstört.

Trägt dafür denn alleine die aktuelle Regierung die Verantwortung?
Sowohl den Privatunternehmern als auch den Bürokraten der Regierung geht es in erster Linie darum, schnelle Profite zu machen, zum Beispiel, indem sie das System der unterschiedlichen Wechselkurse auf betrügerische Art und Weise ausnutzen. Die Regierung Maduro tut nichts dagegen. Die Ansätze der Arbeiterkontrolle, die Chávez in einigen verstaatlichten Unternehmen eingeführt hat, sind verkümmert, Funktionäre und Militärs führen die Unternehmen, als seien sie ihr Privatbesitz.
Chávez hat diese bürokratisierenden Prozesse zwar bekämpft, aber nicht ausreichend. Kurz vor seinem Tod forderte er in einer programmatischen Rede, „das Steuer herumzureißen“, das heißt, den Beginn eines neuen Zyklus der Revolution einzuleiten. Maduro hat sich davon abgewendet.

Wie ließe sich die schwere Wirtschaftskrise lösen?
Das ist in diesem Stadium alles andere als einfach, da die Krise eine gewisse Eigendynamik angenommen hat, die im völligen Chaos zu enden droht. Aber es gibt ein paar Elemente: Zuallererst brauchen wir einen Dialog. Dieser darf sich aber nicht auf die Parteiführungen von PSUV und MUD beschränken, da diese einen Großteil der Bevölkerung nicht repräsentieren. In diesem Rahmen muss die Gewalt beendet werden und zwar sowohl seitens der Opposition, als auch der Sicherheitskräfte und regierungsnaher Gruppen. Das Recht auf freie Wahlen und die Einhaltung der Verfassung von 1999 müssen garantiert und die Verfassunggebende Versammlung zurückgenommen werden, es sei denn, die Bevölkerung entscheidet über deren Einberufung per Referendum.
Und die Regierung muss dringend Notfallmaßnahmen ergreifen, um die tragische Unterversorgung bei Lebensmitteln und Medikamenten abzumildern. Dazu sollte sie die Zahlung illegitimer Schulden einstellen und die Vermögen, die durch Korruption entstanden sind, konfiszieren, so wie es unsere Verfassung ermöglicht. Das alles muss umgehend geschehen, aber was wir dann brauchen, ist ein politisches Projekt. Wir müssen aus dem extraktivistischen Erdöl- und Bergbaumodell ausbrechen, die Landwirtschaft stärken und die Lebensmittelproduktion erhöhen.

Wie gelingt es Maduro in dieser schwierigen Situation sich weiterhin an der Macht zu halten?
Zu einem guten Teil hat das mit der Chávez-Nostalgie zu tun und der Hoffnung, die bolivarianische Revolution wiederzubeleben. Die Regierung macht sich die in weiten Teilen der Bevölkerung verbreitete Angst vor der klassischen Rechten und den Wunsch zunutze, die sozialen Errungenschaften der Chávez-Ära zu erhalten. Die Sozialprogramme etwa sind zwar deutlich weniger ausgeprägt als früher, dienen aber noch immer als Stoßdämpfer gegenüber der katastrophalen Lage.
Ein weiterer Grund ist das klientelistische Netz von Staatsangestellten und anderen Personen, die direkt von der Regierung abhängen. Dies betrifft auch die Führung vieler Organisationen und Bewegungen sowie das Militär. Und das Gespenst des Putsches von 2002 und der Erdölsabotage 2003/2004 führt dazu, dass viele Venezolaner und Venezolanerinnen, die mit der Regierung brechen, sich nicht der rechten Opposition anschließen. Laut Umfragen und Analysen verortet sich die Mehrheit der Bevölkerung mittlerweile in keinem der großen Lager mehr.

