// Ermordet, weil sie Lesben waren

„Sie wurden verbrannt, weil sie Lesben waren. Sie wurden verbrannt, weil sie arme Lesben waren. Sie wurden verbrannt, weil sie arme Lesben waren, die eine Gemeinschaft bildeten.“ So hieß es auf einer Demonstration der landesweiten lesbischen Vernetzung in Argentinien Mitte Mai. Am 5. Mai war im Stadtteil Barracas im Süden von Buenos Aires ein brutaler Brandanschlag gegen vier lesbische Frauen begangen worden. Drei Frauen starben. Menschenrechtsorganisationen und die LGBTIQ+-Bevölkerung in Argentinien haben keinen Zweifel daran, dass es sich um einen Lesbizid handelt. Die Regierung von Javier Milei stritt jedoch jeden Zusammenhang ab: „Mir gefällt es nicht, den Vorfall als Anschlag gegen ein bestimmtes Kollektiv zu definieren”, sagte Regierungssprecher Manuel Adorni während einer Pressekonferenz in der Woche nach dem Attentat.

Offen queerfeindlich positionierte sich auf X (ehemals Twitter) dagegen Nicolás Márquez, der rechtsextreme Autor einer Biografie Mileis: „Dann werd halt keine Lesbe, dann töten sie dich auch nicht. Ein guter Moment, Heterosexualität einzufordern.“ Er hatte schon vorher bei einem Radiointerview behauptet, der Staat würde Homosexualität fördern, um selbstzerstörerisches Verhalten zu belohnen. Genau solche Hassreden und Taten wie den Lesbizid in Barracas kann man nicht voneinander trennen.

Es zählt fraglos zur Aufgabe staatlicher Institutionen, queere Menschen zu schützen. Leider ist das auch in Deutschland keine Selbstverständlichkeit – die Rechte queerer Personen müssen immer wieder verteidigt werden. Ab November wird endlich das neue Selbstbestimmungsgesetz das diskriminierende Transsexuellengesetz von 1980 ersetzen. Viele Gruppen kritisieren jedoch, dass es sich dabei nur um einen Minimalkompromiss handelt und bei der Diskussion transfeindlichen Stimmen zu viel Raum gegeben wurde.

In Argentinien existierte ein ähnliches Gesetz bereits seit 2012. Jetzt werden die Fortschritte im Bereich Geschlechtergleichstellung und Antidiskriminierung von LGBTIQ+-Personen jedoch bedroht: Die gendergerechte Sprache wurde in der öffentlichen Verwaltung verboten, die Arbeit des Ministeriums für Frauen, Gender und sexuelle Vielfalt wurde eingestellt und weitere für die LGBTIQ+-Bevölkerung entwickelte Initiativen wurden abgeschafft. Der queerfeindliche Präsident Milei soll am 24. Juni in Hamburg den Preis der rechtslibertären Hayek-Gesellschaft erhalten. Bundeskanzler Olaf Scholz wird sich mit ihm treffen und ihn damit weiterhin als legitimen Arbeitspartner anerkennen, obwohl er nach dem Handbuch eines autoritären Führers handelt: Zuerst betreibt er die Rücknahme von Rechten einzelner Gruppen, um danach Rechte und Freiheiten möglichst noch weiter einzuschränken – und ihm selbst im Gegenzug weitestgehende Macht zu verschaffen.

Soweit ist es in Deutschland noch nicht, aber die Fassade der Progressivität bröckelt auch hier: Die EU-Agentur für Grundrechte stellte im Mai fest, dass queerfeindliche Gewalt in Deutschland in den vergangenen Jahren gestiegen ist. Gleichzeitig gewinnt eine rechte Partei wie die AfD, die ein konservatives, eingeschränktes Familienmodell fördert und eine eindeutige Bedrohung für das Leben von LGBTIQ+-Menschen im Land darstellt, einen immer größeren Einfluss auf den politischen Diskurs und legt bei Wahlen zu. So könnten Errungenschaften wie eine größere Selbstbestimmung von queeren Menschen, die Ehe für Alle oder die Abschaffung des Paragraphen 219 wieder in Gefahr geraten. Mit der Anerkennung von Rechten ist der Weg definitiv noch nicht zu Ende. Um ein gutes Leben für uns alle in der Vielfalt, in der wir existieren, zu ermöglichen, bedarf es dauerhafter Anstrengungen von so vielen wie möglich.

Überleben durch radikale Zärtlichkeit

Lia García Künstlerin, Poetin, Pädagogin und Aktivistin für die Rechte der LGBTIQ-Gemeinschaft in Mexiko-Stadt (Foto: privat)

„Ich bin eine Frau des Wassers, sagen meine Vorfahrinnen. Tochter von Oshún, der Mutter aller Flüsse, die fließen und sterben, indem sie zum Meer werden, Wasser – Yemayá. Das Wasser ist mein Zufluchtsort vor all der Traurigkeit, all der Wut, hier fühle ich mich frei; alles fließt in ihm, genauso wie in meinem Körper und meinem Geschlecht. Alles ist transparent, wie ich und meine Schwestern, die wir täglich unser Gesicht zeigen trotz der Beleidigung und des Spotts darüber, dass wir vor den durch das koloniale Patriarchat aufgedrückten Normen fliehen.“ So stellt sich Lia García im Text „Durch Meere überleben wir: Metaphern des trans Schmerzes“ vor, der 2020 im Sammelband Tsunami 2 veröffentlicht wurde.

Lia García ist Künstlerin, Poetin, Pädagogin und Aktivistin für die Rechte der LGBTIQ-Gemeinschaft in Mexiko-Stadt. Sie hat in fast 20 Jahren der Arbeit ihre ganz eigene Verknüpfung von Performancekunst, Poesie und Pädagogik entwickelt, um Menschen auf emotionaler Ebene anzusprechen und Verbindung zu denen herzustellen, die im Alltag oft eine Bedrohung für sie darstellen. Ihre Form zu arbeiten führt sie unter anderem auf ihr Studium der Pädagogik an der UNAM (Universidad Nacional de México) zurück. Währenddessen lernte sie anarchistische und dekoloniale, feministische Gruppen kennen und schloss sich mit Kunststudierenden vom benachbarten Institut zusammen, um politische und künstlerische Räume für queere Personen zu öffnen und von dort aus auf die Gesellschaft einzuwirken.

Auf die Gesellschaft einwirken Lia García bei der pädagogischen Arbeit (Foto: privat)

Ihre Performances spielen mit Berührung und Poesie. Sie geht zwischen den Anwesenden umher, berührt ihre Gesichter und Arme, schaut ihnen in die Augen, trägt persönliche, emotionale Texte vor, nimmt das Publikum mit auf eine intime Reise in ihr eigenes Inneres und führt sie dabei gleichzeitig mehr zu sich selbst. Nicht selten beginnen einige zu weinen. „Lia hat die Fähigkeit, den Raum, den sie betritt, auf magische Weise zu verwandeln. Ihre Werke sind kraftvoll, tiefgehend und vermitteln starke Emotionen“, erzählt ihre Kollegin und langjährige Freundin Melina Castillo Morales LN im Interview. „Sie hat eine Art zu sein und das Leben zu betrachten an sich, die ansteckt. Mit ihr gibt es keine Oberflächlichkeit, es geht immer voll Intensität in die Tiefe.“

Lia Garcías Performances bringen Dinge zum Ausdruck, die intellektuell schwer vermittelbar sind. Valerie E. Leibold sieht in diesem Fokus auf Affekte und Emotionen in einer Analyse für die Zeitschrift Extravio einen Anstoß zur „kollektiven, dekolonisierenden Transformation“. Indem sie in ihren Per­formances vor allem Gefühle anspricht, entfernt sie die Anwesenden vom analytischen, bewussten Denken, das normalerweise als einzige Quelle legitimen Wissens anerkannt wird, und führt sie hin zu einem affektgeleiteten Erleben der Begegnung.

Die Performances sind dabei so vielfältig wie die Künstlerin selbst. Es gibt keine Eindeutigkeit in ihrer Arbeit, sie soll in der Gesellschaft verankerte Bilder aufbrechen. Risse und Brüche im System zu erzeugen, ist ein Ziel, das sich durch Lias Leben zieht. Daher erzählt sie LN auch gern eine Anekdote ihrer Großmutter Virginia aus Oaxaca: „Sie sagte immer, wenn ein Spiegel zerbräche, müsse ich ihn zusammenfegen und Wasser und Salz darüber schütten, um keine sieben Jahre Unglück auf mich zu ziehen. Doch eines Tages antwortete ich ihr, ich wolle den zerbrochenen Spiegel nicht wegwerfen. Ich mochte es, mich vervielfacht zu sehen, in Teile zerstückelt, denn ich bin viele Dinge, ich bin in einem kontinuierlichen, lebendigen Prozess der Selbsterkenntnis und Dekolonisierung, eine Vielfalt an Möglichkeiten.“

„Ein konstanter Ausnahmezustand“

Lia Garcías Arbeit muss in ihrem spezifischen, regionalen Kontext verstanden werden. Der mexikanische Alltag für eine trans Frau ist einer der konstanten Bedrohung und Gewalt. Das internationale Trans Murder Monitoring-Projekt registrierte im vergangenen Jahr 52 Morde an trans Personen in Mexiko. Auch das Leben von Menschen wie Lia García ist von Diskriminierung und Gewalt geprägt: „Wir trans Frauen leben in einem konstanten Ausnahmezustand“, beklagt sie. Die durchschnittliche Lebenserwartung von trans Frauen in Mexiko liegt laut einem Bericht der Interamerikanischen Menschen­rechtskommission (CIDH) von 2015 bei nur 35 Jahren.

In vielen Bundesstaaten Mexikos gibt es große Fortschritte in Bezug auf Gesetze zu Themen wie der Identitätsanerkennung, Zugang zu angemessener Gesundheitsversorgung oder Diskriminierungsprävention, wie ein weiterer Bericht der CIDH 2018 feststellte. Die gesetzlichen Bedingungen für trans Personen sind in vielen Teilen des Landes besser als noch bis vor kurzem in Deutsch­land. Doch der Wandel in der Gesellschaft schreitet langsamer voran. „Auch wenn der Staat uns mehr Rechte zugesteht, gibt es nach wie vor ein großes Problem der geschlechtsbezogenen Gewalt im Kulturellen“, so die Aktivistin. Trans Frau in Mexiko zu sein bedeutet, dass Trauer, Wut und Schmerz zum Leben dazugehören. Doch Lia lässt nicht zu, dass ihr Leben nur darauf beschränkt wird. Auch dazu passt eine Geschichte ihrer Großmutter Virginia über die Entstehung von Perlen, die Lia in „Durch Meere überleben wir“ nacherzählt: „Perlen, meine Kinder, sind keine Sache von Eleganz. Perlen verstecken ein Geheimnis in sich, das nur die enthüllen können, die wie wir gelernt haben, das Leben mit den Augen voller Wasser zu sehen. Damit eine Perle aus einer Muschel heraus geboren wird, müssen zehn Jahre vergehen. Um die zehn Jahre braucht sie, um die Bakterien, die sich durch ihr zerbrechliches, schwammiges Inneres gebohrt haben, mit Perlmutt zu überziehen, um sie einzukapseln und ihre Wunde in eine Perle zu verwandeln.“ Virginia sammelte als junge Frau Perlen in Puerto Ángel, Oaxaca. Es ist Tradition der Frauen der Familie, Perlen aufzubewahren und weiterzugeben, als Symbol dafür, „dass sie gelernt haben, aus ihrem Schmerz ihren wertvollsten Schatz zu machen.”

Heute trägt auch Lia gerne Perlen, die sie mit ihren Vorfahrinnen und mit dem Meer verbinden. Sie hat sich ihre Weiblichkeit dafür selbst aneignen müssen. Das Verknüpfen von Gefühlen wie Trauer oder Wut mit Zärtlichkeit und Widerstand ist zentraler Aspekt ihrer performativen Arbeit. Sie möchte Menschen Türen öffnen, um sich von den Zwängen patriarchaler Männlichkeitsnormen und der kolonialen Geschlechterbinarität zu befreien. Denn wie an vielen Orten der Welt gab es auch schon im Mexiko vor der Kolonisierung andere Geschlechtskonzepte als die heute dominanten. „Wir (trans Personen) wurden als göttlich betrachtet, doch dann kam die Kolonisierung und alles, was (den Europäeri*nnen) seltsam schien, wurde zur Sünde und musste ausgelöscht werden. Trans Frau zu sein bedeutet, sich in einem konstanten Prozess des Heilens kolonialer Wunden zu befinden“, erklärt Lia. Sie versteht die Gewalt als Teil der kolonial geprägten Gesellschaftsstrukturen, von denen auch cis Männer, die die Mehrheit der Täter bilden, in ihrer Identität beeinflusst sind. Daher arbeitet sie bewusst mit dieser Zielgruppe.

Radikale Zärtlichkeit In Performances tritt Lia García in die Nähe der Zuschauenden (Foto: privat)

Zärtlichkeit ist der Schlüssel ihrer Performances. Ein Gefühl, das für viele cis Männer in Mexiko im Alltag versperrt bleibt und sie verun­sichert – umso mehr, wenn es in Verbindung mit einer trans Frau steht. Auch Lia beobachtet dies in ihrem Leben. „Einen Mann in Verbindung mit Zärtlichkeit zu bringen, kann mich das Leben kosten“, sagt sie. „Die gesellschaftlichen Kosten davon, in Lateinamerika eine trans Frau zu lieben, sind so hoch, dass dieser Mann die Möglichkeit, sich zu verändern, im Keim ersticken muss.“

Dennoch oder vielmehr gerade deshalb bringt Lia ihre Performances auch an Orte wie Polizeischulen und Gefängnisse, Orte, an denen Männlichkeit geprägt und Macht stabilisiert wird. Die Arbeit mit genau den Männern, die oft am gewaltvollsten handeln, insbesondere mit jenen, die zugleich durch koloniale Strukturen marginalisiert werden und entsprechend in Polizei und Gefängnissen überrepräsentiert sind, hält Lia für unabdingbar. „Andere Feministinnen haben sich von dieser Arbeit abgewandt, sie haben uns trans Frauen die Arbeit mit Männlichkeiten überlassen“, kritisiert sie. Doch sie könnten sich das nicht leisten. Oft werden ihre Erfahrungen im Kontext von Feminismen, die durch cis Frauen geprägt sind, nicht ausreichend beachtet oder gar aktiv ausgeschlossen. Doch es gibt Bewegung in die richtige Richtung: „2005 war es noch ungewöhnlich, dass eine trans Frau von sich sagte, sie sei Feministin. Feminismus und der Kampf von trans Personen hatten noch wenig Kontakt miteinander. Mittlerweile finden mehr Gespräche statt.“ Ein Prozess des Lernens und auch einer des Verlernens von Transfeindlichkeit, der noch lange nicht abgeschlossen ist.

Transfeindlichkeit verlernen Ein langwieriger Prozess (Foto: privat)

Lias eigens entwickeltes Konzept radikaler Zärtlichkeit nutzt es aus, dass Überraschung und Emotionen Menschen dazu bewegen können, auch tief verankerte Muster und Denkweisen zu verlernen. Das solle zeigen, dass andere Begegnungen möglich und lohnend sind. Lia bezeichnet diesen Prozess daher als „politische Verfüh­rung“ – ganz nach dem Vorbild der Meerjungfrau, einer von Lias Identitätserweiterungen, wie sie die Figuren, in die sie sich in ihren Performances verwandelt, nennt. Meerjungfrauen sind ambivalente Wesen, die vielen Angst einflößen, da sie mit ihrem Gesang Menschen verzaubern und den Verstand verlieren lassen. Den Verstand zu verlieren in dem Sinne, sich auf Empfindungen einzulassen, die wir gelernt haben abzuwehren, ist genau das Ziel, auf das Lia hinarbeitet.

