„Nahrung für die Seele und den Magen“

Kunst, Gesundheit, Gemeinschaft Afrodiverso bietet einen afrofeministischen Raum in Havanna (Foto: Andrea Schmidt)

Ein älteres Ehepaar steht in der Küche und singt. „Seit über 40 Jahren singe ich ihr jeden Tag ein Liebeslied“, erzählt der Ehemann. Sie lächelt und stimmt mit ein. Neben ihnen trinkt Argelia Fellove Hernández aus einer kleinen Tasse Kaffee. Immer sonntags bringt Argelia ihnen eine nahrhafte Mahlzeit. Diese hat Argelia zusammen mit Oyantay in ihrer Küche einige Straßen entfernt gekocht. Auch die beiden verbindet Liebe, neben der romantischen auch die zur Community. Das nicht-binäre Paar hat die Organisation Afrodiverso gegründet.

„Kunst, Gesundheit, Gemeinschaft“ sind die drei Grundsätze der zivilgesellschaftlichen Initiative in dem Wohnviertel Lawton in Havanna. Argelia und Oyantay verfolgen mit der antirassistischen und afrofeministischen Initiative das Ziel, Schwarze Angehörige der LGBTIQ-Community sichtbarer zu machen und zu empowern. Sie organisieren Drag-Performances, klären über sexuelle Gesundheit auf, machen Bildungsarbeit für Kinder und verteilen umsonst Essen an bedürftige Personen. So auch an diesem Sonntag: Argelia verabschiedet sich und geht zur nächsten Adresse. Die Essensübergabe an der Tür ist routiniert, aber freundlich. Während ein älterer Herr seine Portion in der Küche umfüllt und die Dosen zurückbringt, zückt Argelia ein Notizbuch und trägt ein, wer heute versorgt wurde. Inzwischen haben sich 58 Menschen mit Bitten um Unterstützung bei Afrodiverso gemeldet. Weil nicht immer alle da sind, versorgt Afrodiverso jeden Sonntag etwa 50 bis 55 Menschen mit einer gesunden und reichhaltigen Mahlzeit.

Auf der Straße wird Argelia von Nachbar*innen gegrüßt, das Vertrauen und der Respekt sind spürbar. Wie von dem älteren Ehepaar wird Argelia bei einer weiteren Essensübergabe ins Haus hineingebeten. In dem Zimmer sitzt eine ältere Frau auf ihrem Bett und schildert ihre Schmerzen. Argelia erkundigt sich bei der jüngeren Frau, die sie pflegt, welche Medikamente ihnen fehlen. In den staatlichen Apotheken herrscht Mangel und aus den privaten Läden können sich die meisten Menschen nicht einmal normale Schmerzmittel leisten. Von Tür zu Tür zeichnet sich ein immer deutlicheres Bild ab: Die Menschen, die Afrodiverso um Unterstützung gebeten haben, sind vor allem Rentner*innen.

Als alle Portionen verteilt sind, läuft Argelia zurück zum Haus. Oyantay ist dabei, Töpfe zu spülen. Mittags haben sie mithilfe von Unter­stützer*innen aus der queeren Community bereits vor dem Haus Essen ausgegeben. Die Essenslieferung machen sie nur für die 23 bis 25 Menschen, die den Weg durch die Nachbarschaft nicht mehr selbst laufen können. Sie nennen ihr Projekt La Caldoza Diversa (die diverse Caldoza-Suppe), in Anlehnung an das Suppengericht Caldoza Cubana.

Queeres Empowerment trifft Küche für Alle

Es begann 2019 mit einer Art „Küche für alle“. Während der Coronapandemie änderte sich die Funktion ihrer Arbeit und Afrodiverso leistete zudem soziale Hilfe. Allerdings verschlechtert sich die ökonomische Situation in Kuba seit dem Ende der Pandemie weiter. So entschieden Argelia und Oyantay, weiterhin Menschen, die vulnerablen Gruppen angehören, zu unterstützten. Es kommen auch alleinerziehende Mütter oder Menschen mit Krankheiten oder Behinderungen. Doch ob in der Hauptstadt Havanna oder einem Dorf im Osten Kubas – wenn Menschen auf Kuba von vulnerablen Gruppen sprechen, geht es oft um Rentner*innen.

Die Rente auf Kuba beträgt in der Regel 150 Pesos pro Monat. Nach dem staatlichen Wechselkurs sind das etwa zwölf Euro, nach dem weit verbreiteten Straßenwechselkurs etwa fünf Euro. Die Rentner*innen leiden besonders unter der Inflation, die vergangenes Jahr 30 Prozent betrug, und den kleiner werdenden Mengen an Lebensmitteln, die über das staatliche System der Verteilung, auch libreta genannt, zur Verfügung stehen. Die Situation verschärft sich zusätzlich dadurch, dass immer mehr junge Menschen das Land verlassen. Zurück bleiben die Älteren. Doch in dem Land, das für seine medizinischen Fachkräfte bekannt ist, mangelt es an Pflegeangeboten und -kräften.

Für noch mobile und gesunde Senior*innen bietet der Staat in den „Häusern der Großeltern“ Tagesbetreuung an. Wer jedoch krank ist und Pflege bedarf, lebt zuhause. Das im Jahr 2022 verabschiedete neue Familiengesetz nimmt für die Pflegearbeit Familienangehörige in die Pflicht. Nur wenn es keine Familie gibt, leistet der Staat Sozialhilfe.

„Eigentlich ist es nicht Aufgabe der Zivilgesellschaft, aber wir machen es trotzdem, aus Empathie” Mit Küche für Alle gegen Altersarmut (Foto: Andrea Schmidt)

Oyantay und Argelia sitzen in ihrem Wohnzimmer. Auf einem Sticker in Regenbogenfarben, der am Kühlschrank klebt, steht: „Christus liebt mich.“ Sie erzählen begeistert vom Familiengesetz, denn es legalisiert die gleichgeschlechtliche Ehe, stärkt die Rechte von Frauen und erhöht den Schutz bei Gewalt. Das Gesetz stärkt auch die Rechte von älteren Menschen und Pflegekräften. Die beiden erklären, dass die pflegende Person oft mit im Haus lebt. Die pflegebedürftige Person habe jetzt das Recht zu entscheiden, wer sie pflegt und auch die Möglichkeit, ihr Haus an die pflegenden Angehörigen zu vererben.

Neues Gesetz bringt teils Verbesserungen für ältere Menschen

Mit dem Gesetz delegiert der Staat allerdings auch die Verantwortung für die Pflegearbeit an die Familien. Das heißt angesichts patriarchaler und sexistischer Arbeitsteilung und Rollenbilder: an Frauen. Das Gesetz habe mit Blick auf die Pflegeverhältnisse nicht groß etwas geändert, sondern vielmehr eine bestehende Situation reguliert. Oyantay und Argelia problematisieren, dass die Verantwortung für die Pflegearbeit viele Frauen dazu zwinge, ihren Beruf aufzugeben. Mit dem Einbruch der Einnahmen steigt auch ihre Vulnerabilität. Die Feminisierung der Fürsorgearbeit erhöht so die Feminisierung der Armut.

Armut trifft afro-kubanische LGBTIQ-Personen besonders stark: Queerfeindlichkeit zwinge viele zum Schulabbruch oder Arbeitsverlust. „Sie werden als Travesti und als Schwarze diskriminiert“, sagt Oyantay. „Der Afrofeminismus hat sichtbar gemacht, dass es auf Kuba Rassismus und Sexismus gibt.“ Argelia und Oyantay diskutieren kritisch die Verantwortung des Staates. Auch mit Blick auf die Bekämpfung von Altersarmut sehen sie grundsätzlich den Staat in der Verantwortung. Sie verstehen die Arbeit von Afrodiverso als Hilfe für den Staat, nicht als Ersatz: „Eigentlich ist es nicht Aufgabe der Zivilgesellschaft, aber wir machen es trotzdem, aus Empathie.“ „Wir machen das aus Liebe“, bekräftigt Argelia. Trotz ihrer kritischen Perspektiven ist ihnen wichtig, dass die regierungskritische Opposition die Arbeit von Afrodiverso nicht für deren Regierungskritik instrumentalisiert.

Es scheint, dass sich angesichts der sich zuspitzenden sozialen Krisen auf Kuba Räume für sozialen Aktivismus öffnen. Dort wird nicht nur Suppe gekocht, sondern auch antirassistische und feministische Arbeit geleistet. Diese muss sich allerdings in einem Rahmen bewegen, der nach den Protesten gegen die Regierung und die Kommunistische Partei Kubas im Juli 2021 mit Repression gewaltsam abgesteckt wurde.

Afrodiverso hat sich entschieden, Räume der Solidarität und des Empowerments zu schaffen und ist landesweit mit anderen afrofeministischen Gruppen vernetzt. Sie teilen ihre Erfahrungen, damit auch andere Initiativen entstehen. Auch in ihrem Stadtviertel würden sie die Essensausgabe gerne auf zwei bis drei Male die Woche ausweiten. Aus der queeren Community haben sie ein Netzwerk aus Menschen, die sich abwechselnd engagieren. Doch noch fehlen ihnen die Ressourcen. Oyantay zeigt auf einen kleinen Kiosk, der auf der Küchentheke neben der Haustür aufgebaut ist: „Alles, was wir aus dem Erlös nicht selbst zum Leben brauchen, nutzen wir für die Arbeit von Afrodiverso.“ Auch Nachbar*innen spenden manchmal oder sie organisieren Sachspenden.

