DIE KRISE SELBST VERWALTEN

Eingang zur „Bienenwabe“ 2021 Das Tor zur „Sozialistischen Kommune Panal 2021“  (Foto: Tobias Lambert)

Vor der Metrostation Agua Salud im Westen von Caracas schlängelt sich die Straße einen der Hügel des Stadtviertels 23 de Enero hinauf. An der Seite ragen breite, 15-stöckige Hochhausblocks empor. Dazwischen erstrecken sich die für Venezuela typischen, als barrios bekannten Armenviertel aus roten Backsteinhäuschen, von ihren Bewohner*innen einst in Eigenregie erbaut. In den 1950er Jahren hatte der Militärherrscher Marcos Pérez Jiménez den modernistischen Architekten Carlos Villanueva damit beauftragt, 38 große und 57 kleinere Hochhäuser als Sozialbauprojekt zu errichten. Noch vor dem Bezug stürzte der Diktator am 23. Januar 1958, die Gebäude wurden besetzt und nach diesem Tag benannt. Vor Block 26 kündigt ein geschwungener Torbogen die „Sozialistische Kommune Panal 2021“ an. Panal bedeutet Bienenwabe. „Die Biene steht für uns als Symbol für die arbeitende Bevölkerung“, erklärt Ana Marín. „Die Königin ist für uns die Versammlung der Community. Und was wir uns aufbauen, verteidigen wir mit unserem Leben, denn die Biene stirbt, wenn sie sticht.“
Das 23 de Enero ist bis heute eine Bastion der Chavistas, der Anhänger*innen des 2013 verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez. Früher hieß es scherzhaft, jeder der Hochhausblocks habe seine eigene marxistische Partei. Maríns Augen glänzen, wenn sie davon erzählt, wie Chávez vor 20 Jahren die zahlreichen linken Organisationen in dem politischen Projekt vereint hat, das unter dem Namen Bolivarianische Revolution bekannt wurde. Sie ist Aktivistin des Colectivo „Fuerza Alexis Vive“, der treibenden Kraft hinter Panal 21. Entstanden ist das Kollektiv während des kurzzeitigen Staatsstreichs gegen Chávez im April 2002, der Namensgeber Alexis González Revette wurde damals von putschenden Polizeieinheiten erschossen.
Seitens der rechten Opposition wird der Begriff Colectivo meist als Synonym für bewaffnete motorisierte Stoßtrupps der Regierung verwendet. Tatsächlich gibt es derartige Gruppen, auch das Kollektiv „Alexis Vive“ ist früher durchaus martialisch aufgetreten. Doch verbergen sich hinter den Colectivos ebenso zahlreiche linke Organisationen, die radikaldemokratische Basisarbeit betreiben. „Das ist an sich nichts Neues“, sagt Ana Marín. Auch früher schon seien linke Bewegungen als Guerillas oder Kommunist*innen diffamiert worden. Bei Gruppen, die das Spiel mitmachten und sich den Medien mit Waffen präsentierten, handele es sich jedoch häufig schlicht um Kriminelle.

„Sozialismus heißt für uns unabhängiger zu werden und uns selbst zu verwalten“

Nachdem Chávez das Projekt einer partizipativen und protagonistischen Demokratie anfangs eher mit sozialdemokratischen Ideen verfolgt hatte, erhob er ab 2005 den Aufbau eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts zum Ziel. Die Keimzelle des neuen „Kommunalen Staates“ sollten die kommunalen Räte werden, in denen sich jeweils bis zu 400 Haushalte in einem selbst definierten geografischen Gebiet zusammenschließen, um basisdemokratisch über die Belange in der Nachbarschaft zu entscheiden. Auf einer höheren politischen Ebene können diese Räte sogenannte comunas (Kommunen) bilden. Nach einer Anfangsphase in reiner Selbstverwaltung erhielt Panal 21 umfassende Fördermittel seitens der Regierung Chávez. „Das was war eine sehr wichtige Hilfe, doch in der dritten Phase zeigt sich nun, ob wir als comuna funktionieren oder nicht.“ Mit den staatlichen Institutionen kooperiert Panal 21 noch immer. Im Gegensatz zu anderen sieht sich die Kommune aus dem 23 de Enero jedoch nicht als Anhängsel des Staates, sondern baut in mehreren Regionen Venezuelas ein Netzwerk produzierender comunas auf. „Sozialismus heißt für uns, dass wir unabhängiger von der staatlichen Finanzierung werden und uns selbst verwalten.“
Auf dem Gebiet von Panal 21 leben heute etwa 14.000 Menschen, die in sieben kommunalen Räten mit zahlreichen sozialen und kulturellen Gruppen organisiert sind. Die comuna betreibt eine Bäckerei, einen Textilbetrieb sowie eine Zuckerverpackungsanlage und baut Gemüse auf einer urbanen Ackerfläche an. Sogar eine eigene kommunale Währung gibt es. „Wir tragen mit dazu bei, die Effekte der Krise abzumildern, anstatt mit verschränkten Armen abzuwarten“, sagt Marín.
Seit Jahren leidet Venezuela unter der schwersten Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Versuche der Regierung unter Nicolás Maduro, die Wirtschaft mittels einer Währungsreform und Ausgabenkürzungen zu stabilisieren, schlugen fehl. Die öffentlichen Dienstleistungen stehen kurz vor dem Kollaps und die Hyperinflation hat sämtliche Ersparnisse und Löhne in der Landeswährung Bolívar entwertet. Der monatliche Mindestlohn beträgt zurzeit umgerechnet etwa 7,5 Dollar. Zusätzlich gibt es Lebensmittelgutscheine in gleicher Höhe. Im Privatsektor wird etwas mehr gezahlt, doch ohne die beinahe kostenlosen Lebensmittelkisten der Regierung und Rücküberweisungen migrierter Familienangehöriger könnten die meisten Venezolaner*innen zurzeit nicht überleben.