Weil die Meerjungfrau und die Braut im Hochzeitskleid zwei Figuren sind, die seit vielen Jahren Teil ihres Repertoires sind, ist Lia García auch als la novia sirena („die Meerjungfraubraut“) bekannt. Ihre Figuren sind Teil populärer Rituale wie das Feiern des 15. Geburtstags einer jungen Frau (Quinceañera) oder die Hochzeit. Wenn sie sich diese Figuren aneignet, knüpft sie einerseits an allgemein verbreitete emotionale Verbindungen zu bestimmten Bildern an, um Gefühle von Gemeinschaft und Liebe anzusprechen. Andererseits destabilisiert sie die normative Bedeutung dieser Bilder indem sie als trans Frau sich das entsprechende Kleid anzieht und die anwesenden Personen ihre eigenen Annahmen hinterfragen lässt. „Wenn eine trans Person in einem Kontext wie diesem umarmt wird, geliebt wird, gewollt wird, ist das sehr kraftvoll“, berichtet sie, „ich wollte schon immer angeschaut werden, gesehen werden, das Gefühl haben, dass alle Blicke auf mir ruhen wie auf einer Braut. Angeschaut und erkannt zu werden ist in dieser Gesellschaft ein Risiko, und gleichzeitig ist es ein politischer Akt zu sagen, „ich existiere, hier bin ich!“ So erfüllt sich Lia durch ihre Performances Wünsche, die ihr ansonsten durch gesellschaftliche Normen verwehrt bleiben und verhilft sich zu etwas Gerechtigkeit.

Eine starke Abgrenzung zwischen Arbeit und Alltag spüre sie jedoch nicht: „Wenn ich meine Performances vorführe, schlüpfe ich in keine Rolle, das bin komplett ich“. Nicht nur ihre Identitätserweiterungen begleiten sie konstant: „Die Zärtlichkeit hat mir geholfen, zu überleben, denn ich muss kontinuierlich mit den Blicken, Beleidigungen und Spekulationen zurechtkommen. Zwischen anderen und mir über meine Emotionen Verbindung herzustellen und ihnen dabei die ihren zu spiegeln ist Basis meines alltäglichen Überlebens. Schon den Busfahrer nett zu grüßen, stellt einen Bruch mit den Erwartungen der Leute dar. Den eindringlichen Blick einer Person in der Öffentlichkeit zu erwidern, verändert das ganze Narrativ. Die andere Person stellt sich durch mich infrage, anstatt nur mich infrage zu stellen.“ So viel Haltung in unangenehmen und potenziell gefährlichen Situationen aufzubringen, erfordert viel Kraft und ist auch mit Müdigkeit und Einsamkeit verbunden. Zärtlichkeit prägt jedoch auch Lias Umgang mit sich selbst. „Ich umarme die ganze Bandbreite dieser Gefühle“, sagt sie, „ich leiste auch dadurch Widerstand, dass ich heile, und heile dadurch, dass ich weiter Widerstand leiste“.

Boy Magya gegen das Monster im Schrank

Boy Magya ist das Alter Ego des jungen Mario. Der Doktorand der Archäologie an der Bundesuniversität Pernambuco (UFPE) verfügt, seitdem er den magischen Kristall der Göttin Iris fand, über Superkräfte. Der Name Boy Magya kann ins Englische als „Magic Boy“ („Zauberjunge”) übersetzt werden und ist eine Anspielung auf die Schreibweise magia („magisch”) auf Portugiesisch. Die Kräfte des Kristalls werden aktiviert, wenn Mario mit dem Leben zufrieden ist, Spaß hat und sich sehr glücklich fühlt. Er kann dann alles verwirklichen, was er sich vorstellt. Als schwules Kind, das in den 1990er und 2000er Jahren aufgewachsen ist, spielt er auf zahlreiche Cartoons, Animes und Serien an, die die Herzen von Generationen geformt haben, um sich seinem schlimmsten Feind zu stellen: dem Faschismus, der in den politischen Bewegungen zur Unterstützung des ehemaligen Präsidenten General Ostra präsent ist.

Der Comic Boy Magya contra o monstro do armário („Boy Magya gegen das Monster im Schrank”) wurde von den Drehbuchautoren Chris Gonzatti und Gui Smee sowie dem Illustrator Danverdura erstellt und 2023 veröffentlicht. Nach dem Erfolg des ersten Abenteuers erschien das zweite unter dem Titel Boy Magya: Eva Angélico (Wortspiel, das zusammen „evangelikal” bedeutet). In dieser zweiten Ausgabe kämpft Boy Magya mit seinen Verbündeten gegen einen religiös-fundamentalistischen Evangelikalen namens Edi Macêto, der mit einem falschen „LGBTQIA+-Heilmittel“ einen bösen Plan ausheckt. Der Name Edi Macêto ist eine ironische Anspielung auf den millionenschweren Geschäftsmann und Gründer der Universalkirche des Königreichs Gottes, Pastor Edir Macedo. Macedo kontrolliert derzeit wichtige Medienunternehmen in Brasilien. Um die Handlung des Comics zu entwickeln, sammelte Chris Gonzatti mehr als 150 Berichte von LGBTQIA+-Personen, die in Folge der Ausübung ihres Glaubens Gewalt erlebt haben.

Chris Gonzatti ist promovierter Kommunikationswissenschaftler, Universitätsprofessor und Forscher. 2022 veröffentlichte er das Buch Kann eine LGBTQIA+-Person in Brasilien ein Superheld sein?, in dem er das problematische Verhältnis zwischen brasilianischen rechten Gruppen und Geschlechtervielfalt sowie Fälle von Zensur analysiert.

Gui Smee hat seit 2013 mehr als 20 Comic-Titel veröffentlicht. Er widmet sich auch anderen Arten der Inhaltserstellung, Kuration und Lehre rund um Comics und Lesen. Er hat einen Master in Erinnerung und Kulturgüter und ist derzeit Doktorand in Kommunikationswissenschaften mit Fokus auf Comics.

Danverdura ist Illustrator und beschäftigt sich seit 2011 mit Konzeptkunst. Mit seiner Leidenschaft für 2D-Animationen nimmt er Referenzen aus der Natur und Science-Fiction auf, um mit vielen Details und Feinheiten in seinen Kompositionen charismatische und fesselnde Welten zu erschaffen.

„Nahrung für die Seele und den Magen“

Kunst, Gesundheit, Gemeinschaft Afrodiverso bietet einen afrofeministischen Raum in Havanna (Foto: Andrea Schmidt)

Ein älteres Ehepaar steht in der Küche und singt. „Seit über 40 Jahren singe ich ihr jeden Tag ein Liebeslied“, erzählt der Ehemann. Sie lächelt und stimmt mit ein. Neben ihnen trinkt Argelia Fellove Hernández aus einer kleinen Tasse Kaffee. Immer sonntags bringt Argelia ihnen eine nahrhafte Mahlzeit. Diese hat Argelia zusammen mit Oyantay in ihrer Küche einige Straßen entfernt gekocht. Auch die beiden verbindet Liebe, neben der romantischen auch die zur Community. Das nicht-binäre Paar hat die Organisation Afrodiverso gegründet.

„Kunst, Gesundheit, Gemeinschaft“ sind die drei Grundsätze der zivilgesellschaftlichen Initiative in dem Wohnviertel Lawton in Havanna. Argelia und Oyantay verfolgen mit der antirassistischen und afrofeministischen Initiative das Ziel, Schwarze Angehörige der LGBTIQ-Community sichtbarer zu machen und zu empowern. Sie organisieren Drag-Performances, klären über sexuelle Gesundheit auf, machen Bildungsarbeit für Kinder und verteilen umsonst Essen an bedürftige Personen. So auch an diesem Sonntag: Argelia verabschiedet sich und geht zur nächsten Adresse. Die Essensübergabe an der Tür ist routiniert, aber freundlich. Während ein älterer Herr seine Portion in der Küche umfüllt und die Dosen zurückbringt, zückt Argelia ein Notizbuch und trägt ein, wer heute versorgt wurde. Inzwischen haben sich 58 Menschen mit Bitten um Unterstützung bei Afrodiverso gemeldet. Weil nicht immer alle da sind, versorgt Afrodiverso jeden Sonntag etwa 50 bis 55 Menschen mit einer gesunden und reichhaltigen Mahlzeit.

Auf der Straße wird Argelia von Nachbar*innen gegrüßt, das Vertrauen und der Respekt sind spürbar. Wie von dem älteren Ehepaar wird Argelia bei einer weiteren Essensübergabe ins Haus hineingebeten. In dem Zimmer sitzt eine ältere Frau auf ihrem Bett und schildert ihre Schmerzen. Argelia erkundigt sich bei der jüngeren Frau, die sie pflegt, welche Medikamente ihnen fehlen. In den staatlichen Apotheken herrscht Mangel und aus den privaten Läden können sich die meisten Menschen nicht einmal normale Schmerzmittel leisten. Von Tür zu Tür zeichnet sich ein immer deutlicheres Bild ab: Die Menschen, die Afrodiverso um Unterstützung gebeten haben, sind vor allem Rentner*innen.

Als alle Portionen verteilt sind, läuft Argelia zurück zum Haus. Oyantay ist dabei, Töpfe zu spülen. Mittags haben sie mithilfe von Unter­stützer*innen aus der queeren Community bereits vor dem Haus Essen ausgegeben. Die Essenslieferung machen sie nur für die 23 bis 25 Menschen, die den Weg durch die Nachbarschaft nicht mehr selbst laufen können. Sie nennen ihr Projekt La Caldoza Diversa (die diverse Caldoza-Suppe), in Anlehnung an das Suppengericht Caldoza Cubana.

Queeres Empowerment trifft Küche für Alle

Es begann 2019 mit einer Art „Küche für alle“. Während der Coronapandemie änderte sich die Funktion ihrer Arbeit und Afrodiverso leistete zudem soziale Hilfe. Allerdings verschlechtert sich die ökonomische Situation in Kuba seit dem Ende der Pandemie weiter. So entschieden Argelia und Oyantay, weiterhin Menschen, die vulnerablen Gruppen angehören, zu unterstützten. Es kommen auch alleinerziehende Mütter oder Menschen mit Krankheiten oder Behinderungen. Doch ob in der Hauptstadt Havanna oder einem Dorf im Osten Kubas – wenn Menschen auf Kuba von vulnerablen Gruppen sprechen, geht es oft um Rentner*innen.

Die Rente auf Kuba beträgt in der Regel 150 Pesos pro Monat. Nach dem staatlichen Wechselkurs sind das etwa zwölf Euro, nach dem weit verbreiteten Straßenwechselkurs etwa fünf Euro. Die Rentner*innen leiden besonders unter der Inflation, die vergangenes Jahr 30 Prozent betrug, und den kleiner werdenden Mengen an Lebensmitteln, die über das staatliche System der Verteilung, auch libreta genannt, zur Verfügung stehen. Die Situation verschärft sich zusätzlich dadurch, dass immer mehr junge Menschen das Land verlassen. Zurück bleiben die Älteren. Doch in dem Land, das für seine medizinischen Fachkräfte bekannt ist, mangelt es an Pflegeangeboten und -kräften.

Für noch mobile und gesunde Senior*innen bietet der Staat in den „Häusern der Großeltern“ Tagesbetreuung an. Wer jedoch krank ist und Pflege bedarf, lebt zuhause. Das im Jahr 2022 verabschiedete neue Familiengesetz nimmt für die Pflegearbeit Familienangehörige in die Pflicht. Nur wenn es keine Familie gibt, leistet der Staat Sozialhilfe.

„Eigentlich ist es nicht Aufgabe der Zivilgesellschaft, aber wir machen es trotzdem, aus Empathie” Mit Küche für Alle gegen Altersarmut (Foto: Andrea Schmidt)

Oyantay und Argelia sitzen in ihrem Wohnzimmer. Auf einem Sticker in Regenbogenfarben, der am Kühlschrank klebt, steht: „Christus liebt mich.“ Sie erzählen begeistert vom Familiengesetz, denn es legalisiert die gleichgeschlechtliche Ehe, stärkt die Rechte von Frauen und erhöht den Schutz bei Gewalt. Das Gesetz stärkt auch die Rechte von älteren Menschen und Pflegekräften. Die beiden erklären, dass die pflegende Person oft mit im Haus lebt. Die pflegebedürftige Person habe jetzt das Recht zu entscheiden, wer sie pflegt und auch die Möglichkeit, ihr Haus an die pflegenden Angehörigen zu vererben.

Neues Gesetz bringt teils Verbesserungen für ältere Menschen

Mit dem Gesetz delegiert der Staat allerdings auch die Verantwortung für die Pflegearbeit an die Familien. Das heißt angesichts patriarchaler und sexistischer Arbeitsteilung und Rollenbilder: an Frauen. Das Gesetz habe mit Blick auf die Pflegeverhältnisse nicht groß etwas geändert, sondern vielmehr eine bestehende Situation reguliert. Oyantay und Argelia problematisieren, dass die Verantwortung für die Pflegearbeit viele Frauen dazu zwinge, ihren Beruf aufzugeben. Mit dem Einbruch der Einnahmen steigt auch ihre Vulnerabilität. Die Feminisierung der Fürsorgearbeit erhöht so die Feminisierung der Armut.

Armut trifft afro-kubanische LGBTIQ-Personen besonders stark: Queerfeindlichkeit zwinge viele zum Schulabbruch oder Arbeitsverlust. „Sie werden als Travesti und als Schwarze diskriminiert“, sagt Oyantay. „Der Afrofeminismus hat sichtbar gemacht, dass es auf Kuba Rassismus und Sexismus gibt.“ Argelia und Oyantay diskutieren kritisch die Verantwortung des Staates. Auch mit Blick auf die Bekämpfung von Altersarmut sehen sie grundsätzlich den Staat in der Verantwortung. Sie verstehen die Arbeit von Afrodiverso als Hilfe für den Staat, nicht als Ersatz: „Eigentlich ist es nicht Aufgabe der Zivilgesellschaft, aber wir machen es trotzdem, aus Empathie.“ „Wir machen das aus Liebe“, bekräftigt Argelia. Trotz ihrer kritischen Perspektiven ist ihnen wichtig, dass die regierungskritische Opposition die Arbeit von Afrodiverso nicht für deren Regierungskritik instrumentalisiert.

Es scheint, dass sich angesichts der sich zuspitzenden sozialen Krisen auf Kuba Räume für sozialen Aktivismus öffnen. Dort wird nicht nur Suppe gekocht, sondern auch antirassistische und feministische Arbeit geleistet. Diese muss sich allerdings in einem Rahmen bewegen, der nach den Protesten gegen die Regierung und die Kommunistische Partei Kubas im Juli 2021 mit Repression gewaltsam abgesteckt wurde.

Afrodiverso hat sich entschieden, Räume der Solidarität und des Empowerments zu schaffen und ist landesweit mit anderen afrofeministischen Gruppen vernetzt. Sie teilen ihre Erfahrungen, damit auch andere Initiativen entstehen. Auch in ihrem Stadtviertel würden sie die Essensausgabe gerne auf zwei bis drei Male die Woche ausweiten. Aus der queeren Community haben sie ein Netzwerk aus Menschen, die sich abwechselnd engagieren. Doch noch fehlen ihnen die Ressourcen. Oyantay zeigt auf einen kleinen Kiosk, der auf der Küchentheke neben der Haustür aufgebaut ist: „Alles, was wir aus dem Erlös nicht selbst zum Leben brauchen, nutzen wir für die Arbeit von Afrodiverso.“ Auch Nachbar*innen spenden manchmal oder sie organisieren Sachspenden.

Doch ihnen geht es immer um mehr als nur um praktische Unterstützung. „Wir wollen auch die Seele ernähren, nicht nur den Magen. Liebe zu spüren, erfüllt die Seele“, sagt Oyantay. Die Menschen im Viertel wüssten, dass sie ein nicht-binäres Paar sind, und sie begegnen bei der Essensausgabe anderen LGBTIQ-Personen. Das seien für viele Menschen neue Begegnungen.