Doch ihnen geht es immer um mehr als nur um praktische Unterstützung. „Wir wollen auch die Seele ernähren, nicht nur den Magen. Liebe zu spüren, erfüllt die Seele“, sagt Oyantay. Die Menschen im Viertel wüssten, dass sie ein nicht-binäres Paar sind, und sie begegnen bei der Essensausgabe anderen LGBTIQ-Personen. Das seien für viele Menschen neue Begegnungen.

Bisher hätten sie keine Ablehnung erfahren, unter Umständen vorhandene Vorurteile wurden ihnen gegenüber nicht geäußert. Oyantay und Argelia erzählen außerdem, dass einige der Menschen in fundamentalistischen Kirchengemeinden sind, die Homofeindlichkeit predigten. Wer Vorurteile habe, komme nicht zu ihnen. Für die Menschen zähle die Praxis, die positiven Erlebnisse mit Afrodiverso, mehr als die Diskurse aus der Kirche. Und so kommen einige ältere Nachbar*innen nicht nur zur Essensausgabe, sondern auch zu Drag-Shows, die sie anlässlich von Geburtstagsfeiern in der Nachbarschaft organisieren.

LÖWINNEN GEGEN WOLFSRUDEL

© Fabula

„Wie viele Frauen sind verschwunden, wie viele hat die Erde verschluckt?“ fragt Ana Tijoux im Titelsong zu La Jauría (Die Meute). In der Serie ist es die Jugendliche Blanca Ibarra, deren Verschwinden acht spannende Folgen füllt.

Alles beginnt mit Protesten an einer katholischen Privatschule, die sich mit Missbrauchsvorwürfen mehrerer Schüler*innen gegen einen Lehrer konfrontiert sieht. Ganz im Stil der zahlreichen feministischen Schul- und Universitätsbesetzungen im Jahr 2018 (siehe LN 528) blockieren die Schüler*innen die Eingänge und fordern Aufklärung. Als mit Blanca ihre Anführerin verschwindet, steht fest: Die Protestierenden werden nicht aufhören, bis der beschuldigte Lehrer entlassen und ihre Freundin zurück ist.

Nicht nur die Jugendlichen, auch die Kommissarinnen der chilenischen Ermittlungspolizei PDI, eindrucksvoll gespielt von Antonia Zegers, María Gracia Omegna und Daniela Vega (rechtes Bild), sehen sich im Fall Blanca Ibarra mit den immer gleichen Narrativen konfrontiert. Sie hätte es doch gewollt, durch ihr Auftreten provoziert, es gebe keine Beweise, sonst würde man den jungen Frauen natürlich sofort glauben, so verkünden es die Mitschüler aus der Rugbymannschaft, der Priester und Schulleiter und der Polizeichef. Auch dann noch, als ein Video auftaucht, auf dem Blanca von mehreren Männern vergewaltigt wird.

Statt eines großen gesellschaftlichen Aufschreis bräuchte man einfach eine Festnahme, so die hohen Tiere in den Behörden – allesamt Männer. Doch die Ermittlungen zeigen schon bald, dass Blanca kein Einzelfall ist. Tatsächlich entspinnt sich ein Netz von Verbrechen, die vom „Spiel des Wolfes“, einem männerbündischen digitalen Netzwerk mit Anführer, ausgehen. Die Suche nach dem Wolf und seinen Rudeln aus hasserfüllten Männern dringt nicht nur in das Privatleben und die Vergangenheit der Kommissarinnen ein, sondern bringt auch Blancas Schwester Celeste, stark verkörpert von Paula Luchsinger, in Gefahr.

Das Produzent*innenteam um die Brüder um Juan de Dios und Pablo Larraín hat für dieses besondere Projekt weite Teile der chilenischen Filmprominenz um sich versammelt. Die schon in Pablo Larraíns Ema (siehe LN 557) überzeugende Mariana di Girolamo ist ebenso dabei wie ihre Tante, die bekannte Fernsehschauspielerin und Theaterregisseurin Claudia di Girolamo. Daniela Vega aus Una mujer fantástica brilliert diesmal als geniale Kommissarin. Und auch Ana Tijoux tritt nicht nur als Sängerin der Titelmelodie auf. Umso erfreulicher also, dass die Serie, die zuerst auf Chiles staatlichem Fernsehsender TVN ausgestrahlt wurde, nun auch international zu sehen ist.

Dabei ist beeindruckend, wie viele hochaktuelle Dimensionen geschlechtsspezifischer Gewalt La Jauría auf die Bildschirme bringt. Es geht eben nicht um Gewalt an Frauen als „Liebesdrama“, wie es allzu oft dargestellt wird, sondern um jene Strukturen und Narrative, die sie immer wieder und in dieser Größenordnung möglich und meist straflos machen: Männerbünde, Incel-Culture und digitale Gewalt werden ebenso problematisiert wie der alltägliche Sexismus in Gesellschaft, Kirche und Polizei. Gerade in Chile, wo das Thema seit einigen Jahren mehr Aufmerksamkeit erhält (siehe LN 547, 555/556), ist dies eine wichtige Aussage.

Zwar wirkt die Kulisse von La Jauría mit dem Reichenviertel Las Condes in Santiago etwas austauschbar und macht die Gewalt in ärmeren Gesellschaftsschichten in vielen Szenen unsichtbar. Hier und da driftet die Serie in klassische Krimimuster ab und büßt dafür an Realitätsnähe ein. Doch spannend ist La Jauría trotzdem, dafür sorgt neben zahlreichen Twists auch ein packender Soundtrack.

Immer wieder wird deutlich, dass das Thema der weiblichen Selbstbestimmung die Gesellschaft spaltet. Da fragt die Mutter eines beschuldigten Schülers Kommissarin Fernández in der Vernehmung eiskalt und spöttisch: „Meinen Sie etwa, wir erleben jetzt hier einen Moment der Schwesternschaft?“. Die gibt es hingegen unter den Schüler*innen umso öfter. Es ist das yo sí te creo hermana, „Ich glaube dir, Schwester“ und die geteilten Erfahrungen, die sie aus der Wut immer wieder Kraft schöpfen lassen. Dass die Serie junge Frauen nicht nur als passive Opfer, sondern vor allem als mutige Löwinnen darstellt, ist besonders wichtig.

So hinterlässt die erste Staffel das Fazit, dass gegen eine misogyne Meute nur eines hilft: sich zuhören, Vertrauen schenken, verbünden, zusammen jede Art von Gewalt sichtbar machen und dagegen kämpfen. Auf die Rache an den Wölfen in den angekündigten Staffeln 2 und 3 lässt sich schon jetzt hoffen. Ob die so radikal wird, wie der Soundtrack es andeutet, bleibt abzuwarten: „Nein zur Kirche, nein zum Staat, dieser ganze komplizenhafte Apparat ist schuld. Über meinen Körper bestimme ich, deine Gesetze will ich nicht. Über meinen Körper bestimme ich!“

“SIE KÖNNEN ALLES VON UNS ERWARTEN, NUR KEINE STILLE”

Espero tua (re)volta Filmstill // Foto: Bruno Miranda

„Warum müssen wir für unsere Bildung kämpfen, wenn Bildung doch unser Recht ist?” Das fragen sich Nayara, Marcela und Koka, die diese jüngste Geschichte Brasiliens aus Sicht der Schüler*innenbewegung erzählen, von den ersten Protesten gegen die Erhöhung der Preise für den öffentlichen Nahverkehr 2013 bis zur Wahl des ultrarechten Jair Bolsonaro Ende 2018. Espero tua (re)volta, der fünfte Dokumentarfilm der Journalistin und Regisseurin Eliza Capai, berichtet von vielen Brüchen und Niederlagen, aber auch von Mut, Power und Erfolgserlebnissen. Der Film könnte aktueller nicht sein und weiß dies auch. Eine seiner großen Stärken ist die Fülle an Material zu den verschiedenen Formen jugendlicher Rebellion gegen all das, was schon immer ein Problem in Brasilien war und nun mit dem neuen Präsidenten immer akuter wird: Sexismus, Homo- und Trans*phobie, Rassismus und die Unterteilung der Gesellschaft in Menschen erster und zweiter Klasse.
Espero tua (re)volta, das die „Revolte“ schon im Titel trägt, ist eigentlich ein klassischer Dokumentarfilm – Bilder von Demonstrationen, Versammlungen, besetzten Schulen und, natürlich, exzessiver Polizeigewalt –, die Erzählform ist jedoch besonders. Nayara, Koka und Marcela waren von Anfang an bei den Protesten und den Schulstreiks im Bundesstaat São Paulo dabei, kommentieren die Szenen, in denen ihre jüngeren Ichs teils selbst vorkommen, und leiten die Kamera an. „Geh’ noch mal kurz zurück zu der Szene davor, ich war noch nicht fertig“ oder „wir müssen jetzt doch nochmal einen kurzen Exkurs ins Jahr 2012 machen“, heißt es, und die Kamera gehorcht. Mit viel Humor achten Nayara und Marcela darauf, dass Koka als männlicher Erzähler nicht zu viel Redezeit bekommt. „Jetzt sind wir Frauen wieder dran, deine Zeit ist abgelaufen“, heißt es gleich zu Beginn, und Koka gehorcht, verliert dabei aber nie seinen Mittei­lungs­drang.
Passend zur Energie der drei Erzähler*innen geht der Film musikalisch genauso kraftvoll vor, Baile Funk und Hiphop unterstreichen die rebellischen Szenen, in denen ein Meer junger Menschen durch die Straßen São Paulos zieht und Gerechtigkeit fordert, oder in denen die besetzten öffentlichen Schulen – insgesamt 200, deren Schüler*innen sich gegen die Schließung wehren – zu Orten der Selbstverwaltung werden, wo sich Arbeitsgruppen zu Themen wie Sexismus und Rassismus bilden und die Jungs putzen und kochen müssen. Nicht selten erfolgt plötzlich ein musikalischer Bruch, zu dem die drei ankündigen, dass Szenen voller Polizeigewalt gegen Minderjährige folgen werden. Dazu erfahren wir: „Die Diktatur ist vorbei, aber die Repression blüht.” In diesen Szenen wird deutlich, wie viel die Schüler*innen der Bewegung bereits an Gewalt haben ertragen müssen und wie sehr sie der eigene Kampf mitnimmt. Immer wieder folgt die Warnung: „Dies ist erst der Anfang, es wird wieder passieren.“
Umso wichtiger, dass Espero tua (re)volta trotz allem Hoffnung schenkt. Hoffnung in eine Generation junger Brasilianer*innen, die früh gelernt haben, was es heißt, für die eigenen Rechte zu kämpfen und nicht daran denken, diesen Kampf aufzugeben.

