Kniefall vor Washington

Neue außenpolitische Ausrichtung Milei blickt nach “Westen” (Foto: Cancillería Argentina)

Auch wenn man es als Lappalie abtun könnte: Die Symbolkraft ist nicht zu unterschätzen. Gleich zwei Mal erklang Anfang April auf argentinischem Staatsterritorium die Hymne der Vereinigten Staaten. Beide Male intoniert vom Orchester der Streitkräfte, beide Male im Beisein des ultralibertären Präsidenten Javier Milei und der Chefin des Südkommandos der US-Streitkräfte (Southcom), Laura Richardson.

Die Szenen wurden sowohl in der argentinischen Presse als auch in den sozialen Medien heiß diskutiert. Auch, weil nur kurz zuvor der Opfer des Malwinen-Krieges gedacht worden war. 1982 hatte Washington fest an der Seite des Vereinigten Königreichs gestanden. London hält die Inselgruppe im Atlantik bis heute unter Kontrolle.

Die Anekdote zeigt: Der Wind in der argentinischen Außenpolitik hat sich gedreht. In den Worten von Milei geht es um nicht weniger als eine „neue Doktrin in der Außenpolitik“. Das betonte er anlässlich des Besuchs von Richardson am 5. April. „In dieser vernetzten Welt, in der die Grenzen verschwimmen, was direkte Auswirkungen auf unsere Souveränität hat, ist es fundamental, strategische Allianzen zu schmieden“, sagte der Staatschef weiter. Die Grundlage dafür stelle ein „gemeinsames Weltbild“ dar.

Was sich Milei unter solch einer „strategischen Allianz“ vorstellt, machen er und Vertreter*innen seiner Regierung nahezu im Wochentakt deutlich. Zuletzt traf sich der argentinische Verteidigungsminister Luis Petri am 18. April in Brüssel mit dem stellvertretenden Generalsekretär der NATO, Mircea Geoană. Beim Besuch im Hauptquartier des Militärbündnisses übergab Petri das Gesuch seines Landes, als sogenannter globaler Partner in den Pakt aufgenommen zu werden.

Zwar ist ein „globaler Partner“ kein Vollmitglied – diesen Status dürfen derzeit nur Staaten Europas sowie die USA und Kanada innehaben –, trotzdem sind auf die Art assoziierte Länder militärisch eng an die NATO gebunden. So tauschen sie beispielsweise nachrichtendienstliche Erkenntnisse aus oder nehmen an gemeinsamen Einsätzen teil. Auch in den Bereichen Aus- und Aufrüstung, Ausbildung sowie Forschung gewährt der Status Vorteile für „globale Partner“. In Lateinamerika hat derzeit nur Kolumbien diesen Status inne.

Geoană zeigte sich erfreut über das Gesuch vom Río de la Plata. In einer nach dem Treffen verbreiteten Erklärung heißt es: „Argentinien spielt eine wichtige Rolle in Lateinamerika, und ich begrüße das heutige Ersuchen, die Möglichkeit einer NATO-Partnerschaft zu prüfen.“ Eine „engere politische und praktische Zusammenarbeit“ sei „für beide Seiten von Vorteil“. Wie schnell es mit der Aufnahme tatsächlich gehen wird, ist allerdings ungewiss. Notwendig für diese ist die Zustimmung aller 32 Mitgliedstaaten des Bündnisses. Gerade die Großbritanniens gilt angesichts des Konflikts um die Inselgruppe Malwinas (engl.: Falklands) keineswegs als sicher.

Auf die Unterstützung der USA dürfte Milei indessen zählen können. Das machte Washington noch am Tag von Petris Brüssel-Besuchs deutlich. So kündigte die US-Botschaft in Argentinien an, dass die Vereinigten Staaten dem südamerikanischen Land 40 Millionen US-Dollar „ausländischer Militärfinanzierung“ zur Verfügung stellen werden – ein „Zuschuss, der den wichtigsten Partnern vorbehalten ist“. Mit dem Geld solle die „Modernisierung der Verteidigungsfähigkeiten“ unterstützt werden. Es sei das erste Mal seit 2003, dass Argentinien eine derartige Finanzspritze aus Washington erhalte.

Buenos Aires kann das Geld gut gebrauchen. Nur wenige Tage zuvor hatte die argentinische Regierung 24 „F-16“-Kampfjets von Dänemark gekauft – ein als „historisch“ bezeichnetes Geschäft. Der Kauf stelle „die wichtigste Beschaffung von Militärflugzeugen seit 1983“ dar, erklärte Verteidigungsminister Petri noch vor Ort. Die Jets seien „mit der besten Technologie ausgestattet“ und gehörten „zu den besten Flugzeugen, die am Himmel über Südamerika und der Welt fliegen“. Inklusive Nachrüstungsarbeiten dürften sie laut Medienberichten bis zu 650 Millionen US-Dollar kosten – viel Geld für ein Land wie Argentinien, das extrem verschuldet ist und sich in einer wirtschaftlichen Dauerkrise befindet.

Besonders der Umstand, dass die Jets aus US-Produktion stammen, ist von Bedeutung. Im vergangenen Jahr hatte die stellvertretende Staatssekretärin des US-Verteidigungsministeriums, Mira Resnick, die Frage nach den künftigen Kampfflugzeugen Argentiniens als „von nationalem Interesse für die Vereinigten Staaten“ bezeichnet. Die argentinische Luftwaffe wird künftig auf Nachrüstungs- und Pflegearbeiten aus den Vereinigten Staaten angewiesen sein.

Ausgestochen wurde bei dem Deal die Volksrepublik China. Jahrelang hatte zuvor der Kauf von „JF-17 Thunder“-Kampfjets aus chinesischer Produktion im Raum gestanden. Das moderne Flugzeug, das die Volksrepublik gemeinsam mit Paktistan entwickelt hat, wäre auch wegen seiner laut Medienberichten geringeren Anschaffungskosten von Parteigänger*innen des Expräsidenten Alberto Fernández vorgezogen worden.

Auf einem Treffen Mitte April in Buenos Aires, das der Gründung des Thinktanks „Argentinisches Zentrum für nationale Verteidigung und Souveränität“ diente, kritisierten die Exminister*innen Nilda Garré und Jorge Taiana den nun geschlossenen Deal. Garré erklärte, dieser gehe auch auf den Besuch der Southcom-Chefin sowie den von CIA-Chef William Burns zurück, der nur wenige Wochen vor Richardson nach Argentinien gereist war. Beide hätten kategorisch klar gemacht: „keine Zusammenarbeit mit China. Ohne Wenn und Aber.“

Auf die Unterstützung der USA kann Milei zählen

Tatsächlich ist Mileis Kniefall vor Washington im Rahmen der Konkurrenz zwischen den USA und China zu sehen. Unter den vergangenen Regierungen konnte die Volksrepublik die Vereinigten Staaten in der Region Südamerika insbesondere auf wirtschaftlicher Ebene überholen. Mittlerweile ist China der zweitwichtigste Handelspartner Argentiniens nach Brasilien. Mileis Vorgänger Fernández vertiefte die Beziehungen zu Peking. Höhepunkt seines außenpolitischen Kurses hätte die Aufnahme des Landes in den BRICS-Staatenbund zum 1. Januar 2024 sein sollen.