Bisher hätten sie keine Ablehnung erfahren, unter Umständen vorhandene Vorurteile wurden ihnen gegenüber nicht geäußert. Oyantay und Argelia erzählen außerdem, dass einige der Menschen in fundamentalistischen Kirchengemeinden sind, die Homofeindlichkeit predigten. Wer Vorurteile habe, komme nicht zu ihnen. Für die Menschen zähle die Praxis, die positiven Erlebnisse mit Afrodiverso, mehr als die Diskurse aus der Kirche. Und so kommen einige ältere Nachbar*innen nicht nur zur Essensausgabe, sondern auch zu Drag-Shows, die sie anlässlich von Geburtstagsfeiern in der Nachbarschaft organisieren.

Pride-Monat in Lateinamerika

Foto: Kellys Portillo @alharaca_sv

In Gedenken an die Stonewall Riots 1969 in New York finden jährlich im Juni und Juli Pride-Veranstaltungen („Stolz“) und Demonstrationen für die Rechte von Personen aus der LGBTIQCommunity statt – so auch in der großen Mehrheit der lateinamerikanischen Länder.

Mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten wurden am 24. Juni und an einigen anderen Tagen die Straßen vieler Städte des Kontinents von den Regenbogenflaggen der marchas de orgullo geschmückt. Mancherorts wurde mit lauter Musik und Tanz auf thematischen Wägen gefeiert, im Zentrum sollten jedoch die jeweiligen politischen Forderungen der Organisator*innen und Teilnehmer*innen stehen.

Demoschild in Santiago de Chile Vielen Dank allen, die Wege geöffnet haben! (Foto: Diego Reyes Vielma)

Der Pride-Tag in Santiago de Chile, der wegen Regenwetters einen Tag verschoben werden musste, erreichte laut den Organisator*innen mit über 180.000 Teilnehmenden historische Größe. Diese Protestierenden forderten insbesondere die Reform des Antidiskriminierungsgesetzes Zamudio sowie den Aufbau einer Antidiskriminierungsstelle.

Kings and Queens and everone in between Demoteilnehmende in Santiago de Chile (Foto: Diego Reyes Vielma)

Unter dem Motto ¡Libertad, justicia, dignidad. ¡A nosotres jamás nos borrarán! („Freiheit, Gerechtigkeit, Würde. Sie werden uns niemals ausradieren!“) wurde in Mexiko-Stadt als Hauptforderung die Sichtbarkeit der auch innerhalb der LGBTIQCommunity am meisten marginalisierten Gruppen ins Zentrum gesetzt. Außerdem forderten die Demoteilnehmer*innen die legale und gesellschaftliche Anerkennung von trans* und nicht-binären Identitäten. Die Rechte und Selbstbestimmung von trans* Personen standen auch in Bogotá im Fokus (Ley integral trans ¡Ya!, übersetzt: „Integrales Trans-Gesetz, jetzt!“). Mit über 100.000 Personen nahmen auch hier mehr Menschen als jemals zuvor am Demozug teil.

Weniger Hass Mehr Hunde (Foto: Diego Reyes Vielma)

São Paulo feiert jährlich eine der weltweit größten Pride-Demonstrationen. Auch dieses Jahr kamen am 11. Juni große Mengen an Menschen zusammen, um das Ende der desaströsen Regierung Bolsonaro zu feiern und Forderungen an die neue Regierung zu formulieren. „Soziale Politiken für LGBT: Wir wollen sie komplett, nicht nur die Hälfte“, lautete das dazu passende Leitmotiv.

Feiern und Fordern In Santiago de Chile (oben) und São Paulo (unten, Foto: Lilian Lopes)

Auch in Venezuela, Bolivien, Ecuador, Peru und Paraguay fanden Pride-Veranstaltungen mit Forderungen nach Gesetzesänderungen im Antidiskriminierungsbereich, Gleichberechtigung (zum Beispiel durch die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen) und für den Kampf gegen Hassrede und Hassverbrechen statt.

Feiern und Fordern Demoteilnehmende in São Paulo (Fotos oben und unten: Lilian Lopes)

In Zentralamerika legte das Pride-Fest in El Salvador mit dem Motto Mi identidad, mi orgullo („Meine Identität, mein Stolz“) den Fokus auf das Thema Identität. Wie auch in anderen Ländern bezogen sich die Organisator*innen dabei nicht nur auf sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität, sondern schlossen andere Identitätsaspekte intersektional mit ein. Panama-Stadt schloss mit dem Thema diverse Familien und Ehe für alle an aktuelle Entscheidungen des höchsten Gerichts des Landes an, das vor einigen Monaten gegen die Ehe für alle als Menschenrecht entschied.

Marcha de Orgullo in San Salvador Liebe ohne Angst – auch im öffentlichen Raum (Fotos: Kellys Portillo)

In weiteren Städten und Ländern wurden ebenfalls Demonstrationen organisiert, in manchen, wie Guatemala, Uruguay und Argentinien, stehen diese noch aus. So unterschiedlich die Bedingungen in den verschiedenen Ländern für die queere Bevölkerung sind, so divers sind auch deren Forderungen. Eines teilen sie jedoch alle – sie kämpfen weiter!

TRIUMPH DER SOZIALEN BEWEGUNGEN

„Schluss mit der Represssion!“ Kreativer Protest gegen das Gesetz 5.272 (Foto: Didy Aceituno)

Ausgerechnet am 8. März – dem Internationalen Frauentag – verabschiedete der Kongress in Guatemala das Gesetz 5.272 und das sogenannte Dekret 18-2022 „Zum Schutz des Lebens und der Familie“. 101 Abgeordnete stimmten dafür, acht dagegen, 43 enthielten sich. Einen Tag später erklärte der Präsident Alejandro Giammattei Guatemala-Stadt zur „Pro-Life Hauptstadt Iberoamerikas“. Dazu fand ein feierlicher Akt statt, angeführt vom Präsident Giammattei selbst sowie der Vorsitzenden des Kongresses, Shirley Rivera. Doch die Präsenz und Stärke von feministischen Kollektiven und sozialen Organisationen aus verschiedenen Bevölkerungsschichten, die auf der Straße ihre Ablehnung gegen das rechts- und verfassungswidrige Gesetz deutlich machten, zeigte Wirkung: Der Rücknahme des Gesetzes eine Woche später stimmte wieder die große Mehrheit der Abgeordneten zu, obwohl sie zuvor selbst für das Gesetz gestimmt hatten.

Das besagte Gesetz war Ausdruck der konservativen Agenda der politischen Bündnisse, von denen Guatemala regiert wird und die gegen Frauenrechte und Rechte von queeren Menschen vorgehen. Das Gesetz wurde in Angesicht der Erfolge feministischer Bewegungen in Lateinamerika erlassen. Zu diesen Erfolgen gehören die Legalisierung von Abtreibung in Argentinien und in einigen Bundesstaaten Mexikos sowie jüngst die Zustimmung des Verfassungskonvents in Chile zur Aufnahme des Rechts auf Abtreibung in den Entwurf für die neue Verfassung.

Das Gesetz verbietet die gleichgeschlechtliche Ehe – obwohl die nie legalisiert wurde

Das Gesetz sah die Erhöhung der Haftstrafen für Schwangerschaftsabbrüche auf bis zu zehn Jahre vor sowie die strafrechtliche Verfolgung von Personen, die Abtreibungsdienste aufsuchen oder anbieten. Außerdem erhöhte sich durch das Gesetz das Risiko einer Gefängnisstrafe im Falle einer Fehlgeburt, da es für die Betroffenen schwierig ist, zu beweisen, dass es sich hierbei nicht um einen absichtlich herbeigeführten Schwangerschaftsabbruch handelt. Außerdem lehnte das Gesetz jegliche Formen des Zusammenlebens, die von der heterosexuellen und cisgeschlechtlichen Norm abweichen, als „nicht normal“ und „unvereinbar mit der christlichen Moral“ ab. Es verbot explizit eingetragene Lebenspartnerschaften ebenso wie die gleichgeschlechtliche Ehe. Sämtliche Formen von Aggressionen und Hassverbrechen gegen LGBTIQ-Personen wurden legitimiert, in dem das Gesetz die strafrechtliche Verfolgung solcher Taten verbot. Außerdem wurde Sexualkundeunterricht in Schulen verboten und das Konzept von Familie beschränkt.

Sandra Morán ist Feministin, lesbisch und Aktivistin und saß von 2016 bis 2019 für die linke Partei Convergencia im guatemaltekischen Kongress. Morán hat öffentliche Positionen besetzt und Gesetzesinitiativen, die Frauen- und Kinderrechte sowie die Rechte queerer Personen stärken, angestoßen und verteidigt. Bereits während ihrer Zeit als Abgeordnete hat sie sich gegen die Initiative 5.272 ausgesprochen, die die Regierung schon seit 2017 einzuführen versucht. Außerdem ist sie Mitglied der Gruppe Mujeres con Poder Constituyente („Frauen mit verfassungsgebender Macht“), die sich in Guatemala für eine neue Verfassung einsetzt.

Auf die Frage, wie es gelungen ist, dass das besagte Gesetz vom selben Kongress zurückgenommen wurde, der ihm zuvor zugestimmt hat, sagt Sandra Morán: „Es klingt beschämend und das ist es auch. Es ist genauso skandalös, wie es auch der Inhalt des Gesetzes war.“ Die ehemalige Abgeordnete berichtet, dass es 2017 gelungen sei, ein Gesetz zur Änderung von zwei Artikeln des Strafgesetzbuchs zur Verringerung der Strafen bei Korruptionsdelikten zu verhindern. Damit war ein Präzedenzfall geschaffen, von dem nun erneut Gebrauch gemacht wurde, um die Rücknahme des Gesetzes zu erzwingen. Damit ein Gesetz in Kraft treten kann, muss es innerhalb von zehn Tagen von der Exekutive bestätigt werden. In diesem Zeitraum wurden die Ablehnungsbekundungen der Bevölkerung im Land und auch der internationalen Gemeinschaft unüberhörbar. Diejenigen, die das Gesetz beschlossen hatten, konnten dem öffentlichen Druck im Angesicht bevorstehender Wahlen nicht standhalten, schlussfolgert Morán. „Das Gesetz war ein technischer Irrtum und aus mehreren Gründen verfassungswidrig“, erklärt die Aktivistin. So wurde beispielsweise politischen Mandatsträger*innen untersagt, an internationalen Veranstaltungen teilzunehmen, wenn diese eine andere als die im Gesetz festgelegte Meinung verträten. „In Fragen der internationalen Politik ist es nicht angebracht, dass der Kongress die politische Meinung des Präsidenten in diesem Bereich bestimmt“, erläutert Morán. Das Gesetz verletzte außerdem die Rechte von Mädchen, Frauen und nicht-binären Personen sowie von Jugendlichen und Kindern. Der Sexualkundeunterricht an Schulen werde verboten und das alles unter dem Vorwand, das ungeborene Leben zu schützen. Es handele sich um ein Gesetz, das Trans- und Homofeindlichkeit unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit offen zuließe. Das Gesetz bestärke die Heteronormativität der Gesellschaft, indem es die traditionelle Familie als Mann und Frau, „die so geboren wurden“, definiere, die Existenz von trans Personen verbiete und die 14 restlichen Familienformen, die es laut der letzten Volkszählung in Guatemala gibt, außenvorlasse. „Die Initiative“, betont Morán außerdem, „verbietet die gleichgeschlechtliche Ehe – obwohl die noch nicht mal legalisiert wurde, nur für den Fall – ebenso wie die Anerkennung von Lebenspartnerschaften.“

Breite Solidarität im Kampf gegen Unterdrückung, Gewalt und Hass


Es handele sich um ein Gesetz der evangelikalen Pfingstkirchen, das die fundamentalistische Agenda der rechtsgerichteten Partei Visión con Valores (VIVA) zum Ausdruck bringe: „Seit Langem versucht diese Partei, die Ausweitung der Frauenrechte zu verhindern und den Vormarsch des Feminismus zu unterbinden und zu kontrollieren, weil sie sieht, dass die Bewegung sehr stark ist. Das Gesetz, mit dem die Regierenden vorgeben, das Leben und die Familie schützen zu wollten, ist ein Beispiel für diese Reaktion auf organisierten Aktivismus.“ Morán gibt zu bedenken, dass das Gesetz möglicherweise erneut vorgelegt wird. Schließlich basiere es auf einer Denkweise, die ebendiese verfassungswidrigen Handlungen auf die Agenda setzt, die sie und andere Aktivist*innen seit 2017 anprangern. Im Fall des Gesetzes 5.272 hatten sogar einige Organisationen, die sich gegen Frauen- und Abtreibungsrechte aussprechen, auf dessen Verfassungswidrigkeit hingewiesen. Dennoch haben die Abgeordneten das Gesetz beschlossen, betont Morán und skizziert das weitere Vorgehen: „Jetzt müssen wir eine Strafanzeige gegen die 101 Personen stellen, die dafür gestimmt haben, wegen Pflichtverletzung und Verstoßes gegen die Verfassung, die zu respektieren sie geschworen haben.“

Nach Zahlen der Beobachtungsstelle für reproduktive Gesundheit in Guatemala wurden im Jahr 2021 mehr als 65.000 Mädchen und junge Frauen unter 19 Jahren schwanger, häufig als Folge einer Vergewaltigung. 2.041 davon waren unter 14 Jahre alt, viele starben bei der Geburt. 70 Prozent der Betroffenen leben in Armut und jedes zweite Kind leidet an chronischer Unterernährung. Es sei paradox, so Sandra Morán, dass die Regierung das Land zur iberoamerikanischen Hauptstadt des Lebens und der Familie erkläre, während die Menschen in Wirklichkeit erschöpft seien und Hunger litten. Gerade jetzt, wo inmitten der unsicheren Weltlage auch noch die Preise für Grundnahrungsmittel in die Höhe schnellen.

Viele Menschen sind mit der extrem konservativen Politik nicht einverstanden und gingen deshalb gegen das Gesetz auf die Straße und demonstrieren. Morán erzählt, dass die jüngere Bevölkerung nicht mehr in einem Klima der Unterdrückung, der Gewalt und des Hasses aufwachsen will. Sie begrüßt es, dass sich in den letzten Wochen auch Männer, Jugendliche, Studierende und die indigene Bevölkerung öffentlich zu Wort gemeldet haben, um ihre Solidarität in diesem Kampf zu signalisieren. „Das erschien mir wichtig, denn vorher waren wir zersplittert, doch jetzt ist Zeit für mehr Einigkeit.“ Aufgrund von Verfolgung und Schikanierung habe es lange keine Massendemonstrationen mehr gegeben. Jetzt sieht die ehemalige Abgeordnete Fortschritte im Hinblick auf die Wiederherstellung einer breiteren Bewegung. Diese sei auch bitternötig, angesichts politischer Situation in Guatemala: „Sie wollen uns im Vorfeld der Wahlen eine Lektion erteilen, um die Schaffung eines kriminellen oligarchischen Staates voranzutreiben. Ein Staat, der von militärischen Kriegsmördern, korrupten Politikern, Drogenhändlern und evangelikalen Kirchen getragen wird. Das ist das Bündnis, das Guatemala seit zwölf Jahren regiert.“

ALLES IST MÖGLICH, NUR NICHT HIER

© Varsovia Films

Während die Jugendlichen aus dem Viertel sich die Zeit damit vertreiben, Billigbier aus abgeschnittenen Plastikflaschen zu trinken, Handymusik zu hören und im Laufe des Abends in Zweierkonstellationen in den dunklen Treppenaufgängen verschwinden, läuft Iris mit ihrem Basketball durch die Straßen von Corrientes im Nordosten Argentiniens. Clarisa Navas, die Regisseurin von Las Mil y Una, hat für ihren zweiten Langfilm, den Eröffnungsfilm des diesjährigen Berlinale-Panoramas, die eigene Geburtsstadt als Dreh- und Handlungsort gewählt.
Beton dominiert das Erscheinungsbild der Sozialbausiedlung, in der Iris lebt. Aus den Wohnungen schallen laute Stimmen, eine Mischung aus Bachata und Fernsehprogrammen im Hintergrund. Ein eigenes Zimmer in der Wohnung, wie Iris es hat, ist Luxus. Doch nicht einmal dort entkommt sie den Streitereien ihrer Familie und dem Lärm. Zuflucht findet Iris beim Basketball und den zwei besten Freunden, ihren Cousins. Das Leben der Protagonistin gestaltet sich recht monoton, zur Schule geht die 17-Jährige nicht mehr, „wozu auch?“ fragt sie sich, eine Aussicht auf einen gut bezahlten Job scheint ohnehin in weiter Ferne.