Dennoch erscheint die politische Landschaft noch immer stark polarisiert. Warum hat sich bisher keine politische Alternative herausgebildet?
Das hat zum einen mit der geringen Sichtbarkeit der Personen zu tun, die diese Alternative verkörpern könnten, mit dem langwierigen Prozess, eigene Organisationsstrukturen aufzubauen und den Hindernissen seitens des Autoritarismus. Unsere Partei Marea Socialista hat zum Beispiel keine Zulassung bekommen. Viele Bewegungen sind von der Regierung kooptiert und die Leute verbringen viel Zeit damit, ihr Überleben zu sichern und in Schlangen für Lebensmittel anzustehen. Die Bevölkerung wartet ab und könnte früher oder später auf den Plan treten, sofern Regierung und Opposition uns nicht vorher erdrücken.

Welche Rolle spielt in diesem Kontext der so genannte kritische Chavismus, dem sich auch Marea Socialista zugehörig fühlt?
Es geht uns zunächst vor allem darum, die Demokratie zu verteidigen und zu verhindern, dass die Gewalt überhand nimmt. Wir haben zum Beispiel schon im vergangenen Jahr eine Plattform zur Verteidigung der Verfassung und eine weitere zur Aufhebung des Bergbaudekretes gegründet. Obwohl wir uns weder an den Demonstrationen für noch gegen die Regierung beteiligen, erkennen wir an, dass es auf beiden Seiten Sektoren gibt, mit denen wir ins Gespräch kommen können. Wir wollen eine demokratische, antibürokratische und antikapitalistische Alternative aufbauen, die das Positive der Revolution rettet und die Fehler über Bord wirft. Daran arbeiten wir bei Marea Socialista gemeinsam mit einer Reihe chavistischer Ex-Ministerinnen und Ministern, Aktivistinnen und Aktivisten, Intellektuellen und Militärs im Ruhestand, die an Chávez’ Putschversuch 1992 teilgenommen haben.

Anhänger*innen der Regierung werfen Marea Socialista und anderen kritischen Chavist*innen häufig vor, der Rechten in die Hände zu spielen. Wie reagieren Sie auf solche Kritik?
Es kommt darauf an, wer so etwas äußert. Ich kann nachvollziehen, dass einige chavistische Sektoren eine Machtübernahme der Rechten fürchten. Wir debattieren darüber, wie man verhindern kann, dass die Oligarchie die Überbleibsel der Revolution zerstört. Aber was sollen wir schon jenen sagen, die uns als Agenten der CIA bezeichnen, weil wir innerhalb der Revolution Kritik üben, die sich aber gleichzeitig gemeinsam mit kapitalistischen Sektoren illegal bereichern?
So etwas anzuprangern ist notwendig und positiv für die Revolution. Wir dürfen nicht in die Falle tappen, dass wir Autoritarismus und Korruption akzeptieren, um uns gegen den Imperialismus zu verteidigen. Nicht die Kritik, sondern die schlechte Regierung gibt der Rechten Auftrieb. Darüber sollte auch ein Teil der internationalen Linken einmal nachdenken.

Im Jahr 2002 haben Sie das chavistische Internetportal Aporrea.org mitbegründet. Heute fällt auf, dass dort sowohl Befürworter*innen als auch Gegner*innen der Regierung publizieren. Welche Rolle kann Aporrea künftig spielen?
Man könnte meinen, Aporrea habe sich verändert, aber tatsächlich haben sich das Land, der Chavismus und die Haltung der Bevölkerung verändert. Als wir uns in Verteidigung der legitimen Regierung von Chávez 2002 gründeten, war unser Slogan: „¡Rompiendo el cerco mediático!“ – „Die mediale Belagerung durchbrechen“. Heute verwenden wir den Plural und sprechen von „Belagerungen“. Denn zusätzlich zur privat-kapitalistischen medialen Hegemonie gibt es eine bürokratisch-staatliche. Die staatlichen Sender haben nicht mehr die Durchlässigkeit, die sie für die sozialen Bewegungen zu Chávez’ Zeiten hatten. Daher ist unsere Rolle nun mehr denn je, Meinungen und Debatten Raum zu geben, die in den privaten wie staatlichen Sender kaum vorkommen. Wir bilden die Widersprüche des Chavismus und der bolivarianischen Revolution ab.

