Zauber im Alltäglichen

Ein Windstoß. Ein Regenschauer. Das Rascheln des Grases. Ein Geräusch, tausendmal gehört und doch vielleicht noch nie so bewusst und intensiv, wie in diesem Moment. Dieser Eindruck stellt sich oft ein beim Sehen der exzellent gedrehten Dokumentation El Eco, die einer ländlichen Familiengemeinschaft in einem entlegenen Dorf auf der Hochebene von Puebla, Mexiko, folgt.

© Radiola Films

Der unbestrittene Star ist in El Eco der Ton – aktuell ein kleiner Trend im lateinamerikanischen Film. Schon der letztjährige Gewinner des Silbernen Bären, Robe of Gems, vertraute stark auf das Auditive, um das Geschehen auf der Leinwand fühl- und erfahrbar zu machen. Und auch in El Eco scheinen Donnergrollen, Tiergeräusche oder die leisen und lauten Gespräche der Bewohner*innen oft schärfer, präsenter als in der Realität zu sein. Dadurch verleiht die mexikanisch-salvadorianische Regisseurin Tatiana Huezo (u.a. Tempestad) auch scheinbar alltäglichen Dingen einen magischen Touch. Die virtuose (Hand-)Kamera von Ernesto Pardo steht dem in nichts nach: Wenn ein Junge einem Huhn hinterherjagt oder eine Schafherde über die Wiese trampelt, folgt sie exakt den Bewegungen und man fühlt sich als Zuschauer*in mitten im Geschehen. Dazu hat Huezo ein Gespür für Momente, Blicke und Bewegungen, die Unausgesprochenes transportieren und so ein tieferes Verständnis für Situationen eröffnen.

Diese kleinen Tricks und genauen Beobachtungen sind auch notwendig, um dem Film Spannung zu geben. Denn viel Ungewöhnliches passiert nicht in der Siedlung El Eco (das namensgebende Echo gibt es dort wirklich). Frauen und Kinder bewirtschaften die Höfe, pflegen Tiere und die greise Großmutter, während die Männer weit weg auf Baustellen Geld verdienen. Der zugrunde liegende Machismus wird direkt und indirekt spürbar: Eine Mutter hat ihre Schulausbildung für die Familie abgebrochen, der toughen Jugendlichen Montse wird die Teilnahme an Pferderennen verboten und auch einige sexistische Sprüche gibt es zu hören. So wird ein Junge von seinem Vater am Abräumen des Tisches gehindert, denn dafür seien „die Frauen da“. Die Männer würden schon genug hart arbeiten müssen. Trotz allem gelingt es Tatiana Huezo aber auch, Momente einzufangen, in denen die Frauen und Mädchen versuchen, die patriarchalen Strukturen aufzubrechen und zu verändern.

Die Abgeschiedenheit von El Eco bietet den Kindern und Jugendlichen zwar eine geborgene Welt mit Naturerfahrungen, Freundschaft und unbeschwertem Spiel in Sicherheit, die nicht allen ihren Altersgenoss*innen in Mexiko vergönnt ist. Unter dem präzisen Blick, den der Film auf sie legt, wird aber auch schmerzlich deutlich, dass sich nicht alle ihre Träume und Wünsche  in El Eco verwirklichen lassen werden.

Tatiana Huezo zeigt mit El Eco erneut, warum sie momentan als eine der talentiertesten Dokumentarfilmer*innen Lateinamerikas gilt. Der Film ist eine beeindruckende Beobachtung der harten und entbehrungsreichen Lebensrealität in der mexikanischen Peripherie, der sie durch die Kunst des Filmemachens aber einen besonderen Zauber verleiht. Einziges kleines Manko: Am Ende wirken einige Alltagsszenen etwas repetitiv. Ein paar Minuten weniger hätten dem Film deshalb wahrscheinlich eher genutzt als geschadet.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