Vieles ändert sich, als Renata im Viertel auftaucht. Sofort erweckt sie Iris‘ Interesse. Während Renata cool und abgebrüht auftritt, zeigt sich Iris unerfahren. Voneinander angetan begeben sie sich gemeinsam auf die Suche nach Orten in der Siedlung, an denen sie für sich sein können. Doch das ist gar nicht so einfach, denn das Viertel scheint überall Augen und Ohren zu haben. Schon bald machen verschiedenste Gerüchte über Renata die Runde. Die Freiheit, die Iris draußen sonst verspürt hat, verwandelt sich in Renatas Gegenwart in Enge, denn nirgendwo können sie sich aufhalten, ohne dass getuschelt und gegafft wird.

Las Mil y Una nimmt sich viel Zeit für diese Geschichte über das Leben junger Menschen in Corrientes. Zwischen oft fehlender elterlicher Fürsorge und gesellschaftlicher Akzeptanz setzt die Regisseurin Clarisa Navas in zwei Stunden einen detaillierten und lebensnahen Raum zusammen, in dem sich junge Erwachsene sexuell wie emotional ausprobieren und in dem es keine Grenzen zu geben scheint. Mehr als einmal wird das Gegenteil bewiesen. Wer hier viel Handlung oder ein spannendes Coming-of-Age-Drama erwartet, wird enttäuscht. Trotzdem ist Navas‘ Beitrag zum diesjährigen Berlinale-Panorama sehenswert: Die starken schauspielerischen Leistungen von Sofía Cabrera und Ana Carolina Garcia, die Iris und Renata verkörpern, lassen diesen ohnehin schon dokumentarisch anmutenden Film noch realistischer wirken.Überzeugend zeigt Las Mil y Una eine oft unterrepräsentierte Seite der Gesellschaft: Menschen in prekären und informellen Arbeits-, Lebens- und Liebesverhältnissen, die sich irgendwie durchschlagen und vom Rest der Gesellschaft vergessen wurden. Der Film zeigt jedoch nicht nur den Kontrast zwischen unterschiedlich privilegierten gesellschaftlichen Schichten, sondern macht deutlich, wie besonders für junge Menschen soziale Bindungen und Rückzugsräume entscheidend sind, wenn draußen Mobbing und Konkurrenzkampf das Leben dominieren. Es wird versucht, im Hier und Jetzt so gut wie möglich zu überleben, für große Träume ist in der Enge der Siedlung kein Platz. Ein unbesorgtes Leben frei von Diskriminierung und Armut bleibt für viele unvorstellbar. Und während Iris noch überlegt, wie sie in Zukunft leben möchte, steht für Renata bereits fest, dass sie nur noch weg will. Denn alles ist möglich, nur nicht hier.

„WIR HABEN DIE ANGST VERLOREN“

Mônica Francisco ist Abgeordnete der Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL, Partido Socialismo e Liberdade) und Mitglied der gesetzgebenden Nationalversammlung von Rio de Janeiro. (Foto: Diegsf via commons.wikimedia, CC BY-SA 4.0)

Unter der Regierung des Gouverneurs von Rio de Janeiro, Wilson Witzel, tötete die Polizei im ersten Quartal 2019 434 Menschen. Was sind Ihrer Meinung nach die Praktiken des Staates, die anzuprangern sind?
Rio de Janeiro ist heute ein krimineller Polizeistaat. Es gibt zwar keine Todesstrafe, aber die Kriminalisierung und Verfolgung der Jugend und ein Klima ständiger Todesdrohung: Scharfschützen schießen gezielt auf die Leute in den Favelas. Insgesamt wurden in den letzten sechs Monaten 3000 Menschen umgebracht. Der Bundesstaat Rio de Janeiro kann als Narcostaat der Milizen und als Polizeistaat mit einer kriminellen Strafgerichtsbarkeit bezeichnet werden.

Inwiefern lässt sich in diesem Zusammenhang von einer Institutionalisierung der Gewalt sprechen? Wie viel Vertrauen können Schwarze, Angehörige der LGBTQ*-Szene und andere Minderheiten in Bezug auf den Schutz ihrer Rechte haben?
Für Mitglieder der LGBTQ*- Community ist Brasilien eines der gefährlichsten Länder der Welt. Die Lebenserwartung einer Transgender-Person liegt bei 35 Jahren. Durch den Versuch ein selbstbestimmtes Leben zu führen, stimmt eine LGBT-Person ihrem möglichen Todesurteil zu. In der Bevölkerung findet eine fortschreitende Militarisierung statt. Letztere und die Nutzung von Kriegswaffen werden in hohem Maße gefördert. Die Absurdität des Polizeistaats zeigt sich in der Militarisierung des Alltags und der Ausweitung der Gewalt insbesondere gegen die immer wieder selben Bevölkerungsgruppen: die Schwarzen, die Jugendlichen und die LGBTQ*-Gemeinde.

Seit dem Amtsantritt Jair Bolsonaros lässt sich ein dramatischer Anstieg der Gewalt in den Favelas von Rio de Janeiro feststellen. Sowohl auf Seiten der Banden und der Polizei, aber vor allem auf Seiten der ärmsten Bevölkerungsschichten sind viele Todesopfer zu beklagen. In welchem Zusammenhang stehen die Unterdrückung der Armen, der institutionelle Rassismus und die Macht der Milizen?
Die Institutionen des brasilianischen Staates haben den Rassismus quasi internalisiert. Er findet in den Handlungen gegen diese Bevölkerungsschichten seinen Ausdruck. Die arme Bevölkerung Brasiliens ist Schwarz oder parda (mestizisch), wie sich Angehörige dieser Ethnie selbst bezeichnen, und macht mehr als 50 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Trotzdem gilt sie politisch als eine unterrepräsentierte Minderheit ohne Macht und ohne politische Ämter, mit den schlechtesten Lebensbedingungen, extrem schlecht informiert und gesellschaftlich abgehängt. Das erzeugt eine Lebensrealität, die gänzlich von institutionellem Rassismus und institutioneller Gewalt durchdrungen wird. Deutlich wird das an einem Bildungsdefizit, das sich durch Analphabetismus, erhöhte Schulabbrüche und durch kognitive Störungen bemerkbar macht: als Objekt von Gewalt und Unterernährung hast du häufig mit Problemen in der Schule zu kämpfen. Es gibt also eine Reihe von Wechselwirkungen, welche durch den institutionellen Rassismus und die Terrorisierung dieser Bevölkerungsschichten durch den Staat ausgelöst werden, dessen Grenzen vom Narcostaat zur Macht der Milizen fließend sind.

Welche Möglichkeiten des organisierten Widerstands sehen Sie? Was kann der Schwarze feministische Widerstand dazu beitragen und warum ist er wichtig?
Wenn man nach Lateinamerika und nach Brasilien schaut, stellt man fest, dass die wichtigsten revolutionären Widerstandsbewegungen in den letzten Jahren durch Frauen vorangetrieben wurden. Auch der Schwarze Feminismus entspringt diesem Prozess. Trotz des prekären politischen Umfelds gibt es eine Reihe junger, Schwarzer Kollektive, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten Widerstand leisten. Sie machen aus ihrem Zuhause Räume des kulturellen, künstlerischen Widerstands, zum Beispiel in Form von rodas de rima (sogenannte Reimkreise: Zusammenkünfte der Hip-Hop Kultur in Rio de Janeiro, in denen Poesie und Musik präsentiert werden, Anm.d.Red.). Es gibt Medienkanäle, die als Sprachrohr des Widerstands dienen und für die kollektive Organisierung verwendet werden und verschiedenste Akteure mit einbeziehen. Es gibt trotz der aktuell sehr schwierigen Situation viele kleine Revolutionen. Die Rolle des Schwarzen Feminismus ist in diesem Prozess von besonderer Bedeutung. Dies zeigte sich zum Beispiel während der #EleNão-Kampagne (#ErNicht-Kampagne, s. LN 533), eine der wichtigsten Aktionen gegen die Wahl von Bolsonaro, die von Frauen angeführt wurde, welche sich über Facebook organisiert hatten. Die Frauen werden dadurch zu Vorreiter*innen revolutionärer Prozesse und Auseinandersetzungen. Sie produzieren nicht nur Antworten und Anklagen, darunter konkrete Aktionen auf nationaler Ebene wie bei #EleNão, sondern auch auf regionaler Ebene. Die Funktion der feministischen Bewegung bestand vor allem darin, eine Avantgarde im Prozess des Widerstands gewesen zu sein.

Sie sind neben Ihrer Tätigkeit als Abgeordnete auch als evangelische Pastorin tätig. Es ist immer wieder zu hören, dass sich die Wahl Jair Bolsonaros größtenteils evangelikaler Unterstützung verdankt. Welche Rolle übernimmt die Kirche im aktuellen politischen Tagesgeschäft? Kann es eine Form des evangelikalen Widerstands geben und wenn ja wie könnte er aussehen?
Vor allem im zweiten Wahlgang haben viele Evangelikale durch Initiativen wie „Evangélicos com Haddad“ (Evangelikale für Haddad) versucht, die Kandidatur von Haddad zu unterstützen. Deshalb muss man sehr genau sein und nicht alle Evangelikalen über einen Kamm scheren. Die Evangelikalen in Brasilien sind nicht als Einheit zu betrachten, sondern es gibt unter ihnen eine große Vielfalt. Bolsonaro ist Katholik und sucht den Schulterschluss mit den ultrakonservativen und fundamentalistischen Katholiken ebenso wie mit den weißen, reichen und sich in Elitepositionen befindenden Evangelikalen, die sowohl mediale als auch finanzielle Macht über ihre Gläubigen ausüben können. Ich denke, dass vor diesem konservativen und extremistischen Hintergrund unser Einsatz um die narrative Hoheit in der Berichterstattung von besonderer Bedeutung ist. Als die Leute das im zweiten Wahlgang 2018 erkannten, schafften wir es 40 Prozent der Evangelikalen auf die Seite von Haddad (Kandidat der Arbeiterpartei PT, Anm.d.Red.) zu ziehen. Auch wenn es schon zu spät war, um diesen Kampf zu Ende zu führen, war dies vor allem die Leistung der progressiven Evangelikalen. Es war ein Affront gegen die konservative Mehrheit, die den biblischen Diskurs missbraucht hat um Gewalt und Hass gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen zu schüren. Deshalb ist es für uns so wichtig, um dieses politische Feld zu ringen und eine alternative politische Sichtweise aufrechtzuerhalten.

Angehörige Ihrer Partei sehen sich Morddrohungen und öffentlicher Diffamierung durch Fake News ausgesetzt. Jean Wyllys verließ das Land. Wie schätzen Sie Ihre eigene Situation und die anderer Abgeordneter Ihrer Partei im Bundesstaat Rio de Janeiro aktuell ein?
Angesichts des Exils von Jean Wyllys, der Morddrohungen gegen Abgeordnete und Aktivisten und den Auftragsmorden, wie dem an Marielle Franco, kann man festhalten, dass es heutzutage in Brasilien eine riskante Angelegenheit ist, linker Parlamentarier zu sein oder als Verfechter des säkularen Staates, für kulturelle Vielfalt, für Frauenrechte oder gegen Rassismus aufzutreten. Als Parlamentarier wirst du zwangsläufig zur Zielscheibe, wie im Fall von Jean Wyllys durch die Verbreitung von Fake News. Das Problem ist nicht der bloße Angriff auf die Person, sondern vor allem, dass sich diese Form der falschen Berichterstattung in erster Linie an den einfachen Bürger richtet, der sich dem Gefühl der Ablehnung und des Hasses hingibt. Es muss nicht zwangsläufig sein, dass dieser Bürger einen Hinterhalt plant, um jemanden umzubringen, aber er kann es sein, der dich plötzlich an der Bushaltestelle, in der Metro oder in einem Laden angreift. Es ist also jemand, der zum Täter wird, weil er von einem Hassdiskurs beeinflusst wurde. Es ist nicht nur die Figur von Bolsonaro selbst, sondern das was dieser Diskurs in einem Teil der brasilianischen Bevölkerung angerichtet hat. Er richtet sich gegen Frauen, linke Politiker und Menschenrechtsverteidiger. Es sind die einfachen Leute, die sich mit Hass aufladen und die dazu in der Lage sind physisch oder verbal eine barbarische Gewalttat gegen jemanden auszuüben der neben ihnen auf der Straße läuft.

Was schlagen Sie vor, wie am besten mit dem Klima der Angst in der Öffentlichkeit umgegangen werden sollte?
Zunächst ist es wichtig, die Existenz der Angst anzuerkennen. Mein Slogan während des Wahlkampfs war: „Sie haben uns soviel genommen, dass wir die Angst verloren haben.“ Die Angst ist ein wichtiges Gefühl, um uns aufrechtzuhalten, zu schützen und auf uns aufzupassen. Aber die Angst darf uns nicht so sehr lähmen, dass wir nicht mehr kämpfen, Widerstand leisten oder uns kollektiv organisieren. Es ist wichtig, weiterhin die Stimme zu erheben, uns durch Aktionen sichtbar zu machen und so lange wie möglich Auffangnetzwerke aufrechtzuerhalten.
Welche Bedeutung hat der Funk für die Schwarze Bevölkerung in den Favelas?
Der Funk ist ein kulturelles und soziales Ausdrucksmittel, er dient der Verarbeitung von Erfahrungen, ist Abbild der Lebensformen der Schwarzen Bevölkerung in den Favelas. Er ist die Befreiung von der alltäglichen Unterdrückung. Funk, Samba, Jazz und Bossa Nova sind Ausdrucksweisen der Seele der Négritude (anti-kolonialer Kulturbegriff für Schwarze Kultur, Anm.d.Red.). Diese musikalischen Ausdrucksformen kommen aus der verletzlichsten Bevölkerungsschicht der Favela: der Jugend. Indem sie Funk schreiben, singen und tanzen, werden die Jugendlichen zu Protagonisten unserer Geschichte. Ich war selbst in der Funk-Szene engagiert und weiß um seine emanzipatorische Kraft.

Der Mord an der linken Stadträtin Marielle Franco, deren Beraterin Sie waren, ist nun 20 Monate her. Sie ist zur Ikone des Schwarzen und feministischen Widerstands in den Favelas geworden. Was hat ihr Tod in den Favelas bewirkt?
Durch ihren Tod hat die Bevölkerung der Favelas verstanden, dass Körper, wie der ihre, leichtfertig weggeworfene Leben sind. Er offenbarte, dass der brasilianische Staat rassistisch ist. Ihr Tod bewirkte ein verstärktes Bewusstsein für feministische Kämpfe. Er brachte die Gewissheit, dass ihre Hinrichtung eine Botschaft an die Schwarzen Frauen darstellte und dass die Notwendigkeit besteht, trotz der andauernden Angriffe des Staates auf die Favelas von Rio de Janeiro, weiterhin Widerstand zu leisten. Gegen immer absurdere Formen der Gewalt antwortet die Favela mit Vernetzung, der Produktion von Kultur und Kräften, die soziale Antworten bereit halten.