SCHWERER STAND FÜR MENSCHENRECHTE

Foto: Bettina Müller

„Ob es 9.000 Verhaftete und Verschwundene oder 30.000 waren, ich weiß es nicht. Für mich macht diese Debatte keinen Sinn.“ Mit dieser Aussage macht sich Mauricio Macri gemein mit denjenigen, die die Verbrechen der letzten argentinischen Militärdiktatur von 1976-83 relativieren wollen. Macri tätigte diese Aussage in einem Interview zum 41. Jahrestag des Putsches am 24. März. So wie er, sehen es auch Parteimitglieder und regierungsnahe Politiker*innen. Wahlweise drücken sie Zweifel an der im kollektiven Gedächtnis verankerten Zahl der 30.000 Verhaftet-Verschwundenen unter der vergangenen Militärdiktatur aus, einer Zahl, die von den Menschenrechtsorganisationen immer wieder bestätigt wurde, verneinen schlicht, dass diese ein systematisches Programm zur Eliminierung subversiver, linksorientierter Kräfte vorantrieb.

Schon vor seinem Amtsantritt am 10. Dezember 2015 hatte der argentinische Präsident Mauricio Macri angekündigt, dass er mit dem „Schwindel der Menschenrechte“, die in den zwölf Jahren Kirchner-Regierungen eine zentrale Rolle eingenommen hatten, Schluss machen würde – und er hat Ernst gemacht.

Es ist nicht nur die Zahl der Opfer der Militärdiktatur, die die Regierung wenig interessiert. Allgemein steht das Thema Menschenrechte und die Aufarbeitung der Verbrechen unter der Militärdiktatur sowie der Verfolgung derjenigen, die diese begangen haben, nicht sonderlich weit oben auf ihrer Prioritätenliste. Es verwundert also nicht, dass Estella Carlotto, eine der sichtbarsten Figuren der Großmütter der Plaza de Mayo, dem Präsidenten nach einem Jahr Regierungszeit ein Armutszeugnis im Bezug auf die Wahrung der Menschenrechte ausstellte – und sie ist nicht allein mit ihrer Kritik.

Während die Regierung Unsummen in Eigenwerbung steckt, um trotz der desaströsen Lage im Land ein Gefühl des Fortschrittes zu generieren, hat sie an anderen Stellen massiv eingespart. Mit zwischen 15 Prozent und bis zu 50 Prozent weniger finanziellen Mitteln als noch im vergangenen Jahr müssen das Sekretariat für Menschenrechte und eine Reihe von Programmen, die sich unter anderem mit der Begleitung der Opfer der Diktatur befassen, 2017 auskommen.

Auch bei der Strafverfolgung der Täter der Militärdiktatur „spart“ die Regierung ein.

Auch bei der Strafverfolgung der Täter der Militärdiktatur „spart“ die Regierung ein. Waren es von 2011 bis 2015 jährlich mindestens 20 Verurteilungen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sank diese Zahl 2016 auf neun. Gleichzeitig profitierten aber 50 der verurteilten Verbrecher von einer Minderung ihres Strafmaßes und wurden in den Hausarrest entlassen. Zudem stieg der Staat als Ankläger aus einer Reihe von Verfahren gegen Verbrecher der Militärdiktatur aus. Gingen noch bis vor 17 Monaten Menschenrechtsorganisationen im Justizministerium ein und aus, sind es heute die Familienmitglieder der verurteilten Verbrecher*innen und ihre Anwält*innen, zu denen der derzeitige Justizminister Germán Garavano aktive Beziehungen unterhält.

