Am 20. August 2023 schrieb Ecuador Geschichte. Die Bevölkerung des kleinen Andenstaats stimmte in zwei historischen Volksabstimmungen gegen die Ausbeutung der Natur. Der erste Volksentscheid entschied den Stopp der Erdölförderung im Yasuní-Nationalpark, ein UNESCO-Reservat, Heimat verschiedener (teilweise kontaktierter) indigener Nationalitäten und einer der artenreichsten Flecken dieser Erde. Dieses Referendum war der Höhepunkt eines jahrzehntelangen Kampfes zum Schutz des Yasuní. 2013 hatte der ehemalige Präsident Rafael Correa die Yasuní-ITT Initiative und damit den Versuch, das Öl des Nationalparks im Gegenzug für internationale Finanzhilfen nicht zu fördern, überraschend beendet. Als Antwort gründeten Umweltschützer*innen das Kollektiv Yasunidos und organisierten eine landesweite Kampagne für einen Volksentscheid zu den geplanten Ölbohrungen im Yasuní Park. Das Referendum wurde jedoch wiederholt vom Nationalen Wahlrat blockiert, bis es im Mai 2023 überraschend doch genehmigt wurde – zehn Jahre nach der Gründung von Yasunidos und sieben Jahre nach Beginn der Ölbohrungen im Nationalpark. Mit einer dezentralisierten nationalen Kampagne gelang es Yasunidos, die öffentliche Unterstützung für den Yasuní und die allgemeine Enttäuschung über leere Entwicklungsversprechen durch Erdölforderung erfolgreich zu mobilisieren. Als Konsequenz stimmten am 20. August 2023 insgesamt 58 Prozent der ecuadorianischen Bevölkerung für den Schutz des Yasuní. Dies zwang die Regierung theoretisch über den Rechtsweg, die Erdölproduktion zu stoppen und die Ölfelder innerhalb des letzten Jahres zu verlassen. Für ein Land, das stark von Erdöleinnahmen abhängig ist, war dies ein bahnbrechendes Ergebnis.
Mit direkter Demokratie gegen Ölbohrungen und Bergbau
Zur gleichen Zeit fand ein weiterer Volksentscheid auf regionaler Ebene statt. Ein Kollektiv städtischer und ländlicher Umweltschützer*innen gründete die Kampagne Quito sin Minería („Quito ohne Bergbau“) und organisierte ein Referendum gegen die Ausweitung von Bergbaukonzessionen im Chocó Andino. Dieser subtropische Wald nordwestlich von Ecuadors Hauptstadt Quito ist ebenfalls ein UNESCO-Reservat und beheimatet viele endemische Tier- und Pflanzenarten. Innerhalb eines Monats organisierte Quito sin Minería Aktionen in Quitos Randbezirken, malte Wandbilder in der ganzen Stadt und lud die Einwohner*innen ein, den Chocó Andino kennenzulernen. Sie zeigten, wie der angehende Bergbau die lokalen Gemeinschaften spaltet, die Ökosysteme irreparabel beeinträchtigt und die Abhängigkeit von natürlichen Ressourcen fortsetzt. Daraufhin stimmten beim Referendum am Abend des 20. August 68 Prozent der Bevölkerung Quitos in einer weiteren historischen Entscheidung für den Schutz des Chocó Andino und das Verbot weiterer Bergbaukonzessionen.
Es ist einer der seltenen Fälle, in denen sich die Bevölkerung eines Landes mittels direkter Demokratie gegen Ölbohrungen und Bergbau ausspricht. Was ist nun, ein Jahr später, daraus geworden? Esteban Barriga, Mitglied von Quito sin Minería, erläutert gegenüber LN, dass „der Sieg des Referendums einen Quantensprung in Richtung Post-Extraktivismus bedeutet“ und betont, dass seither viele neue Finanzierungsmöglichkeiten, Investitionen und organisatorische Projekte in den Chocó Andino gekommen sind. Infolgedessen forme sich dort „ein Modell, das viel Hoffnung macht, Hoffnung auf neue Arten, das Leben zu verstehen und zu leben, auf eine neue Beziehung zwischen Land und Stadt.“ Allerdings betont David Cañas von Scientist Rebellion Abya Yala gegenüber LN, dass die Bergbaukonzerne im Chocó Andino auch weiterhin den Ausbeutungsprozess fortsetzen würden, vor allem mit den Projekten die bereits eine Lizenz hätten. Die Unternehmen würden ausnutzen wollen, dass das Referendum frühere Konzessionen nicht rückgängig machen kann und das, „obwohl der Bergbau in diesem Gebiet nicht akzeptiert wird, wie sich bei der Befragung gezeigt hat.”