Die Suche nach dem Glück

© I Love You Chingos LLC

„The last one is a Republican!“ Dieser simple Spruch beim Wettrennen zwischen den Freund*innen Silvia Del Carmen Castaños und Estefanía „Beba“ Contreras, zugleich Regisseur*innen und Protagonist*innen des preisgekrönten Dokumentarfilms Hummingbirds, entspricht der lakonischen Stimmung, die ihn trägt. Es ist Sommer in Laredo, Texas, wo die mexikanische Grenze in Sichtweite ist. In wackeligen Handkamerabildern, die große Nähe erzeugen, wird das Leben der Freund*innen zwischen Bowling, Bingo und Border gezeigt. Beiläufig und doch unmittelbar beschäftigen sich die beiden mit schweren Themen, die ihre Lebensrealität bestimmen. Estefanías unsicherer Aufenthaltsstatus (sie hat keine gültigen Papiere), die drohende Abschiebung und die eigene Migrationsgeschichte, die beide seit Kindesbeinen bzw. noch im Mutterleib erlebt haben, bilden ein zentrales Thema dieser Doku. Wer den Grenzraum Mexiko-USA kennt, weiß, wie sehr der Austausch beider Welten dort den Alltag bestimmt. Die Doku zeigt die Lebenswelt der Chicano-Community, der aus Mexiko oder anderen Ländern Mittelamerikas stammenden Bewohner*innen der Borderlands zwischen USA und Mexiko. Dort sind auch  Silvia und Estefanía aufgewachsen und verwurzelt. Ihre Sprache ist Spanglish (US-amerikanisches Englisch durchsetzt mit spanischen Halbsätzen), der örtliche Wal-Mart akzeptiert mexikanische Pesos und an jeder Ecke werden Tacos oder Tamales verkauft.

In diesem Setting im geografischen Niemandsland, sehen wir Silvia, Estefanía und ihren Freund*innen einen Sommer lang zu. Wir sehen ihre jugendliche Lebensfreude, das Kichern Pubertierender, aber auch ihren entschlossenen Aktivismus. Sie kämpfen für die Legalisierung von Abtreibung und sind auf der Suche nach einer eigenen Identität ohne binäre Genderzuschreibungen und tradierten Rollenbildern. Das Gestern ist passé, die Zukunft hat noch nicht angefangen. Die Protagonist*innen befinden sich in der Schwebe zwischen Unbeschwertheit, Melancholie und dem Streben nach Glück.

Zurecht gewann Hummingbirds den mit 7.500 Euro dotierten Großen Preisder Jury in der Sektion Generation 14plus. In der Begründung der Jury heißt es: „Für einen berührenden und subtilen Blick in intime Momente eindrücklicher Charaktere, die mit ihrer Freundschaft wachsen […] Ihre Aktionen, Jokes, Lieder, ihr Lachen und ihre Körper sind politisch – und ein notwendiger Weg des Widerstandes.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

Zwischen dem Mythos von Bestrafung und Heilung

Nino lebt mit seiner Familie in Santiago del Estero, Argentinien. Im Alter von vierzehn Jahren ist er dabei, seine Sexualität zu erforschen. Weil er nicht der Norm entspricht, wird er Opfer homophober Angriffe. Um ihn vor Ausschluss und Häme zu schützen, beschließen seine Eltern, die Stadt vorübergehend zu verlassen und die ganze Familie zieht in den Forstbetrieb, in dem sein Vater arbeitet.

Foto: © Tu Vas Voir

In seinem neuen Zuhause inmitten eines dunklen, feuchten Waldes hat Nino Schuldgefühle wegen seiner sexuellen Begierden und weil er das Leben seiner Familie aus den Fugen gebracht hat. Seine 16-jährige Schwester Natalia, die sich von ihren Freund*innen entfremdet hat, verzeiht ihm nicht. Estela, seine Mutter, will Nino wieder auf den rechten Weg bringen und organisiert seine Konfirmation in der örtlichen Kirche. Die Predigten des Pfarrers verstärken Ninos Schuldgefühle, da ihm weisgemacht wird, dass das, was er fühlt und tut, in den Augen Gottes nicht richtig ist.