 

„ICH KANN NICHT UNTERWÜRFIG SEIN“

Claudia Ancapán Quilape ist Mapuche und arbeitet als Hebamme in Santiago. Sie kämpft als politische Aktivistin für die Rechte von LGBTIQ*-Personen. (Foto: Alea Rentmeister)

Seit kurzem läuft der Dokumentarfilm Claudia – vom Mond berührt in den Kinos. Wie sehen Sie die Rolle der Kunst im Kampf für die Rechte der LGBTIQ*-Community in Chile?
Die Kunst ist der Schlüssel und Antrieb zugleich, um uns sichtbar zu machen. Der Dokumentarfilm ist kein Mega-Hollywood-Film, aber er dient dazu, über das Thema Transidentität zu sprechen. Kunst schafft Realität und lädt zum Denken und Hinterfragen ein. In Chile wurde vielfach versucht, die Erinnerung an die Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur, gegen Frauen, die LGBTIQ*- und indigenen Gemeinschaften auszulöschen. Kunst, Bücher, Filme, Bilder sind Formen, Erinnerung zum Ausdruck zu bringen. Wir müssen dafür kämpfen, diese Erinnerungen zu bewahren. Vielleicht wird unsere LGBTIQ*-Community eines Tages ein Museum errichten, denn wir haben eine Geschichte und die werden wir irgendwann erzählen. Ich gehöre zu einem anderen, unsichtbar gemachten Chile, das als „das Andere“ bezeichnet wird, trotzdem aber Teil dieses Landes ist. Unsere Community wurde zum Schweigen gebracht, verdrängt und unterdrückt, doch das werden wir nicht mehr zulassen, unsere Geschichte muss erzählt werden.

Der Dokumentarfilm wurde schon auf der ganzen Welt auf Festivals gezeigt, kam aber erst vor kurzem in chilenische Kinos. Warum?
Weil sich viele Kulturorganisationen und -orte geweigert haben den Film zu zeigen, vermutlich aus Angst. Aber Francisco (gemeint ist Francisco Aguilar, der Regisseur des Films, Anm. d. Red.) und ich wussten vorher, dass genau das passieren würde, weil Sexualität für viele Menschen in Chile ein Problem ist. Ich erscheine auf dem Titelfoto nackt, denn das Foto soll dazu beitragen, die Unterdrückung der Sexualität in Frage zu stellen. Als ich den fertigen Film gesehen habe, habe ich gesagt: Das ist mächtig, das wird Konsequenzen haben.

Woher kommt die Unterdrückung der Sexualität in Chile?
Grund dafür ist nicht nur die Diktatur, sondern eine koloniale Struktur, die Jahrhunderte weit zurück reicht. Bevor die Spanier kamen, gab es in der indigenen Bevölkerung keinen Genderkonflikt. Es gab dazu eine neutralere Position. Die Religion des Kolonialismus zwang die Menschen dazu, sich vor Gott zu rechtfertigen und ihre Sexualität als etwas Sündhaftes zu empfinden. Machismo und Patriarchat nahmen ihre Stellung ein und positionierten sich als politische Kräfte, deren Konsequenzen die Frauen bis heute zu spüren bekommen. Die Erfolge des Feminismus – wie das Recht auf Abtreibung, auf Verhütungsmittel, sexuelle und reproduktive Rechte − zeigen sich erst allmählich und sehr verspätet.
Die sexuelle Unterdrückung beeinflusst Menschen in jeder Hinsicht. Früher gab es die Klassifizierung, in der Männer an erster Stelle standen, Frauen an zweiter und alle anderen an dritter. Sogenannte Minderheiten wurden in diesem Land lange unsichtbar gemacht. Rette sich, wer „anders“ ist, denn „das Andere“ durfte nicht existieren. Mit dem Aufkommen von AIDS ab 1984 wurde über LGBTIQ*-Personen nur als Homosexuelle gesprochen. Aber dahinter verbarg sich eine ganze Reihe von Identitäten.

Haben Sie das Gefühl, dass es in Mapuche-Communities weniger Diskriminierung von LGBTIQ*-Personen gibt?
Das ist ein sehr aktuelles und noch nicht eingehend behandeltes Thema, weil erst seit kurzem darüber gesprochen wird. Ich bin Indigene, aber ich bin auch trans und ich bin eine Frau. Wenn ich mit Menschen aus meiner Community, also den Mapuche, über dieses Thema spreche, scheint es so, als ob die Akkulturation bei manchen keinen so starken Einfluss gehabt hat. Sie sagen: „Schon unsere Großeltern haben uns davon erzählt, das hat etwas mit dem Mond und ganzheitlicher Liebe zu tun“. Doch diejenigen, die von der Religion beeinflusst sind, greifen dich sofort an: „Nein, das kann nicht sein, das geht gegen Gott“. Durch die Kolonisierung haben auch Menschen indigener Communities diese ablehnende Haltung angenommen. Auch in unserer Community gibt es intolerante und diskriminierende Personen, aber es gibt auch andere, die wissen, dass es vor der Ankunft der Spanier viele kulturelle Manifestationen gab, die genderlos oder transgender waren. Und daraus schöpfe ich, um zu zeigen, dass meine Existenz Fundamente hat.
Vor Jahren war es sehr schwierig, mich an dem Ort zu äußern, wo ich meine Kindheit und Jugend verbracht habe: ein Ort, der nicht nur religiös, sondern oft auch sehr konservativ, rassistisch und misogyn war. Ich bin evangelisch aufgewachsen und war an einer katholischen Schule. Durch die Religion habe ich mich für meine Genderidentität und meine Sexualität schuldig gefühlt. Wenn ich an die Religion und die Sünde glaubte, brächte ich mich um, denn das Einzige, was ich davon verstehe, ist, dass ich keinen Grund zu leben habe, kein Recht zu existieren. Heute verstehe ich, warum ich mich als trans Person wie in einer Blase befunden habe. Es kommt darauf an, woran du glaubst. Ich glaube an Gott, aber nicht im Rahmen der Religion. Wenn ich mich meiner eigenen Kultur zuwende, fühle ich mich frei.

Ende letzten Jahres verabschiedete der chilenische Kongress ein Gesetz zur Genderidentität, das trans Personen ermöglicht, ihren Namen und ihr Geschlecht auf dem Standesamt zu ändern. Das Gesetz wurde bereits 2013 vorgeschlagen. Ein langwieriger Prozess, wie es scheint?
Tatsächlich hat der Prozess schon viel früher angefangen, davor gab es schon zwei Gesetzesentwürfe. Der erste stammt aus den 90er, der zweite aus den 2000er Jahren.
Aber 2013 war die chilenische Gesellschaft durch den Tod von Daniel Zamudio sensibilisiert, einem jungen homosexuellen Mann, der auf grausamste Weise von einer Gruppe Neonazis ermordet wurde. Der Fall ging durch die Medien und führte dazu, dass die Menschen aufwachten. Durch diese Sensibilisierung gelangte der Gesetzesentwurf in den Kongress.
Ich war zweimal im Kongress, um über die Notwendigkeit des Gesetzes zu sprechen. Es war eine ewige Diskussion und währenddessen gab es weiterhin Selbstmorde und Morde an Personen unserer Community, sodass wir eines Tages damit begannen, Lobbyarbeit zu machen. Um Teil des Spiels zu sein, mussten wir Allianzen bilden, die Politik und öffentliche Räume nutzen, um über uns zu sprechen und uns zu zeigen. Schlussendlich wurde das Gesetz verabschiedet.
Ein Teil der Gegner des Gesetzes wollte, dass unsere Ausweisdokumente in irgendeiner Form gekennzeichnet werden, um uns als „anders“ zu kategorisieren. Gegen solche Argumente müssen wir immer noch ankämpfen. Das Gesetz lässt eine Kennzeichnung nicht zu, aber es gab die Absicht. Wie können sie uns markieren? Wir sind doch kein Vieh!

Im Hinblick auf das Gesetz über Genderidentität 2018, das Antidiskriminierungsgesetz 2013, den Oscar für Eine Fantastische Frau 2018, in dem Daniela Vega, eine trans Frau, die Hauptrolle spielt – haben Sie den Eindruck, dass sich die Situation der LGBTIQ*-Community verbessert hat? Oder hat sich letztlich nicht viel verändert?
Das alles sind Errungenschaften für eine inklusivere Gesellschaft, aber jede Errungenschaft hat ihren Preis. Daniela Vega hat Chile verlassen, denn abgesehen davon, dass es hier keine Filmindustrie gibt, die Kultur und Kunst achtet, hat man in den sozialen Netzwerken unglaublich viele Hasskommentare zu lesen. Wenn ich im Fernsehen oder in den Medien erscheine, passiert dasselbe. Aber das ist mir egal. Ich verlasse dieses Land nicht, höchstens im Urlaub. Ich bleibe hier, weil ich mein Land und meine Kultur liebe. Ich möchte aber deswegen nicht Nationalistin genannt werden, weil die konservative Rechte diesen Begriff in sehr negativer Weise benutzt: um Migration, indigene Herkunft und die LGBTIQ*-Community abzuwerten.
Unsere Gesellschaft ist eine gespaltene Gesellschaft. Dennoch müssen wir fähig sein, mit unseren Differenzen zusammenzuleben. Bislang schaffen wir das noch nicht. Unsere Gesellschaft hat so viele Probleme, die mich dazu inspirieren, zur Veränderung beizutragen.

Haben Sie deshalb aus Ihrem persönlichen Kampf einen politischen Kampf gemacht?
Ich glaube, ich bin bereit für die Politik. Ich würde gerne meine Leute repräsentieren, meine indigene Community und meine LGBTIQ*-Community. Ich möchte sie repräsentieren, weil ich gereift bin. Im November 2005 wurde ich von Neonazis vergewaltigt und fast umgebracht, weil ich trans bin. Ich fühle mich verpflichtet, dafür zu sorgen, dass niemand mehr solche Gewalt erleiden muss.
Ich habe Dinge erreicht, die ich erreichen wollte: als Hebamme zu arbeiten, zum Beispiel. Ich habe immer davon geträumt, eine Familie zu haben, einen Partner und zu heiraten. Bisher habe ich es nicht geschafft zu heiraten, aber ich habe einen Partner und eine Familie. Ein immenser Kampf für etwas so simples: sich verlieben zu können, ein Lebensprojekt zu entwerfen. Hätte ich dir gesagt, dass mein Traum wäre, Millionärin zu sein, Schauspielerin, berühmt zu werden…, aber das war nie mein Traum. Mein Traum war es, eine Bibliothek zu haben, ein Haus, einen Partner, eine Familie, es waren sehr einfache Dinge. Nur weil du anders bist, wird dir das Recht dazu abgesprochen. Dagegen kämpfe ich jeden Tag. Aber sie haben nicht gewonnen. Ich wollte unbedingt Claudia sein, das habe ich auch geschafft. Ich bin stolz auf meine indigene Herkunft, ich liebe es, trans zu sein und ich liebe es, Teil der LGBTIQ*-Community zu sein. Ich bin mir meiner Herkunft und meiner Identität bewusst, und ich bin bereit in die Politik zu gehen. Ich bin darauf vorbereitet, dass mich die Rechten angreifen und bereit mich zu verteidigen. Aber anstatt uns anzugreifen sollten wir debattieren und einander begegnen. Ich bin bereit für ein politisches Amt, denn ich glaube das ist meine Zukunft. Ich kann nicht unterwürfig sein, nie mehr!

 

„MEINE MUSIK IST EIN SCHREI NACH FREIHEIT“

Tyaro „Wir können nicht so tun, als ob nichts passiert ist.“

Welche Botschaften der LGBT-Bewegung spiegeln sich in Ihren Songs wider?
Botschaften der Freiheit. Brasilien ist das Land auf der Welt, das am meisten LGBT- Personen tötet. Meine Musik ist ein Schrei nach Freiheit. Unsere Liebe ist frei! Meine Musik spricht von einem Fremdkörper, einem nicht-binären Ortes in dieser binären Gesellschaft. Die Botschaft ist unser Recht auf Gerechtigkeit.

Wie ist der Alltag in diesem „Fremdkörper“ in Rio de Janeiro?
Es ist eine Angriffsfläche, ein Kampf, sich jeden Tag wiederzuerkennen. Wenn ich auf Normkörper treffe, versuche ich mich, diesen zu stellen. Und bei den Leuten, die ein Vorurteil haben, versuche ich, mit Stärke und Willen zu kommunizieren. Ich versuche zu verstehen, wer sie sind. Ich glaube an den Austausch mit anderen und versuche, neue Wege zu beschreiten. Und das geht auch durch die Musik, den Körper, die Ästhetik.

Im Lied Logun Edé geht es um ein Wesen, das Mann und Frau zugleich ist.
Logun Edé ist ein Lied, das heilen soll, das die Vorfahren anruft und ihnen dankt. Dieser Song ist Teil eines Entdeckungsprozesses für die #CabocloSereia Identität. Das Album soll die Schönheit und Kraft des Orixá Logun Edé mit sich bringen (Orishas/Orixá sind Götter der Yoruba Religion, Anm.d.Red.). Orixá Logun Edé ist gleichzeitig weiblich und männlich und entsteht aus dem Wald und den Süßwasserströmen. Es ist das Kind der Orishas Oxum (Mutter) und des Oxóssi (Vater). Logun Edé verleiht dem Leben Schönheit, Süße, Kunst, Glanz und Kraft. Der Song ist gemeinsam mit Nana Orlandi und in Kooperation mit der Gruppe Maracutaia komponiert worden. Für mich ist Zuneigung und Heilung im  Kompositionsprozess sehr wichtig.

Was ist Ihre Vision für Brasilien?
Ich möchte, dass wir ein wachsendes Netzwerk aufbauen. Und sich mehr und mehr Menschen der LGBT-Szene anschließen. Lesben, Schwule und Transpersonen: Wir müssen uns zusammentun! Mein Traum ist es, ein starkes Netzwerk aufzubauen und durch die Musik eine Message rüberzubringen. Künstlerisch und musikalisch ist der jetzige Moment für die LGBT-Bewegung sehr wichtig. Kunst war schon immer eng mit der politischen Bewegung verbunden. Künstler wurden schon immer verfolgt, isoliert und auch ermordet. Wir leben einen sehr kritischen Moment für Kultur und Bildung. Wir können nicht so tun, als ob nichts passiert. Unsere Kultur wird ausgelöscht. Sie wollen uns ausradieren. Und als Antwort werden wir immer stärker und stärker.

Was meinen Sie, wenn Sie vom „jetzigen Moment“ sprechen?
Das Album Caboclo Sereia wurde am 31.10.2008, genau 3 Tage nach der Wahl von Bolsonaro veröffentlicht. Wir wussten schnell, dass es in den folgenden Jahren nicht einfach sein würde, einen so voreingenommenen und unmenschlichen Repräsentanten zu haben. Es ist nicht leicht, hier zu leben, besonders als Künstler, Slumbewohner und Schwuchtel. Seit Michel Temer im Jahr 2016, nach Dilma Rousseffs Amtsenthebung, als Präsident fungierte, sind wir im Begriff die brasilianische Demokratie abzubauen. Dieser Rückschlag begann, als wir die erste gewählte Präsidentin unseres Landes aufgrund eines politischen Manövers verloren hatten. Nicht alle halten es aus, hier zu leben: Man muss viel Willenskraft und Kreativität besitzen, um Wege und Möglichkeiten zu finden, um mit Würde zu leben. Besonders wenn du nicht privilegiert, nicht weiß und nicht aus reicher Familie bist. Ich denke jeden Tag darüber nach, wie ich etwas anders machen und in der Lage sein kann, auch nur ein wenig von diesem unterdrückenden, patriarchalischen, chauvinistischen und kapitalistischen System zu verändern. Ich glaube daran, dass sich das ändern wird, denn die benachteiligten Minderheiten stellen hier die überwiegende Mehrheit und bringen viel Kraft auf die Straße. Wir kämpfen, in der Kunst und im Leben. Jeden Tag!