TWERKING GEGEN DEN MACHISMUS

Die Erzählung von Bixa Travesty (75min) unterteilt sich in drei Ebenen. Da ist zunächst die Bühne, auf der die brasilianische Popfigur und schwarze Trans*frau Linn Da Quebrada zusammen mit Jup Do Bairro (auch Trans* und seine Partnerin in Crime) mächtige, politische und rhythmische Funk-Lieder singt. Die Performances sind voller Farben und Energie, so dass die Message tief ins Bewusstsein der Zuhörer*innen dringt. Die Lieder greifen brasilianische Machos und die rassistische Gesellschaft an, sind voller Wut, die sich aus der Unterdrückung armer schwarze Transsexueller speist. In dieser Wut gibt es aber eine echte Klarheit, die zu hören wichtig ist.

Die zweite Ebene: Linn Da Quebrada und Jup sprechen über verschiedene Anliegen in ihrem Radioprogramm. Unter anderem werden die Themen Hochzeit, Liebe, Politik, Machismus oder Körper mit unvergleichlichem Humor und Charisma von beiden Künstlerinnen behandelt. Das Radioprogramm wäre sehr empfehlenswert für religiöse Fundamentalist*innen, weil beide Frauen sich darum kümmern, kontroverse Fragen über Transsexualissmus ganz einfach zu beantworten.

Die dritte Ebene ist vielleicht die wichtigste von allen und auch der Grund, der diese 75minütige Dokumentation zur einem der “Must-See-Filme” der 68. Berlinale machte. Die Kamera verlässt die Bühne und die Radiosendung und betritt Da Quebradas privates Leben. Die erste Szene spielt in der Küche. Während das Essen gekocht wird, spricht Linn mit ihrer Mutter über die Romantisierung von Armut, ihre eigene Familiengeschichte in den Favelas von Sao Paulo und wie wichtig es ist, sich selbst und den eigenen Körper zu lieben. Ab diesem Punkt wird man tiefer in Da Quebradas Leben getaucht, um sie kennenzulernen: zum Beispiel wie sie gegen den Krebs gekämpft und überlebt hat und welche politischen und körperlichen Reflektionen sie dadurch erfahren hat. Linn da Quebrada hat eine besondere Einstellung, die sie alle diese Themen immer mit einem positiven Blick betrachten und über sie lachen lässt. Sie hat ein grosses Charisma. Die Zuschauer*innen müssen unwillkürlich zusammen mit ihr lachen und sich vielleicht – warum nicht? – ein bisschen in sie verlieben.

Musik und Rhythmus spielen in diesen Film eine besondere Rolle, dafür haben die Brasilianer*innen einfach ein gewisses Talent. Man kann sich auf großartige Bilder, Humor und viel Queer Twerking freuen.

Der Film der Regisseur*innen Claudia Priscilla und Kiko Goifman lief auf der Berlinale in der Sektion Panorama und gewann den queeren Filmpreis Teddy Award für die beste Dokumentation.

ZWISCHEN TRAUM UND TRAUMA

Der Psychiater, die Nonnen, ihr Vater: Alle haben für Margarita einiges an Zuschreibungen parat. Ein pathologischer Fall sei sie, eine neurotische Nymphomanin, neurologisch geschädigt, erkrankt an Anorexie, Bulimie, Soziopathie, Hysterie und Legasthenie. An Letzterem stört sie sich am meisten. „Falsch, ich habe überhaupt kein Problem mit dem Lesen oder dem Leseverständnis, ich bin auch keine zwanghafte Lügnerin, wie die Direktorin sagt, ich gebe der Wirklichkeit einfach einen Hauch Kunst. Wie langweilig wäre sie, wenn niemand sie phantastisch machte…“
Die Mexikanerin Lucero Alanís hat die Geschichte der Erzählerin laut Übersetzerin Christiane Quandt aus den Aussagen verschiedener Frauen geformt. Margarita ist tatsächlich sehr viel auf einmal und lebt in vielen Welten gleichzeitig. Sie ist Zwillingsschwester, die gewaltsam von ihrem Gegenpart getrennt wurde, Tochter eines übergriffigen Vaters und einer misshandelten Mutter, rebellische Klosterschülerin, missverstandene Patientin, außergewöhnliche Künstlerin und Traumwandlerin.

Die collagenhafte, in poetischer Prosa verfasste Ich-Erzählung findet auf verschiedenen zeitlichen und räumlichen Ebenen statt, die nicht klar voneinander zu trennen sind. Da ist die Psychiatrie, da ist die Klosterschule, in der Margarita alternative Versionen biblischer Szenen in den Sekretär der Oberin kerbt und wo mit ihr gar ein Exorzismus durchgeführt wird. Und da ist das Elternhaus, in dem ihre Zwillingsschwester wegen ihrer blonden Haare und der blauen Augen bevorzugt wird, so sehr, dass der Vater beschließt sich seine eigene Tochter zur Frau zu nehmen, während Margarita als Hausmädchen fungiert und nicht mit am Tisch essen darf, da ihr Anblick dem Vater schlechte Laune bereitet.

Diese Aneinanderreihung von Klischees über Rassismus, Sexismus und das Trauma sexueller Gewalt im engsten Familienkreise ist keineswegs plump. Im Gegenteil sind Margaritas Worte von grausamer Aktualität: „Pater Tarsicio hat mir nämlich immer gesagt, alles werde uns aus Liebe verziehen, wie die Liebe, die er angeblich für mich fühlt, wenn er mich in die Sakristei führt und ich weglaufe und es den Schwestern erzähle und sie sich empören und mir niemand glaubt und ich am Schluss diejenige bin, die ihn gereizt hat.“ Die Angewohnheit, Opfer sexueller Gewalt in Täterinnen zu verwandeln, ist noch immer eine ganz normale gesellschaftliche Praxis. Ganz im Sinne der kruden Logik des „Irgendwas wird sie schon gemacht haben“ wird Frauen die biblisch verankerte Rolle der rücksichtslosen Verführerin aufgezwungen.

Margarita setzt sich viel mit männlichen „Wahrheiten“ über Weiblichkeit auseinander. Wenn auch ihr Tonfall naiv scheint, sind es ihre Handlungen keineswegs. Sie nimmt die Rolle der Liebhaberin an, wenn sie sich mit dem Klostergärtner vergnügt und verfällt nie in Selbstmitleid, sondern rechnet stattdessen knallhart mit der Scheinheiligkeit derjenigen ab, die eigentlich für ihr Wohlbefinden verantwortlich sein sollten. Der beklemmenden Atmosphäre ihrer Käfige entflieht Margarita, indem sie sich eine bunte und zauberhafte Welt erträumt, in der weiße Kaninchen, grüne Hunde und ein Pegasus ihre Freunde sind. Sie spielt mit der Zeit, bewahrt ihre Jahre in einer Schublade auf, und mit der Sprache, versteckt die Betonung ihr verhasster Worte zwischen den Laken und schert sich nicht um Syntax. Die Übersetzung meistert diese sprachlichen Eigenheiten der Erzählerin im Übrigen souverän.

Auf den ersten Blick ist Margaritas Geschichte die eines gescheiterten weiblichen Widerstands, schließlich ist sie Gefangene in einer Psychiatrie, ihr Leben ist von Verlusten und Isolation geprägt. Doch die Traumausflüge in eine Welt der Selbstbestimmung und des Glücks sind ihre persönliche Form der Ermächtigung, die das Ausmaß und die Wucht des Traumas zumindest manchmal in Zaum hält.