In dieser ländlichen Umgebung, in der sich Mythos und Religion vermischen, entdeckt Nino die Legende von Almamula, einem in den Bergen lebenden Wesen, das diejenigen entführt, die verwerfliche sexuelle Handlungen begangen haben.  Diese Entdeckung hilft ihm dabei den Kreislauf von Sünde, Bestrafung und Heilung des “cuerpo-territorio” (der in das Territorium verflochtene Körper) zu verstehen. Der Druck der bevorstehenden Konfirmationszeremonie belastet Nino, gleichzeitig wächst seine Faszination für die Almamula, die seine vermeintlichen Sünden an- und auf sich nehmen würde. In einem Prozess des Widerstands und der Suche nach Selbstbestimmung findet Nino in der Almamula die Möglichkeit der Rettung. Um ihr näher zu kommen, betet er zu ihr und geht ihr in den Wald entgegen. Die Schädigung des Waldes spielt in der Handlung zwar eine untergeordnete Rolle, bringt zugleich jedoch symbolisch eine zweite Ebene der Sünde ein: Die des Extraktivismus als Versündigung gegen die Erde. Diese zieht keine äußere, göttliche Strafe nach sich, sondern eine innere, den Verlust der Seele.

Regisseur Juan Sebastián Torales entwickelt einen absolut glaubwürdigen Familienkontext, in dem der Vater abwesend ist und seine Rolle in der extraktivistisch-kapitalistischen Gesellschaft erfüllt, die religiöse Mutter die mentale Belastung und Verantwortung für das moralische Gerüst der Familie trägt, während die Tochter ihren verborgenen, aber rebellischen Weg zur Emanzipation ihres Körpers erkundet.  In diesem Sinne fängt der Regisseur in seinem Debütfilm ein Spektrum sexueller Spannungen ein, das sowohl nachvollziehbar als auch anschaulich ist. Die filmische Besetzung mit den Schauspielern Cali Coronel, María Soldi (Eltern), Nicolás Díaz und Martina Grimaldi (Kinder) als Familienmitglieder lässt uns eine echte Dynamik spüren, die gleichzeitig konservativ und befreiend ist.

Obwohl das Übernatürliche in der Handlung eine starke Präsenz hat, setzt der Film nicht auf Spezialeffekte, sondern konzentriert sich auf realistische Aufnahmen, die mit kleinen Überraschungsmomenten gespickt sind. Die vom Regisseur geschaffene Atmosphäre lädt uns ein, Teil des Mythos zu werden, in dem die Existenz der Almamula oder der Mulaánima uns zu Überschreitungen provoziert und anregt und uns – jenseits der christlichen Dualismen – gleichzeitig bestraft und erlöst.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

Auf einen Schlag erwachsen

Bei der Vorbereitung auf ihre Rolle der Ramona, die im Alter von 15 Jahren erfährt, dass sie schwanger ist, entschließt sich die Schauspielerin Camila Santana den Dingen auf den Grund zu gehen. Das heißt in ihrem Fall, sich auf die Suche nach jungen Frauen zu machen, die als Teenagerinnen oder als sehr junge Erwachsene schwanger werden. Die Gespräche, die sie im Folgenden mit mehreren Gruppen junger Frauen führt, sind Inhalt der Dokumentation Ramona.