Anfang Mai erreichte die von der Regierung gelebte Politik der Geschichtsvergessenheit ihren vorläufigen Höhepunkt. Der 2011 zu 13 Jahren verurteilte Luis Muiña, der im geheimen Folterzentrum des Krankenhauses Posadas wirkte, sollte bereits nach der Hälfte der Zeit aus dem Gefängnis entlassen werden, so der Oberste Gerichtshof Argentiniens. Die Richter*innen beriefen sich bei ihrer Entscheidung auf ein Gesetz, dass es Straffälligen möglich macht, bei guter Führung und unter Berücksichtigung einiger weiterer Faktoren, nach der Hälfte der Zeit frei zu kommen. Dieses Gesetz war jedoch 2001 abgeschafft worden und galt ohnehin nie für Täter*innen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. So begründeten auch zwei der fünf Richter*innen ihre Entscheidung gegen die Minderung des Strafmaßes von Luis Muiña, wobei sie jedoch von den drei anderen, Elena Highton de Nolasco, Carlos Rosenkrantz und Horacio Rosatti, überstimmt wurden. Rosenkrantz und Rosatti wurden übrigens per Dekret von Präsident Macri ernannt und in zweiter Instanz durch den Senat bestätigt.
Die Antwort der Menschenrechtsorganisationen, sozialer Bewegungen und von einem Großteil der Parteien und Gewerkschaften erfolgte umgehend. Noch am selben Tag, dem 3. Mai, zirkulierten eine Vielzahl von Erklärungen, die die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes verurteilten. Keine Woche darauf, einem Aufruf des Zusammenschlusses von Menschenrechtsorganisationen „Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit“ folgend, versammelten sich mehr als 500.000 Menschen vor dem Regierungsgebäude auf der Plaza de Mayo, um ihre Sorge zur Lage der Menschenrechte im Land zum Ausdruck zu bringen. „Verbrechen gegen die Menschlichkeit dürfen nicht begnadigt werden und sie verlieren auch nichts an ihrer Schwere über die Zeit“, so Nora Cortiñas, eine der Mütter der Plaza de Mayo, während der Kundgebung.

Der öffentliche Druck auf die Regierung war derart groß, dass Mauricio Macri, kaum hatte das Parlament die Nicht-Anwendbarkeit des strafmaßmindernden Gesetzes auf Verbrecher*innen der Militärdiktatur erneut ratifiziert, diese Entscheidung bestätigte und sich von den Richter*innen distanzierte.

Doch die Sorge um die Lage der Menschenrechte im Land bleibt.

Doch die Sorge um die Lage der Menschenrechte im Land bleibt. Bereits im vergangenen Jahr gab Mauricio Macri dem Militär die Autonomie zurück, die der damalige Präsident Raúl Alfonsín nach dem Ende der Diktatur eingeschränkt hatte. Außerdem lud er Militärs, die sich mehrfach positiv zur Diktatur geäußert hatten, zu offiziellen Regierungsfeierlichkeiten ein, so erst jüngst zum 207. Jahrestag der Unabhängigkeit am 25. Mai.
Auch immer häufiger auftretende Polizeirazzien an Schulen, Universitäten und in Stadtteilzentren, wo deren Präsenz eigentlich per Gesetz untersagt ist, und das Schweigen der Regierung diesbezüglich, sind äußerst bedenklich. Hinzu kommt die Verfolgung von politischen Aktivist*innen und Gewerkschaftsführer*innen. Ein Fall, der sogar die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte auf den Plan rief, ist jener der Anführerin der Tupac Amaru, Milagro Sala, die seit über einem Jahr in der nördlichen Provinz Jujuy im Gefängnis sitzt, angeblich, weil sie auf einer Demonstration mit Eiern warf.

Unter Berufung auf das von der Regierung verabschiedete Protokoll zur Unterbindung von Straßenbarrikaden (Protocolo Antipiquete) ordnete die Sicherheitsministerin Patricia Bullrich zudem in jüngster Zeit verstärkt die Unterdrückung sozialer Proteste an. Spätestens seit im März auf den Straßen des Landes fast täglich Demonstrationen stattfanden, versucht die Regierung, die Idee der destabilisierenden Gefahr von Links im öffentlichen Raum zu etablieren.