NEIN HEIßT NEIN!

Während sich Frauen auf dem Podium im Studio I der Uferstudios Berlin angeregt über ein Frauentheaternetzwerk austauschen, das in elf lateinamerikanischen Ländern mit HIV-betroffenen Frauen arbeitet, kocht in der Küche die Suppe zum Abendessen für 100 angereiste Frauen aus verschiedenen Ländern. Auf Spanisch, Portugiesisch, Englisch und Deutsch werden von Unterstützer*innen die Redebeiträge flüsterübersetzt und vom Publikum in Vorschläge zu konkreten Interventionen umgewandelt.

Viel wird in diesen Tagen auf dem II. Internationalen Festival für Theater der Unterdrückten Frauen in Berlin diskutiert, aus verschiedenen Perspektiven und mit diversen Stimmen. Organisiert wurde das Festival im September 2017 unter dem Motto „Nein heißt Nein – Ending violence against woman“ von Ma(g)dalenas Berlin, einem transnationalen feministischen Kollektiv von Aktivistinnen, das ästhetische Debatten über Unterdrückungen anregen möchte, mit denen Frauen konfrontiert sind. Vor sieben Jahren startete das Kollektiv mit Aktionen, die das Schweigen über patriarchale Dynamiken brechen sollten – unter anderem durch Forumtheater in Frauenhäusern, Bildungsinsitutionen und im öffentlichen Raum.

Das internationale Netzwerk der Ma(g)dalenas nutzt das Forumtheater, die zentrale Methode des Theaters der Unterdrückten, das auf den brasilianischen Theatermacher Augusto Boal zurückgeht. Ziel des Forumtheaters ist die Transformation der Realität auf der Bühne, der Straße und im Alltag, sozusagen als Probelauf für die reale gewaltfreie Revolution. Es ist eine interaktive Form des Theaters, in dem das Publikum eine aktive Rolle einnimmt und auf der Bühne dargestellte Situationen der Unterdrückung, die oft geteilte Erfahrungen des Publikums widerspiegeln, selbst verändert. Das Aufzeigen, Durchdenken und Testen verschiedener Handlungs-möglichkeiten ermöglicht es, konkrete Handlungsoptionen für vergangene, aktuelle oder künftige Situationen zu proben. Es soll auch helfen, dem Gefühl der Machtlosigkeit entgegenzuwirken und ist daher ein empowerndes Werkzeug.

Im Jahr 2010 fanden die ersten „Laboratorien“ des transnationalen Netzwerks in Brasilien, Guinea Bissau, Mosambik und Indien statt. Unter der künstlerischen Leitung der Soziologin und Theatermacherin Bárbara Santos entstand im Jahr 2012 auch ein Ableger des Netzwerks in Berlin. Santos möchte auf Unterdrückungen von Personen, die sich als Frauen identifizieren, aufmerksam machen: „Wie können Frauen herausfinden, was es bedeutet, eine Frau in einer patriarchalen Gesellschaft zu sein? Was sind spezifische Fragen, die dieses Frausein mit sich bringt? Welche Nachteile gibt es und was braucht es für Alternativen?“ sind Fragen, mit denen sie sich im Forumtheater auseinandersetzt.

„Nein heißt Nein – No means No – No signífica No“ ist eines der legislativen Forumtheaterstücke des Festivals, inszeniert von Ma(g)-dalenas Berlin, das versucht, Antworten auf diese Fragen zu erarbeiten. Es herrscht kurze Stille, als das Licht ausgeht. Es werden viele verschiedene Szenarien dargestellt, in denen das Nein einer Frau von Freunden, Fremden oder den eigenen Partnern nicht gehört, ignoriert oder nicht respektiert wird. Die meisten können sich mit einem der Momente im Theaterstück identifizieren. Dann kommt die Frage: Wie können wir die eigenen Geschlechterkonstruktionen in der Gesellschaft de-mechanisieren? In der Diskussion werden verschiedene Vorschläge zu Interventionen gesammelt über die im Nachhinein mit der Unterstützung von Expert*innen abgestimmt wird, daher der Zusatz der Legislative.

“Wir atmen feministischen Kampf.“

Dieser und anderen Fragen wurde in „Laboratorien“ auf dem Festival nachgegangen und in eine Performance mit dem Titel „Nein heißt Nein” verwandelt, mit der die Teilnehmerinnen in einem Flashmob ihren Widerstand gegen eine Demonstration von Abtreibungsgegner*innen vor dem Brandenburger Tor zum Ausdruck brachten. Berlin ist als Stadt im Globalen Norden ein bedeutender Aktionsort für das Netzwerk, nachdem das erste Internationale Festival der Ma(g)dalenas im September 2015 in Argentinien realisiert wurde. Über die aktivistische Mobilität des Feminismus, die die Ma(g)dalenas symbolisch verbindet, bemerkt Alice Nunes, Ma(g)dalena aus Brasilien: „In Berlin zu sein, über die Ausbreitung unserer Bewegung und unseres Widerstands zu sprechen, aus der Theorie Praxis zu machen und selbstorganisierten intersektionalen Feminismus zu leben, lässt uns erkennen: Wir atmen feministischen Kampf.“

So ist die Diversität im Netzwerk hinsichtlich sozialer Klassen, Altersstufen und unterschiedlicher Kontexte die Basis für Austausch und intersektionale Praxis, und die Vermischung von Sprachen alltäglicher Bestandteil des Netzwerks, das in Lateinamerika am stärksten vertreten ist. Der Name „Ma(g)dalena” vereint daher das Spanische Magdalena und Portugiesische Madalena. Zwar sieht sich das Netzwerk mit finanziellen Herausforderungen und Visa-Komplikationen für gemeinsame Treffen konfrontiert, jedoch stärkt die Notwendigkeit und der Wunsch nach Kontinuität das Kollektiv. Bei dem viertägigen Berliner Festival waren Gruppen aus Brasilien, Guatemala, dem Baskenland und Spanien und Frauen aus der Ukraine, Guinea Bissau, Kolumbien, Argentinien und Polen anwesend. Gemeinsam mit dem Berliner Publikum erinnerten sie sich in einer begehbaren, interaktiven Ausstellung mit dem Titel „NosDuele56“ an die Mädchen, die am 8. März 2017 in Guatemala durch die Fahrlässigkeit der Regierung bei einem Brand in einem Waisenheim ums Leben kamen. Gemeinsam mit dem Anastácia-Kollektiv aus Rio de Janeiro wurden Karnevalslieder, in denen Vergewaltigung von schwarzen Frauen normalisiert thematisiert. Der Vorschlag zur Veränderung der immer noch andauernden Rhythmen der Kolonisation war, die Lieder mit neuen Texten zu versehen.

Die Wechselbeziehung zwischen Rassismus und Sexismus war auch Themenschwerpunkt der diesjährigen Veranstaltungen. Die Berliner Gruppe Kakalakas hinterfragte weiße Privilegien im Berliner Alltag und prangerte die strukturelle, kolonialistische Realität an, die in lateinamerikanischen TV-Soaps verbreitet wird. Anastácia Berlin thematisierte ihrem Forumtheaterstück „Schwarz, Black, Preta“ Rassismus, Homophobie und Diskriminierung gegenüber LBGTIQ und schwarzen Frauen am Arbeitsplatz und hinterfragte die Heteronormativität des westlichen Familienmodells. Luciana Talamonti, Ma(g)dalena Italia, war von der Performance der baskischen Gruppe Bihotzerre über die Tabuisierung von weiblicher Sexualität in verschiedenen Lebensabschnitten der Frau beeindruckt: „Es hat mich an Hexenverbrennung erinnert. Als sei es eine Gefahr, wenn eine Frau über ihren Körper Bescheid weiß. Das ist total aktuell!“

Ziel in all den verschiedenen Beiträgen des Festivals war es, praktischen, kollektiven Feminismus zu ermöglichen und transnationale Kollektivität zu leben. Dabei verbindet die unter-schiedlichen Frauen ihr politisches Anliegen. Sie sehen sich als Überlebende sexualisierter Gewalt, die lernen, „Nein“ zu sagen: „Wir wollen unsere Körper, Beziehungen und die Räume, die wir bewohnen, dekolonialisieren“, heißt es denn im ersten Ma(g)dalena-Manifest, das 2015 während dem I. Internationalen Ma(g)dalena Festival in Argentinien verfasst wurde.

Dieser politische Aktivismus und Feminismus, artikuliert in Theater und Kunst – oder Artivismus wie die Ma(g)dalenas sagen – hat in Berlin mehr als hundert Frauen mit revolutionärem Anspruch zusammengebracht. Frauen und Gruppen, die an „Laboratorien“ der Ma(g)dalenas teilnehmen, können Teil des Netzwerkes werden. Oder sie nehmen am nächsten Internationalen Festival teil, das auf dem afrikanischen Kontinent stattfinden soll. Auch als Reaktion auf die Ablehnung der Visa für die Einreise nach Deutschland für das Kollektiv Fuerza Magdalena Sahara aus Algerien. Zunächst aber kommen die Ma(g)dalenas wieder im Jahr 2018 beim V. Lateinamerikanischen Treffen des Theaters der Unterdrückten in Uruguay zusammen. Dort werden sie ihren „kreativen Widerstand“ gemeinsam fortführen.