© Jaime Guerra

Dabei gleicht der Film eher einer Versuchsanordnung, wechselt häufig das Setting und die Rolle der Befragten. Die oft wechselnden Einstellungen stellen eine Analogie zu den Fragen Camilas her, die versucht, sich die Erfahrungen der jungen Frauen zu eigen zu machen. Das uneindeutige Format, mal dokumentarisch, mal inszenierte Stellprobe und schließlich Elemente aus der Dokufiktion, spiegelt diese Suche treffend wider. Die Doku, die frei-assoziativ verschiedene Themen behandelt, verschwimmt in ihrer Form. Die befragten Mütter werden immer mehr zu handelnden Protagonistinnen. Zudem zeigt der Film eine Dominikanische Republik jenseits der Postkartenidylle, frei von Kitsch. Vielmehr wird ein ungeschöntes Bild des Lebens junger Heranwachsender in den Armenvierteln Santo Domingos gezeichnet. Durch das soziale Gefälle zwischen Camila und den schwangeren Teenagerinnen wird der Klassenunterschied verdeutlicht. Während Camila aus einer wohlhabenden Gegend zu kommen scheint und zunächst wenig Berührungspunkte zur Lebensweise der jungen Frauen aufweist, spielt Ramona beinahe ausschließlich in deren Umgebung, in der von Armut geprägten Comunidad de Gualey. Camila tastet sich suchend voran und kann sich dabei ihre Herkunft nicht zum Vorteil machen, im Gegenteil, sie ist die rubia, diejenige, die nicht dazu gehört. Trotzdem gelingt es ihr im Laufe der Zeit, sich zu integrieren und mit ihren Gesprächspartnerinnen auf Augenhöhe zu interagieren.

© Jaime Guerra

Die werdenden Mütter sind selbst noch beinahe Kinder, die bei ihren (meist alleinerziehenden) Müttern oder Eltern wohnen. So berichtet eine von ihnen, dass sie ihre Spielsachen noch im Zimmer habe und gelegentlich auch mit ihnen spiele.

Allgegenwärtig scheint der machismo, denen die jungen Mütter ausgesetzt sind. Die Kindsväter sind in der Regel abwesend und die Umstände der Schwangerschaften geprägt von patriarchalen Gewalterfahrungen. Besonders heftig ist hier die Schilderung einer Befragten davon, wie ihr Vater auf ihre Schwangerschaft reagiert habe. Schläge und Gewaltandrohungen prägen die Lebensrealität der Teenies. Dem gegenüber steht eine solidarische Schwesternschaft – der Berlinale-Begleittext nennt sie Schwesternschaft der 15 – aus der die jungen Frauen Kraft ziehen können und lernen, sich zu behaupten.

Mit Ramona ist der Regisseurin Victoria Linares Villegas eine stilistisch interessante Dokumentation gelungen, die vor allem auf den zweiten Blick viele Perspektiven eröffnet.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

ZU WENIG ERNST GENOMMEN

 