In der Tat hat Ecuadors Regierung die Ergebnisse der Referenden wiederholt missachtet. Der im Oktober 2023 gewählte Präsident Daniel Noboa setzt die rechtsgerichtete Neoliberalisierung des Landes unbeirrt fort. Unter seiner Präsidentschaft organisierte das Ministerium für Umwelt, Wasser und ökologischen Wandel eine öffentliche Informationsveranstaltung für die Bewohner*innen des Chocó. Ein notwendiger Schritt für eine Umweltlizenz – aber nach dem rechtsverbindlichen Ergebnis des Volksentscheids im Chocó Andino eigentlich verboten. Genauso hat die Regierung auch die Umsetzung des Yasuní-Referendums verzögert. Der Volksentscheid sprach von einem Verlassen der ITT-Ölfelder innerhalb eines Jahres. Dies beinhaltet die Schließung von 246 Bohrlöchern, den Abbau aller oberirdischen Pipelines und die Wiederherstellung der Vegetation. Eine technische Herausforderung, aber nicht unmöglich. Dennoch ist die Regierung die Schließung des Feldes mit Blick auf die Wahlen im nächsten Jahr mit Vorsicht angegangen. Im August 2024 legte sie dem Verfassungsgericht einen allgemeinen Bericht vor, in dem sie angibt, dass die Schließung aller Bohrlöcher zwar in diesem Jahr beginnen, aber insgesamt fünf Jahre dauern wird. Wissenschaftler*innen und Umweltschützer*innen kritisieren diese unklaren Angaben und fordern mehr Einsatz von der ecuadorianischen Regierung, das Ergebnis des Volksentscheids umzusetzen.
Allerdings erschwert auch die sich dramatisch verschlechternde Sicherheitslage im Land, dass das Thema mit Priorität behandelt wird. Durch den wachsenden Einfluss von internationalen Drogenkartellen, die den Rückzug des ecuadorianischen Staates ausnutzen, ist die Frage der Sicherheit für die ecuadorianische Bevölkerung in den Mittelpunkt gerückt. Trotzdem organisierten Umweltschützer*innen und indigene Nationalitäten mehrere Aktionen wie den Yasuní-Gipfel im August 2024, um den Jahrestag der Volksabstimmungen zu feiern und den Druck auf die Regierung aufrechtzuerhalten. Auch ein Jahr später setzen die Ergebnisse der Befragungen dringende Fragen zu Ecuadors Zukunft auf die politische Tagesordnung. In der Tat befindet sich das Land an einem Schnittpunkt multipler, sich überlappender Krisen: die ökologische und soziale Zerstörung durch den Extraktivismus, die Klimakrise, die Waldbrände im Amazonasgebiet in einem noch nie dagewesenen Ausmaß verursacht, und die aktuelle Energiekrise. Als Folge der anhaltenden Dürre und jahrelang ausbleibender Investitionen der letzten Regierungen leiden Quito und andere Städte seit Monaten unter Stromausfällen von bis zu sechs Stunden täglich, da die Wasserkraftwerke nur eingeschränkt operieren. Außerdem wird Ecuador mittelfristig aufgrund der Erschöpfung seiner Ölreserven von einem Erdölexportland zu einem Nettoimporteur von Erdöl werden.
Gleichzeitig versucht die neoliberale Regierung Noboas, den Energiesektor weiter zu privatisieren. Für soziale Bewegungen ist dies ein entscheidender Moment, um die Diskussionen um Extraktivismus und Energie zu verknüpfen und eine Debatte über eine gerechte Transformation zu ermöglichen. Beide Volksabstimmungen haben Möglichkeiten eröffnet, die Zukunft Ecuadors neu zu gestalten. Gegenwärtig zeichnen sich zwei gegensätzliche Visionen ab, die gänzlich unterschiedliche Weltanschauungen repräsentieren: Strebt Ecuador nach mehr Extraktivismus oder setzt es eine gerechte ökologische Transformation um?