Auch die wachsende Diskriminierung von Migrant*innen und die nicht zu übersehende Verstrickung des Clans Macri mit der Militärjunta sollten nicht unerwähnt bleiben: Die Firmengruppe SOCMA (SOCiedad MAcri) wuchs zwischen 1976 und 1983 von sieben auf 46 Unternehmen an und sie profitierte von der Verstaatlichung der privaten Schulden 1982. Die Regierung Macri hat viele Wahlversprechen gebrochen, eines nicht: Die Menschenrechte und die Kultur der Erinnerung nebensächlich laufen zu lassen.

KRISENMODUS IM DAUERBETRIEB

Anfang Februar erreicht die Krise plötzlich das venezolanische Staatsfernsehen. Die wöchentlich ausgestrahlte Sendung „Sonntags mit Maduro“ findet dieses Mal in Guarenas statt, einem Vorort der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Präsident Nicolás Maduro erteilt der 16-jährigen Schülerin Dulbi Tabarquino das Wort. Vor der Kamera wirkt sie nervös, begrüßt ihn am Nachmittag mit „Guten Morgen“, um dann über ihre Schule zu sprechen. „Präsident, [die Schule] Bénito Canónico benötigt jede Menge Hilfe“, setzt sie an und berichtet zunächst von Problemen mit Infrastruktur und Sicherheit. „Wo ist diese Schule?“, hakt Maduro ein. „Hier unten, gleich nebenan“, antwortet die Schülerin. Maduro wirkt perplex, sagt, man müsse sich sofort darum kümmern. Doch Tabarquino ist noch nicht fertig. Vor zwei Jahren sei ihnen die Mensa geschlossen worden, die 450 Schüler*innen bekämen weder Frühstück noch Mittagessen und auf die Anfragen hätten die Behörden nicht regiert. Maduro versucht, die Situation durch Parolen zu retten. Sie sollten sich organisieren, auf die Straße gehen, ihr Recht erkämpfen. Doch die Schülerin legt nach, betont nochmals, dass sie die Mensa brauchen würden. „Es sind schon viele Schüler in der Schule ohnmächtig geworden.“ Am Ende bleiben ein paar denkwürdige Worte zurück. „Ich bedauere, dass Du erst hierher kommen musstest, damit ich diese Wahrheit erfahre“, sagt der Präsident und fordert, bis zum Ende der Sendung solle ein Bericht über die Mängel in der Schule vorliegen, damit die Missstände umgehend beseitigt werden könnten.

Maduro wirkt planlos und schlecht informiert über die Zustände im Land.

Die Episode zeigt, wie wenig Gespür die Regierung, die für sich in Anspruch nimmt, das Erbe von Hugo Chávez zu vertreten, offenbar für die Probleme im Land hat. Chávez selbst nahmen die Menschen immer ab, dass nicht er persönlich für auftretende Missstände verantwortlich ist. Maduro hingegen wirkt planlos und schlecht informiert.

Das vergangene Jahr endete mit einer geschätzten Inflation von mehreren hundert Prozent und der chaotischen Einführung neuer Geldscheine mit deutlich höherem Nennwert. Anstatt die strukturellen Probleme der venezolanischen Ökonomie anzugehen, setzt die Regierung allenfalls kosmetische Änderungen um. Für die Krise macht sie alleine den niedrigen Erdölpreis und einen „Wirtschaftskrieg“ seitens der Privatwirtschaft verantwortlich. Gravierende Versorgungsmängel und ein spürbarer Kaufkraftverlust treffen derweil vor allem die ärmere Bevölkerungsmehrheit, die ohne staatliche Subventionen kaum überleben könnte. Wer an den als misiones bekannten Sozialprogrammen teilhaben will, muss sich zukünftig für eine elektronische Karte registrieren. Kritiker*innen sehen darin soziale Kontrolle. Die Regierung spricht davon, die Effizienz zu erhöhen und Missbrauch vorzubeugen.