NICHT MAL MEHR DER CAMPUS

Am Mittwoch, den 3. Mai wird der leblose Körper von Lesby Osorio gefunden. Frau, 22 Jahre alt, um den Hals an einer Telefonzelle festgebunden und in den Händen etwas, das nach einem Hundehalsband aussieht. Nichts scheint hier auf den ersten Blick zu stimmen. Doch im Mexiko des Jahres 2017 hätte es nicht weiter für Aufmerksamkeit gesorgt – nur ein weiterer Mord, Alltag – wäre da nicht ein entscheidendes Detail gewesen: Die Leiche von Lesby Osorio wurde auf dem Campus der Nationalen Autonomen Universität Mexikos (UNAM) in Mexiko-Stadt gefunden, einer der bedeutendsten akademischen Einrichtungen des Landes und Lateinamerikas.
Stunden später kommen erste Details ans Licht. Die Staatsanwaltschaft (PGJ) von Mexiko-Stadt veröffentlichte auf ihrem Twitter-Account etliche Kommentare, unter denen einer besonders auffiel: „Am Tag der Tat traf sich das Pärchen mit Freunden auf dem Campus, wo sie Alkohol tranken und Drogen nahmen“. In weiteren Tweets gab sie kund, dass Osorio ihr Studium aufgegeben hätte und bei ihrem unverheirateten Partner, einem Verwaltungsangestellten, wohnen würde. Von der Ermittlung, dem Einsatz oder gar der geschlechtsbezogenen Gewalt – nicht ein einziges Wort. Die für die Ermittlungen verantwortliche Behörde hielt es also für relevant, Details aus dem Privatleben des Opfers zu veröffentlichen, so als ob dies die Tat rechtfertigen und davon befreien würde, Antworten auf die Fragen zum tatsächlichen Tatmotiv zu liefern.

Zornig reagierten feministische Gruppen und hunderte Demonstrant*innen: „¡Ni una menos!“ – Nicht eine weniger!“

Jede Information, die öffentlich wurde, gab genug Gründe für eine Demonstration auf dem Universitätscampus. Zornig reagierten feministische Gruppen, unterstützt von weiteren Kollektiven und hunderten Demonstrant*innen, auf die Berichte der Staatsanwaltschaft: „¡Ni una menos!“ – Nicht eine weniger!“ Am häufigsten skandierten die Aktivist*innen „Staatsverbrechen“ und „Weil sie Frau war, wurde sie ermordet“. Der Protestmarsch endete am Tatort mit der Forderung, das Protokoll für Frauenmorde anzuwenden. Auch wurden die Behörden dafür kritisiert, irrelevante Informationen aus dem Privatleben des Opfers verbreitet zu haben. Letzteres war für die Studierenden und Online-Kommentator*innen ein eindeutiges Beispiel von Opferbeschuldigung. Die Sicherheit könne generell nicht von Überwachungskameras und Waggons nur für Frauen in der U-Bahn abhängen. Stattdessen forderten sie die Aufdeckung und das Ende derjenigen Machtnetzwerke, welche die Täter vor ihrer Strafe schützen und transparente Ermittlungen verhindern würden.

Nachdem auch öffentlich mehrere Institutionen der Universität als Orte der ständigen sexuellen Belästigung beschuldigt wurden, wo patriarchale Strukturen die geschlechtsbezogene Gewalt verharmlosen würden, kam der Bewegung teils heftige Gegenkritik aus den sozialen Netzwerken entgegen. Andere Studierende griffen die Demonstrierenden verbal als „Feminazis“ und „Übertreibende“ an.

Diese diffamierenden Aussagen beweisen die institutionelle Gewalt, die in Mexiko vorherrscht.

Diese diffamierenden Aussagen wie auch die erste Reaktion der Staatsanwaltschaft beweisen die institutionelle Gewalt, die in Mexiko vorherrscht. Frauen, welche die angeblich „geltenden“ Geschlechtsstereotype überwinden möchten, werden für die Gewalt selbst verantwortlich gemacht, der sie ausgesetzt sind. Die Opferbeschuldigung misst den Opfern nicht nur einen minderen Wert, sondern ist zudem ein Hindernis für den verfassungsrechtlichen Schutz der Frauenrechte, der Menschenrechte.

Durch den enormen Druck der Medien und Demonstrierenden wurden die Tweets auf Befehl des Obersten Staatsanwaltes von Mexiko-Stadt gelöscht. Dieser bezeichnete solche Publikationen als einen „großen Fehler“ und betonte, dass keine privaten Lebensumstände des Opfers die offizielle Ermittlung beeinflussen würden. Die Universitätsleitung kündigte, nachdem ihre Reaktion als inkonsequent mit den eigenen Programmen bezeichnet worden war, eine Kooperation zwischen einer auf geschlechtsbezogene Gewalt spezialisierten Expert*innengruppe und der Staatsanwaltschaft bei den Ermittlungen an. Jüngsten Berichten zufolge würde die Staatsanwaltschaft die Zusammenarbeit jedoch behindern.

In Mexiko-Stadt ist seit sechs Jahren der Frauenmord als schwere Straftat rechtlich anerkannt, die mit 20 bis 50 Jahren Haft bestraft wird. Damit ein Mord als Frauenmord anerkannt wird, muss eine der folgenden Bedingungen vorliegen: Das Opfer hat sexuelle Gewalt erfahren, ihm wurden entwürdigende Verletzungen oder Verstümmelungen zugefügt, es wurde vor der Tat bedroht oder sexuell belästigt, die Leiche wurde in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt, oder das Opfer wurde vor dem Todesfall um jegliche Kontaktmöglichkeit gebracht.

Allein in der Hauptstadt wurden zwischen 2013 und 2015 insgesamt 555 gewaltsam ermordete Frauen registriert, von denen offiziell nur 39 Prozent als Frauenmord anerkannt worden sind.

Allein in der Hauptstadt wurden zwischen 2013 und 2015 insgesamt 555 gewaltsam ermordete Frauen registriert, von denen offiziell nur 39 Prozent als Frauenmord anerkannt worden sind. Der Oberste Gerichtshof (SCJN) legt für die Ermittlungen eigentlich eindeutige Protokolle fest, die auf Kriterien des Interamerikanischen Menschengerichtshofs basieren. Doch zeigt die niedrige Anerkennungsrate zum einen die Inkompetenz der zuständigen Behörden, das Strafgesetzbuch sachgemäß zu interpretieren. Andererseits zeugt sie auch vom Widerstand der Institutionen, Frauenmorde als solche zu sehen und anzuerkennen. Einige Abgeordnete der Linkspartei Morena haben daher vorgeschlagen, das besondere Alarmbereitschaftsprotokoll bei geschlechtsbezogener Gewalt auszurufen, um konkrete Maßnahmen für eine Besserung der Frauenrechtssituation unternehmen zu können. Dieser Vorschlag wurde vom Senat jedoch abgelehnt.

Nichts von dem sollte uns überraschen. Mexikanerinnen haben gelernt, ständig einen Blick über die Schulter werfen zu müssen. Die geschlechtsbezogene Gewalt ist alltäglich. Nach Erhebungen des Nationalen Instituts für Geografie und Statistik (INEGI) wurden landesweit zwischen 2013 und 2015 im Durchschnitt sieben Frauen pro Tag ermordet. Einer der gefährlichsten Orte der Welt für Frauen ist der Bundesstaat Mexiko, wo laut der Städtischen Beobachtungsstelle gegen geschlechtsbezogene Gewalt (MexFem) durchschnittlich drei Frauenmorde pro Monat begangen werden. Konsequenz davon ist, dass in drei Bezirken das Alarmbereitschaftsprotokoll bei geschlechtsbezogener Gewalt ausgerufen wurde.

Obwohl Mexiko bekanntlich in einer Menschenrechtskrise steckt und Gewalt allgegenwärtig scheint, waren die akademischen Institutionen, öffentliche wie private, bisher Orte, zu denen die gewaltsamen Konflikte nicht vordrangen. Die UNAM, wie auch viele andere Institutionen, steht für eine Oase der Meinungsfreiheit in einem Land, in dem Journalist*innen einer ungeahnten Gewalt und Repression ausgesetzt sind. Sie ist ein Modell, wenn auch nicht ohne Fehler, für eine Gleichbehandlung der Geschlechter in einer tief vom machismo geprägten Kultur. Vor allem sollte die Universität ein sicherer Ort sein, fern von der Realität eines Landes, in dem Studierende straflos umgebracht werden. Die Ermordung von Lesby Osorio ist daher nicht „eine Zahl mehr“ in der Tageszeitung. Es ist ein schmerzhafter Schlag für die Mexikaner*innen, die einmal mehr auf den Straßen die Straflosigkeit anklagen – eine Straflosigkeit, die heute ohne Probleme auch durch die Türen der Universität dringt.