Einmal im Amt, zog Milei den Beitrittswunsch sofort zurück. Und auch sonst agiert die junge argentinische Regierung wie der willige Verbündete, den die USA in der Region benötigen. Bereits im Wahlkampf hatte Milei stets betont, fest an der Seite des „Westens“ stehen zu wollen. Seine ersten Auslandsreisen führten den Ultrarechten in die USA und nach Israel. Die dortige argentinische Botschaft plant er von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen.

Die vermeintliche Zugehörigkeit „zur westlichen Tradition“ begründet Milei mit einer „natürlichen Affinität“, die auf dem „Streben nach Freiheit und Privateigentum“ basiere. Anfang April warnte der Präsident beim Besuch der Southcom-Chefin, diese „Werte“ seien heute in Gefahr, weshalb „wir heute mehr denn je die Bande der Freundschaft zwischen denjenigen stärken, die diese Werte vertreten“. Mileis Sprecher Manuel Adorni wiederum bezeichnete die ersten Monate der Regierung als „Botschaft Argentiniens an die Welt“: „Nach Jahrzehnten der scheinheiligen Pakte hat Argentinien beschlossen, sich wieder in das Konzert der Nationen einzugliedern und eine Führungsrolle einzunehmen.“

Teil dessen soll auch der Anfang April verkündete Bau eines gemeinsamen Marinestützpunkts mit den USA auf der südlichen Insel Feuerland sein. Der Stützpunkt direkt vor der Antarktis mache „Argentinien und die Vereinigten Staaten zum Eingangstor zum weißen Kontinent“, erklärte Milei and der Seite Richardsons. Von Feuerland aus lässt sich die Schifffahrt um den südlichen Zipfel Südamerikas besonders gut kontrollieren, ebenso wie der Zugang zur Antarktis.

Mit am Tisch bei den Gesprächen zwischen US-Offiziellen und Vertreter*innen der argentinischen Regierung sitzt immer die „Sorge“ über den wachsenden Einfluss Chinas. Das zeigt auch der orchestrierte Aufschrei über eine von der Volksrepublik betriebene Raumstation in der argentinischen Provinz Neuquén. Kurz vor Richardsons Besuch erklärte der US-Botschafter in Argentinien, Marc Stanley, in der Tageszeitung La Nación: „Es überrascht mich, dass Argentinien den chinesischen Streitkräften erlaubt, in Neuquén zu operieren.“ Weiter behauptete er, es seien Soldaten der chinesischen Volksarmee, „die dieses Weltraumteleskop bedienen“.

Der Bau der Raumstation war 2014 von der damaligen Regierung unter Cristina Fernández de Kirchner genehmigt worden. Deren Nachfolger Mauricio Macri, heute ein Verbündeter Mileis, handelte einen Zusatzvertrag aus, laut dem die Basis nur zu zivilen und wissenschaftlichen Zwecken genutzt werden darf. Das Kooperationsabkommen gilt bis 2064. Zuletzt hatten 2019 auch diplomatische Vertreter*innen aus den USA die Station besucht. Trotzdem beeilte sich die Milei-Regierung, anzukündigen, eine erneute „technische Inspektion“ der Weltraumstation beantragen zu wollen.

„Keine Zusammenarbeit mit China. Ohne Wenn und Aber“

Deutlich weniger von den Medien aufgegriffen, machten die USA bereits Anfang März einen wichtigen Schritt, um ihre Kontrolle über strategische Handelsrouten in der Region auszuweiten. So unterzeichnete die Allgemeine Hafenbehörde Argentiniens (AGP) eine Absichtserklärung, die ein wenig definiertes „Engagement“ des Ingenieursstabs der US-Armee zur „technischen Kooperation“ auf der Wasserstraße Paraguay-Paraná ermöglicht.

Die in der Region als Hidrovía bezeichnete Wasserstraße verläuft auf einer Länge von fast 3.500 Kilometern entlang der Flüsse Paraguay und Paraná und ist von immenser wirtschaftlicher und strategischer Bedeutung für die gesamte Region. Sie ermöglicht eine durchgehende Schifffahrt zwischen den Häfen von Argentinien, Brasilien, Bolivien, Paraguay und Uruguay.

Auch hier steht im Hintergrund der Versuch Washingtons, China von strategischen Feldern zu verdrängen. Über die Hidrovía wird der überwiegende Teil der argentinischen Agrarexporte transportiert. Zuletzt stieg auch der Export illegaler Drogen über die Wasserstraße in Richtung Europa massiv an.

AUS ALT MACH NEU


Wer hier einzieht, was schon hier Regierungspalast Palacio Quemada in La Paz // Foto: Rodrigo Achá / Flickr (CC BY 2.0)

Bisher läuft der Präsidentschaftswahlkampf in Bolivien weitestgehend ohne inhaltliche Auseinandersetzungen ab. Die Opposition nörgelt am Umstand herum, dass sich Evo Morales trotz Ablehnung beim Referendum illegitim wiederwählen lassen will und die Regierung bezichtigt die Opposition, „Kandidaten der Vergangenheit zu sein“. Debatten darüber, wohin man das Andenland steuern will, haben bis jetzt nicht stattgefunden. Anfang Juli will zumindest die „Bewegung zum Sozialismus – das politische Instrument zur Souveränität der Völker“ (MAS-IPSP) in Cochabamba ein Wahlprogramm beschließen.
Eigentlich gibt es genügend Themen, über die Opposition und Regierung inhaltlich streiten könnten. Ein Thema sind die zahlreichen Konflikte der Zentralregierung mit lokalen sozialen Bewegungen. So blockieren seit Ende Juni die Coca-Bauern aus der Yungas-Region die Routen, die vom Regierungssitz La Paz Richtung Norden führen. Zwischen den Coca-Produzent*innen und der Regierung aus den Bergnebelwäldern der Yungas schwelt seit langem ein Konflikt.