© Watchmen Productions, MPM Film

„Ein Risiko gibt‘s immer“, sagt Nardjes Asli. Dann zuckt die junge Algerierin mit den Schultern und
macht sich trotz möglicher Repressionen bereit zur Demo. Sie ist die Protagonistin und Namensgeberin
des Dokumentarfilms Nardjes A. des Brasilianers Karim Aïnouz. Aïnouz, der selbst Wurzeln in dem
nordafrikanischen Land hat, hielt sich im Februar 2019 eigentlich wegen eines anderen Filmprojekts in
Algerien auf, wurde dann aber von den Massendemonstrationen gegen die Regierung überrascht und
beschloss, sie mit der Kamera seines Handys zu dokumentieren. Herausgekommen ist ein Film, der die
Wucht und Energie der Proteste zwar in beeindruckender Weise einfängt – vor allem angesichts der
begrenzten technischen Möglichkeiten -, bei ihrer Einordnung jedoch leider nur an der Oberfläche kratzt.
Anfang des Jahres 2019 herrschte in Algerien jeden Freitag Ausnahmezustand auf den Straßen. Der
korrupte Präsident des Landes, Abd al-Aziz Bouteflika, hatte im Februar verlauten lassen, für eine fünfte
Amtszeit zu kandidieren – und das, obwohl der 82-jährige nach drei Schlaganfällen kaum noch sprechen
kann und jahrelang nicht in der Öffentlichkeit zu sehen war. Die brodelnde Unzufriedenheit vor allem der
jüngeren Generation Algeriens brachte das Fass schließlich zum Überlaufen. Hunderttausende gingen
zwischen Januar und März 2019 auf die Straßen. Schließlich gab das Regime nach, sah von einer erneuten
Kandidatur Bouteflikas ab und die Wahlen wurden verschoben.
Im Film bleibt Aïnouz mit seiner Handy-Kamera immer sehr nah an seiner Protagonistin. Er begleitet sie
einen ganzen Tag lang vor, während und nach einer Freitagsdemonstration. Dabei liegt der Schwerpunkt
auf ihren Aktivitäten in dem riesigen Protestzug: Nardjes pfeift, singt, lacht und tanzt dort, was das Zeug
hält, getrieben von schier unermüdlicher Energie und guter Laune. Dabei trifft sie manchmal auf
Freund*innen und Bekannte, meist jedoch interagiert sie mit wildfremden Menschen. Nach der Demo
trifft sie sich mit Freund*innen in einem Café und geht abends in einem Club tanzen.
Beim Zusehen ist Nardjes Asli ihren Spaß an dem “feiernden, tanzenden Protest” anzimerken, der als
“Revolution des Lächelns” bekannt wurde. In Off-Kommentaren erklärt sie, wie stolz sie auf die Jugend
ist, wie sehr sie Algerien liebt und an ihre Generation glaubt. Asli kann man ihre jugendliche
Begeisterung kaum zum Vorwurf machen. Leider nimmt der Film sie aber irgendwann nicht mehr ernst.
Ihr Enthusiasmus, der zu Beginn sehr sympathisch wirkt, verliert durch häufige Wiederholung ählicher
oder sogar wortgleicher Parolen schnell an Wirkungskraft und wirkt klischeehaft. Aïnouz verpasst es
zudem, durch den Verzicht auf Reflexion oder Rückfragen Nardjes’ Persönlichkeit Tiefe zu verleihen.
Mit fortlaufender Dauer verliert die Dokumentation so die Richtung. Der durchaus interessante politische
Background der Protagonistin (Eltern und Großeltern waren in der kommunistischen Partei und zum Teil
schwerster Verfolgung ausgesetzt) ist nach kurzer Erklärung zu Beginn kaum noch Thema. Nardjes Aslis
Lebenssituation, ihre politischen Vorstellungen, ihre persönlichen Ambitionen – über all das darf sie im
Film nicht mehr erzählen. Dabei hätte es viele interessante Fragen gegeben: Etwa zu ihrer Begeisterung
für den algerischen Nationalismus, der ja schon nach dem gewonnenen Unabhängigkeitskrieg gegen die
französische Kolonialmacht nicht zu einer gerechten Gesellschaft geführt hat. Ainouz hätte sie auch nach
der Gefahr einer Unterwanderung der Proteste durch radikale Islamist*innen fragen können, die ihren
liberalen Lebensstil als offene und selbstbewusste Frau bedrohen könnten.
Die mangelnde Kontextualisierung macht das filmische Profil der jungen Aktivistin und
Theaterschauspielerin immer unschärfer, je länger die Dokumentation dauert. Am Schluss erscheint
Nardjes Asli fast nur noch wie eine unkritische Party- und Jubeldemonstrantin – was ihr sehr
wahrscheinlich nicht gerecht wird. Noch schlimmer wird es gegen Ende des Films: Wenn die Kamera
minutenlang Bilder der tanzenden Nardjes im Club zeigt und dabei zumeist auf Nahaufnahmen ihres
Gesichts fokussiert, fragt man sich, was Karim Aïnouz eigentlich damit bezwecken will. Wie ein
politisches Subjekt wirkt Asli da jedenfalls nicht mehr, vielmehr macht sich der ungute Verdacht breit,
dass dem Publikum hier ein “hübsches Gesicht” der Revolution präsentiert werden soll. Dazu passt, dass
auch die Einordnung in den politischen Kontext im Film nicht durch seine Protagonistin erfolgt – das
macht Aïnouz durch längere Texteinblendungen zu Beginn und Ende des Films selbst.
Nardjes A. verpasst die Chance, neben der Dokumentation der Proteste in Algerien auch ein differenzierteres Porträt einer interessanten Frau zu zeichnen, die nicht nur für eine neue Regierung,
sondern auch für ihte eigene Zukunft kämpft. So bleibt vor allem Demo-Folklore und am Ende sogar ein
Entlangschrammen an filmischem Voyeurismus hängen. Schade.