„Wir tragen mit dazu bei, die Effekte der Krise abzumildern, anstatt mit verschränkten Armen abzuwarten“

Zwischen Oktober 2018 und März dieses Jahres legalisierte die Regierung den Tausch von US-Dollar und schaffte die Preiskontrollen de facto ab. In der Folge stehen die meisten Produkte mittlerweile wieder in den Supermarktregalen, aber zu horrenden Preisen. Bargeld in der Landeswährung ist kaum zu bekommen, dafür wird der Dollar nun fast überall als gängiges Zahlungsmittel akzeptiert. Lange Zeit machte die Regierung einen „Wirtschaftskrieg“ seitens der Opposition und der USA für die Krise verantwortlich, also die gezielte Sabotage und Hortung von Waren. Heute sieht sie das Hauptproblem in den US-Sanktionen.
Der linke Ökonom Manuel Sutherland erinnert hingegen an die Rolle der Regierung selbst. „Auch wenn es die Linke schmerzt: Den derzeitigen Zustand der Ökonomie haben Strukturen verursacht, die der Chavismus seit 2003/2004 geschaffen hat“. Durch den niedrig gehaltenen Dollarkurs habe die Regierung ab 2003 die Importe künstlich verbilligt, gleichzeitig jedoch der heimischen Produktion geschadet und dafür gesorgt, dass sehr viel Geld ins Ausland abgeflossen sei. „Dies hat die enorme Korruption und Plünderung der Erdölrente ermöglicht“, sagt Sutherland. Die Sanktionen, die sich erst seit August 2017 gezielt gegen die Wirtschaft richten, hätten die Krise nicht ausgelöst, verschlimmerten die Situation vor allem der ärmeren Bevölkerung aber drastisch. Derzeit beobachtet Sutherland einen offiziell niemals erklärten Privatisierungskurs. „Die Regierung hat mit ihnen nahe stehenden Wirtschaftsakteuren und Militärs unter der Hand eine Öffnung der Ökonomie ausgehandelt“, sagt er. Durch die US-Sanktionen sei es kaum mehr möglich, Kapital außer Landes zu schaffen. Daher investiere eine kleine aufstrebende Elite ihr Geld in plötzlich entstehende private Immobilienprojekte oder importiere Luxusgüter.

„Die Regierung hat unter der Hand eine Öffnung der Ökonomie ausgehandelt“

Tatsächlich wächst in Caracas in jüngster Zeit eine Infrastruktur, die ausschließlich vermögende Leute anspricht. In Einkaufszentren und Luxushotels werden teure Importwaren von französischem Champagner über spanische Weine und Chorizo bis hin zu Handtaschen internationaler Modefirmen angeboten. Im historischen Stadtzentrum, das zahlreiche Regierungsgebäude beherbergt, ansonsten aber eine ärmere Wohngegend ist, sind hippe Cafés mit europäisch anmutendem Interieur entstanden. Die staatliche Supermarktkette Abastos Bicentenario, die seit 2010 stark subventionierte Lebensmittel verkauft hatte, ist bereits im vergangenen Jahr den privaten Tiendas CLAP gewichen. An den Eingängen prangt das identische Logo der ebenfalls als CLAP bezeichneten „Lokalen Produktions- und Versorgungskomitees“, die seit 2016 Lebensmittelkisten zu symbolischen Preisen an offiziell sechs Millionen Haushalte verteilen. Doch die Tiendas CLAP haben nichts mit den Kisten zu tun, sondern verkaufen überteuerte Waren. Im noch immer sozialistischen Regierungsdiskurs werden solch obskure Privatisierungen nicht an die große Glocke gehängt. „Von Anfang an hat Maduro versprochen, Chávez’ Erbe fortzuführen“, sagt Sutherland. „Mit dem sozialistischen Diskurs richtet sich die Regierung an ihre eigene Basis, denn sie muss zeigen, dass sie anders ist als die Opposition.“
Ana Marín von Panal 21 hingegen sieht es positiv, dass etwa die Kommunen im Regierungsdiskurs noch immer präsent sind. „Doch es gibt große Defizite“, meint sie. „Denn die Regierung blickt vor allem auf Statistiken. Es geht aber nicht um die Anzahl der Kommunen, sondern um einen politischen Sprung.“ Die derzeitige Situation hinterlasse jedoch ihre Spuren. „Jetzt während der Krise ziehen sich viele Leute zurück und entpolitisieren sich.“ Sutherland traut der Regierung nicht mehr zu, aus eigener Kraft die Krise zu überwinden. „Sie hat dafür keine Instrumente“, sagt er. Die Erholung der Wirtschaft könne nur in einem Dialog zwischen den moderaten Sektoren beider politischer Lager ausgehandelt werden.
Nachdem Gespräche zwischen rechter Opposition und Regierung unter der Vermittlung Norwegens im September gescheitert waren, verkündete Maduro überraschend einen neuen Dialog mit einem kleineren Teil der Regierungsgegner*innen. Damit ist die Spaltung der rechten Opposition, die bereits bei den umstrittenen Präsidentschaftswahlen im Mai 2018 zu einem Teilboykott geführt hatte, erneut aufgebrochen. „Auch wenn Maduro es nicht verdient hat, muss ihm ein gesichtswahrender Abgang ermöglicht werden“, meint Sutherland. „Wenn, dann wird die Regierung die Macht an eine ihnen näher stehende Opposition abgeben, die anschließend weitere Wirtschaftsreformen durchführt, den Verteidigungsminister aber im Amt belässt.“
Ana Marín will trotz aller Kritik nichts von einem Regierungswechsel wissen. „Wir glauben nicht an die Opposition, die während des Putsches 2002 unseren Compañero Alexis erschossen hat.“ Was die Regierung mit ihren Gegner*innen zu verhandeln habe, weiß die Aktivistin nicht. „Als comuna führen wir einen Dialog mit der Bevölkerung“, betont sie. „Das hier muss ein transparenter, ethischer Raum sein, der angesichts der Zersetzung der Gesellschaft als Vorbild gilt.“