Die MAS ist längst keine Regierung der sozialen Bewegungen mehr


Es geht um die Balance zwischen den beiden Coca-Hauptanbauregionen. Auf der einen Seite das traditionelle Anbaugebiet der Yungas und auf der anderen Seite die Provinz Chapare, wo Evo Morales immer noch – im Nebenposten sozusagen – Chef der örtlichen Coca-Bauernvereinigung ist. Vor zwei Jahren wurden die legalen Produktionsmengen gesetzlich neu festgelegt. Die Coca-Produzent*innen aus den im Departamento La Paz gelegenen Yungas sehen sich benachteiligt, weil sie ihrer Meinung nach schlechter wegkommen, als ihre Kolleg*innen im Chapare, das zum Departamento Cochabamba gehört. Sechs Menschenleben hat der Konflikt bisher gekostet, und der Anführer der Vereinigung der Coca-Produzent*innen aus den Yungas sitzt seit einem Jahr in Untersuchungshaft. Ihm wird vorgeworfen, am Tod eines Polizisten beteiligt gewesen zu sein. Der Konflikt in den Nebelwäldern nördlich des Regierungssitzes ist nur einer von vielen regionalen Konflikten, die zwischen den sozialen Bewegungen und der MAS-IPSP besteht. Interessenskonflikte zwischen Bevölkerungsgruppen und der MAS-geführten Zentralregierung treten immer häufiger auf. Dabei ist längst deutlich geworden, dass die MAS keine Regierung der sozialen Bewegungen mehr ist. Vielmehr besteht die Strategie zunehmend darin, diese zu zersplittern und zu schwächen.
Auf der anderen Seite haben die Kandidat*innen der Opposition auch keine Basis bei dem abtrünnigen Teil der sozialen Bewegungen, die vor knapp fünfzehn Jahren der MAS zur Macht verholfen hatten. Carlos Mesa, Präsidentschaftskandidat der Bürgergemeinschaft (Comunidad Ciudadana) und aussichtsreichster Gegenspieler von Evo Morales, konnte auf Twitter lediglich konstatieren, dass die MAS die sozialen Bewegungen spalten möchte.
Carlos Mesa repräsentiert die weiße Mittel- und Oberschicht des Landes. Unter Gonzalo Sánchez de Lozada war er von 2002 bis 2003 Vizepräsident und nach dem Krieg ums Erdgas 2003 und der Flucht von Sánchez de Lozada war er Interimspräsident bis zum Machtantritt von Evo Morales im Januar 2006 (siehe LN 473). Seine Beziehungen zu den sozialen Bewegungen, die mit der MAS-Regierung im Clinch liegen, gestalten sich wegen der Vorgeschichte schwierig und das ist sicherlich eine der Herausforderungen seiner Kandidatur.
Im Februar kündigte Mesa an, sein Wahlprogramm „im Dialog mit den Wähler*innen“ zu erarbeiten. Dadurch versuchte er zu Beginn sein programmatisches Defizit zu kaschieren. Vergangenes Jahr wollte er noch die von der MAS eingeführten Sozialleistungen, wie das Schulgeld oder die Rente der Würde, abschaffen. Für die Idee erntete er viel Kritik und inzwischen ist er davon wieder abgerückt.
Jetzt, so scheint es, nimmt sein Wahlprogramm jedoch Konturen an. Ob dies als Resultat des Bürger*innendialogs zu bewerten oder den tagespolitischen Konjunkturen geschuldet ist, bleibt allerdings unklar. Er hat angekündigt, die Korruption in der Polizei bekämpfen zu wollen, die jüngst durch einen Drogenskandal erschüttert wurde. Auf einem Video war zu sehen, wie ranghohe Polizeioffiziere mit einem der gesuchtesten Drogenbosse eine Party feierten. Immer öfter wird über Verbindungen der Drogenmafia in den Staatsapparat spekuliert. Bolivien gilt als ein zunehmend wichtiger Drogenumschlagplatz, auch die Menge des produzierten Kokas soll wieder zugenommen und das Niveau von 2005 erreicht haben. Doch der Ausgang der Präsidentschafts­wahlen wird weder an der Korruption noch an der Tatsache, dass ein Teil der Coca-Ernte auf dem Schwarzmarkt „verschwindet“, etwas ändern können. Bis zu einem Drittel schätzen Expert*innen den Anteil der Drogenökonomie an der Volkswirtschaft.
Zur Wirtschaftspolitik hat Mesa ebenfalls erste Aussagen gemacht und angekündigt, dass er die Wirtschaft stärker öffnen möchte. Genau das betreibt die Regierung um Evo Morales bereits seit einigen Jahren. Der Plan der Regierung sieht vor, das Lithium zu industrialisieren, den Export von Landwirtschaftsprodukten voranzutreiben und die Infrastruktur sowie den Zugang zu den Märkten zu verbessern. Im Juni tagten die Regierungen von Peru und Bolivien, um den Ausbau des Hafens im peruanischen Ilo voranzutreiben. Gleichzeitig gibt es Verhandlungen mit Paraguay, über die Wasserstraße Paraná einen Zugang für den Export bolivianischer Waren über den Atlantik zu bekommen. Im Hintergrund steht der Wunsch Boliviens, einen Schienenverkehrsweg zwischen Pazifik und Atlantik zu bauen. Diese liberale Wirtschaftspolitik kommt bei den Märkten gut an und hatte in der jüngsten Vergangenheit zu einer zehnjährigen Boomphase geführt.
Carlos Mesa erkennt diese Erfolge an. Seiner Meinung nach gibt es allerdings Defizite bei der Investitionssicherheit und dem Bürokratieabbau. Dabei sind ausländische Investitionen in der Regierungszeit von Morales gestiegen. Zuletzt hat sich Deutschland mit einer Investition von 1,2 Milliarden US-Dollar an der Entwicklung der Lithiumindustrie beteiligt und auch China will in die Kommerzialisierung des bolivianischen Lithiums investieren.
Die wirtschaftliche Prosperität Boliviens ist ein Problem für die Opposition. In einer jüngst von der Tageszeitung La Razón veröffentlichten Umfrage unter dem Titel „Das Gute und das Schlechte von Evo“ gab ein Großteil der Bolivianer*innen an, dass sie das wirtschaftliche Wachstum und die Verbesserung der Infrastruktur dem Präsidenten zugute halten. Als wichtigster Negativpunkt sehen die Wähler*innen sein Bestehen auf einer erneuten Wiederwahl, mit dem Morales das Referendum von 2016 ignoriert. Damals hatte die Mehrheit sich gegen eine Wiederwahl aus gesprochen.