Maduro gibt sich trotz aller Probleme optimistisch und rief 2017 zum „Jahr der wirtschaftlichen Erholung“ aus. Doch kaum etwas spricht dafür, dass sich die Lage im krisengeschüttelten Venezuela nennenswert verbessern wird. Von der Neu- und Umbesetzung zahlreicher Minister*innenposten Anfang des Jahres sind jedenfalls kaum neue Impulse zu erwarten.

Kaum etwas spricht dafür, dass sich die wirtschaftliche Lage nennenswert verbessern wird.

Der prominenteste Wechsel betrifft die Vizepräsidentschaft, die der bisherige Gouverneur des Bundesstaates Aragua und frühere Innenminister unter Hugo Chávez, Tarek El Aissami, übernimmt. Der 42-jährige Jurist und Kriminologe gilt als ideologischer Hardliner und wird bereits als möglicher chavistischer Kandidat für die Präsidentschaftswahlen Ende 2018 gehandelt, sollte Maduro aufgrund seiner Unbeliebtheit nicht noch einmal antreten. Vielen Oppositionellen ist El Aissami noch verhasster als Maduro. Die US-Regierung hält den Nachfahren syrischer und libanesischer Migrant*innen gar für einen Drogenhändler und verhängte im Februar Sanktionen gegen ihn. El Aissami selbst wies die Vorwürfe entschieden zurück und ließ dafür sogar eine ganzseitige Anzeige in der New York Times schalten. Auch werfen die USA dem neuen Vizepräsidenten vor, enge Verbindungen zur schiitischen, vom Iran unterstützen Hisbollah im Libanon zu pflegen.

Anfang Februar hatte CNN en Español zudem berichtet, dass Venezuela im Mittleren Osten seit Jahren Pässe verkaufe, die Terroristen die visafreie Einreise in mehr als 100 Staaten ermöglichen könnten. Daraufhin schalteten die venezolanischen Behörden den US-Sender unter dem Vorwurf der „Kriegspropaganda“ ab. Und schließlich forderte der neue US-Präsident Donald Trump auch noch die sofortige Freilassung „politischer Gefangener“ wie Leopoldo López. Der Oppositionspolitiker ist seit drei Jahren wegen der Anstachlung gewalttätiger Unruhen inhaftiert. Trump posierte mit dessen Ehefrau Lilian Tintori demonstrativ in Washington. Maduro warnte seinen US-amerikanischen Amtskollegen daraufhin davor, in Venezuela „die gescheiterte Politik des regime change“ seiner Vorgänger George W. Bush und Barack Obama fortzuführen.

Durch die Personalie El Aissami dürften aber nicht nur die Spannungen mit den USA weiter zunehmen. Auch das im vergangenen Jahr von der Opposition angestrebte Abberufungsreferendum gegen Maduro ist nun wohl endgültig vom Tisch. Im vergangenen Oktober hatte der Nationale Wahlrat (CNE) das Referendum wegen vermeintlicher Betrugsdelikte bei der Unterschriftensammlung blockiert. Da am 10. Januar die letzten beiden Amtsjahre Maduros angebrochen sind, gäbe es bei einem erfolgreichen Referendum keine Neuwahlen mehr. Stattdessen würde der amtierende Vizepräsident die Amtszeit zu Ende bringen.

Nachdem der im November begonnene Dialog mit der Regierung ebenfalls gescheitert ist, bleibt die juristische Blockade der mehrheitlich oppositionell besetzten Nationalversammlung zunächst bestehen. Der offizielle Grund ist, dass diese unter Missachtung eines Urteils des Obersten Gerichts (TSJ) Ende Juli drei Abgeordnete aus dem Bundesstaat Amazonas vereidigt hat, denen Stimmenkauf vorgeworfen wird. Die Folgen sind skurril: Die Wahl von Julio Borges von der Partei Primero Justicia zum neuen Parlamentspräsidenten am 5. Januar wies das TSJ als ungültig zurück. Am 9. Januar versuchte die oppositionelle Parlamentsmehrheit Maduro abzusetzen, um Neuwahlen zu erzwingen, obwohl die venezolanische Verfassung kein parlamentarisches Amtsenthebungsverfahren kennt. Und seinen alljährlichen Rechenschaftsbericht legte Maduro anders als von der Verfassung vorgesehen Mitte Januar nicht vor dem Parlament, sondern dem Obersten Gericht ab.