 

REVOLUTIONÄRIN SEIT BEGINN

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Magaly Quintana Pereyra – La Maga // Foto: Margarita I. Montealegre

Martha Magaly Quintana Pereyra gehörte zu jenen unbeugsamen Menschen, die sich nicht zum Schweigen bringen lassen, die mit Konventionen brechen, auch wenn sie dafür beschimpft und diskreditiert werden.
Sie begann früh mit der Rebellion, lehnte die vorgeschriebene Kleiderordnung ab. Ihre Familie verschaffte ihr ein Stipendium – ausgerechnet an der Universität La Asunción, wo die Töchter der oberen Mittelschicht und Vermögenden studierten, unter ihnen die Töchter Somozas (Diktator Nicaraguas der 1960er Jahren, Anm. d. Übers.).
La Maga kannte man im Jahr der sandinistischen Revolution als „Leutnant Quintana“. Doch im gleichen Jahr wurde diese schöne, kämpfende Frau unehrenhaft entlassen.
Ich traf sie in den 1970er Jahren in León. Als ich zur Universität kam, gehörte sie zu den Galionsfiguren der Studierendenbewegung. Sie war sparsam gekleidet, trug Miniröcke, spielte im Studierendentheater der Universität, sprach sich während der Mahnwachen gegen die Verteuerung von Milch und Benzin aus oder unterstützte die Streiks der Gewerkschaft der Tischler, Maurer und Schiffsleute (SCAAS).

„Ich ziehe mich nicht zurück, da habt ihr eure CUUN. Tschüss!”

La Maga ist Bestandteil meiner frühesten Erinnerungen an den Widerstand der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) gegen das autoritäre Modell. Sie hörte auf, in León zu studieren und trat plötzlich als Leiterin des Universitätszentrums der Nationalen Universität (CUUN) in Managua auf. Diese Organisation sowie die Revolutionäre Studierendenfront galten als zwischengeschaltete Einheit der Sandinistischen Front, um Guerillas und Kollaborateure zu rekrutieren, Ressourcen zu beschaffen und die Guerillas zu finanzieren.
Anfang der 1970er Jahre erfuhr man von Denunziationen durch die Zeitung La Prensa. Die Bäuerin Amada Pineda, Ehefrau eines Führers der sozialistischen Partei in Matagalpa, war von der Nationalgarde von Somoza festgenommen und wiederholt vergewaltigt worden. Gleich nach ihrer Amtseinführung als Präsidentin der CUUN gab La Maga eine Erklärung ab, in der sie den Angriff verurteilte. Sofort befahl ihr die FSLN, sich zurückzuziehen. Sie sagte zu ihnen, typisch für sie: „Ich ziehe mich nicht zurück, da habt ihr eure CUUN. Tschüss!“ Und gründete gleich eine Menschenrechtskommission an der Universität, an der sie auch Journalismus studierte. Sie entwickelte sich zu einer beeindruckenden Kommunikatorin.
Mit der gleichen rebellischen Haltung nahm sie ihre sexuelle Identität an. Sie und andere wurden beschuldigt, die Frauen der sandinistischen Bewegung mit lesbischen Ideen zu „korrumpieren“.
Damals begannen Frauen unter dem feministischen Banner und mit dem Theater als Werkzeug die Basisarbeit. Das Frauenkollektiv von Matagalpa wurde gegründet. Zusammen mit ihrer Partnerin María Cavalleri und anderen Frauen klärten sie Hebammen über ihre Rechte auf, gründeten ein Geburtshaus, ein Radio und entwarfen ein Programm zur Alphabetisierung. All dies gibt es noch heute, obwohl sie damals zu der CUUN, und diese zu ihr „Tschüss!“ gesagt hatte.
Ich sah, wie sie die Impulse zum ersten und zweiten Feministischen Nationalkomitee gab, das zentralamerikanische Programm La Corriente sowie die Gruppe für sexuelle und reproduktive Rechte unterstützte.
Nachdem La Maga bei der Organisation der ersten feministischen Gruppen in Matagalpa, Masaya und Managua half, gründete sie den Ableger der Katholikinnen für das Recht auf Entscheidung (CDD) in Nicaragua. Sie entwickelte sich zum Liebling der Presse, wurde fast täglich zu jedem Thema in Verbindung mit Frauen gefragt – ob Feminizide, Vaterschaftstests oder Müttersterblichkeit. Das führte dazu, dass die CDD als Armee wahrgenommen wurde, was sie nicht sind, auch wenn sie so arbeiteten und wirkten: Sie schafften es, eine Beobachtungsmission zur Gewalt zu gründen und mehr als 10 Jahre zu betreiben.
Als Freundin versetzte sie Berge, immer präsent und mit praktischen Lösungsvorschlägen, sei es für ihre Freundinnen oder für Opfer von „jeglicher Ungerechtigkeit, die gegen irgendjemanden in irgendeinem Teil der Welt begangen wurde“. Ein Satz, der für mich den Feminismus besser definiert als es diejenigen tun, welche man heute Revolutionär*innen nennt.

 

MAGALY QUINTANA, LA TENIENTE MALBOZALEADA

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Magaly Quintana Pereyra – La Maga // Foto: Margarita I. Montealegre

Desde hace tiempo tengo un proyecto llamado Las Malbozaleadas, en alusión al término que se le da a esas personas irredentas que no hay quien las calle, aquellas que no aceptan imposiciones y rompen esquemas, aunque se las tilde de antipáticas o cabronas. Son semblanzas de buena parte de mis amigas de adolescencia y juventud, con las que compartí historias de guerrillas y movimientos sociales.

Malbozaleada es indicador de no sometimiento, señal de rebeldía, de la resistencia que nos llevó a levantar hombros, dar la vuelta, y pensar ¡umm! están locos estos majes. Ese apego al sentido común, nos salvó. Nos hizo mantener la espalda erguida. Y por eso ahora no necesitamos usar la justificación ñoña: “yo cumplía órdenes”, o cerrar los ojos, desviar la mirada ante la destrucción de los sueños por los que íbamos a morir. Y así se explica que hoy nos encontremos entre las señoras azul y blanco, vandálicas”.

La Martha Magaly Quintana Pereyra era de las primeras candidatas de mi proyecto, y, como buena malbozaleada, hizo lo que quiso y se fue sin avisar. Desde aquí la honro y la despido entre lágrimas y risas pensando en su vida.

Como casi todas las malbozaleadas, la rebeldía le empezó temprano rechazando los vestidos y las mangas abombadas estilo repollo, como les dice Sofía Montenegro, que llevaban un forro de tela como de mosquitero pero tieso-tieso, para abombar el vestido y parecer princesa. Para colmo de males, su familia le consiguió una beca en el colegio La Asunción, donde estudiaban las hijas de la gente de clase media alta o muy adinerada, entre ellos las niñas Somoza.

Cada día en lugar de rezar, meditaba ¿qué maldad hago hoy a estas monjas? Una vez, como su tía era costurera del colegio, tomó un vestido de una congregación piadosa y desfiló con ellas, con las piadosas y bien portadas. Las monjas la sacaron arrastrada, pero siguió en el colegio hasta bachillerarse. Fue basquetbolista como su padre y sus compañeras de clase recuerdan que temían les lanzara la bola quemada (un balón disparado con tal fuerza que quemaba la piel).

A la Maga se le conocía como la “teniente Quintana” en el año del triunfo sandinista. A esta mujer bella y luchadora le dieron baja deshonrosa en el primer año de la Revolución. La conocí en León en los años 70. Cuando llegué a la universidad, ella era de las vacas sagradas del movimiento estudiantil. Caminaba con parsimonia, vestía minifaldas a la orilla del calzón, actuaba en el Teatro Estudiantil Universitario y se movía dando órdenes durante las vigilias mientras hablaba en contra del alza de la leche y la gasolina o dando apoyo a las huelgas del Sindicato de Carpinteros, Albañiles, Armadores y Similares. Yo la miraba y decía: ¡Queeee revolucionaria!

Una noche, sentada en las gradas del recinto del año básico, la vi pasar abrazada con el muchacho que me gustaba. Abandoné mis intentos de ser novia del joven que se parecía a Bobby Benítez, el guitarrista o cantante de un conjunto mexicano, Los Yaqui. No iba yo a competir con la electa Miss Poneloya, coronada a la orilla del mar en el ahora desaparecido restaurante Rancho Sonoro. Su foto, con peinado estilo patito, abombado y puntas para arriba, cachitos en los ojos, tacones cuadrados go-gó medias de nylon, fue alevosamente distribuido por sus amigas, cuando ya ella era un ícono de resistencia a la moda, mamá de las desgarbadas y feminista ilustre.

“No me retracto, allí está su CUUN. ¡Adiós!”


La memoria más temprana que tengo de resistencia al modelo autoritario del FSLN entre la militancia, fue de ella. Dejó de estudiar en León y de repente apareció como jefa del Centro Universitario de la Universidad Nacional (CUUN) en Managua. Esta organización, así como el Frente Estudiantil Revolucionario, se consideraba un ente intermedio del Frente Sandinista para reclutar guerrilleros y colaboradores, conseguir recursos y financiar la guerrilla.

Ya en Managua, su papá la matriculó en la UCA. No aguantó ni dos meses, le “cayó mal” la UCA y se matriculó en su amada UNAN, donde rápidamente pasó de activista a presidenta del CUUN. A principios de los 70, se conoció la denuncia a través del diario La Prensa, de que la campesina Amada Pineda, esposa de un líder del partido socialista en Matagalpa, había sido apresada y violada repetidamente por la Guardia Nacional de Somoza. Desde su investidura como jefa del CUUN, la Maga como presidenta, emitió un comunicado condenando la agresión. Inmediatamente, el FSLN le ordenó que se retractara. Ella, muy ella, les dijo: “No me retracto, allí esta su CUUN. ¡Adiós!”. Y formó una Comisión de Derechos Humanos en la universidad donde estudió Periodismo, luego se convertiría en una comunicadora formidable.

Después de 1979 la reencontré en Matagalpa, cuando todas sus propiedades alcanzaban en una mochila, pero antes trabajó en la cárcel de régimen abierto donde realizó un trabajo profundo con los presos. Allí conoció a un preso que había sido el cocinero de Somoza a quien le dio clases. Promover un tratamiento diferente hacia los privados de libertad, tratarles de forma humana y distinta del sistema carcelario, la hacían lo que era.

Desubicada o más bien rebelde ante el régimen que se venía imponiendo, como lo hizo ante la aparición de un famoso anuncio publicitario supuestamente a favor de la revolución donde un campesino, tras una alambrada, decía: “Yo soy libre como la luz del día”. El diario de oposición, La Prensa, entrevistó al campesino y él negó esta relación, razón por la que el Gobierno empezó una campaña en contra del diario con imágenes de Pablo Antonio Cuadra y el Cardenal Miguel Obando quienes gruñían como cerdos, a la que se opuso de forma franca y directa. Sobre esto, contó:

“Yo de idiota que me meto en lo que no me llaman, me fui al correo a poner un telegrama a Iván García, quien era el director del Sistema Sandinista de Televisión, diciéndole que los mensajes que no educan no son revolucionarios y lo firmo como teniente Quintana. Pasaron dos o tres meses y todo en tranquilidad hasta que un día me dicen que el jefe del Sistema Penitenciario Nacional me citaba al día siguiente a las 8 en su oficina. Yo me quedé súper feliz, pues en mi pensamiento me imaginé que me iban a subir de grado, por lo tanto, iba a ser capitana y saldría de mi pobreza extrema. Además, mínimamente me entregarían un Lada, aunque fuera muy viejito y todo chocado o un WAS. Así que a las 7 en punto estaba en la oficina del jefe esperando y con todo mi rostro bien sonriente.

Cuando entró a las 10 de la mañana a su despacho, le veo cara de perro y pensé que la esposa o su amante, lo había tratado mal la noche anterior. Mi susto fue que me dijo que tenían varios meses de andarme buscando y mi respuesta fue “que extraño porque yo siempre llego a mi trabajo”, cosa que lo puso más arrecho, y empezó a decirme que Tomás Borge se había coordinado con Humberto Ortega para que me rastrearan, y que estaban pensando darme de baja deshonrosa por haberme atrevido a enviar semejante telegrama.

Por supuesto que de inmediato le respondí que la baja me tenía muy sin cuidado y que seguía manteniendo mi postura. Resultado: me quedé sin lada, sin Was, sin ser capitana y al mes siguiente ya me estaban proponiendo mi retirada del Ministerio del Interior, cosa que acepté muy contenta porque sí algo nunca entendí en mi vida, es qué estaba haciendo yo en ese lugar.

Otro de sus capítulos, siempre rechazando lo establecido, es cuando Mónica Baltodano, quien fungía como secretaria de la Presidencia durante los años 80, la llevó de asistente a la Casa de Gobierno y casi se queda con el puesto, porque no la asistía sino que podía sustituirla, recuerdan los cercanos. Pero un día se aburrió y se fue. Además, dice, que tenía que andar elegante en el trabajo, y eso no le gustaba.

Con esta misma rebeldía asumió su identidad sexual. Fue acusada, con otras, de “corromper” a la militancia femenina con ideas lesbianas. Aquello fue un soberano escándalo. En Matagalpa, en donde trabajaba, el Frente organizó una asamblea y la acusó de toda clase de “desviaciones ideológicas”. En la asamblea ella se levantó y les dijo: “Todo eso me lo dicen por lesbiana”. Entonces, Daniel Núñez, el todopoderoso jefe de Reforma Agraria, y a quien yo tenía como machista, se levantó y les dijo: ¿Qué les pasa a ustedes? dejen a la muchacha en paz, si ustedes hacen cosas peores. Y si no la quieren en el FSLN, en el INRA, Magaly, tenés trabajo. ¡Toma canalla!

Ya entonces empezaba el trabajo de hormiga de organizar a las mujeres bajo la bandera feminista con el teatro como vehículo. De allí, pasó a la creación del Colectivo de Mujeres de Matagalpa. Con su pareja María Cavalleri, una italiana hermosa que falleció de cáncer, y otras mujeres, organizaron y capacitaron a las parteras, crearon una casa materna, una radio, una cartilla de alfabetización con metodología de educación popular, aún en uso. Todas esas creaciones todavía permanecen, aunque como el CUUN, en su momento, ella les dijo o le dijeron ¡Adiós!

Sobre la militancia, en lo que ahora se nombra, la diversidad sexual, la Maga fue una de las primeras en capacitar sobre sexualidad, entender que sexo y amor no tienen que ir juntos, que hay opciones, y que reivindicar el placer y la autonomía del cuerpo es una acción feminista. Ella ayudó mucho para que jóvenes de barrios populares en León y Managua salieran del closet. “Y como todo mundo se volvió lesbiana, me volví heterosexual”, decía.

La vi impulsando el primero y segundo Comité Nacional Feminista, el Programa Centroamericano La Corriente y el Grupo por los Derechos Sexuales y Reproductivos, y cuando éste se amplió, integró al Movimiento Autónomo. A ella se debe que las excluidas de éste se nombraran Movimiento Feminista. Fue: “Ah, ustedes son autónomas, nosotros somos feministas”. A mí me parecía una jugada maestra. Pero también se fue de esta organización o la fueron.

Después de haber contribuido a la organización de los primeros grupos feministas en Matagalpa, Masaya y Managua, fundó Católicas por el Derecho a Decidir (CDD) capítulo Nicaragua. Su astucia como estratega de comunicación logró que en estos tiempos digitales, siendo una sesentona nica consiguiera 194 mil visitas en su página, un hito solo para señoras analógicas. Lo sé. Humildemente lo sé. Un millenial tiene más de 200 mil seguidores y ni suda. A mí me comparten una publicación más de mil veces y me viene una pequeña muerte.

Y según yo, se convirtió en mimada de la prensa nacional, que le consultaba casi a diario sobre cualquier tema relacionado con las mujeres, sea este femicidio, pruebas de paternidad, mortalidad materna, etc. Eso ha dado a creer que las CDD son un ejército. No lo son, pero trabajan e impactan como si lo fueran. Además de crear y mantener un Observatorio sobre violencia por más de 10 años, realizaba un activismo digital envidiable a favor de diversas causas, la lucha Palestina, por ejemplo.

Ayudaba en todo lo que podía. Así funcionó con el muchacho que requería una prueba de paternidad porque pensaba que era hijo de un malquerido comandante. O a las madres de mujeres asesinadas por hombres machistas, a quienes les ayudó a entender que sí pueden buscar justicia, dónde denunciar o pedir el informe de Medicina Legal porque el sistema tiene mil y una trampas para esconder los femicidios.