Evo Sí Überall finden sich Aufrufe zur Wiederwahl // Foto: Thomas Guthmann

Bis dato ist der Wahlkampf daher von dem Thema Wiederwahl geprägt. Die Opposition stellt in ihren Äußerungen vor allem die Illegitimität der erneuten Kandidatur von Evo Morales in den Vordergrund. Seit dem Referendum von 2016 versuchen Bürgerkomitees im ganzen Land, eine Volksbewegung gegen die Wiederwahl zu organisieren. Bisher ohne großen Erfolg. Denn trotz des weit verbreiteten Unbehagens innerhalb der Bevölkerung über die Form mit der sich die Regierung Evo Morales über Volkes Willen hinwegsetzte, ist eine breite Front der Ablehnung bisher nicht zustande gekommen. Das liegt auch daran, dass die sozialen und indigenen Bewegungen zwar in ihrer Mehrheit der Regierung kritisch gegenüber stehen, allerdings bisher einzeln die Auseinandersetzung suchen, wie der Konflikt mit den Coca-Bauern in den Yungas verdeutlicht.
Die bürgerliche Opposition hat es zudem bisher nicht vermocht, sich auf einen Kandidaten zu einigen. Carlos Mesa ist bisher der einzige Kandidat, dem die Umfragen zutrauen, an Evo Morales heranzukommen. Allerdings gibt es bisher insgesamt sieben Kandidaten und eine Kandidatin. Im Mai scheiterte ein Versuch der Opposition, sich auf einen Kandidaten zu einigen. Bei einem Treffen aller Oppositionskandidat*innen und den Bürgerkomitees konnten sich die Versammelten lediglich auf die Rücktrittsforderung des obersten Wahltribunals einigen. Zu Beginn hatte Carlos Mesa den Reportern zugerufen, dass seine Kandidatur die einzige sei, die gewinnen könne. Sehr zum Unmut der anderen Kandidat*innen. Schließlich warf Edwin Rodriguez, Vize von Präsidentschaftskandidat Oscar Ortíz Mesa vor, „er ist schuld, dass es keine Einheit in der Opposition gibt“.
So sehen die meisten Umfragen Evo Morales weit vor Carlos Mesa. Laut einer Umfrage der Tageszeitung Página siete glauben 52 Prozent der 800 Befragten in den neun Departamentshauptstädten und El Alto an einen Sieg von Evo Morales, nur 23 Prozent sehen Carlos Mesa vor ihm. Die Befragung der Tageszeitung La Razón, die in 17 Städten und 31 ländlichen Gemeinden durchgeführt wurde und damit auch den ländlichen Raum berücksichtigt, ergibt eine Zustimmung für Evo Morales von 49 Prozent gegenüber einer Ablehnung von 43 Prozent. Dabei hat Carlos Mesa insgesamt mehr Sympathien bei den jungen städtischen Wähler*innen, während Evo Morales eher die Zustimmung älterer Wähler*innen auf seiner Seite hat.
So kann es gut sein, dass der aktuelle Präsident auch der neue Regierungschef wird. Sollte die Opposition sich nicht einigen, ist sogar ein Sieg im ersten Wahlgang möglich. Ein Sieg für Morales ist möglich, wenn er 50 plus eine Stimme gewinnt oder sich mit zehn Prozent Vorsprung zum Zweiten platziert, dann benötigt er keine absolute Mehrheit. Dennoch trifft der Wahlrat bereits Vorkehrungen für eine zweite Runde im Dezember. Denn die Umfragen sind mit Vorsicht zu genießen. Es gibt viele Unbekannte und genaue Vorhersagen sind schwer zu treffen. Es gibt in Bolivien keine regelmäßigen Wahlumfragen, damit auch keinen statistischen Datenvorrat, der es erlauben würde, genauere Vorhersagen zu treffen.
Auch wenn die MAS die Präsidentschaftswahlen gewinnt, so wird sie wahrscheinlich die Mehrheit in den beiden Parlamentskammern, die sie in der aktuellen Legislaturperiode noch innehatte, verlieren. Damit wird ein Durchregieren der MAS wie bisher wohl nicht mehr möglich sein, womit sich in Bolivien in jedem Fall gesellschaftliche und politische Umbrüche ankündigen.

 

ZWISCHEN CHINA UND USA


Wahlsieger Laurentino ‘Nito’ Cortizo // Foto: Wikimedia, (CC BY-SA 4.0)

Am Ende wurde es eine Hängepartie: Erst kurz vor Mitternacht – Stunden später als erwartet – erklärte die Wahlbehörde am 5. Mai Laurentino ‘Nito’ Cortizo von der Revolutionären Demokratischen Partei (PRD) zum Sieger. Er gewann mit 33,5 Prozent der Stimmen, nur rund 45.000 mehr als Rómulo Roux von der konservativen Partei Demokratischer Wandel (CD), der auf 31,15 Prozent kam.

Verschiedene Korruptionsskandale seit Bekanntwerden der „Panama Papers“ hatten vor der Wahl für großen Unmut gesorgt. Neben der Wiederbelebung der Wirtschaft und der Bekämpfung der Armut zielten Cortizos Wahlversprechen daher besonders auf die Eindämmung der Korruption sowie Verfassungsänderungen zur Konsolidierung der Demokratie. Cortizo betonte etwa, dass bei Verfehlungen künftig keine Politiker*innen mehr unantastbar sein würden und kündigte an, der Korruption überführte Firmen wie den aus Brasilien stammenden Baukonzern Odebrecht landesweit von Aufträgen ausschließen zu wollen. Die als abhängig wahrgenommene Justiz solle stark und unabhängig werden. Aufbauend auf Empfehlungen der Nationalen Konzertation für die Entwicklung, einem dauerhaften Dialogforum unter Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen, sollen einige Verfassungsänderungen vom Parlament beschlossen und anschließend der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt werden. Nach den Skandalen hofft Cortizo so auch, den internationalen Ruf Panamas sowie den „Nationalstolz“ wiederherzustellen.

Bei der gleichzeitigen Parlamentswahl war mit Spannung erwartet worden, wie stark sich die Kampagne #NoalaReelección mit ihrem Engagement gegen die Wiederwahl von korrupten Abgeordneten auswirken würde. Die Kampagne gab sich als Bürger*innenbewegung, war jedoch maßgeblich von der Oligarchie initiiert worden. Auf den ersten Blick war sie erfolgreich: Nur 14 von 50, d.h. 28 Prozent der sich zur Wiederwahl stellenden Abgeordneten wurden erneut gewählt, der geringste Wert seit 1994. Fünf Abgeordnete werden parteilos sein, vier mehr als bisher. Die einzige de facto nicht-neoliberale Partei Panamas, die linke Breite Front für die Demokratie (FAD), hat keinen Sitz im Parlament bekommen und blieb als einzige Partei landesweit unter zwei Prozent der Wähler*innenstimmen. Sie muss sich nach den gesetzlichen Bestimmungen daher auflösen. Cortizos Wahlbündnis „Uniendo Fuerzas“ aus PRD sowie der Molirena-Partei kam dagegen nach Auszählung aller Stimmen auf eine Mehrheit von 40 der 71 Sitze.

Was ist von dem ehemaligen Unternehmer zu erwarten?

Cortizo hat also im Prinzip freie Bahn. Was ist ab der Amtsübergabe am 1. Juli von dem ehemaligen Unternehmer zu erwarten, dessen Partei formell Mitglied der Sozialistischen Internationalen ist? Nach der Wahl auf seine ideologische Verortung angesprochen, sagte er dem Sender Telemetro: „Ich bin pragmatisch. Private Investitionen schaffen Arbeitsplätze und erhöhen so den Konsum. Das ist sehr wichtig, um einem Land mit solcher Armut und Ungleichheit wie Panama zu helfen. Dabei geht es nicht um rechts oder links.“ Cortizo sieht sich als Vermittler zwischen den gesellschaftlichen Gruppen, zwischen Unternehmer*innen, Arbeiter*innen und Bauern und Bäuerinnen. Konkret bedeutet das etwa: Die Verbesserung der Qualität im Bildungssystem, eines seiner Anliegen im Wahlkampf, versteht er insbesondere als stärkere Ausrichtung an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes. Cortizo möchte, dass sich Investoren „wie zu Hause fühlen“ und hat daher bereits einen Minister eigens für die Erleichterung privater Investitionen ausgewählt.