Dass die rechte Opposition aus der schwachen Regierungspolitik bisher keinen politischen Nutzen ziehen konnte, sorgt indes in den eigenen Reihen zunehmend für Frust. Der bisherige Generalsekretär des Oppositionsbündnisses Tisch der Demokratischen Einheit (MUD), Jesús „Chúo“ Torrealba, mahnte Mitte Januar eindringlich, dem Land endlich ein kohärentes politisches Projekt zu präsentieren. Zu lange habe man über Mechanismen debattiert, um Neuwahlen zu erzwingen, „aber niemand hat gesagt, was darauf folgt“. Im Zuge einer internen Neustrukturierung des MUD wurde Torrealba, dem viele eine zu lasche Haltung gegenüber der Regierung vorwerfen, mittlerweile abgesägt. Das Amt des Generalsekretärs schaffte das Bündnis Mitte Februar ab. Die interne Arbeit des MUD soll nun José Luis Cartaya als Koordinator betreuen, während sich die neun größten Parteien des Bündnisses die politische Führung im Rotationsverfahren teilen.

Tatsächlich zeigt sich die Opposition weniger als zwei Jahre vor den Präsidentschaftswahlen intern alles andere als geeint. Um die politische Führung konkurrieren derzeit mindestens vier Politiker. Neben dem inhaftierten Leopoldo López, dessen Partei Voluntad Popular jegliche Gespräche mit der Regierung vehement ablehnt, ist Henrique Capriles Radonski von der Partei Primero Justicia das populärste Gesicht der Regierungsgegner*innen. Der zweimalige Präsidentschaftskandidat gehörte im vergangenen Jahr zu den stärksten Verfechtern eines Abberufungsreferendums. Auch Henry Ramus Allup von der ehemaligen Regierungspartei Acción Democrática werden Ambitionen auf eine Präsidentschaftskandidatur nachgesagt. Von vielen als Politsaurier verschrien, konnte er sich 2016 als unnachgiebiger Parlamentspräsident profilieren. Laut Meinungsumfragen ist schließlich auch Henri Falcón, der amtierende Gouverneur des Staates Lara, auf dem aufsteigenden Ast. Der ehemalige Chavist und Chef der Mitte- Links-Partei Avanzada Progresista könnte vor allem den moderaten Teil der Opposition und möglicherweise auch enttäuschte Chávez-Wähler* innen hinter sich vereinen. Doch die spannende Frage ist weniger, wer in etwaigen internen Vorwahlen der Opposition triumphieren könnte. Vielmehr ist derzeit völlig offen, wann in Venezuela überhaupt wieder eine Wahl stattfindet. Eigentlich hätte der CNE Ende letzten Jahres Regionalwahlen organisieren müssen. Im Oktober verschob der Wahlrat diese jedoch ohne nachvollziehbare Gründe in das erste Halbjahr 2017. Kurz darauf erließ das Oberste Gericht ein Urteil, wonach sich die Parteien neu registrieren müssen, um zu zeigen, dass sie noch politisch aktiv sind. Die Umsetzung dieses Urteils obliegt dem CNE, der im Februar die Neuregistrierung anordnete, die sowohl im oppositionellen als auch im chavistischen Lager für scharfe Kritik sorgt. Alle Parteien, die an den vorangegangenen zwei Wahlen nicht selbst teilgenommen oder weniger als ein Prozent der Stimmen erreicht haben, müssen sich neu registrieren lassen. Da sich die meisten oppositionellen wie chavistischen Parteien mittels eines Wahlbündnisses beteiligt hatten, betrifft dies insgesamt 59 Parteien. Von der Neuregistrierung ausgenommen sind neben drei kleineren, neu gegründeten Parteien lediglich die regierende Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) und das Oppositionsbündnis MUD. Dessen einzelne Mitgliedsparteien müssen sich jedoch registrieren, um auch unabhängig von dem Parteienbündnis antreten zu können. Die CNERektorin Tania D’Amelio betonte, dass solange die Neuregistrierung nicht abgeschlossen sei, keinerlei Wahlen geplant würden. Damit ist klar, dass die Regionalwahlen frühestens im zweiten Halbjahr 2017 stattfinden können. Die 59 betroffenen Parteien müssen nun in insgesamt zwölf Staaten die Unterschriften von jeweils 0,5 Prozent der Wahlberechtigten einholen, andernfalls droht ihnen die Löschung aus dem Register. Laut den Bestimmungen des CNE steht dafür jeder Partei zwischen dem 4. März und 21. Juni ein bestimmtes Wochenende zu. Die Anzahl der erforderlichen Unterschriften reicht von etwa 500 in den kleinsten Staaten bis zu um die 10.000 in den größeren. Die Wähler*innen müssen sich dazu an einen der insgesamt 360 Registrierungsstellen einfinden, an denen Mitarbeiter*innen des CNE jeweils die Daten und Fingerabdrücke abnehmen. Diese sollen jedoch nur sieben Stunden pro Tag geöffnet sein, weswegen jeder Partei insgesamt 14 Stunden bleiben, um die Mindestanzahl der Unterschriften zu erreichen.

