
Von oben gesehen sieht oft alles viel schöner aus. So auch der Müllwagen von Gal, den sie zu Fuß über das Labyrinth der Stadtautobahnen von São Paulo zieht. Doch als die Kamera in Anna Muylaerts Film A melhor mãe do mundo (Die beste Mutter der Welt) von der furiosen Drohnenaufnahme auf das Straßenlevel wechselt, wird klar: Müllsammler*in zu sein, ist eine schweißtreibende, staubige Knochenarbeit. Die zweifache Mutter Gal (stark: Shirley Cruz) steuert ihr Gefährt dennoch mit scheinbar unerschütterlicher Energie und Fröhlichkeit durch die Peripherie. Ohne Jammern und Klagen werden vor allem recycelbare Plastikflaschen auf den Wagen geladen und später sortiert und gewogen. Die Bezahlung reicht zum Leben, aber nicht für eine Mietwohnung für drei. Und hier beginnt Gals Problem: Denn wer dafür zahlt, ist ihr Partner Leandro (Seu Jorge), ein gewalttätiger Alkoholiker, der sie regelmäßig schlägt. Als auch die Sozialberatung, bei der Gal ihn anzeigt, keine schnelle Hilfe bietet, packt sie kurzerhand ihre beiden Kinder auf den Wagen. Los geht es auf eine mehrtägige Fahrt zum Haus ihrer Cousine, die am anderen Ende der Megalopolis lebt.
Regisseurin Anna Muylaert hat ein großes Herz für die Außenseiter*innen der Gesellschaft. Que horas ela volta (Der Sommer mit Mamá) gewann 2015 mit einer Geschichte über eine Hausangestellte den Panorama Publikumspreis auf der Berlinale. Nun ist sie mit A melhor mãe do mundo zurück auf dem Festival. Im Zentrum ihres Films steht wieder eine Frau in einem Job, der trotz seiner Relevanz für die Gesellschaft nicht ausreichend gewürdigt wird. Muylaert zeigt vor allem zu Beginn Gals Alltag, die verschiedenen Schritte des Müllsammelns, Sortierens und Recyclings, was zu Verständnis und Respekt für ihre Tätigkeit beiträgt. Daneben kommt in kleinen Szenen und Dialogen immer wieder Solidarität in der Working Class zum Vorschein: Unter anderem leihen die Müllarbeiter*innen sich gegenseitig Kleidung oder es wird ein Essen für die Kinder spendiert. So entsteht ein warmherziges Porträt der Menschen, die im wahrsten Sinne des Wortes täglich die Drecksarbeit für die Zwölfmillionenstadt São Paulo erledigen.
Für Gals Flucht vor den Schlägen ihres Ehemanns hat sich Muylaert dann am Drehbuch von Roberto Benignis Oscar-prämiertem Film „Das Leben ist schön“ von 1997 orientiert. Denn die beste Mutter der Welt verkauft ihren Kindern die Obdachlosigkeit während ihrer Fahrt durch São Paulo als großes Abenteuer: Schlafen im Park labelt sie als Camping, in der Fußgängerzone wird getanzt und ein Brunnen kurzerhand zum Schwimmbecken. Während der junge Benin mit herzerwärmender Begeisterung bei allen Aktivitäten voll dabei ist, beginnt die ältere Tochter Rihanna irgendwann, Fragen zu stellen. Denn auf dem Weg lauern Gefahren und selbst manche vertrauten Personen sind plötzlich nicht so liebenswürdig, wie sie vorher schienen.
Der Plot von A melhor mãe do mundo verliert durch die Benigni-Vorlage natürlich ein wenig an Originalität und auch das Ende ist schon weit vor der Hälfte der Laufzeit absehbar. Dafür ist der Film aber nicht nur unterhaltsam, sondern erfüllt auch als Empowerment für Frauen aus der Arbeiter*innenklasse, die gegenüber häuslicher und struktureller Gewalt besonders vulnerabel sind, eine wichtige Funktion. Schicksale wie das von Gal sind in Brasilien und anderswo leider immer noch viel zu normal und haben es deshalb verdient, auf der großen Bühne Aufmerksamkeit zu erhalten.