Unter den potenziellen Investoren könnte China eine wichtige Rolle spielen. Bereits Cortizos Vorgänger Varela hatte im Jahr 2017 diplomatische Beziehungen mit der Volksrepublik China aufgenommen und dafür die langjährigen Beziehungen zu Taiwan abgebrochen. Panama schloss sich Chinas „Neue Seidenstraße“-Initiative an. Der chinesische Staatspräsident Xi Jinping kam im Dezember 2018 sogar zu einem Staatsbesuch. Zahlreiche Kooperationsabkommen wurden vereinbart, chinesische Investor*innen stecken in großem Stil Geld in Häfen am Panamakanal und schlagen die Finanzierung weiterer Infrastruktur vor. Diskutiert wird etwa ein Bahnprojekt zur Verbindung des westlichen Landesteils mit der Hauptstadt.

Diese Entwicklung missfällt den USA, die Lateinamerika traditionell als ihren Hinterhof betrachten, erst recht Panama, wo sie bis 1999 den von ihnen errichteten Kanal kontrollierten. In dem sich entwickelnden Handelskrieg zwischen den USA und China sitzt Panama nun mittendrin. Daraus erwächst neues Selbstbewusstsein. Cortizo, der in den USA studiert und gearbeitet hat, möchte mit beiden Großkunden des Kanals Geschäfte machen und hat auf Kritik aus den USA mit dem Hinweis reagiert, dass sie künftig der Region mehr Aufmerksamkeit schenken sollten, auch über Panama hinaus. Ansonsten könne Chinas Einfluss zunehmen.

Die wirtschaftliche Bedeutung seines Landes will der neue Präsident nutzen, um Panama politisch ein stärkeres Gewicht zu verschaffen. Er möchte auch auf diplomatischem Terrain ein Vermittler sein und bei der Lösung von Krisen in der Region wie derzeit in Venezuela eine Rolle spielen. Dazu passt allerdings nicht, dass er die Anerkennung Juan Guaidós als Interimspräsident Venezuelas durch seinen Vorgänger nicht in Frage stellt. Nimmt er sich zu viel vor?

Denn neben dem fehlenden Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen drohen weitere Probleme. Die Rentenkasse steht vor dem Kollaps, Medikamente sind rar. Trinkwasserknappheit ist vielerorts ein Problem, während der Betrieb des Panamakanals – das Fundament der Wirtschaft – dem Ökosystem der Kanalzone große Wassermengen entnimmt. Um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, schielen alle Regierungen schon immer auf die Ressourcen in indigenen Autonomiegebieten. In den nächsten Jahren dürfte es zu einer Zunahme von Konflikten mit indigenen Gruppen kommen. Als eine der wenigen Akteure haben diese in den letzten Jahren demonstriert, dass sie effektiv gegen neoliberale Regierungspolitik mobilisieren können: Die letzte größere, von unten entstandene Protestbewegung Panamas war der indigene Widerstand gegen ein neues Bergbaugesetz im Jahr 2011 (LN 443). Trotz Repression und massiver Diffamierung durch die Medien inklusive rassistischer Untertöne hatte der Protest damals Erfolg, das Gesetz wurde schließlich zurückgezogen.
Die Demokratie in der Krise, Verfassungsänderungen, ökologisch-soziales Konfliktpotential und dann am Reibepunkt zwischen US-amerikanischen und chinesischen Interessen: Es gibt einiges zu tun für den selbsternannten Vermittler.

„KEINER VON BEIDEN IST POLITISCH LEGITIMIERT”

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EDGARDO LANDER
hat in Harvard Soziologie studiert und ist emeritierter Professor für Soziologie an der Zentralen Universität in Caracas (UCV). Er gilt als einer der profiliertesten linken Intellektuellen in Venezuela und als kritischer Unterstützer des bolivarianischen Prozesses. Seine Themen sind unter anderem Kritik des Eurozentrismus, soziale Bewegungen und Neoextraktivismus in Latein­amerika.

Foto: Tilman Vogler


Seitdem sich Juan Guaidó am 23. Januar dieses Jahres selbst zum Interimspräsidenten ernannt hat, beanspruchen sowohl er, als auch Präsident Nicolás Maduro für sich, rechtmäßig im Amt zu sein. Wer ist Ihrer Meinung nach legitimiert?
Keiner von beiden. Die Regierung hat nach ihrer Niederlage bei den Parlamentswahlen 2015 beschlossen, sich mit allen Mitteln an der Macht zu halten. Dabei missachtet sie die Verfassung, denn bis dahin gab es immer noch freie Wahlen, mit einem überdurchschnittlich transparenten Wahlprozess und einem Wahlsystem, mit nahezu fehlerfreier technischer Infrastruktur. Heute stehen wir vor dem Problem, dass die Regierung die Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten der venezolanischen Bevölkerung einschränkt. Es gibt aber auch Gründe, die Position von Guaidó abzulehnen. Dieser steht für ein Projekt des Regime Change, das von außerhalb kommt. Die rechte Opposition verkennt dabei die venezolanische Realität. Denn noch immer unterstützt ein Großteil des Militärs Maduro. Und auch in der Bevölkerung gibt es noch immer einen großen Rückhalt für den Chavismus, beziehungs­weise dessen Weiterführung unter Maduro, auch wenn die Zustimmung gesunken ist.

Seit dem 7. März gab es eine Reihe landesweiter Stromausfälle. Die Regierung beschuldigt die Opposition und die USA der Sabotage. Diese wiederum bringen schlechte Wartung und Korruption innerhalb der Regierung als Grund für die Stromausfälle vor.  Was halten Sie von den Beschuldigungen und Erklärungen?
Die venezolanische Gesellschaft ist so stark polarisiert, dass die Anhänger beider Lager in unterschiedlichen Wirklichkeiten leben. Das macht es so schwierig, ein Thema zu verhandeln, weil es nicht nur um die Interpretation geht.
Das venezolanische Stromnetz verfällt seit Jahren. Das liegt zum einen an der Korruption und zum anderen daran, dass Militärs an die Spitze von Stromunternehmen gesetzt wurden, die überhaupt keine Kompetenzen auf dem Gebiet haben.
Auf der anderen Seite kann man aber auch davon ausgehen, dass ein Interesse besteht, diese Situation auszunutzen und der Regierung zusätzlich Probleme zu bereiten. Und ein so anfälliges Stromnetz ist eben sehr leicht anzugreifen. Ich schließe also nicht aus, dass es sich in einigen der Fälle um Sabotage gehandelt hat, aber eben begünstigt durch ein sehr anfälliges System.

Sie gehören gemeinsam mit anderen Akademiker*innen, Aktivist*innen und früheren Minister*innen unter Chávez der Bürgervereinigung zur Verteidigung der Verfassung an. Was schlagen Sie als Ausweg aus der Krise vor?
Im Moment haben wir eine Situation, in der sich zwei Kräfte in einer Freund-Feind-Logik gegenüberstehen und sich gegenseitig politisch auslöschen wollen. Um einen Krieg zu verhindern, müssen wir zu einer politischen Einigung kommen. Um das auf demokratischem, friedlichem und verfassungskonformem Weg zu erreichen, ist die beste Option ein Konsultativreferendum, das von beiden Seiten ausgehandelt werden muss. Die Bevölkerung könnte somit darüber abstimmen, ob sie Neuwahlen aller staatlichen Gewalten will.
Aus unserer Sicht würden Verhandlungen es dem Chavismo ermöglichen, sich als politische Bewegung wieder neu zu formieren und weiterhin im Land zu agieren und zu existieren. Bei einem Regime Change, der die Regierung einfach ausradieren würde, wäre das keine Option.