Der MUD wirft dem Wahlrat vor, „unüberwindbare Hürden“ aufzustellen und warnt vor einer Entwicklung wie in Kuba und Nicaragua, wo die Bürger*innen nur für zuvor ausgewählte Kandidat*innen stimmen könnten. Zumindest die größeren Parteien des MUD kündigten jedoch an, sich trotz der grundsätzlichen Kritik registrieren zu lassen.

Im chavistischen Lager äußerte sich am deutlichsten die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV), die bei den vorangegangenen Wahlen so wie alle chavistischen Parteien auf dem Ticket der PSUV angetreten ist. Sie legte nicht nur Beschwerde beim Obersten Gericht ein, sondern will die Neuregistrierung boykottieren. Damit droht der ältesten Partei Venezuelas, die im Laufe ihrer fast 90-jährigen Geschichte mehrfach vorübergehend verboten war, der Verlust des Parteienstatus’. Die Kommunist*innen stören sich vor allem daran, die Namen ihrer Mitglieder und Unterstützer*innen vor dem CNE offenlegen zu müssen, da diesen aufgrund ihrer politischen Überzeugungen seitens „privater wie staatlicher Chefs“ die Entlassung drohe. „Wir werden den Kapitalisten nicht den Gefallen tun, ihnen eine Liste mit biometrischem Fingerabdruck zu machen“, stellte Generalsekretär Oscar Figuera klar. Zudem kritisiert die Partei, dass die gesetzliche Grundlage für die Neuregistrierung aus dem Jahr 1965 stammt, also lange vor der Verfassung von 1999 verabschiedet wurde. In dieser Zeit wurden die Kommunist*innen offen verfolgt. Sollte die PCV die Zulassung verlieren, werde man sich zukünftig als Teil eines Bündnisses an Wahlen beteiligen, sagte der politische Sekretär Carlos Aquino. Der CNE habe „die Konsequenzen“ zu tragen, „wenn er Parteien beseitigt“.

Die Regierung hat sich öffentlich bisher nicht zu der Kritik geäußert. Doch auch die PSUV steht vor einer Neustrukturierung. Die bisherige Wahlmaschinerie sei „sehr gut“ gewesen, habe sich aber erschöpft und müsse neu justiert werden, erklärte Präsident Maduro Mitte Februar. Wann auch immer der CNE die nächsten Wahlen ausrufe, müsse der PSUV bis dahin „der Sieg sicher“ sein. Sollte sich der mehrheitlich regierungsnah besetzte Wahlrat dieser Ansicht anschließen, dürfte es so bald keine Wahlen geben. Der Regierungspartei traut derzeit wohl kaum jemand einen Wahlsieg zu.

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