 

SCHEITERN DER ERDÖLGESELLSCHAFT

Seit sich Juan Guaidó in Venezuela am 23. Januar eigenhändig zum Interimspräsidenten erklärt hat, beherrscht das südamerikanische Land die Schlagzeilen. Die US-Regierung drängt auf einen Sturz des amtierenden Präsidenten Nicolás Maduro und hält sich erklärtermaßen auch eine militärische Option offen. Doch jenseits dieser aus linker Perspektive strikt abzulehnenden Politik steht die 1999 unter Hugo Chávez begonnene und nach dessen Tod 2013 von Maduro weitergeführte „Bolivarische Revolution“ vor einem Scherbenhaufen. Zwar war der politische Prozess von Beginn an mit gehörigen internen und externen Widerständen konfrontiert. Doch könne das Scheitern „nur dann adäquat verstanden werden, wenn man sich mit den Folgen der Rohstoffabhängigkeit für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft beschäftigt“, schreibt der Politikwissenschaftler Stefan Peters in seinem neuen Buch „Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Venezuela“.
Dieses erklärt, wie die venezolanische Wirtschaft seit fast 100 Jahren um die Verteilung der Erdöleinnahmen kreist. Dadurch haben sich wirtschaftliche, soziale und kulturelle Muster verfestigt, die nur schwer zu durchbrechen sind. Die wirtschaftlichen Akteur*innen richten ihre Anstrengungen vornehmlich darauf aus, sich ein Stück des staatlich verwalteten Erdölreichtums einzuverleiben. Dementsprechend basiert ökonomischer Erfolg „nicht primär auf Innovation und Produktivitätssteigerungen, sondern auch und vor allem auf dem privilegierten Zugang zum Staat.“
An dem Ziel, die Wirtschaft zu diversifizieren, sind in den vergangenen Jahrzehnten mehrere Regierungen unterschiedlicher ideologischer Couleur gescheitert. Unter Chávez bedeutete dies, dass viel Geld in landwirtschaftliche und urbane Kooperativen sowie staatliche Unternehmen geflossen ist, von denen sich die meisten nicht annähernd alleine erhalten konnten. Tatsächlich glich dessen Wirtschaftspolitik in vielen Punkten jener seiner Vorgänger, war also, wie der Autor resümiert „weitaus weniger revolutionär als Anhänger wie Gegner unterstellen.“ Dazu zählen auch die Devisen- und Preiskontrollen, die für Venezuelas nichts grundsätzliches Neues sind und die negativen Effekte einer Rentenökonomie bis ins Unermessliche steigern, indem sie enorme Mitnahmeeffekte ermöglichen.
Mit der rechten Opposition würde sich an den strukturellen Problemen nichts ändern, sondern schlicht eine andere Klientel an die Erdöltöpfe gelangen. Einen zeitnahen Regierungswechsel hält Peters in seinem vor der jüngsten Eskalation geschriebenen Buch für das wahrscheinlichste Szenario. Nach einem dann absehbaren Aufschwung werde aber ebenso sicher „auch die nächste Krise kommen.“
Der Autor widmet sich einem Thema, das in der Debatte über Venezuela auf eine gewisse Art und Weise schon immer präsent gewesen ist, mit dem sich aber die Wenigsten tiefergehend beschäftigt haben. Mit seiner glänzenden Analyse der bolivarischen Revolution zeigt Peters eindrücklich auf, dass deren Niedergang weder die Folge von „Sozialismus“ noch eines „Wirtschaftskrieges“ ist, sondern sich aus den Strukturen der erdölbasierten Rentengesellschaft heraus erklären lässt. Dabei hat er stets die Bedeutung für andere rohstoffreiche Länder des globalen Südens im Blick. Diese sollten sich das venezolanische Beispiel genau ansehen, um aus dessen Fehlern für zukünftige soziale Transformationsprozesse zu lernen.

 

DER FLUCH DER TEUFLISCHEN SCHEIßE

Venezuelas Wirtschaft kämpft mit des „Teufels Scheiße“. So bezeichnete der einstige venezolanische Erdölminister und Mitbegründer der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) Juan Pablo Pérez Alfonzo einst das Erdöl, um die Schwierigkeiten wirtschaftlicher Gestaltung angesichts der übermächtigen Dominanz des schwarzen Goldes zu beschreiben. Eine Herausforderung, die schlicht darin besteht, „Öl zu säen“, wie es der venezolanische Schriftsteller Arturo Uslar Pietri bereits in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts plastisch auf den Punkt brachte: mittels Öleinnahmen die Gesellschaft zu entwickeln und die Wirtschaft zu diversifizieren. Die erste Konzession zur Ausbeutung der Ölquellen Venezuelas war schon im Jahre 1866 erteilt worden, der Ölboom setzte ab den 1930er Jahren ein und veranlasste Uslar Pietri zu seiner weitsichtigen Aussage. Alle Ansätze in Venezuelas Geschichte, seine ökonomische Abhängigkeit vom Öl durch eine Diversifizierung der Wirtschaft abzubauen, scheiterten seitdem unterm Strich.