Was denken Sie über die Rolle der EU in Bezug auf die Situation in Venezuela?
Dadurch, dass sie Guaidó anerkannt hat, hat die so genannte internationale Gemeinschaft Verhandlungen eher erschwert als sie zu unterstützen, weil das die Fronten verhärtet. Es ermutigt die Leute, die sich hinter Guaidó versammeln, weil sie ihn durch die internationale Unterstützung als rechtmäßigen Übergangspräsidenten sehen. Maduro wiederum wird zum Beispiel weiterhin von den Regierungen Chinas und Russlands anerkannt, übt die Kontrolle über die staatlichen Institutionen aus und kann sich auf das Militär und die chavistischen Gruppen verlassen, die immer noch aktiv sind und über großes Mobilisierungspotenzial verfügen. Dass die meisten Mitgliedsstaaten der EU also nicht an Verhandlungen interessiert sind, sondern einzig daran, Maduro aus dem Amt zu befördern, ist sehr schädlich und verringert die Möglichkeiten einer Verhandlungslösung.

Sie haben sich gemeinsam mit der Bürgervereinigung im Frühjahr mit Guaidó getroffen. Warum?
Weil er gewählter Parlamentspräsident ist. Die beiden institutionellen Sektoren in dem Machtkampf bestehen aus Regierung und Nationalversammlung. Die Haltung dieser beiden Sektoren bringt Venezuela an den Rand eines Krieges. Also haben wir beiden Seiten ein Referendum vorgeschlagen und sie auf ihre Verantwortung hingewiesen. Dafür haben wir um Treffen mit Guaidó und Maduro gebeten. Das Treffen mit Guaidó wurde von vielen Linken, besonders auch im Ausland, als eine Art Anerkennung für ihn gewertet. Wir haben uns aber mit ihm in seiner Funktion als Parlamentspräsident getroffen und nicht als Staatspräsident und das auch öffentlich gesagt. Genauso haben wir einen Brief mit der Bitte auf ein Treffen mit Maduro eingereicht. Drei Tage in Folge haben wir versucht, diesen Brief im Präsidentenpalast Miraflores abzugeben. Doch sie haben ihn nicht mal entgegengenommen. Das zeigt ihre Haltung zum Dialog.

Im Februar 2016 schuf Maduro per Dekret den Minenbogen des Orinoco (Arco Minero), eine Fläche von fast 112.000 Quadratmetern für den Bergbau. Was steckt dahinter?
Aufgrund des Preisverfalls für Erdöl und dem stetig fallenden Förderniveau hat sich die venezolanische Regierung, anstatt Wege zur Diversifizierung der Wirtschaft zu finden, erneut für den Extraktivismus entschieden. In diesem Fall für den Bergbau, denn im Gebiet des Minenbogens gibt es bedeutende Vorkommen von Eisen, Aluminium, Coltan, seltenen Erden und natürlich ganz besonders Gold. Die Regierung sieht hier also das neue El Dorado mit dem die gesunkenen Erdöleinnahmen aufgewogen werden sollen. Seit ungefähr zehn Jahren gibt es einen Anstieg des illegalen Kleinbergbaus in dieser Region, der durch die Verwendung von Quecksilber nicht nur der Umwelt schadet, sondern auch negative Auswirkungen auf die dort lebenden Indigenen hat. Und nun hat die Regierung beschlossen, dies im großen Stile und unter Mitwirkung von transnationalen Unternehmen weiterzuführen.
Bisher ist die multinationale Beteiligung gering. Was nicht etwa daran liegt, dass die Regierung ihnen hinsichtlich Zollauflagen, Steuern oder Protestunter­drückung nicht genug Garantien gegeben hätte, sondern weil das ganze juristisch unter sehr unsicheren Umständen stattfindet. Es verstößt gegen die Verfassung, die Rechte der Indigenen sowie Arbeits- und Umweltrecht. Und die politische Instabilität des Landes tut natürlich ihr übriges dazu.

Steht die Gründung spezieller Wirtschaftszonen im Widerspruch zur offiziellen Politik der Regierung?
Die Entstehung des Minenbogens und das neue Gesetz, das von der Verfassunggebenden Versammlung zum Schutz ausländischer Investition verabschiedet wurde, entsprechen offensichtlich neoliberalen Interessen. Und das Beharren der Regierung auf dem extraktivistischen Modell bildet keinen Widerspruch zum globalen Wirtschaftsmodell, es stellt auch keinen Bruch mit der kolonialen Unterordnung in der internationalen Arbeitsteilung und mit der Rolle dar, die Lateinamerika historisch als Rohstofflieferant zukommt. Die Konsequenzen sind Umweltzerstörung, ein hohes Gewaltaufkommen bewaffneter Gruppen, die untereinander um das Gebiet kämpfen. Es ist ein Niemandsland, in dem alle Konflikte mit Waffengewalt ausgetragen werden. Die indigenen Gemeinden der Region sind stark von der Gewalt betroffen und viele müssen im Bergbau arbeiten, weil ihre Lebensgrundlage zerstört wird. Mädchen werden entführt und in den Bergbaulagern zur Prostitution gezwungen.

Welche Arten des Widerstands haben sich dagegen entwickelt?
Es gibt die Plattform gegen den Minenbogen, ein Kollektiv von jungen Leuten, die aktiv sind im Kampf für Umweltrechte, Demokratie und Indigenen-Rechte und die auch schon Kampagnen zur Analyse der Situation gemacht haben. Aber der Protest ist leider sehr schwierig. Erstens, weil es in Venezuela schon lange eine auf Rohstoffexporten basierte Ökonomie gibt. Der Großteil der Bevölkerung lebt aber in den Städten, also weit weg von den Orten der Förderung, wo all das passiert. Es ist kein kollektives Bewusstsein vorhanden, das so weit reicht, die Größe des Problems zu erkennen. Zweitens sind die alltäglichen Probleme und die politische Polarisierung so groß, dass nicht nur im privaten Alltag sondern auch in den Medien über andere Dinge gesprochen wird.

