Was sind die Besonderheiten von Florencio Varela?
Obwohl Florencio Varela nur eine Stunde vom Zentrum Buenos Aires‘ entfernt liegt, unterscheidet es sich stark von der Metropole. Eines der auffälligsten Merkmale ist die auf den Straßen überall sichtbare extreme Armut. Durch die neoliberalen Reformen der 1990er Jahre haben viele Menschen ihren festen Wohnsitz verloren und waren dazu gezwungen, sich in oft provisorischen Unterkünften in Florencio Varela niederzulassen. Sie haben keinen Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen.
Zudem ist der Ort seit Jahren stark von Migration aus Bolivien, Chile und Paraguay geprägt. Viele dieser Migrant*innen haben keine offiziellen Papiere und können somit einfach in illegale Arbeitsverhältnisse gezwungen werden. Dadurch entstehen weitere Probleme wie (Kinder-)Prostitution und Drogenhandel. Es kommt hier regelmäßig vor, dass Menschen spurlos verschwinden oder tot aufgefunden werden. Die Alltäglichkeit solcher Ereignisse stellt für die Menschen im Viertel eine enorme psychische Belastung dar. Darüber hinaus kämpfen wir mit einer tief verwurzelten Korruption, die sowohl Politiker*innen als auch Polizeibeamt*innen betrifft. Dies erschwert unsere Zusammenarbeit mit den Behörden und verkompliziert unsere Arbeit zusätzlich.
Wie versucht ihr, mit eurer Arbeit gegen all diese Probleme anzukämpfen?
Wir haben ein Netzwerk von Zentren in Florencio Varela und der Umgebung aufgebaut, um die Bewohner*innen auf vielfältige Weise zu unterstützen. Als wir vor fast 31 Jahren unsere Arbeit aufgenommen haben, lag der Schwerpunkt zunächst auf der Unterstützung von Kindern. Doch im Laufe der Zeit sind diese Kinder älter geworden, und so hat sich unser Fokus auch auf Jugendliche ausgeweitet. Mittlerweile bieten wir zudem Programme für Frauen an, die Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt in der Partnerschaft geworden sind. Außerdem sind wir aktiv auf der Straße unterwegs, um Menschen ohne festen Wohnsitz zu erreichen. Unsere Angebote haben sich stetig weiterentwickelt, um auf die sich verändernden Bedürfnisse der Gemeinschaft zu reagieren. Dabei geht es uns auch um die Stärkung und Ermächtigung der Menschen: Sie sollen langfristig in der Lage sein, ihre Lebensumstände selbst zu verbessern.
Wie kann man sich eure Angebote vorstellen?
Unsere Angebote sind vielfältig: Im Bereich der Arbeit mit Frauen bieten wir beispielsweise verschiedene Workshops an. Dazu gehören etwa ein Backworkshop oder ein Kurs für das Lackieren von Fingernägeln. Damit bieten wir in unseren Zentren einen sicheren Raum, in dem Frauen zusammenkommen, sich austauschen und gemeinsam eine schöne Zeit verbringen können. Viele der Frauen sind in gewalttätigen Beziehungen isoliert, in denen der Partner oft über die materiellen Ressourcen verfügt und ihnen damit den Ausweg aus der Beziehung zusätzlich erschwert. In den Workshops lernen sie, dass es vielen anderen Frauen ähnlich geht, sie können sich gegenseitig Mut machen und ihre Rechte einfordern. Denn neben dem emotionalen und sozialen Austausch bieten wir auch juristische Unterstützung. Unsere Anwält*innen begleiten die Frauen zu Gerichtsterminen und stehen ihnen zur Seite, wenn es darum geht, rechtliche Schritte gegen ihre Partner einzuleiten. Oft stehen die betroffenen Frauen vielfältigen Herausforderungen, gegenüber: Es kann sein, dass eine Frau nicht nur mit Partnerschaftsgewalt, sondern auch mit Suchtproblemen zu kämpfen hat. Unsere Arbeit beginnt vielleicht bei Problem A, aber endet dann bei Problem C. Das macht unsere Arbeit so anspruchsvoll, denn die verschiedenen Problemlagen sind oft miteinander verflochten oder bedingen sich sogar.
Wie schafft ihr es, ein so großes Projekt in einem Viertel wie Florencio Varela aufrechtzuerhalten?