Die Erdölreserven werden durch Ausbeutung anderer Rohstoffe ersetzt
Auf der einen Seite wollen ecuadorianische Regierung und Handelskammern den Bergbau in Ecuador ausweiten, um den Bedarf an Rohstoffen für die Energiewende zu decken. Diese Agenda ist geprägt von der internationalen Energiepolitik, die große Mengen an kritischen Mineralien (seltene Rohstoffe wie Lithium für E-Autos, von deren Import die meisten Industrieländer abhängig sind) benötigt, um sogenannte Klimaneutralität zu realisieren. Wissenschaftler*innen sprechen vor diesem Hintergrund von einem sich formenden „Konsens der Dekarbonisierung“, der die Ausbeutung von Rohstoffen im Globalen Süden für die Energiewende im Norden legitimiert. Während die Konzessionen im Chocó Andino hauptsächlich Silber und Gold umfassen, bewegt sich Quitos Volksentscheid im Kontext einer zunehmenden Ausweitung des Bergbaus durch die ecuadorianische Regierung. Im Jahr 2019 begannen die beiden ersten Großminen Mirador und Fruta del Norte mit dem Export von Rohstoffen, darunter Kupfer, das als kritisches Mineral für die Energiewende benötigt wird. Als Konsequenz unterdrückt die Regierung jeglichen Protest in Bergbauregionen. Beispielsweise wurden im März 2024 Umweltschützer*innen in Los Sigchos gewaltvoll von Polizei und Armee daran gehindert, ihre Wälder vor der Eröffnung der Kupfermine Loma Larga durch das kanadische Kupferunternehmen Atico Mining zu schützen. Gleichzeitig ist Ecuador unter US-Aufsicht im August 2024, ein Jahr nach den Volksbefragungen, dem Minerals Security Partnership Forum (MSPF) beigetreten. Das MSPF ist ein neuer Pakt zwischen Ländern wie Australien, Kanada, dem Vereinigten Königreich, Indien, den Vereinigten Staaten sowie der Europäischen Union um die Versorgungskette für wichtige Mineralien zu sichern. Somit ging es bei den Volksbefragungen nicht nur um den Yasuní oder Chocó Andino, sondern auch um die Verlagerung von Erdölförderung zu Bergbau: Während die Erdölreserven zunehmend zur Neige gehen, werden sie durch die Ausbeutung anderer Rohstoffe für die Dekarbonisierung ersetzt. Was bleibt, sind gravierende soziale und ökologische Folgen sowie die Abhängigkeit von internationalen Märkten und Institutionen.
Ecuadors Regierung missachtet die Ergebnisse der Referenden
Aber es gibt auch Alternativen zu dieser Vision. Beispielsweise hat Yasunidos als Teil der Wahlkampagne für das Referendum einen Zehn-Punkte-Plan vorgelegt, der Ideen wie Bioindustrie, nachhaltigen Tourismus und das Recycling von Rohstoffen diskutiert. Allerdings gehen diese Alternativen bis jetzt kaum auf Fragen der Energiewende ein. Wie sieht eine gerechte Transition in einem Land aus, das stark abhängig von der Ausbeutung von Rohstoffen ist? Eine Idee wäre, das auf den derzeitigen Feldern geförderte Öl zu nutzen, um Kapazitäten und Einnahmen für eine gerechte Energiewende aufzubauen. Um dies zu gewährleisten, müssten allerdings die Beschäftigten des Energiesektors miteinbezogen werden. Dies erfordert ein Bündnis zwischen Umweltbewegungen und Arbeiter*innen, wie z.B. der landesweiten Vereinigung der Arbeiter*innen der Energie- und Erdölgesellschaften (ANTEP), die sich gegen die neoliberale Politik der letzten Regierungen und die Privatisierung der staatlichen Erdölgesellschaft wehrt. Außerdem muss der Globale Norden seiner Verantwortung als historisch größter Verursacher von Treibhausgasen nachgehen, und Länder wie Ecuador in einer gerechten Transformation finanziell unterstützen. Dafür braucht es starke Allianzen zwischen sozialen Bewegungen aus dem Norden und dem Süden, die auf dem Bewusstsein basieren, dass Extraktivismus und Klimakrise die bisherige Marginalisierung jenseits von Nord-Süd-Binaritäten vertiefen. Daher ist es wichtig, Kämpfe wie die der Volksentscheide mit anderen lokalen Ansätzen zu verbinden. Nicht umsonst rief der ecuadorianische Wirtschaftswissenschafter Alberto Acosta nach dem erfolgreichen Ergebnis der Referenden auf, die Welt zu „yasunisieren”. Dies könnte nicht nur bedeuten, fossile Brennstoffe unter der Erde zu halten, sondern auch, die Entscheidungsfindung über eine gerechte Transformation in demokratische Gremien und Hände zu legen.
Ökologische Bewegungen müssen diese Fragen diskutieren – besonders in einem Land wie Ecuador, dessen Erdölreserven ausgehen. Im Hinblick auf die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen im Februar 2025 ist es von entscheidender Bedeutung, die Verbindungen von Extraktivismus und Energie tiefergehend zu untersuchen. Dies ist nicht nur notwendig, um die Ergebnisse der Volksentscheide erfolgreich umzusetzen, sondern auch, um Ecuadors vielen Krisen zu begegnen.