„DIE ERDE BEBTE“

„Niemals mehr wird sich auch nur eine von uns allein fühlen. Unsere Devise ‘Wenn sie eine angreifen, greifen sie uns alle an’ ist real und international geworden“, so enthusiastisch analysiert die brasilianische Feministin Analba Brazão die diesjährigen Demonstrationen, Diskussionen und Aktionen am internationalen Frauentag. Brazão, Aktivistin des nationalen Frauenverbandes Articulação de Mulheres Brasileiras, spricht gar von einer neuen Ära, einer Zeitenwende vor und nach dem 8. März 2017.

„Dies ist kein Tag, um Glückwünsche zu erhalten!“

Es scheint, als habe der Erfolg des Women’s March im Januar den Frauenbewegungen international Aufschwung verliehen, so als habe die kollektive Abscheu gegen den wieder erstarkenden offenen Sexismus in der Politik hunderttausende von Frauen weltweit mobilisiert – wenn sich auch der massenhafte Protest von mehr als einer Million Frauen am Tag nach der Amtseinführung von Präsident Trump nicht wiederholen ließ. Die größten und leidenschaftlichsten Proteste am Weltfrauentag fanden in Lateinamerika statt: In Argentinien, Brasilien, Chile, Mexiko und Uruguay protestierten Zehntausende gegen den voranschreitenden Konservativismus, der in den Regierungen Macri in Argentinien und Temer in Brasilien aktuell am deutlichsten wird.

Die meisten lateinamerikanischen Bewegungen schlossen sich dem Aufruf des Bündnisses Paro Internacional de Mujeres (Internationaler Frauenstreik) an, dem Organisationen aus 24 Ländern angehören. Dieser richtete sich gegen Machismo, Sexismus, Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, Lohnungleichheit und Feminizide. Dahinter steht die Idee zu zeigen, wie ein Tag ohne den Arbeitseinsatz von Frauen aussehen würde – eine Idee, die polnische Feministinnen in ihrem Widerstand gegen die Verschärfung der Abtreibungsgesetze 2016 sehr erfolgreich umgesetzt haben, die sich ihrerseits von der isländischen Bewegung 1975 inspirieren ließen.

In Uruguay schloss sich der zentrale Gewerkschaftsverband PIT-CNT dem Streikaufruf an und rief für die Zeit zwischen 16 und 22 Uhr den Generalstreik aus. In Montevideo demonstrierten mehrere zehntausend Frauen; sie protestierten besonders gegen häusliche Gewalt. Bereits am Montag vor dem internationalen Frauentag hatte das uruguayische Parlament öffentlich über die Situation der Frauenrechte im Land debattiert. Im Mittelpunkt standen die Pläne der Regierung zur Herstellung von mehr Gleichberechtigung und der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Während der Debatte kündigte Verteidigungsminister Jorge Menéndez an, am Weltfrauentag sämtlichen Mitarbeiter*innen, die an den Kundgebungen teilnehmen, bezahlten Urlaub zu genehmigen. „An diesem Tag müssen die Männer Aufgaben erfüllen, die sonst Frauen übernehmen“, sagte Menéndez.

In mehr als 60 Städten in Brasilien fanden Kundgebungen statt. Die brasilianischen Gewerkschaften hatten sich dem Aufruf zum Streik allerdings nicht angeschlossen. „Die Rente bleibt – Temer geht“, unter diesem Motto demonstrierten in São Paulo 30.000 Frauen. Die Schauspielerin Juliana Liegel betonte: „Als jemand, der im Kulturbereich arbeitet, bin ich auch hier, um die Rechte der Frauen gegen diese Rentenreform zu verteidigen, wir müssen auf die Straße gehen. Dies ist kein Tag, um Glückwünsche zu erhalten, sondern ein Tag, um sich zusammen zu schließen und unsere Rechte zu verteidigen.“

Wie in São Paulo machte sich auch in anderen Regionen die Frauenbewegung Forderungen weiterer politischer und sozialer Bewegungen zu eigen. Die Landlosenbewegung MST mobilisierte bereits in den Tagen vor dem 8. März rund 40.000 Landarbeiter*innen in allen Teilen des Landes. Rund 200 Aktivist*innen besetzten den landwirtschaftlichen Betrieb des Unternehmers Eike Batista. „Wir haben die Fazenda von Eike Batista besetzt, der wegen Bestechung in Rio de Janeiro im Gefängnis sitzt“, erklärte Esther Hoffmann aus der Leitungsebene des MST. Die vollständige Aufklärung aller Korruptionsfälle, der Rücktritt des nicht demokratisch legitimierten Präsidenten Michel Temer und die Verhinderung der von seiner Regierung geplanten Rentenreform – die gerade Frauen mit Mindestlohn besonders hart trifft – gehören zu den Hauptforderungen der sozialen Bewegungen in Brasilien.

In Rio de Janeiro wurde der Flughafen Tom Jobim – RioGaleão für zehn Tage nach der bekannten Aktivistin gegen häusliche Gewalt in Flughafen Maria da Penha umbenannt. Der geschäftsführende Direktor des Flughafens, Gabriel França, sagte, die Reaktionen auf die Hommage seien überwiegend positiv: „In dem Maße, in dem die Gesellschaft sich zum Besseren entwickelt, werden auch wir uns verbessern.“ Ganz das konservative Frauenbild vertrat dagegen Präsident Michel Temer in seinem Grußwort zum Weltfrauentag. Er lobte zunächst das Engagement der Frauen im Haushalt und bei der Kindererziehung, um dann anzuschließen: „Niemand ist mehr dazu geeignet, die Preise im Supermarkt zu kontrollieren als die Frau. Und niemand ist mehr dazu geeignet, die ökonomischen Veränderungen zu entdecken als die Frau, allein durch das Sinken oder Steigen des Haushaltsgeldes.“

In Argentinien hatte das Kollektiv “Ni una menos!” (Nicht eine weniger!), das sich besonders gegen Gewalt gegen Frauen und Feminizide wendet, zum internationalen Streik am 8. März aufgerufen. Obwohl sich tausende von Frauen auf der Plaza de Mayo und in anderen Landesteilen, darunter in mehreren Städten in Córdoba, versammelten, konnte “Ni una menos!” nicht in dem Maße mobilisieren, wie zum ersten Nationalstreik der Frauen in der Geschichte Argentiniens, als im Oktober des vergangenen Jahres Hunderttausende auf die Straße statt zur Arbeit gingen. In Buenos Aires kam es während einer Kundgebung vor der Kathedrale zu Übergriffen der Polizei, 20 Teilnehmer*innen wurden festgenommen.

„Die Erde bebte. Und es waren die Frauen, die sie zum Beben brachten“, schreibt die brasilianische Feministin Analba Brazão. „Lasst uns gemeinsam in eine neue Internationale schreiten.“ Ob der diesjährige 8. März 2017 tatsächlich eine Zeitenwende bedeutet oder nicht – die internationale Selbstermächtigung von Frauen und die massenhaften Proteste gegen den konservativen politischen Rückschritt stimmen hoffnungsvoll.

 

„EINMAL AUSLÄNDERIN, IMMER AUSLÄNDERIN“

Donnerstagnachmittag in einem Café im mondänen Berlin-Schöneberg. Esther Andradi isst noch ein Stück Kuchen, bevor das Gespräch losgeht. Die Journalistin und Schriftstellerin ist seit Jahrzehnten in den Metropolen Lima, Berlin und Buenos Aires zu Hause, doch aufgewachsen ist die argentinische Schriftstellerin auf dem Land. Etwas mehr als 2.000 Einwohner*innen zählt ihr Geburtsort Atavila, von dem aus sie zum Studium der Kommunikationswissenschaft nach Rosario ging. Noch vor dem Militärputsch zog sie 1975 nach Lima und arbeitete als Journalistin. Entstanden ist in diesen, von der politischen Gewalt geprägten Jahren, auch ihr erstes Buch Ser mujer en el Perú („Frau sein in Peru“), das sie zusammen mit der Dichterin und Feministin Ana María Portugal veröffentlichte – ein Pionierwerk zu diesem Zeitpunkt.

Das Thema Frausein bildet eine der Hauptachsen, an denen entlang Esther ihre Werke ausrichtet: „Wenn eine Frau erzählt, tut sie das immer auch mit ihrem Körper und aus der alltäglichen Erfahrung heraus, eine Frau zu sein. Deshalb schreibe ich auch als Frau, mit allem, was ich gelernt, genossen und verloren habe. Ich empfinde es fast wie meine Pflicht, eine Ausdrucksweise zu finden, die für alle Frauen gültig ist … Zum Beispiel gefällt es mir, dass ‚die Macht’ im Deutschen feminin ist, während el poder im Spanischen maskulin ist. Aber das hilft wahrscheinlich nichts.“ Amüsiert von ihrer Beobachtung hat Esther den Satz lachend zu Ende geführt, um ernst fortzufahren: „Der Sexismus existiert einfach in der Gesellschaft. Solange sich am Sexismus in der Gesellschaft nichts ändert, wird er in der Sprache und überall sein.“

Mit der Art und Weise, wie Esther mit dem Thema Sexismus und Frausein umgeht, scheint sie einen Nerv zu treffen. Wegen ihres Buchs Tanta vida (Buenos Aires, 1998) – von der Literaturwissenschaftlerin Gina Canepa als „femizentrischer Anti-Roman“ bezeichnet – werde sie immer wieder zu Konferenzen eingeladen, wie zuletzt nach Lausanne. Sie produziere keine Best-, sondern Longseller, konstatiert die Schriftstellerin scherzhaft. Esther ist im Leben und im Schreiben aber nicht nur eine Frau, und wird immer eine bleiben, sondern auch die permanente Ausländerin. Und seit sie zum ersten Mal fortging, auch in ihrem Heimatland. Denn: „Einmal Ausländerin, immer Ausländerin.“ Es ist das alte Sprichwort vom Kommunisten, das Esther für sich umgemünzt hat. „Man ist immer an der Peripherie verortet. Dabei ist es ein sehr interessanter Ort, das nicht vollständige Dazugehören zur Heimat“, sagt sie. Ihr Freund Sebald habe darin bestens mit ihr übereingestimmt. Der Allgäuer Schriftsteller W.G. Sebald, der 2001 in England verstarb, blieb literarisch, genauso wie die Argentinierin, bis zuletzt in seiner Muttersprache zu Hause.