Das ist eine große Herausforderung. Mittlerweile arbeiten etwa 50 Personen in unseren Zentren, und jeder bringt ihre Energie und ihr Engagement in das Projekt ein. Ein wichtiger Aspekt unserer Arbeit ist die kontinuierliche Fortbildung unserer Mitarbeiter*innen. Die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, verändern sich ständig, und es ist wichtig, dass wir immer auf dem neuesten Stand sind, um adäquat reagieren zu können. Ein weiterer zentraler Punkt ist die Finanzierung. Soziale Projekte wie unseres sind stark von den politischen Gegebenheiten abhängig und die Unterstützung durch den Staat variiert je nach Regierung. Unsere Finanzierung stammt größtenteils von Stiftungen aus dem Ausland. Doch die anhaltende Inflation in Argentinien erschwert diese Finanzierung: Die Kosten vor Ort steigen, während die Fördermittel gleichbleiben. Wir müssen ständig neue Wege finden, um die Finanzierung zu sichern und unsere Arbeit fortsetzen zu können.
Hat sich seit dem Amtsantritt von Milei im Dezember viel verändert?
Ja, definitiv. Was Milei macht, ist besorgniserregend. Es ist eine Entmenschlichung, die wir in der Geschichte bereits gesehen haben. Solche Denkweisen gab es auch im Nationalsozialismus, wo die Menschenrechte so weit untergraben wurden, dass Mitgefühl für die Opfer größter Ungerechtigkeiten fehlte. Eine ähnliche Entwicklung sehen wir hier in Florencio Varela, wo viele Menschen unter furchtbaren Bedingungen leben müssen. Gleichzeitig gibt es Gruppen, die sich freuen würden, wenn wir unsere Arbeit einstellen würden. Oder wenn ein Viertel wie Florencio Varela komplett aus dem Stadtbild entfernt würde. Auch die Inflation macht uns zu schaffen. Wir bieten normalerweise zwei Mahlzeiten am Tag an, aber es wird immer schwieriger, dieses Angebot aufrechtzuerhalten. Allerdings sind diese Probleme nicht alle neu oder erst unter Milei entstanden. Ein großes Problem ist zudem, dass oft mehr Wert auf die Person gelegt wird, die etwas sagt, als auf den Inhalt. Es gibt zum Beispiel Menschen, die die Repressionen von Milei ablehnen, gleichzeitig aber die Regierungen von Putin in Russland oder Maduro in Venezuela verteidigen. Das ist ein doppelter Standard. Wenn es falsch ist, sozialen Protest zu unterdrücken, dann ist es überall falsch – egal, ob in Russland, Venezuela oder Argentinien.
Ihr seid ein politisch aktives Projekt und geht beispielsweise am internationalen feministischen Kampftag auf die Straße. Mobilisiert ihr auch gegen Milei?
Das ist nicht so einfach zu beantworten. Obwohl wir nur eine Stunde vom Kongress oder der Casa Rosada entfernt sind, ist es für uns nicht einfach, an Protesten teilzunehmen. Viele der Menschen, die wir in unseren Zentren unterstützen, müssen lange arbeiten, und können dort nicht einfach fehlen. Zudem müssen wir immer sicherstellen, dass eines unserer Zentren geöffnet bleibt. Viele Menschen sind auf die dort täglich verteilten Mahlzeiten angewiesen. Wenn wir alle an einer Demonstration teilnehmen würden und die Türen unserer Zentren geschlossen blieben, könnte es sein, dass einige Menschen den ganzen Tag nichts zu essen bekommen. Daher engagieren wir uns politisch auf andere Weise. Zum Beispiel gab es vor einigen Jahren eine intensive Debatte über die Legalisierung der Abtreibung. Auch innerhalb unseres Netzwerks gab es dazu unterschiedliche Meinungen. Statt uns in einem hitzigen Streit zu verlieren, haben wir uns dafür entschieden, Informationsmaterial bereitzustellen, das einen respektvollen Dialog förderte. Ähnlich ist es bei anderen politischen Themen: Wir setzen auf den Austausch von Argumenten und gegenseitigem Respekt. Wir glauben, dass Respekt und die Wahrung der Menschenwürde die Basis eines jeden Diskurses sein müssen. Nur so können wir als Gesellschaft wirklich vorankommen.