Mit des „Teufels Scheiße“ haben und hatten sich alle venezolanischen Regierungen herumzuschlagen, auch die derzeit amtierende Regierung von Nicolás Maduro und die seines Vorgängers Hugo Chávez, der von 1999 bis zu seinem Tod 2013 als Präsident amtierte. Chávez propagierte den sogenannten Sozialismus des 21. Jahrhunderts und das Schmiermittel dafür war das Erdöl: Chávez’ großes Verdienst war es, das staatliche Erdölunternehmen PDVSA, das sich zu einem „privaten“ Staat im Staate entwickelt hatte, wieder unter staatlichen Zugriff zu bekommen. PDVSA wurde zusätzlich zu einer Art Sozialministerium. Aus dem Haushalt der Ölfirma werden Sozialprogramme wie die misiones finanziert – die von Bildung (misión Robinson und misión Ribas) über Gesundheit (misión barrio adentro) bis hin zur Versorgung mit subventionierten Lebensmitteln (misión mercal) reichen. Damit trieb Chávez den Umbau der staatlichen Strukturen voran und vermochte, bedeutende soziale Fortschritte in der Armutsbekämpfung und dem Zugang zu Gesundheit, Bildung und Lebensmitteln für alle zu erreichen. Im Jahr 2011 flossen fast 40 Milliarden US-Dollar in Sozialprogramme und Sonderfonds des Präsidenten. Laut dem Nationalen Statistikinstitut in Venezuela (INE) ist der Anteil extrem armer Haushalte (1,25 US-Dollar pro Kopf pro Tag) von 1998 bis 2009 von 21 Prozent auf sechs Prozent massiv gesunken. Der Anteil der relativ armen Haushalte (unter 50 Prozent des Durchschnitts-einkommens) sank im selben Zeitraum von 49 auf 24 Prozent.

Als Hugo Chávez im zweiten Halbjahr 1998 seine erste Wahl gewann, dümpelte der Ölpreis im Zuge der Asienkrise bei rund zehn US-Dollar pro Barrel (ein Barrel sind 159 Liter). Kein Wunder, dass Chávez schon zu Beginn seiner Amtszeit 1999 verkündete, dass er neben der Neuordnung der Ölgesellschaft PDVSA auch Landwirtschaft, Industrie und Tourismus neu ausrichten werde, um dem Auf und Ab des Ölpreises mit all seinen Konsequenzen für die venezolanische Konjunktur weniger ausgeliefert zu sein. Die Diversifizierung der Wirtschaft unter Chávez gelang nur ansatzweise und brachte unterm Strich nur dürftige Ergebnisse.

Das grundlegende Problem Venezuelas ist die sogenannte Holländische Krankheit.

Das grundlegende Problem Venezuelas ist die sogenannte Holländische Krankheit. In den Niederlanden wurde in den 1960er Jahren nach dem überraschenden Fund reichhaltiger Erdgasvorkommen zum ersten Mal festgestellt, dass sich Rohstoffreichtum in einen Fluch verwandeln kann. Der Zufluss von reichlich US-Dollar aus dem Rohstoffexport führt zu einer Aufwertung der eigenen Währung. Der angenehme Aspekt daran ist, dass sich die Importkapazität des Landes erhöht, sprich sich das Land mehr Güterimporte leisten kann. Der schwerwiegende Nachteil besteht darin, dass einheimische Produzent*innen nahezu unweigerlich an Wettbewerbsfähigkeit verlieren, sowohl gegenüber Importeur*innen als auch auf dem Weltmarkt, sofern es sich um Unternehmen handelt, die etwas anderes als Rohstoffe exportieren. Denn der unangenehme Aspekt der Aufwertung der venezolanischen Währung besteht darin, dass sich venezolanische Güter im Vergleich zu Importgütern verteuern. Der Verlust an Arbeitsplätzen in den nicht rohstoffnahen Sektoren ist fast unumgänglich. Die ganze Volkswirtschaft bekommt so mehr und mehr Schlagseite in Richtung des dominanten Rohstoffsektors, in Venezuela des petrochemischen Bereichs.

In Venezuela hat die Holländische Krankheit unter anderem die einheimische Landwirtschaft befallen. Das Land ist seit Jahrzehnten auf beträchtliche Nahrungsmittelimporte angewiesen, obwohl es potenziell an geeigneten Agrarflächen nicht fehlt. So ist Venezuela das einzige südamerikanische Land mit einer negativen Agrarbilanz. Dabei war die Regierung Chávez nicht untätig. Schon im Jahr 2001 wurde mit einem Landgesetz der Weg für eine Agrarreform geebnet. Das Nationale Landinstitut INTI verteilte in den Jahren 2003 und 2004 insgesamt 2,3 Millionen Hektar brachliegendes Staatsland an Kooperativen, danach wurden noch über 100.000 landlose Familien mit enteignetem ungenutzten Privatland ausgestattet. All dies hat zwar die nationale Produktion bei Agrargütern nach oben getrieben, doch noch kräftiger wuchsen die Kaufkraft und dementsprechend der Konsum der ärmeren Bevölkerungsschichten. Venezuela muss rund 70 Prozent seiner Lebensmittel einführen.

Die Regierung Maduro hat 2016 einen Plan zum Ausbau der Landwirtschaft vorgestellt. Der „Agrarplan Zamora Bicentenario 2013-2019“ sieht zahlreiche Maßnahmen zur Erhöhung der Nahrungsmittelproduktion vor. Besonderes Augenmerk gilt der städtischen Landwirtschaft und dem Einbezug lokaler Gemeinschaften sowie der Streitkräfte des Landes in die Produktion. Ob und wann der Plan greift, lässt sich noch nicht absehen.
Auch im Jahr 2017 machen Ölexporte mehr als 90 Prozent der Exporterlöse des Mitglieds der Organisation Erdölexportierender Länder (OPEC) aus, die Öl- und Gasindustrie ist für etwa ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts verantwortlich und trägt rund die Hälfte zu den Staatseinnahmen bei. Ohne die Öleinnahmen läuft so gut wie nichts.

Der rapide Ölpreisverfall und der Rückgang der Fördermenge wegen unterlassener Investitionen haben die Importkapazität massiv gesenkt.