Das persönliche Fremdsein hat großen Einfluss auf Esthers Umgang mit der Sprache. Während wir uns auf Spanisch unterhalten, kommt sie nicht ohne ein paar deutsche Wörter aus: „Es ist eine ständige ‚Auseinandersetzung’, wie ihr auf Deutsch zu sagen pflegt, eine ständige Konfrontation damit, wie ich mich ausdrücke. Sowieso glaube ich, ist das Vermeiden von ‚Selbstverständlichkeiten’ genau das, was Literatur ausmacht. Nur wenn man in einer anderen Sprache lebt, ist das Bewusstsein dafür noch größer. Nicht, dass man ständig übersetzen würde, aber man spürt diesen permanenten Drang, den Bedeutungen auf den Grund zu gehen.“ 1982 ließ sich Esther in Westberlin nieder. Doch schon in Peru sei sie als Ausländerin aufgefallen und immer wieder gefragt worden, wie lange sie denn bleibe, als sei sie eine Touristin: „Bis dahin hatte ich im Glauben gelebt, dass die spanische Sprache eine Gemeinsamkeit sei. Das ist sie zwar in vielen Dingen, aber nicht im Alltag. Meine Umgangssprache war immer absolut argentinisch.“

Ihre erste Erfahrung des Fremdseins habe sie deshalb schon in Peru gemacht, sagt Esther. Bis heute trügen manche ihrer Texte eine „peruanische Patina“. Einen ihrer Texte hat sie mit dem spanischen Wort für Artischocke alcachofa betitelt, was – abgesehen vom Inhalt – an sich schon eine Provokation sei: „In Argentinien sagt man alcaucil. Mir gefällt alcachofa aber besser. Auch in anderen Texten kommt so etwas vor. Ich weiß genau, warum ich diese Wörter gewählt habe. Man könnte es auch die Distanzierung von der eigenen Muttersprache nennen.“ Geradezu ins Schwärmen gerät die Schriftstellerin, wenn sie über die deutsche Sprache mit ihrem überreichen Vokabular zu sprechen kommt. Es sei daher ein Privileg, hier zu sein. Die Annahme, dass es heutzutage nichts Besonderes mehr sei, wenn Autor*innen einer anderen Muttersprache auf deutsch schreiben, wie zuletzt mit der Einstellung des Adalbert-von-Chamisso-Preises suggeriert wurde, findet allerdings nicht ihre Zustimmung.
2003, als Esther nach sieben Jahren in Buenos Aires erneut nach Berlin kam, erntete sie teilweise Verwunderung darüber, dass sie noch nicht auf Deutsch schrieb. Auf diese offensichtliche Ignoranz antwortete sie mit der Anthologie Vivir en otra lengua („Leben in einer anderen Sprache“), die Porträts und Erzähltexte spanischsprachiger Autor*innen in verschiedenen Ländern Europas enthält. Zwar sei das Phänomen an sich kein neues, aber ihr sei es eben nicht um die viel besprochene Exilliteratur, sondern um diejenigen gegangen, die aus irgendeinem persönlichen Grund nicht in ihrem Heimatland leben. Mit der ursprünglichen Idee, einen „Kanon iberoamerikanischer Autoren im Lande Humboldts“ zu schaffen, hatte sie im Jahr 2007 in Deutschland vergeblich nach Interessierten gesucht. Ein argentinischer Verleger habe sich hingegen hellauf begeistert gezeigt und ihr Konzept von Deutschland auf Europa ausgeweitet.

Das veröffentlichte Buch kam gut an. Die 1. Ausgabe ist vergriffen, eine zweite erschien 2010 in Spanien. „Das muss mit dem Denken im jeweiligen Land zu tun haben. Argentinien ist sehr nach außen orientiert. Deutschland dagegen war zu diesem Zeitpunkt immer noch viel mehr auf seine deutsche Literatur konzentriert. Jetzt gerade erst beginnt man sich mit Projekten wie ‚Stadtsprachen’ in Berlin für die anderssprachigen Autoren zu interessieren. Dabei kämpfen wir schon seit Jahren um Aufmerksamkeit.“ Die periphere Perspektive tritt auch in Esthers auffallendem Interesse für die deutsche Literatur außerhalb des Kanons zutage: „Seit ich hier lebe, interessiert mich die deutsche Literatur, von der man nicht erwartet, dass sie zur deutschen Literatur gehört.“ Eine der Autor*innen, die dür diese Überraschung steht ist May Ayim, die sie 1991 bei einem Symposium kennenlernte. Nach deren Selbstmord wenige Jahre später übersetzte Esther die Gedichte der Afrodeutschen ins Spanische. „Sie kommt weder aus einer anderen Sprache noch aus einer anderen Kultur, da sie in der deutschen Kultur erzogen wurde. Sie fand erst spät heraus, dass ihr Vater aus Ghana stammte und traf sich mit ihm. Aber seine afrikanischen Wurzeln waren nicht ihre eigenen. May Ayim war hier geboren, aber wegen ihrer Hautfarbe wurde sie ständig gefragt: ‚Woher kommst du? Wie lange bleibst du? Wann gehst du wieder?’ Von dieser Zerrissenheit sprach May Ayim in ihren Gedichten auf eine wunderbare Weise.“

Von Esther selbst wurden bislang nur wenige Bücher ins Deutsche übersetzt, neben Erzählungen in Anthologien die zweisprachige Miniaturen-Sammlung Sobre vivientes – Über Lebende. Gerade scheint sich das aber zu ändern. Eine deutsche Version des Romans Berlín es un cuento (deutscher Titel: „Die Erfindung Berlins“) ist in Arbeit, während das Buch Mein Berlin. Streifzüge durch eine Stadt im Wandel schon Ende letzten Jahres erschien. Bei der dafür zu treffenden Auswahl aus den Texten, die sie zwischen 1983 und 2014 fast monatlich für Zeitungen und Zeitschriften in Peru, Argentinien und Mexiko schrieb, sei ihr bewusst geworden, wie sehr sich nicht nur sie selbst, sondern die Stadt und das tägliche Leben verändert hätten, erzählt Esther. Und erinnert sich, wie sich das Vorhaben Politikkorrespondentin zu werden, bald nach ihrer Ankunft zerschlug, da Westberlin in den 80er Jahren politisch völlig uninteressant war: „Die Politik spielte sich damals in Paris ab, mit etwas Glück in Moskau, mit noch mehr Glück in Bonn, und mit noch viel mehr Glück in – wie es damals hieß – ‚Berlin Hauptstadt der DDR’. Das war, glaube ich, mein Glück. Denn sonst hätte ich nie diese Art des Schreibens entwickelt.“

Mit all den subjektiven Beschreibungen, humorvollen Schattierungen und manchem erhellenden Gedanken lässt sich anhand von Mein Berlin nachvollziehen, wie eine Argentinierin über drei Jahrzehnte hinweg einem lateinamerikanischen Lesepublikum die geteilte und wiedervereinte Stadt vermittelt hat: Ein Schiff namens „Amor“, Fahrraddemonstrant*innen, Tschernobyl und natürlich der Mauerfall haben hier ihren Platz, von Rosa Luxemburg über Prag als Zentrum Europas bis hin zum aufflammenden Rassismus Anfang der 90er Jahre ist die Rede. Und wie es so kommt, bringt Esther das Buch zurück zur Politik: Bei einer Lesung in einem Frauentreffpunkt in Treptow-Köpenick –„Tiefste DDR“ – sah sie sich überwältigt vom Ausdruck des heftigen Grolls, den die Thematik ihrer Texte hervorgerufen hatte: „Die Kritik war überhaupt nicht gegen mich gerichtet, aber ich fühlte die absolute Enttäuschung dieser Frauen. Sie sagten: ‚Wir haben auch viel gearbeitet, um die DDR aufzubauen, und plötzlich gab es dieses Land nicht mehr. Keine Arbeit, keine Kita. Wir sind überhaupt nichts wert.’“ Die Unsichtbarkeit dieses schwelenden Unmuts unter den Menschen, der kaum Räume findet, sich zu äußern, sieht Esther als Gefahr an. „In den 90er Jahren erzielten die Republikaner bis zu 20 Prozent der Stimmen (höchstes Ergebnis 1992: 12,8 Prozent in Neukölln, 14,4 Prozent in Wedding; Anm. der Red.), dann flaute es von selbst wieder ab. Trotzdem darf man mit bestimmten Dingen nicht leichtfertig umgehen. Uns wird gesagt, Deutschland stehe finanziell so gut da wie noch nie. Aber wofür wird das Geld ausgegeben? Das wird nicht gesagt.“
Und wofür würde sie es ausgeben? Keine Frage, für die Schulen.