 

SCHEITERN DER ERDÖLGESELLSCHAFT

Seit sich Juan Guaidó in Venezuela am 23. Januar eigenhändig zum Interimspräsidenten erklärt hat, beherrscht das südamerikanische Land die Schlagzeilen. Die US-Regierung drängt auf einen Sturz des amtierenden Präsidenten Nicolás Maduro und hält sich erklärtermaßen auch eine militärische Option offen. Doch jenseits dieser aus linker Perspektive strikt abzulehnenden Politik steht die 1999 unter Hugo Chávez begonnene und nach dessen Tod 2013 von Maduro weitergeführte „Bolivarische Revolution“ vor einem Scherbenhaufen. Zwar war der politische Prozess von Beginn an mit gehörigen internen und externen Widerständen konfrontiert. Doch könne das Scheitern „nur dann adäquat verstanden werden, wenn man sich mit den Folgen der Rohstoffabhängigkeit für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft beschäftigt“, schreibt der Politikwissenschaftler Stefan Peters in seinem neuen Buch „Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Venezuela“.
Dieses erklärt, wie die venezolanische Wirtschaft seit fast 100 Jahren um die Verteilung der Erdöleinnahmen kreist. Dadurch haben sich wirtschaftliche, soziale und kulturelle Muster verfestigt, die nur schwer zu durchbrechen sind. Die wirtschaftlichen Akteur*innen richten ihre Anstrengungen vornehmlich darauf aus, sich ein Stück des staatlich verwalteten Erdölreichtums einzuverleiben. Dementsprechend basiert ökonomischer Erfolg „nicht primär auf Innovation und Produktivitätssteigerungen, sondern auch und vor allem auf dem privilegierten Zugang zum Staat.“
An dem Ziel, die Wirtschaft zu diversifizieren, sind in den vergangenen Jahrzehnten mehrere Regierungen unterschiedlicher ideologischer Couleur gescheitert. Unter Chávez bedeutete dies, dass viel Geld in landwirtschaftliche und urbane Kooperativen sowie staatliche Unternehmen geflossen ist, von denen sich die meisten nicht annähernd alleine erhalten konnten. Tatsächlich glich dessen Wirtschaftspolitik in vielen Punkten jener seiner Vorgänger, war also, wie der Autor resümiert „weitaus weniger revolutionär als Anhänger wie Gegner unterstellen.“ Dazu zählen auch die Devisen- und Preiskontrollen, die für Venezuelas nichts grundsätzliches Neues sind und die negativen Effekte einer Rentenökonomie bis ins Unermessliche steigern, indem sie enorme Mitnahmeeffekte ermöglichen.
Mit der rechten Opposition würde sich an den strukturellen Problemen nichts ändern, sondern schlicht eine andere Klientel an die Erdöltöpfe gelangen. Einen zeitnahen Regierungswechsel hält Peters in seinem vor der jüngsten Eskalation geschriebenen Buch für das wahrscheinlichste Szenario. Nach einem dann absehbaren Aufschwung werde aber ebenso sicher „auch die nächste Krise kommen.“
Der Autor widmet sich einem Thema, das in der Debatte über Venezuela auf eine gewisse Art und Weise schon immer präsent gewesen ist, mit dem sich aber die Wenigsten tiefergehend beschäftigt haben. Mit seiner glänzenden Analyse der bolivarischen Revolution zeigt Peters eindrücklich auf, dass deren Niedergang weder die Folge von „Sozialismus“ noch eines „Wirtschaftskrieges“ ist, sondern sich aus den Strukturen der erdölbasierten Rentengesellschaft heraus erklären lässt. Dabei hat er stets die Bedeutung für andere rohstoffreiche Länder des globalen Südens im Blick. Diese sollten sich das venezolanische Beispiel genau ansehen, um aus dessen Fehlern für zukünftige soziale Transformationsprozesse zu lernen.

 

ARGENTINIENS OBERSCHICHT JUBELT

Im Wahlkampf hatte Mauricio Macri eine Revolution der Freude versprochen, falls er Präsident werden würde. Seit 15 Monaten ist er Argentiniens Präsident. Ist die Revolution der Freude in Sicht?
Mitnichten. Die ist nicht zu sehen. Und das hat Gründe. Man muss sich nur die Entwicklung in dieser Zeit anschauen: Mehr als 100.000 Menschen haben ihren Job verloren, alle sozialen Indikatoren haben sich verschlechtert, das Lohnniveau sank um neun Prozent, bei einer Inflation von 40 Prozent 2016. Gemäß der Päpstlichen Katholischen Universität Argentiniens (UCA) hat die Zahl der Armen seit Macris Amtsübernahme im Dezember 2015 um 1,5 Millionen Menschen zugenommen. Die UCA beobachtet seit Jahrzehnten die Armutsentwicklung und hat deswegen sehr aussagekräftige Daten. Die Regierung Macri hat eine Flut ausländischer Investitionen versprochen, die nicht gekommen ist. Klar ist: Der Kern dessen, was die neue Regierung verkörpert, ist die Umverteilung des Reichtums von unten nach oben. Das ist der Unterschied zu den Regierungen der Kirchners (Néstor 2003-2007, Cristina 2007-2015, Anm. d. Red.), die bei allen Problemen, die sie zum Beispiel mit Korruption hatten, für das Gegenteil standen: eine bessere Verteilung des Reichtums in Richtung der ärmsten Sektoren. Das wird auch durch die Daten der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) bestätigt: Zum ersten Mal wurde durch die progressiven Linksregierungen in Lateinamerika die Ungleichheit der Einkommensverteilung, die Schere zwischen arm und reich verringert, auch wenn es nicht gelungen ist, die Strukturen der Ungleichheit an sich zu brechen, immerhin das Niveau hat sich während der Ära der Linksregierungen in weiten Teilen Südamerikas verringert. (u. a. Brasilien, Uruguay, Bolivien, Ecuador, Venezuela im Zeitraum von 2005 bis 2015, Anm. d. Red.) Das gilt auch für Argentinien. Bei allen Problemen hat es die Sozialpolitik der Kirchners geschafft, bei den Indikatoren der Armut Verbesserungen zu erzielen, auch wenn die Sozialpolitik nicht alle armen Sektoren erreicht hat.

 

Die Oberschicht dürfte über den Kurs der Macri-Regierung jedoch jubilieren, oder?
Ja. Im Fall der aktuellen Regierung, die im Volksmund als Regierung der CEOs (Vorstandsvorsitzende, Unternehmensbosse, Anm. d. Red.) bezeichnet wird, gilt es festzustellen, dass es die Rechte in Argentinien erstmals geschafft hat, mit Wahlen an die Regierung zu kommen, also ohne Militärputsch wie in der Vergangenheit, was positiv ist. Aber das Paradigma dieser Regierung ist eindeutig die Verteilung des Reichtums in Richtung der wohlhabendsten Sektoren. Das lässt sich an ein paar Maßnahmen der Regierung nach Amtsübernahme zeigen: die Freigabe des Wechselkurses Peso zum Dollar mit der massiven Abwertung des Peso um 50 Prozent als Folge, die Aufhebung der Agrarexportbesteuerung beziehungsweise der Senkung beim Soja, die Abschaffung der Steuern auf den Bergbau. Das bedeutet eine Umverteilung von etwa 60 Milliarden Peso (4 Milliarden Dollar) zugunsten der Oberschicht. Deshalb: Wahrscheinlich wird die Freude bei der ökonomischen Elite und der Oberschicht durchaus beträchtlich gegeben sein, bei der Mittelschicht und der Unterschicht hält sie sich sicher in Grenzen.