Der rapide Ölpreisverfall seit 2014 und der Rückgang der Fördermenge wegen unterlassener milliardenteurer Investitionen haben die Importkapazität massiv gesenkt. Die Folge ist eine sich vertiefende Versorgungskrise, für die die Regierung Maduro bisher keine Lösung zu finden vermochte.
Der Holländischen Krankheit und der Überbewertung des Bolívar könnte theoretisch durch eine gezielte Strategie der Unterbewertung des Bolívar seitens der venezolanischen Zentralbank begegnet werden. Dafür müssten die Devisenzuflüsse in ihrer Wirkung auf die heimische Geldmenge und Währung so weit wie möglich sterilisiert werden, indem sie in einen Zukunftsfonds fließen und dort langfristig angelegt werden. Ein solches Modell praktiziert Norwegen mit beachtlichem Erfolg. Im dortigen Ölfonds werden seit dem Jahr 1990 die enormen Erträge aus dem Ölexport angelegt. Dies geschieht ausschließlich auf ausländischen Märkten, um einem Überhitzen der inländischen Wirtschaft und einer Aufwertung der Norwegischen Krone entgegenzuwirken.
Angesichts der enormen sozialen Schuld, die in Venezuela über die vergangenen Jahrzehnte akkumuliert wurde, ist ein solches Modell in Venezuela wohl schwer politisch durchsetzbar.

Die Öldollar gleichzeitig aufzuschatzen und auszugeben, geht logischerweise nicht. Entwicklungsökonomisch wäre Venezuela immer gut beraten, zumindest einen Teil der Öleinnahmen langfristig anzulegen, um auf lange Sicht einen nachhaltigen Umbau der Wirtschaft mit einer Stärkung des Binnensektors zu erreichen. Dazu bedarf es neben der Unterbewertungsstrategie einer selektiven Protektion, bei der die Zollsätze mit dem Verarbeitungsgrad ansteigen. Damit könnte Venezuela das erreichen, was bisher verfehlt wurde: eine breitere Produktpalette der heimischen Wirtschaft und eine konkurrenzfähige Binnenmarktentwicklung.

Diese grundlegenden Weichen in Zeiten der aktuellen Versorgungs- und Liquiditätskrise zu stellen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Nach vier Jahren Rezession und angesichts einer galoppierenden Inflation von über 1.000 Prozent sind viele soziale Fortschritte der Vergangenheit hinfällig geworden. Noch 2013 würdigten die Vereinten Nationen die Erfolge des Landes im Kampf gegen Hunger und Unterernährung. Davon ist wenig geblieben. Nicht wenige teilen die Sicht von Menschenrechtsaktivist Rafael Uzcátegui: „Heute sind in Venezuela wieder genauso viele Menschen arm wie im Jahr 2000.“
Als Chávez 1999 an die Regierung kam, lagen Venezuelas Auslandsschulden bei etwa 30 Milliarden Dollar. Heute betragen sie ein Vielfaches. Der Staat sowie der Staatskonzern PDVSA haben insgesamt Anleihen im Wert von 110 Milliarden Dollar aufgelegt. Zusammen mit den Zinszahlungen und Krediten summieren sich die Gesamtforderungen gegen Caracas auf bis zu 170 Milliarden Dollar. Rund zehn Milliarden Dollar an Schuldendienst muss die Regierung Maduro im Jahresverlauf 2017 aufbringen.

Wie klamm Venezuelas Staatskasse ist, dafür liefert der Deal mit Goldman Sachs Hinweise. Über Mittelsmänner kaufte Goldman Ende Mai von der venezolanischen Zentralbank Anleihen des staatseigenen Ölkonzerns PDVSA im Nennwert von 2,8 Milliarden Dollar für knapp ein Drittel des Ausgangswerts. Dabei soll die Bank laut dem Wall Street Journal (WSJ) nicht einmal den normalen Marktpreis gezahlt, sondern einen speziellen Abschlag ausgehandelt haben. Laut WSJ zahlte Goldman lediglich 31 Cent für die Papiere, die an den Börsen noch bei deutlich über 40 Cent notierten, was einem Discount von mehr als 30 Prozent entspricht. Nur für den Discountpreis von 31 Cent pro Dollar Nennwert war Goldman Sachs bereit, 865 Millionen Dollar Cash in die venezolanische Staatskasse zu spülen.

Maduro helfen kurzfristig nur steigende Ölpreise: Ende des Jahres werden erneut Anleiherückzahlungen in Höhe von 3,6 Milliarden fällig. Allein Hauptgläubiger China hat Venezuela bereits 60 Milliarden Dollar geliehen, die mit künftigen Öllieferungen abgesichert sind. Neues Kapital kommt derzeit nur noch aus Russland. Im April hat der Staatskonzern Rosneft PDVSA für künftige Erdöllieferungen 1 Milliarde Dollar überwiesen. 2016 kaufte sich Rosneft zudem für 1,5 Milliarden Dollar bei der PDVSA-Tochter Citgo ein, an der das Unternehmen 49,5 Prozent hält. Seit 1990 kontrolliert Venezuelas staatlicher Ölkonzern PDVSA in den USA drei Raffinerien, Pipelines und ein vor allem an der Ostküste gelegenes riesiges Tankstellennetz von Citgo, einer US-Tocher von PDVSA. Diese Gemengelage senkt die Wahrscheinlichkeit, dass die US-Regierung Sanktionen gegen den Ölsektor verhängt. Aber selbst wenn diese ausbleiben, gilt: Dümpelt der Ölpreis weiter um 50 US-Dollar, droht die Zahlungsunfähigkeit. Es wäre die erste in der Geschichte Venezuelas.