 

VON DER STRASSE INS NETZ UND ZURÜCK

“Frauenrechte sind Menschenrechte” (Foto: Mirjana Mitrovic)

„Catalina, Sambuca… Sagt mal: Können Feministinnen eigentlich Sex haben?“ „Nein… also Sex… also was meinst du eigentlich mit Sex? Denn Sex ist doch nur, wenn eine Penetration durch einen Penis stattfindet, oder?“ „Klar, kein Penis, keine Penetration, kein Sex. Logisch.“ Unter dem Titel #PreguntasParaFeministas (#FragenAnFeministinnen) machen sich die (e)stereotipas, ein Kollektiv aus Mexiko-Stadt, auf Youtube über die stereotypen Ansichten über Feministinnen lustig. In der Serie finden sich weitere Fragen wie „Ihr als Feministinnen, seid ihr eigentlich alle lesbisch?“ oder „Und warum sind alle Feministinnen immer so verbittert?“. Doch nicht alles ist lustig bei den (e)stereotipas: Hinter der Kamera unterstützt von Marcela Zendejas nehmen Catalina Ruiz-Navarro und Estefanía Vela Barba (alias Sambuca) in einem anderen Video machistische Argumente gegen die „Demonstration gegen Gewalt gegen Frauen“ in Mexiko auseinander. Die Demonstration im November 2016 war unter dem Hashtag #25N in ganz Lateinamerika organisiert worden und hatte Tausende auf die Straße gebracht. Reaktionäre bis stupide Gegenargumente wie „Aber Männer leiden auch!“ durften dort natürlich nicht fehlen. Mit Zahlen, Fakten und einer Portion Satire begegnen die Journalistin und Poetin Ruiz-Navarro und ihre Kollegin Vela Barba – die unter anderem gerade in Yale ihre Doktorarbeit in Jura zur Weiterentwicklung des Strafrechts zur Durchsetzung von Frauenrechten entwickelt – den „Argumenten“.

Youtube als Plattform nutzen, um feministische Inhalte zu verbreiten und auf die Situation von Frauen in Mexiko aufmerksam zu machen – allein sind die (e)stereotipas damit nicht. Zahlreiche Kollektive in Mexiko nutzen das Web 2.0 und digitale Medien auf vielfältige und kreative Weisen, um die Zustände in dem stark machistisch geprägten Land anzuprangern. Dabei wird die Straße literarisch in Netz getragen: In schwarze Röcke und Tops gekleidet gehen Las Morras (Die Mädels) durch die Straßen Mexiko-Stadts und nehmen versteckt auf, wie sie von allen Seiten angepfiffen und belästigt werden. Gleichzeitig stellen sie ihre Aggressoren zur Rede – die wenigsten haben tatsächlich etwas zu sagen. Bei Youtube hatte das Video Las morras enfrentan a sus acosadores (Die Mädels konfrontieren ihre Belästiger) seit seiner Veröffentlichung im Mai 2016 über 1,3 Millionen Aufrufe. Wie die mexikanische Zeitung El Excelsior berichtet, erreichten die vier Frauen aufgrund des Videos Hasskommentare bis hin zu Todesdrohungen. An diesem Punkt zerbricht die Illusion vom Internet als offenem Diskussionsraum für alle. „Alles was außerhalb des Internets passiert, findet sich auch online wieder: Dazu gehören auch Stigmatisierung, Stereotypisierung, Gewalt. Oft wird diese Konvergenz nicht wahrgenommen“, erklärt die Hackerin Estrella Soria. Zusammen mit anderen Hacker*innen ist sie bei Tierra Común (Gemeinsames Land) und AutoDefensaDigitalFeminista (Digitale Selbstverteidigung von Feministinnen, ADDFEM) aktiv. Sie unterstützen Menschenrechts-Verteidigerinnen, Journalistinnen, Aktivistinnen und interessierte Frauen dabei, ihre Daten sicher zu verschlüsseln. Auch um möglichen Erpressungen vorzubeugen. „Als Frau in einer Stadt wie Mexiko-Stadt zu leben ist nicht das allereinfachste. Du musst dich behaupten, dich auf eine Weise in den Straßen bewegen, die es dir erlaubt zu überleben. Und wir müssen dieselben Aktionen und Strategien, die wir tagtäglich offline benutzen auch in die sozialen digitalen Netzwerke bringen: Solidarität, Widerstand, Organisation – um eine größere Schlagkraft zu entwickeln“, fährt sie fort. Zusammen mit ADDFEM will sie Frauen zu einem kritischeren und aufgeklärteren Umgang mit digitaler Technologie anregen.

Doch was tun, wenn die Hasskommentare und Anfeindungen losgehen? Ein Phänomen, das feministischen Aktivistinnen – und generell Frauen – weltweit begegnet. Dabei können die virtuellen Anfeindungen genauso „reale“ Folgen wie Kommentare auf der Straße haben. „Füttert den Troll nicht“, empfiehlt Anaiz von den Luchadoras (Kämpferinnen), die beim Internetfernsehsender rompeviento.tv Sendungen zu frauenspezifischen Themen produzieren. „Sie leben davon, dass du ihnen antwortest und genießen es. Außerdem begibst du dich in einen Kampf, der nie aufhört.“ „Genau, fallt nicht auf das Spiel herein. Aber: dokumentiert alles. Macht zum Beispiel einen Screenshot und meldet den Vorfall“, kommentiert ihre Kollegin Eve. Die von Estrella Soria angesprochene „Konvergenz“ zwischen offline und online sowie die Vorfälle der Hasskommentare und Gewalt auch im Internet machen eines deutlich: Eine Grenze zwischen beiden Welten – virtuell und „real“ – ist nur schwer zu denken. Für Soria gibt es die Trennung überhaupt nicht mehr. Aber was bedeutet das für Kollektive und Aktivistinnen? In einem gemeinsamen Projekt versuchen verschiedene Gruppierungen in Mexiko-Stadt eine Antwort zu finden – konkret geht es um die Verbindung von digitaler und körperlicher Selbstverteidigung. Neben den Luchadoras und anderen vornehmlich digital arbeitenden Kollektiven ist deshalb auch das Comando Colibrí dabei. Eine Gruppe von Frauen, die für Frauen und Trans* auf Verteidigung ausgelegte Kampfkurse gibt.

Was also kann das Internet für die organisierten Frauen in Mexiko leisten? „Wir können uns über die Netzwerke weiter verbinden. Und das tun wir. Doch innerhalb der Logiken, nach denen die sozialen Netzwerke und Web 2.0 derzeit funktionieren, ist das schwierig“, erzählt Estrella Soria. Sie wirbt gleichzeitig für eine pro-aktivere Positionierung: „Die Aneignung ist die Attacke. Wie können wir die Technologie zu unserer machen, um damit zu kreieren, was wir wollen? Es ist bestimmt nicht gut, immer in einem Zustand der Verteidigung zu sein.“ Ziel sei die Schaffung einer neuen Infrastruktur, in der die einzelne Person respektiert würde und es Frauen möglich wäre, wirklich frei zu kommunizieren.

Gleichzeitig zeigen Projekte wie die (e)stereotipas, Las Morras oder die Luchadoras, dass das Internet in Verbindung mit digitalen Medien durchaus als aktivistischer Raum genutzt werden kann. Auch Twitter bietet immer wieder Möglichkeiten: #25N vernetzte die Demonstrationen von Frauen gegen Gewalt auf dem Kontinent, der Hashtag #miprimeracoso (#MeineErsteBelästigung) schwappte von Brasilien nach Mexiko und gab tausenden Frauen eine Möglichkeit, ihre Stimme im virtuellen Raum zu erheben und sich zu solidarisieren. Zuletzt zeigte der #Womens- March im Januar eindrücklich, wie groß die Bewegung gegen Donald Trumps misogyne Politik weltweit ist. Auch in Mexiko-Stadt waren zahlreiche Menschen auf die Straße gegangen. Es bleibt jedoch noch einiges zu tun, um das etwaige politische Potential des Internets in Mexiko voll auszunutzen. Laut dem mexikanischen Nationalen Institut für Statistik und Geografie (INEGI) hatten 2016 nur rund 40 Prozent der Haushalte eine Internetverbindung. Bei über der Hälfte der Menschen ohne Zugang liegt dies laut Daten aus dem Jahr 2015 in ihrer individuellen ökonomischen Situation begründet. Auch Estrella Soria äußert Kritik an diesem Zustand und verweist auf die Untätigkeit des Staates, den Zugang auszubauen. Gleichzeitig ermahnt sie: „Ich glaube, das Internet ermöglicht einiges, aber es ist nicht das einzige Werkzeug. Würden wir aufhören uns zu organisieren, wenn das Internet weg wäre? Ich denke nicht. Wir würden neue Wege finden.“

 

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