 

Dementsprechend dürften die Proteste der Mittel- und Unterschicht gegen die Regierung Macri anhalten?
Ja. Das was aus der zwölfjährigen Ära des Kirchnerismo auf alle Fälle geblieben ist, ist das Nutzen des öffentlichen Raums durch die Bevölkerung. Das hat zwar schon vor der Kirchner-Ära mit den Massenprotesten rund um die Krise 2001/2002 begonnen, wurde aber seitdem beibehalten und zur Selbstverständlichkeit. Das ist wohl auch eine Erklärung dafür, dass sich die Regierung Macri bisher nicht getraut hat, noch regressivere Maßnahmen in der Wirtschaftspolitik zu ergreifen. Es ist interessant, dass die Regierung trotz ihres deutlich neoliberalen Profils bisher die Ausgaben für Soziales insgesamt nicht gesenkt hat und die Sozialprogramme aufrechterhält. Das ist ein deutlicher Unterschied zur neoliberalen Regierung von Carlos Menem von 1989 bis 1999. Die Macri-Regierung ist neoliberal mit sozialen Akzenten, weil die durch die politische Notwendigkeit des Machterhalts gefordert sind.

 

Macri hat in Argentinien eine Strukturanpassung der Wirtschaft auf den Weg gebracht. Mir haben auch linke Ökonomen vor den Wahlen erzählt, dass eine Strukturanpassung – wer auch immer auf Cristina Kirchner de Fernández folgen würde –, unumgänglich sei, nur eben so sozial wie möglich. Wie sehen Sie das?
Nun, ich bin kein Ökonom. Aber diese Meinung ist in der Tat sehr weit verbreitet. Argentinien braucht Reformen, Argentinien braucht eine Art Strukturanpassung. Das legen die Indikatoren einfach nahe. Die Handelsbilanz ist negativ, die Ausgaben für Subventionen sind sehr hoch und die Regierung Kirchner vermochte es nicht, sie zielgerichteter auf die Ärmsten zu lenken und bei weniger Bedürftigen und Reichen zu senken. Die Gasflaschen kosten beispielsweise fünf Mal soviel wie das Gas aus der Leitung und die Gasflaschen kaufen die Armen. Aber was klar ist: Die Strukturanpassung von Macri verläuft ohne jegliche soziale Sensibilität und sie schützt auf die eine und andere Art die Interessen der wirtschaftlichen Elite. Ein Beispiel dafür ist der tarifazo (die massive Erhöhung der Strom-, Gas- und Wassertarife um bis zu 700 Prozent allein beim Gas, Anm. d. Red.) aus dem vergangenen Jahr. Der Oberste Gerichtshof hat die Erhöhung dann auf maximal 400 Prozent festgesetzt, um die durch den tarifazo ausgelöste soziale Krise zu mildern. Manche Haushalte hatten statt 200 Peso auf einen Schlag 5000 Peso für Strom, Gas und Wasser aufzubringen. Aber es ist richtig, dass es ein Problem mit der Subventionspraxis gab, seit 2003 wurden die Preise wegen der vorangegangenen Krise quasi eingefroren und damit der öffentliche Haushalt belastet. Das Problem nun ist aber, dass die weitgehende Abschaffung der Exportsteuern und die Abschaffung der Besteuerung auf den Bergbau ein neues Haushaltsloch reißt und zudem mit diesen Einnahmen vormals auch soziale Programme und Subventionen finanziert wurden. Statt nun graduell nachzujustieren und die wohlhabendsten Sektoren mit Steuern zu belasten und die Bedürftigsten zu entlasten werden nun alle Verbraucher ob arm oder reich gleichermaßen mit Preiserhöhungen belegt, eben ohne soziale Sensibilität.

 

Vermögen die unsozialen Preiserhöhungen für öffentliche Güter wenigstens die Steuerausfälle zu kompensieren?
Nein. Das kommt als weiteres Problem der Strukturanpassung hinzu. Zwar ist das Niveau der Sozialausgaben bisher unter Macri gleichgeblieben, aber mit dem großen Unterschied, dass die Sozialausgaben nicht mehr über Steuern gegenfinanziert werden, sondern durch die Neuaufnahme von Schulden. Argentinien kehrt gerade zu einem Zyklus der Auslandsverschuldung zurück. Allein 2016 wurden mehr Auslandsschulden aufgenommen als in den zwölf Jahren des Kirchnerismo. Die argentinische Bevölkerung hat allerdings sehr klar, worin ein solcher Schuldenzyklus früher oder später münden wird: in die Zahlungsunfähigkeit, in eine tiefe soziale Krise wie schon mehrfach in der argentinischen Geschichte und zuletzt 2001/2002. Aus diesen Erfahrungen heraus hat sich die Regierung von Cristina Kirchner de Fernández in der UNO-Generalversammlung für ein staatliches Insolvenzrecht eingesetzt und dafür auch große und mehrheitliche Zustimmung erhalten, allerdings nicht von einflussreichen Staaten wie den USA oder Deutschland. Damit sollte auch eine Rechtsprechung geschaffen werden, die dem Geschäftsmodell von Geierfonds Einhalt gebietet, die zum Schrottwert Staatsanleihen aufkaufen, um dann auf den vollen Nominalwert zu klagen, wie auch im Falle Argentiniens geschehen.

 

Die Kirchner-Regierungen haben sich geweigert, den Forderungen der Geierfonds Rechnung zu tragen, die Regierung Macri hat den Geierfonds 12 Milliarden Dollar gezahlt, mit dem Argument, dass damit die Rückkehr auf die internationalen Finanzmärkte freigemacht werden würde und Argentinien danach mit einer Flut von Auslandsinvestitionen rechnen könne. Ist dieses Kalkül bisher aufgegangen?
In Bezug auf die Auslandsinvestitionen nicht im Ansatz. Die von Macri angekündigte Investitionsflut ist schlicht ausgeblieben. Aufgegangen ist das Kalkül, dass wenn Argentinien die Geierfonds auszahlt, der Weg zur Neuverschuldung an den internationalen Finanzmärkten wieder offen steht. An der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung hat das aber nichts geändert. Viele kleine und mittelständische Unternehmen haben dicht gemacht, die formellen Arbeitsverhältnisse nehmen ab, die informellen Arbeitsverhältnisse nehmen zu. Bis jetzt ist überhaupt kein klarer Plan der Regierung Macri für die Wirtschaft zu erkennen. Es geht der Witz um: Im dritten Halbjahr wird alles besser… Das globale wirtschaftliche Umfeld ist aber sicher auch nicht hilfreich: Brasilien, einer der wichtigster Handelspartner Argentiniens, steckt tief in der Krise, die Rohstoffpreise für Argentiniens Exportgüter sind in den vergangenen Jahren tendenziell gefallen und last but not least hat der Amtsantritt von Donald Trump in den USA das Szenario nicht einfacher gemacht. Trump steht für Protektionismus zu Lasten der Handelspartner. Den Import von Zitronen aus Argentinien hat Trump schon ausgesetzt. Nach heutigem Stand lässt sich kein klarer Weg für Argentiniens wirtschaftliche Entwicklung erkennen, aber die Vorzeichen sind düster.

 

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