// ZUM SCHEITERN VERURTEILT

Die Idee an sich klingt gut. Mittels einer Verfassunggebenden Versammlung (VV) will der venezolanische Präsident Nicolás Maduro den politischen Machtkampf in Venezuela beenden. „Heute gebe ich die Macht in die Hände der Bevölkerung“, sagte er bei der Übergabe des entsprechenden Dekretes an den Nationalen Wahlrat (CNE). Dass damit die nach Hugo Chávez’ Amtsantritt als Präsident erarbeitete „beste Verfassung der Welt“ von 1999 abgeschafft werden soll, sehen die Chavist*innen keineswegs als Widerspruch an. Vielmehr solle diese der gesellschaftlichen Realität angepasst werden, indem etwa die vielfältigen Sozialprogramme und Selbstverwaltungsstrukturen Verfassungsrang bekommen.
Doch hinterlässt Maduros Ankündigung jede Menge Fragezeichen. Sie erfolgt mitten in einer tief greifenden politischen und wirtschaftlichen Krise, in der die gesellschaftliche Polarisierung vollends in Gewalt umzuschlagen droht. Gewissheit gibt es nicht, doch spricht einiges dafür, dass die Regierung momentan kaum eine Chance hätte, eine demokratische Wahl zu gewinnen. Die Zusammensetzung einer VV kann in diesem Kontext nur zugunsten der chavistischen Kräfte ausfallen, wenn einzelne Gruppen Sonderrechte erhalten oder die Opposition den Prozess boykottiert. In beiden Fällen würde einer neuen Verfassung bereits vor ihrer Verabschiedung ein Makel anhaften. Denn eine Magna Charta braucht vor allem eines: Legitimität.
Die Krise, in der sich Venezuela befindet, lässt sich auf diese Art und Weise nicht lösen. Die rechte Opposition, für die demokratische Regeln immer schon eine allenfalls taktische Rolle gespielt haben, bezeichnet Maduro mittlerweile offen als Diktator. Sie will nur dann an den Verhandlungstisch treten, wenn sie zuvor die Zusage zu sofortigen Neuwahlen erhalten hat. Die venezolanische Regierung warnt ihrerseits vor Umsturzplänen, agiert immer autoritärer und interpretiert die bestehende Verfassung nach ihrem Gusto. Dass unter diesen Bedingungen ein fruchtbarer gesellschaftlicher Dialog erwächst, ist mehr als fraglich. Eher vertieft der Vorstoß die ohnehin schon kaum mehr zu kontrollierende Polarisierung.
Dass die Regierung derart diskreditiert ist, liegt nicht zuletzt an eigenen Fehlern. Die Schuld an der gravierenden Wirtschafts- und Versorgungskrise lastet Maduro einseitig dem niedrigen Erdölpreis und einer Sabotage seitens der Privatwirtschaft an, ohne jedoch die strukturellen Ursachen anzugehen. Kritik ist auch aus den eigenen Reihen unerwünscht, eine offene Debatte gibt es schon lange nicht mehr. Letztlich hat Maduros Regierungspolitik nur noch wenig mit mit dem unter Chávez begonnenen „bolivarianischen Prozess“ zu tun, in dem es vor allem um politische Teilhabe und soziale Gerechtigkeit ging.
Es scheint kaum mehr möglich, dass die Regierung von innen heraus zu einer progressiven Ausrichtung des Chavismus zurückfindet. Eine Machtübernahme durch die rechte Opposition hätte für die politische Stabilität des Landes und die Situation der ärmeren Bevölkerungsmehrheit indes fatale Konsequenzen. Hoffnung böte alleine das Emporkommen einer linken Alternative, die in Verbindung mit sozialen Bewegungen als dritter politischer Akteur die lähmende Polarisierung aufbricht. Bisher gibt es dafür nur vereinzelte Ansätze wie etwa den so genannten kritischen Chavismus, zu dem sich die PSUV-Abspaltung Marea Socialista („Sozialistische Flut“), einige von Chávez’ Ex-Minister*innen und eine Reihe prominenter Intellektueller zählen. Obwohl sich laut Umfragen mittlerweile die Mehrheit der Bevölkerung keinem der beiden großen Lager mehr zurechnet, werden bisher jegliche Ansätze jenseits der beiden großen Blöcke durch die Polarisierung zerrieben. Kurzfristig scheint ein Bündnis aus kritischen Chavist*innen und konstruktiven Oppositionellen, die es durchaus auch gibt, unrealistisch. Mittelfristig ist dies die einzige Möglichkeit, die positiven Seiten des chavistischen Erbes zu retten.

RISKANTE FLUCHT NACH VORN

Er hielt Wort. Im Vorfeld des 1. Mai hatte Nicolás Maduro für den Tag der Arbeit „historische Ankündigungen“ versprochen. Daran gemessen, wie oft der venezolanische Präsident in seiner nunmehr vierjährigen Amtszeit unspektakuläre Ankündigungen gemacht hat, war abgesehen von einer erneuten Anhebung des Mindestlohns nicht unbedingt viel zu erwarten gewesen. Doch hatte er dieses Mal tatsächlich noch mehr im Gepäck. „Ich berufe eine Verfassunggebende Versammlung der Bürger ein“, rief Maduro seinen Anhänger*innen auf der chavistischen Maikundgebung im Zentrum von Caracas zu. Nicht Parteien oder Eliten, sondern verschiedene Sektoren, wie die Arbeiterklasse, Bäuerinnen und Bauern, Frauen, Studierende und Indigene, sollten eine neue Verfassung ausarbeiten, um die politische Krise zu überwinden, betonte der Staatschef. Er nannte die Zahl von 500 Delegierten, von denen bis zu 250 von sozialen Bewegungen und Basisorganisationen und die übrigen auf kommunaler Ebene gewählt werden sollten. Eine ausschließlich mit chavistischen Politiker*innen und Jurist*innen besetzte Präsidialkommission wird die nötigen Vorbereitungen treffen, bevor der Nationale Wahlrat (CNE) über das genaue Prozedere entscheidet.

Eine neue Magna Charta würde die bolivarianische Verfassung von 1999 ersetzen, die zu Beginn der Regierungszeit von Hugo Chávez als eines seiner zentralen Wahlversprechen verabschiedet worden war. In der Vergangenheit hatten Chávez und viele seiner Anhänger*innen die Verfassung immer wieder als „beste der Welt“ bezeichnet. Maduro sprach denn auch nicht davon, die bestehende Verfassung komplett zu verwerfen. Vielmehr solle sie „perfektioniert“ und „Chávez’ Traum vollendet“ werden. Im Jahr 2007 scheiterte dessen Versuch, Venezuela durch eine breite Verfassungsreform als sozialistischen Staat zu definieren, knapp an den Wahlurnen.