Cuando un caso aparecía como suicidio, las CDD eran detectives al estilo CSI: buscaba en Facebook, buscaba direcciones, papeles, se informaba e informaba. Una gran ayuda para las familias que por lo general no saben dónde preguntar o denunciar. “Si no se hace justicia, al menos que se denuncie”, era su mantra.

Los 90 la encontraron en las calles protestando. Siempre buza como ella calificaba a la gente inteligente. Durante una protesta, donde había un gran cordón de antimotines, se amarró con Irving Dávila, (q.e.p.d) y fue a reclamar a los policías. Ante el alboroto que armó, un nutrido grupo de ´los hombres de negro´ se vino contra ella, mientras la gente joven avanzó donde iban a llegar e hicieron las pintas.

Para los guardas de la Corte Suprema de Justicia, donde a menudo las CDD convocaban a plantones, ella era Luisa. Sucedió que estaban parando el tráfico por cinco o 10 minutos y preguntaron quién era la responsable, la señalaron, el policía se le acercó y le preguntó cuál era su nombre. Ella inventó uno y luego lo olvidó. Durante otra actividad, un guarda se acercó jalándola de la camiseta:

• ¡Doña Luisa, doña Luisa, no cierre el tráfico! 

• ¡¿Qué?, ¡Yo no soy Luisa!, dijo ella.

• ¡Como no!, la tenemos apuntada, usted es Luisa Lane, le dijo el guarda.

Ocurrencias marca Magaly. No entiendo la razón, pero mucha gente la confundía con doña Vilma Núñez de Escorcia. Un día, durante una protesta, le enllavaron las llantas de su carro. Cuando le avisaron salió hecha un basilisco y mientras la gente gritaba ¡se llevan el carro de doña Vilma! la Maga les mentaba toda la parentela a los policías. Uno de ellos le dijo, que barbaridad ésta doña Vilma tan seria que se ve en la televisión y tantas vulgaridades que nos dijo. Finalmente, no se llevaron el carro de “doña Vilma”.

Cuando salvaron de la cárcel a un joven hijo de una deportista famosa, con la excusa de que las cervezas le habían causado “el arrebato de violar”. Su grupo llegó a derramar cervezas a los portones de la CSJ. Edén Pastora y Edwin Castro pueden dar fe de su bravía, al primero lo bajó de una tribuna tirándolo de la camisa porque no dejaba hablar a una feminista, y al otro, lo tiró al suelo y le pegó una sopapeada delante de sus paralizados custodios. Eso fue el día que prohibieron definitivamente el aborto terapéutico en Nicaragua. Seguramente uno de los más tristes de su vida, esa vida dedicada al amor, la defensa de las mujeres y la lucha por los derechos humanos.

Puede ser que a estas alturas algunxs digan qué mujer más invivible, yo digo mujer leal, capaz de mucha ternura. Como amiga movía montañas, siempre presente y resolviendo clavos prácticos, así fueran sus amigas o las víctimas de “cualquier injustica, cometida contra cualquiera en cualquier parte del mundo”, frase que a mí me parece define mejor al feminismo, que a quienes hoy se llaman revolucionarios. Por eso te digo, ay mi Maga, te fuiste como querías, de un solo y volando verga a la dictadura. Me vas a hacer falta, malbozaleada.

 

NICHT MEHR ZU STOPPEN


Grüne Flut Demonstration am 28. Mai in Buenos Aires // Foto: Inés Ripari

Trommelwirbel und Sprechgesänge schallen durch das Zentrum von Buenos Aires. Wo sonst Busse und Autos fahren, werden Infozelte und Essensstände aufgebaut. Es ist ein sonniger Herbstnachmittag und der Strom an Menschen, die ein grünes Tuch um den Hals oder ans Handgelenk gebunden tragen und auf den Vorplatz des Kongresses ziehen, bricht über Stunden nicht ab. Grün, das ist die Farbe der argentinischen Kampagne zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Und diese hat am 28. Mai zu einer erneuten „Marea Verde“, einer „grünen Flut“ im ganzen Land aufgerufen.

Es sind vor allem Schüler*innen, junge Frauen und Queers, die den Platz an diesem Dienstagnachmittag einnehmen. Das grüne Glitzer ist zurück auf den Wangen und Augenlidern. Sie wirken entschlossen. Man merkt, dass sie mit der feministischen Bewegung der letzten Jahre groß geworden sind. Chiara ist 15 Jahre alt und mit ihren Schulfreund*innen da, über mehrere Stunden performen sie ausgefeilte Choreografien zu selbstgetexteten Demoliedern. In einer kurzen Pause erzählt sie: „Wir haben kaum Sexualkundeunterricht an unserer Schule, obwohl es seit 2006 ein gesetzliches Recht auf eine integrale Sexualerziehung gibt. Die Aufklärungsworkshops, die alle paar Monate stattfinden, sind grottenschlecht. Also haben wir angefangen, uns selbst zu organisieren, Versammlungen in der Schule abzuhalten und uns gegenseitig zum Thema Abtreibung zu informieren. Das Recht auf Sexualerziehung und auf Abtreibungen gehört für uns zusammen.“

„Macri Ciao, Macri Ciao, Macri Ciao Ciao Ciao“

Während Chiara spricht, stimmen ihre Freund*innen den nächsten Song an: Ein Bella Ciao-Cover auf argentinisch. Sie schleudern ihre grünen Halstücher in die Höhe und rufen dabei gen Kongress „Macri Ciao, Macri Ciao, Macri Ciao Ciao Ciao.“ Dass im Oktober gewählt wird und dass die Sparpolitik des Präsidenten Macri nicht mehr auszuhalten ist, ist seit Monaten allgegenwärtiges Thema bei den feministischen Mobilisierungen. „Alles was Macri macht, ist einfach nur schlecht.“, findet Chiara. „Wir fordern kostenlose Abtreibung in allen staatlichen Krankenhäusern und er schafft erstmal das Gesundheitsministerium ab. Das ist doch ein Witz.“ Im September letzten Jahres, nach einem rasanten Anstieg des Dollarpreises, hatte Macri sein Kabinett von 19 Ministerien auf 10 zusammengeschrumpft. Dabei wurde aus dem vorher eigenständigen Gesundheitsministerium ein Se­kretariat innerhalb des neugegründeten Ministeriums für Gesundheit und soziale Entwicklung. Mehrere Ministerien in einem bedeutet weniger Ressourcen für die einzelnen Bereiche. Diese Voraussetzungen erschweren die Umsetzung des aktuellen Gesetzesvorschlags.

”Wir trans Männer treiben auch ab” Federico auf einer Demo

Im Kern hat sich an den Forderungen seit 2005 wenig verändert. Diese lauten: Legale, kostenlose und sichere Abtreibung bis zur 14. Schwangerschaftswoche, im Fall einer Vergewaltigung sowie wenn die Gesundheit oder das Leben der schwangeren Person bedroht sind, auch nach der 14. Woche. Es sollen Beratungsstellen im ganzen Land eingerichtet werden. Diese aufzusuchen, soll aber freiwillig bleiben. Ein Abbruch soll innerhalb von fünf Tagen in jedem öffentlichen Krankenhaus möglich sein. Veränderungen gab es bei der Inklusivität des Entwurfs. Abtreibungen sollen für alle Menschen, unabhängig vom Aufenthaltsstatus, zugänglich sein. Außerdem ist nicht mehr nur von Frauen die Rede, sondern von allen gebärfähigen Personen. „Dadurch, dass insgesamt mehr öffentlich über Abtreibungen gesprochen wurde, wurde ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass nicht nur cis-Frauen abtreiben, sondern auch Menschen mit anderen Genderidentitäten, zum Beispiel wir Trans und Nonbinaries“, erklärt der 17-jährige Federico, der auch schon 2018 bei den Mobilisierungen dabei war. Auf die Frage, warum er für die Legalisierung von Abtreibung auf die Straße geht, antwortet Federico: „Das Grundrecht, selbst über unsere Körper zu bestimmen, ist uns der Staat seit dem Ende der Diktatur in Argentinien noch schuldig. Für uns war die Demokratie nie eine richtige Demokratie, denn unsere Identität, unsere Körper, unsere Lebens­weisen werden unterdrückt. Wir wollen selbst über unsere Lebensentwürfe und Familienplanung entscheiden können.“

Obwohl Schwangerschaftsabbrüche in Argentinien momentan unter den drei Umständen der Bedrohung der Gesundheit beziehungsweise des Lebens der schwangeren Person oder nach einer Vergewaltigung bereits legal sind, gibt es täglich Fälle, in denen Ärzt*innen oder ganze Krankenhäuser Schwangeren ihr Recht auf eine Abtreibung verweigern. Viele Schwangere suchen daher erst gar kein Krankenhaus auf, um sich nicht mit der Situation von Schuldzuweisung und Stigmatisierung konfrontieren zu müssen. „Etwa 500.000 klandestine Schwangerschaftsabbrüche finden pro Jahr in Argentinien statt“, beschreibt Victoria Tesoriero, Dozentin für Soziologie und Aktivistin der Kampagne, die Situation. „In den letzten Jahren sind daher feministische Netzwerke und Beratungsstellen entstanden, die Abtreibungen mit Misotropol-Tabletten begleiten. Diese finden zu Hause statt. Aber diese Informationen kommen nicht bei allen Schwangeren an. Es gibt eine riesige Kluft zwischen Buenos Aires und den restlichen Provinzen was den Zugang zu medizinischer Grundversorgung betrifft. Das Risiko, an einer klandestinen Abtreibung zu sterben, hängt davon ab, in welcher Provinz und in welcher sozialen Klasse man geboren wird. 2018 sind 33 Frauen bei klandestinen Abtreibungen umgekommen, in den Jahren zuvor noch viel mehr.“ Sie hat selbst mit 15 abgetrieben. „Meine gesamte Familie hat damals Geld zusammengelegt, damit ich in eine Klinik gehen konnte. Mein Vater dachte, ich würde sterben. Viele Jahre lang habe ich nicht darüber geredet. Gegen Ende meiner Schulzeit fing ich dann an, mich in Frauenorganisationen zu engagieren, ich fuhr zum ersten Mal zum Nationalen Frauentreffen und lernte dort die Aktivist*innen der Kampagne kennen und schloss mich der Gruppe an. Das war vor elf Jahren.“

Vom Geschehen auf dem Platz bekommt Victoria diesmal nur über die Whatsapp-Nachrichten etwas mit, die sie immer wieder drinnen im Kongress erreichen. Sie ist Teil der Delegation der Kampagne, die die Pressekonferenz im Abgeordnetenhaus hält. Diese wird per Livestream auf einem Bildschirm draußen übertragen. Es ist bereits dunkel, als der letzte der 20 Punkte des Gesetzesentwurfs verlesen wird. Die Vertreter*innen der Kampagne drinnen wie die Menschen auf der Straße brechen in Jubel aus. Immer wieder werden Erinnerungen an die Demos des letzten Jahres geteilt, wie kalt es im Juni bei der Debatte im Abgeordnetenhaus war, wie sie unter mitgebrachten Decken zusammenrückten und Wein zum Aufwärmen tranken. Wie unangenehm der Regen bei der Senatsdebatte im August war, wie still es wurde, als die Entscheidung des Nein die Runde machte, wie fassungslos alle waren. Es klingt, als seien diese kollektiven Momente im Kampf um reproduktive Rechte Schlüsselereignisse dieser Generation argentinischer Frauen und Queers. Alle sind sich sicher, dass das Gesetz durchkommt. Wenn nicht dieses Jahr, dann spätestens im nächsten.

“Unser Hauptziel ist es gerade, Einfluss auf den Wahlkampf zu nehmen und Druck aufzubauen”


„Zu einer Abstimmung über das Gesetz kommt es wahrscheinlich erst nach den Wahlen. Unser Hauptziel ist es gerade, Einfluss auf den Wahlkampf zu nehmen und Druck aufzubauen. Die Kandidat*innen und Parteien sollen öffentlich Stellung nehmen, wie sie zum Thema Abtreibungslegalisierung stehen“, erklärt Victoria nach der Pressekonferenz. Noch am Dienstag unterschreiben 70 von 257 Abgeordneten den Gesetzesentwurf. Eine Umfrage der Kampagne hat 2018 ergeben, dass 70 Prozent der Argentinier*innen für die Legalisierung von Abtreibungen sind. Ersten Schätzungen zu Folge sind es 500.000 Menschen, die am Dienstag an über 100 Orten in Argentinien auf der Straße sind. In den sozialen Netzwerken zirkulieren Fotos von Kundgebungen aus der ganzen Welt, stets mit einem Meer aus grünen Pañuelos. Über das Ausmaß der Demonstrationen zeigt sich Victoria überrascht. „Es war ja ‚nur‘ die Präsentation des Gesetzesentwurfs. Wie wird das erst, wenn tatsächlich abgestimmt wird? Diese Bewegung ist nicht mehr zu stoppen.“

Als der offizielle Akt vorbei ist, stehen in den Straßen des Kongressviertels schon die Grills bereit. Es gibt Bier und Musik und der Geruch nach Grillfeuer mischt sich mit dem Rauch grüner Bengalos, die immer wieder gezündet werden. Um kurz vor Mitternacht leert sich der Platz, denn für den 29. Mai ist ein Generalstreik angesagt und der öffentliche Verkehr steht für 24 Stunden still. Doch schon bald sollten sie alle zurückkommen. Das feministische Kollektiv Ni Una Menos hat für den 3. Juni zum fünften Mal zur jährlichen Großdemo ausgerufen.

 

SICHTBAR, ENGAGIERT UND HARTNÄCKIG

Wettbewerb Miss America Continental in Tegucigalpa, Honduras // Fotos: Markus Dorfmüller

Die Regenbogenfahne ist natürlich dabei, wenn es am 17. Mai wieder auf die Straße geht. Sie hängt im Aufenthaltsraum von Arcoíris (Regenbogen) an der Wand. Im Zentrum von Tegucigalpa, nur ein paar Steinwürfe vom Busbahnhof, hat die 2003 gegründete LGBTI*-Organisation ihr Büro, zu dem auch Aufenthaltsräume gehören. Hier trifft sich die queere Szene der honduranischen Hauptstadt, organisiert Kampagnen, tritt für die eigenen Rechte ein und feiert hin und wieder auch Partys. „Bei unserem ersten Marsch gegen die Homophobie und für die Rechte unserer queeren Community waren wir gerade zwanzig, im letzten Mai immerhin rund tausend Personen“, erinnert sich Donny Reyes.
Der stämmige Mann Ende 40 ist Gründungsmitglied und Koordinator von Arcoíris, einer Organisation, die sich für die Menschenrechte der queeren Gemeinde engagiert. Um die ist es mies bestellt, denn Honduras gehört weltweit zu den gefährlichsten Ländern für LBGTI*-Aktivist*innen. 38 Morde wurden von den LGBTI*-Organisationen des Landes im Laufe des letzten Jahres registriert – ein Mord weniger als 2017. Alle anderen Angriffe summieren sich zu Hunderten. „Am sichtbarsten und am verwundbarsten sind trans Frauen“, so Donny Reyes. Die organisieren sich bei Arcoíris als Muñecas de Arcoíris, auf deutsch übersetzt Regenbogenpüppchen. Ein sarkastischer Titel, den die Frauen bewusst gewählt haben. Jeden Dienstag treffen sie sich im Büro in der dritten Avenida des Concepción, einem Handwerkerviertel am Rande des Zentralmarkts von Tegucigalpa. „Nur ein paar Blocks entfernt, rund um den Parque El Obelisco, befindet sich der trans Strich von Tegucigalpa“, so Donny Reyes. Viele der trans Frauen, die dort ihren Lebensunterhalt verdienen, haben keine Ahnung von ihren Rechten und das versuchen Reyes und seine Kolleg*innen zu ändern – mit Workshops, aufklärender Informationsarbeit und Beratung in den Räumen der Nichtregierungs­organisation.