Am 3. Mai reichte Maduro das Dekret, mit dem die Verfassunggebende Versammlung (VV) einberufen wird, beim CNE ein. Darin schlägt er neun Bereiche vor, die überarbeitet werden sollen. Unter anderem sollen die Staatsgewalten neu geordnet werden, die Sozialprogramme sowie Strukturen der kommunalen Selbstverwaltung Verfassungsrang bekommen und das Wirtschaftsmodell verbessert werden. „Heute gebe ich die Macht in die Hände der Bevölkerung“, sagte Maduro und stichelte in Richtung Opposition. „Ihr wolltet Wahlen, hier habt ihr Wahlen.“ Seinen Gegner*innen versicherte er, dass sie sich an der VV beteiligen können, sofern sie Kandidat*innen aufstellen. Darüber, wie die Wahl genau ablaufen wird, entscheidet nun der CNE.

Während Vertreter*innen der Regierung den Vorstoß als Lösungsansatz der politischen Krise Venezuelas feierten, übte die rechte Opposition vernichtende Kritik an dem Vorhaben. „Wir Venezolaner werden nicht akzeptieren, dass der maduristische Selbstputsch weiter geht“, schrieb der ehemalige Präsidentschaftskandidat und Gouverneur des Bundesstaates Miranda, Henrique Capriles, unmittelbar nach Maduros Ankündigung auf Twitter. Zudem bezeichnete er die Einberufung der Verfassunggebenden Versammlung als „Betrug vom Diktator“ und rief die Bevölkerung dazu auf, sich zu widersetzen. Parlamentspräsident Julio Borges sprach vom „schlimmsten Putsch in der venezolanischen Geschichte.“ Das Ziel Maduros sei es, freie Wahlen zu verhindern und die Demokratie zu zerstören. In den vergangenen Jahren hatten viele Oppositionspolitiker*innen die Einberufung einer VV immer wieder selbst als Lösung der Krise ins Gespräch gebracht. Dabei hatten sie allerdings eine gänzlich andere Zusammensetzung im Sinn, als sie Maduro nun vorschwebt.

Auch Vertreter*innen der marginalisierten linken Opposition äußerten sich ablehnend. „Ist diese Verfassung das Problem? Oder ihre permanente Verletzung?“, fragte Miguel Rodríguez Torres, Innenminister zwischen 2013 und 2014. Nicmer Evans von Marea Socialista (Sozialistische Flut), einer Abspaltung der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas PSUV, bezeichnete die Verfassunggebende Versammlung als „klaren Verrat an Chávez und der Bevölkerung“ und warf der Regierung vor, den „Tod des chavistischen Projektes“ zu befördern.

Unter Verfassungsrechtler*innen fällt die Beurteilung je nach politischer Sympathie ebenfalls unterschiedlich aus. Während der oppositionsnahe Jurist Juan Manuel Rafalli als Hauptziel den Wunsch der Regierung ausmacht, „jede Art von Wahl zu verhindern“, sieht der Chavist Jesús Silva in der VV den einzigen verfassungskonformen Weg, um zeitnah alle staatlichen Instanzen neu wählen zu lassen, wie es die Opposition fordere.

Rein formal ist Maduro nichts vorzuwerfen. Laut Artikel 348 der Verfassung verfügt unter anderem der Präsident über die Kompetenz, eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Gegen den Inhalt einer daraus erwachsenen Magna Charta können weder er noch andere staatliche Gewalten ein Veto einlegen. Über die Mechanismen zur Wahl der VV macht die derzeitige Verfassung jedoch keine konkreten Angaben, ein spezifisches Gesetz existiert nicht. Auch sind weder zur Einberufung der VV noch zur Verabschiedung einer neuen Verfassung Referenden vorgesehen. Verfassungsergänzungen und -reformen bedürfen hingegen ausdrücklich der Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit. Wenngleich Maduro mit seinem Vorstoß bei vielen chavistischen Basisbewegungen punkten könnte, die seit Langem eine Vertiefung der partizipativen Demokratie fordern, ist es fraglich, ob die politische Krise im Land dadurch beigelegt werden kann. Im Gegenteil, inmitten der größten Protestwelle seit 2014, könnte Maduros vermeintlicher Befreiungsschlag nach hinten losgehen.

„Ist diese Verfassung das Problem? Oder ihre Verletzung?“

Seit Anfang April tragen linke Regierung und rechte Opposition ihren Machtkampf teilweise gewalttätig auf der Straße aus. Die bisherige Bilanz: Mindestens 37 Todesopfer, hunderte Verletzte und mehr als 1.300 festgenommene Personen. Für die immer wieder aufflammende Gewalt machen sich beide Seiten gegenseitig verantwortlich. Tatsächlich sind sowohl staatliche Sicherheitskräfte, als auch oppositionelle Gruppen für Tote und Verletzte verantwortlich. Acht Menschen starben zudem durch Stromschläge, als sie eine Bäckerei in El Valle, im Südwesten von Caracas, plündern wollten und mit Starkstromkabeln in Berührung kamen. Aus den Reihen der Opposition gibt es immer wieder Vorwürfe, motorisierte chavistische Basisorganisationen aus den barrios, so genannte colectivos, würden gezielt oppositionelle Demonstrationen beschießen. Von den bisher aufgeklärten Todesfällen geht allerdings keiner auf die colectivos zurück.

Als Auslöser der derzeitigen Protestwelle gilt die vorübergehende Übertragung der legislativen Kompetenzen auf das Oberste Gericht (TSJ) Ende März, die dieses erst nach massiver Kritik wieder zurücknahm. Die von den USA und rechtsgerichteten Regierungen Lateinamerikas unterstützte Opposition bezichtigt Maduro, eine Diktatur errichten zu wollen und fordert zeitnahe Neuwahlen, die Neubesetzung des Obersten Gerichts, die Freilassung aller von ihr als politische Gefangene bezeichnete Personen sowie die Einrichtung eines humanitären Korridors, um die Bevölkerung mit Hilfsgütern zu versorgen. Die venezolanische Regierung warnt 15 Jahre nach dem gescheiterten Putsch gegen den damaligen Präsidenten Hugo Chávez hingegen vor neuen Umsturzplänen und einer angeblich geplanten US-Intervention. Als Reaktion kündigte Maduro eine weitere Militarisierung und Bewaffnung der regierungsnahen Milizen an, die das Land im Ernstfall mit verteidigen sollen. Die Militärführung, die nicht zuletzt wirtschaftlich zu den Nutznießer*innen der Regierung zählt, steht weiterhin demonstrativ hinter der Regierung – den wiederholten Aufforderungen oppositioneller Politiker*innen zum Trotz, sich auf die Seite der Regierungsgegner*innen zu stellen.

Beflügelt werden die Proteste nicht zuletzt durch die tief greifende Wirtschafts- und Versorgungskrise. Seit dem deutlichen Sieg des Oppositionsbündnisses Tisch der Demokratischen Einheit (MUD) bei den Parlamentswahlen Ende 2015 schaukelt sich der Machtkampf kontinuierlich hoch. Auf der einen Seite steht eine immer autoritärer agierende Regierung, die sich die Verfassung für die eigenen Zwecke zurechtbiegt. Auf der anderen Seite stilisieren sich die rechten Regierungsgegner*innen als Verteidiger*innen jener Verfassung, die sie in der Vergangenheit stets abgelehnt haben. Weitgehend unstrittig ist indes, dass sich die staatlichen Gewalten häufig politisch instrumentalisieren lassen und der Machtkampf die Lösung der wirtschaftlichen Probleme blockiert. Während die oppositionelle Parlamentsmehrheit seit Beginn vergangenen Jahres offen auf einen Regierungswechsel hinarbeitet und den übrigen Gewalten die Anerkennung verwehrt, regiert Maduro per Dekret. Das TSJ blockiert derweil die parlamentarische Arbeit und nickt jede noch so abenteuerliche Interpretation der Verfassung ab. Auch der in Venezuela als eigene Gewalt fungierende CNE kommt seiner verfassungsmäßigen Rolle nur noch bedingt nach. Nicht nur stoppte er im vergangenen Oktober das von der Opposition angestrebte Abberufungsreferendum wegen vermeintlicher Betrugsdelikte bei der Unterschriftensammlung. Auch verschleppt der CNE die, laut Verfassung, für Ende vergangenen Jahres vorgesehenen Regionalwahlen und hat im Februar eine Neuregistrierung fast aller politischen Parteien angeordnet.

In diesem Kontext entschied das TSJ Ende März, die Kompetenzen der Nationalversammlung selbst zu übernehmen und hob die Immunität der Parlamentarier*innen auf. Als Anlass galt ein Urteil zu der Frage, wie der venezolanische Staat staatlich-private Mischunternehmen im Bergbaubereich gründen könne, wenn dafür doch eigentlich die Zustimmung der Nationalversammlung erforderlich ist. Nachdem die chavistische Generalstaatsanwältin Luisa Ortega während einer Liveübertragung im Staatsfernsehen von einem „Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung“ gesprochen hatte und daraufhin Präsident Maduro intervenierte, nahm das Gericht die umstrittenen Beschlüsse zurück. Weiteres Öl ins Feuer goss der Rechnungshof, der gemeinsam mit der Generalstaatsanwältin und dem Ombudsmann für Menschenrechte, laut venezolanischer Verfassung, ebenfalls eine eigene Gewalt darstellt. Am 7. April erkannte er dem prominenten Oppositionsführer Henrique Capriles, unter anderem aufgrund von Korruptionsvorwürfen, für 15 Jahre das passive Wahlrecht ab. Neben dem wegen Anstachlung von Gewalt seit drei Jahren inhaftierten Leopoldo López galt Capriles bisher als aussichtsreichster Oppositionskandidat für die Präsidentschaftswahlen Ende 2018.

Der eskalierende Konflikt zwischen Regierung und Opposition hat auch international bereits Konsequenzen. Im April kündigte Venezuela an, als erstes Land in der Geschichte freiwillig aus der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) austreten zu wollen. Die Regierung wirft der US-dominierten Regionalorganisation und ihrem Generalsekretär, dem Uruguayer Luis Almagro, Einmischung in innere Angelegenheiten vor.

Inmitten verhärteter Fronten profiliert sich die venezolanische Generalstaatsanwältin Luisa Ortega indes als unabhängige Stimme innerhalb der staatlichen Institutionen. Oppositionelle Beobachter*innen werten dies als „Riss“ innerhalb des chavistischen Machtapparates. Ortega verurteilte nicht nur den „Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung“, sondern fand Ende April auch klare Worte für die gewalttätigen Auseinandersetzungen. Eindringlich lehnte sie die Aktionen gewalttätiger Gruppen ab, nannte aber auch konkrete Beispiele, in denen der Staat die Rechte der Protestierenden etwa durch willkürliche Festnahmen verletzt habe. „Wir müssen endlich damit aufhören, uns als Feinde zu betrachten“, betonte sie. Sie sprach sich für die Wiederaufnahme des Ende vergangenen Jahres gescheiterten Dialoges aus. Niemand in Venezuela wolle einen Bürgerkrieg oder Einmischung von außen, für eine wirklich demokratische Gesellschaft seien Andersdenkende von fundamentaler Bedeutung. Anfang Mai legte sie in ihrer Kritik nochmal nach. „Wir können von den Bürgern nicht verlangen, sich friedlich und gesetzestreu zu verhalten, wenn der Staat Entscheidungen trifft, die gegen das Gesetz verstoßen“, sagte sie gegenüber der US-amerikanischen Tageszeitung The Wall Street Journal. An der aktuellen Verfassung sei nichts zu verbessern. „Es ist die Verfassung von Chávez.“ Venezuela wäre derzeit wohl am meisten geholfen, wenn sich sowohl Regierung als auch Opposition an diese Verfassung halten würden.

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