Mit einem Musterprozess soll die Straflosigkeit beendet werden


Die beiden trans Frauen Bessy Ferrera und Paola Flores leiten und koordinieren die Arbeit der Muñecas de Arcoíris und haben selbst einschlägige Erfahrungen mit Diskriminierungen gemacht. Bessy Ferrera fährt sich mit dem Daumen über die Kehle. Dann deutet sie auf die wulstige rund fünfzehn Zentimeter lange Narbe unterhalb ihres Schlüsselbeins. „Ein Freier wollte nach dem Sex nicht zahlen und hat mir von hinten versucht die Kehle durchzuschneiden“, sagt die Frau von Mitte dreißig. „Nur weil er das Messer zu tief angesetzt hat, sitze ich noch hier“, sagt sie mit einem bitteren, rauen Lachen. Fast verblutet ist sie damals, konnte sich aus dem Hinterhof gerade so auf die Straße schleppen, wo jemand einen Krankenwagen rief. Die mit groben Stichen genähte Narbe erinnert sie bei jedem Blick in den Spiegel an den Angriff vor ein paar Jahren. In einem der Hinterhöfe rund um den „Parque El Obelisco“ im Zentrum von Tegucigalpa fand er statt, nur ein paar Steinwürfe von den Markthallen entfernt. Handwerksbetriebe und mobile Verkaufsstände dominieren das Ambiente tagsüber, nachts dreht sich alles um Sex. Trans- und Homosexuelle gehen mitten in der honduranischen Hauptstadt der Sexarbeit nach. Bessy Ferrera ist eine von ihnen. „In Honduras hat man als trans Frau keine Chance auf einen regulären Job. Was bleibt ist für viele von uns nur die Prostitution“, meint sie und streicht sich eine rotblondgefärbte Strähne aus der Stirn. Abfinden will sich Bessy Ferrera mit der alltäglichen Diskriminierung und Verfolgung aber nicht und deshalb engagiert sie sich bei Arcoíris.

Bessy Ferrera…

und Paola Flores leiten die Arbeit von Muñecas de Arcoíris

„Ein großes Problem ist, dass kaum jemand von uns genau weiß, was für Rechte wir eigentlich haben. Worüber frau nichts weiß, kann sie auch nicht verteidigen“, erklärt Bessy Ferrera mit einem koketten Grinsen. Daran will sie etwas ändern und ist deshalb bei Arcoíris eingestiegen . Erst als Freiwillige, mittlerweile als Stellvertreterin von Paola Flores. Die schmale trans Frau ist das Gesicht der Muñecas de Arcoíris. Vor ein paar Jahren hat sie angefangen rund um den „Parque El Obelisco“ trans Frauen anzusprechen, sie über ihre Rechte im Umgang mit Freiern, aber auch der Polizei aufzuklären. Die eigenen Rechte sind zentrales Thema bei den wöchentlichen Treffen, aber auch die Probleme, denen sich Trans- Bi-, Homosexuelle und die restliche Queer-Szene in Honduras gegenübersieht.

„Wir werden ausgegrenzt, diskriminiert, gedemütigt, vergewaltigt und ermordet“, zählt Paola mit leiser Stimme auf. „Honduras ist eine christlich verbrämte Macho-Gesellschaft in der Rechte der Anderen nicht geachtet werden“, schildert sie das Grundproblem. Hinzu kommt ein nicht funktionierendes Justizsystem. Straftaten gegen LGBTI*-Personen werden nicht geahndet, das monierte auch die Menschenrechtskommission der OAS (Organisation für Amerikanischer Staaten) bei ihrer letzten Visite im August 2018. Laut der Kommission habe es in den letzten fünf Jahren 177 Morde gegeben, von denen kaum einer aufgeklärt worden sei.
Das hat viele Gründe. Einer ist aber laut Paola Flores, dass bei den Verbrechen aus Hass nicht richtig ermittelt werde. „Das beginnt bei der Spurensicherung und endet im Gerichtssaal – wenn es denn überhaupt so weit kommt“, klagt Flores. Wie ein Musterprozess laufen sollte, worauf bei der Spurensicherung, bei der Gerichtsmedizin, aber auch bei der Zeug*innen­vernehmung und im Gerichtssaal geachtet werden muss, wollen die Muñecas anhand eines realen Falles aufzeigen. „Eines Kapitaldeliktes wie Vergewaltigung oder Mord“, so Flores, die derzeit mit Jurist*innen, Ermittler*innen und Gerichts­mediziner*innen im Gespräch ist, um das beispielgebende Tribunal vorzubereiten. Demnächst soll es in Tegucigalpa stattfinden, gefilmt und ins Netz gestellt werden, um so etwas wie einen Leitfaden für den Umgang mit Verbrechen gegen LGBTI*-Personen zu liefern. „Das ist überfällig und positiv ist, dass wir die Zusage über die Finanzierung aus einem EU-Justizfonds haben“, erklärt Flores. Weniger positiv ist allerdings, dass das Geld immer noch nicht eingegangen ist und die Vorbereitungen zum symbolischen Gerichtsprozess deshalb auf Sparflamme laufen. Nichts Neues für die Aktivist*innen von Arcoíris, die nur punktuell Spenden aus dem Ausland erhalten und bei ihren Bemühungen Vorurteile aufzubrechen oft auf sich allein gestellt sind. Journalist*innen, die Fotos rund um den „Parque El Obelisco“ machen, und sich nicht nur privat, sondern auch öffentlich über sie lustig machen, sind, so Bessy Ferrera, alles andere als selten. Oft werden Homo- genauso wie Bi- und Transsexuelle von ihren Familien verstoßen, ergänzt Paola Flores und reibt sich die narbige Wange. Sie hat seit ein paar Jahren die Unterstützung ihrer Familie, während ihre Kollegin Bessy Ferrera Waise ist und nach ihrem Outing von den Pflegeltern vor die Tür gesetzt wurde. So landete sie in der Prostitution und für sie ist Arcoíris so etwas wie ein zweites Zuhause.

Eine der schönsten Drag-Queens des Landes auf dem Laufsteg

Vor allem ihrer Mutter hat es hingegen Paola Flores zu verdanken, dass der Kontakt zur eigenen Familie nicht abriss, obwohl mehrere Familienangehörige evangelikalen Kirchen sowie der katholischen Kirche angehören. Die verteidigen die Heterosexualität als das Non plus Ultra und machen gemeinsam mobil gegen alle Anläufe die gleichgeschlechtliche Ehe in Honduras auf den Weg zu bringen. Folge dieser rigiden Positionierung sind tiefe Gräben, die sich durch viele Familien ziehen. So auch bei den Flores, wo die sexuelle Orientierung des jüngsten Kindes von den Älteren mit Unverständnis und Ablehnung quittiert wurde. „Nur meine Mutter hielt zu mir. Doch das änderte sich mit dem Überfall“. Der ereignete sich im Juni 2009 und Paola Flores hat ihn nur knapp überlebt. „Drei Männer haben mich in meiner eigenen Wohnung, dort wo ich mich sicher fühlte, überfallen. Mich zusammengeschlagen und mit Benzin übergossen und angezündet“, erinnert sich Flores und deutet auf die Transplantate die rechts und links vom Kinn zu sehen sind. Sie hat um ihr Leben gekämpft, sich gewehrt, geschrien und überlebt. Zwei Monate im Koma, neun Monate im Krankenhaus und schließlich ein Jahr im Exil in Mexiko. „Was mir passiert ist, kann auch allen anderen passieren. Dagegen kämpfe ich und deshalb bin ich zurückgekommen“, sagt sie mit fester Stimme und zupft das Halstuch zurück, welches die Narben am Hals verbirgt. Die drei Männer gingen genauso wie der Freier, der Bessy Ferrera umbringen wollte, bisher straffrei aus. Ein häufiges Geschehen in Honduras, wo deutlich über 90 Prozent der Gewaltdelikte gegen LGBTI* nicht geahndet werden. Die Fotos von ermordeten Arcoíris-Aktivist*nnen, die im Treppenhaus neben denjenigen hängen, die sich engagieren, zeugen davon.

Plakat gegen die Diskriminierung von Lesben in Tagucigalpa/Honduras // Foto: Knut Henkel

Die Straflosigkeit soll beendet und der Musterprozess der Muñecas de Arcoíris soll dazu beitragen. „Wir wollen einen Leitfaden publizieren, den Prozess mit der Kamera dokumentieren und zumindest Teile davon auf YouTube oder Facebook posten. Die Justiz darf nicht mehr weggucken“, fordern die beiden Frauen mit ernster Mine.
Dafür engagiert sich auch Donny Reyes, der im Rat der Menschenrechtsorganisationen mitarbeitet, den Kontakt zu Botschaften und Nichtregierungsorganisationen hält und die Events der LGBTI*-Szene vorbereitet. Nicht nur den für den 17. Mai anstehenden bunten Marsch durch die Hauptstadt von Honduras, sondern auch die Parties wie den alljährlich im Februar stattfinden Wettbewerb zur „Königin meiner Heimat“ (La Reina de mis Tierras). Dort laufen dann die schönsten Drag-Queens aus dem Land über den Laufsteg und werden prämiert. „Das ist Party und Polit-Event in einem, denn die Drag-Queens sind auch Botschafter*innen der Szene, engagieren sich für die Menschenrechte und haben eine Aufgabe.“
Doch nun steht als nächstes erst einmal die 17. Mai-Parade im Kalender. Ziel ist es mehr als die 1000 Menschen vom letzten Jahr auf die Straße zu bringen – in einem Ambiente, das alles andere als einfach ist.

 

ASSASSINATO MARIELLE FRANCO: UM LABIRINTO DE PERGUNTAS SEM RESPOSTAS

Für die deutschsprachige Version hier klicken.
(Ilustração: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl)

 

Marielle Franco foi brutalmente executada com quatro tiros na cabeça ao sair de um evento no centro do Rio de Janeiro, em 14 de março de 2018. Com ela, também foi assassinado o motorista de seu carro, Anderson Gomes. Ela era uma defensora dos direitos humanos, cujo ativismo, principalmente em prol de jovens negros e da comunidade LGTBI, rendera-lhe a posto de quinta vereadora mais bem votada.

Em 2019, os assassinatos completaram um ano. Pouco antes de sua morte, Marielle Franco denunciava execuções extrajudiciais cometidas por policiais e agentes do estado nas favelas do Rio de Janeiro. Ela foi relatora da Comissão Representativa da Câmara dos Vereadores, cujo objetivo é monitorar a intervenção federal na segurança pública do estado.

Em detalhes, a arma que matou Marielle Franco foi uma submetralhadora alemã Heckler&Koch. Um modelo HK MP5, de calibre 9mm, de alta precisão e que não costuma ser apreendido facilmente – é uma arma utilizada pelas forças de elite da polícia no Rio de Janeiro.

Pergunta-se como uma arma do arsenal da polícia terá chegado às mãos dos assassinos? Inquéritos sugerem milícias do estado do Rio de Janeiro como possíveis responsáveis pelo crime. Entretanto, mesmo depois de um ano da morte da vereadora e de seu motorista, as investigações mais parecem um labirinto de muitas perguntas sem respostas.  

Confirmada pelo secretário de segurança do Rio de Janeiro em dezembro, a linha de investigação mais aceita é a de que Marielle Franco teria sido morta por milicianos envolvidos na grilagem de terras na zona oeste do estado do Rio de Janeiro. Acredita-se que os criminosos poderiam temer a ação da vereadora de conscientizar os moradores daquela área sobre a usurpação de terras.

O inquérito também aponta alvos de prisões como líderes do grupo “Escritório do Crime”. Segundo veiculado pela imprensa brasileira, a morte de Franco poderia ter custado R$ 200 mil, embora supõe-se que assassinatos cobrados pelo grupo possam chegar a R$ 1 milhão.

Até agora, pelo menos cinco pessoas já foram detidas no caso que investiga a morte da vereadora e de seu motorista. Entre os detidos, um antigo tenente reformado é apontado como chefe da milícia. Outro investigado, o ex-capitão Adriano Magalhães da Nóbrega, do grupo de elite da polícia carioca, o Bope, está foragido.

 

 

 

 

 

 

“Memória de uma guerreira que não se apaga.” Murais no Rio lembram Marielle Franco (Foto: Dominik Zimmer)

 

Já no primeiro mês de Governo, a reputação política do conservador clã Bolsonaro viu-se estremecida: investigações apontaram um possível elo entre o assassinato da vereadora Marielle Franco e o filho do presidente Jair Bolsonaro (PSL). E esse elo teria um nome: Adriano Magalhães da Nóbrega.

Segundo largamente veiculado pela imprensa brasileira em janeiro, o gabinete do ex-deputado e senador eleito Flávio Bolsonaro (PSL-RJ), filho do presidente, empregou, até novembro de 2018, a mãe e a mulher do ex-policial Nóbrega, tido pelo Ministério Público do Rio como um cabeça da milícia “Escritório do Crime”. A mesma organização apontada pelas investigações como possível responsável pelo assassinato de Marielle Franco.

Adriano Magalhães da Nóbrega, que está foragido, seria amigo do ex-assessor de Flávio Bolsonaro, Fabrício Queiroz, investigado sob suspeita de recolher parte dos salários de funcionários do político, uma prática ilegal e alvo investigações; reportou o Jornal o Globo. Ainda segundo o veículo, a mãe do ex-policial, Raimunda Veras Magalhães, teria sido uma das servidoras que faziam repasses à conta de Queiroz.

Pormenores da investigação do assassinato de Marielle Franco e do motorista Anderson Gomes, descritos em um relatório recente da Anistia Internacional Brasil, revelam que Marielle Franco foi morta com quatro disparos na cabeça, de ao todo 13.

A munição, de calibre 9mm, original, teria sido usada pela primeira vez e era parte de um lote da polícia federal. O lote denominado UZZ-18 teria sido vendido pela empresa Companhia Brasileira de Cartuchos (CBC) à polícia federal em 2006.

Trata-se de uma empresa Estratégica de Defesa, e uma das maiores fabricantes de munição do mundo. A CBC é controladora da empresa Taurus. Em dezembro de 2018, o Jornal brasileiro Folha de São Paulo reportou que o Tribunal de Justiça do Rio de Janeiro bloqueou ações ordinárias da CBC sob acusação de que seu dono, o empresário Daniel Birmann, tenha criado empresas, algumas em paraísos fiscais, para esconder ativos.

Já o lote vendido pela CBC, o UZZ-18, teria sido desviado dos Correios no estado da Paraíba, em 2009 – segundo informou o ministro da Segurança Pública brasileiro, citado pela Anistia Internacional.

Os Correios, por sua vez, afirmam não haver registro do incidente. Sabe-se, porém, que armas do mesmo lote teriam sido usadas, em 2015, em uma chacina em São Paulo, nas regiões de Osasco e Barueri, quandfo 20 pessoas foram mortas, possivelmente, com a participação de policiais do mesmo grupo de extermínio que matou a vereadora carioca.

Embora digitais dos assassinos da vereadora e seu motorista tenham sido encontradas nas cápsulas, o inquérito não revela de quem são estas pessoas. Além disso, não está claro como o lote de munições foi extraviado da polícia federal, e por quem.

Se o rastro das munições usadas para matar Marielle Franco e seu motorista Anderson Gomes é obscuro por suas características, fatos e alegadas personagens, também a venda de armas pela empresa alemã Heckler & Koch ao Brasil é um tema controverso.

O ativista alemão Jürgen Grässlin estima que a cada 13 minutos em média uma pessoa tenha morrido no mundo por uma arma H&K desde a fundação da empresa, em 1949. “Segundo as regras anunciadas pela empresa em 2016, a empresa alemã não deveria mais tentar fazer negócios no Brasil”, disse Grässlin à emissora Deutsche Welle, em maio de 2018.

A Alemanha está entre os cinco maiores exportadores de armas do mundo, um setor que emprega pelo menos 50 mil pessoas neste país.

Para além das questões éticas que envolvem a comercialização de armas entre Alemanha e Brasil, questiona-se como essas armas teriam chegado às mãos dos criminosos. Questiona-se os detalhes do crime e os reais envolvidos, e nada se sabe sobre culpados. Enquanto isso, morte de Marielle Franco segue como um elo perdido, em um labirinto de perguntas sem respostas.

 

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