UNGEAHNTE REALITÄTEN

© Spectre Productions, Stenar Projects

Kurzfilm-Fans haben es bei der Berlinale nicht immer leicht. Im Programm finden sich zwar meist zahlreiche Beiträge des Formats, aber neben dem offiziellen Programm Berlinale Shorts sind viele in anderen Sektionen versteckt. Abgesehen davon macht auch die fehlende regionale oder thematische Einteilung die Entscheidung für einen Kurzfilmblock oft schwierig. Umso schöner, dass die Berlinale-Sektion Forum Expanded dieses Jahr drei halbstündige Kurzdokumentationen aus Lateinamerika im Paket zeigt, die noch dazu ähnliche Themen behandeln (indigene bzw. rurale Gemeinschaften). Ein gelungenes Experiment, denn alle drei Filme sind durchaus sehenswert.

Die Reise in entlegene Regionen des südamerikanischen Kontinents führt zunächst nach Kolumbien. In Jiíbie zeigt Regisseurin Laura Huertas Millán die traditionelle Herstellung von grünem Koka-Pulver in der indigenen Gemeinschaft der Muiná-Muruí im kolumbianischen Amazonasgebiet. Für die Muiná-Muruí ist die Koka-Pflanze ein heiliges Medium, das für rituell-spirituelle und medizinische Zwecke benutzt wird. An rituellen Stätten, den Malokas wird das Jíibie oder Mambe genannte Pulver während gemeinschaftlicher Versammlungen konsumiert, um den kommunikativen Austausch und die Entscheidungsfindung zu fördern. Anders als das mit Chemie vermischte weiße Kokain ist Jíibie ein rein natürliches Produkt, das nur aus den Blättern des Kokastrauchs und des Yarumobaums besteht. Der Film zeigt in ruhigen Bildern die traditionelle Verarbeitung der Pflanzen (Ernte, Rösten, Mahlen, Koka mit Yarumo-Asche mischen, Sieben), untermalt mit rituellen Erzählungen der Muiná-Muruí. So kreiert Jiíbie ein gutes Gefühl für die spezielle Bedeutung der heiligen Pflanze, ohne allerdings Aufnahmen der Versammlungen, auf denen das Koka-Pulver als Vermittlung zur kollektiven Erfahrung eingesetzt wird, zu zeigen.

Weniger meditativ geht es in Jogos Dirigidos von Regisseur Jonathas de Andrade zu. Der Film zeigt die Bewohner*innen der 900-Seelen-Gemeinde Várzea Queimada („Verbrannte Ebene“) im Hinterland des nordöstlichen brasilianischen Bundesstaates Piauí. Die Besonderheit der Siedlung besteht darin, dass dort überdurchschnittlich viele taubstumme Menschen leben. Die kommunale Infrastruktur ist jedoch sehr schwach ausgeprägt, so dass für sie keine Gebärdendolmetscher*innen zur Verfügung stehen. Statt zu jammern, hat die Dorfgemeinschaft aber aus der Not eine Tugend gemacht und kurzerhand ihre eigene Gebärdensprache erfunden. Die ist, wie im Film schnell klar wird, sehr lebendig und expressiv und auch für Nicht-Eingeweihte relativ leicht verständlich. Die Aufnahmen zeigen die titelgebenden Jogos Dirigidos („angeleitete Spiele“), bei denen die Bewohner*innen mit großer Begeisterung Kinderspiele wie Stuhltanz oder Ochs am Berg durchführen und dann auf einer Bühne in der selbst entwickelten Gebärdensprache Geschichten aus ihrem Leben preisgeben. Dabei werden die Erzählungen zunächst meist ohne Erklärung gezeigt und danach noch einmal mit Untertitelung der wichtigsten Wörter und Ausdrücke wiederholt. Interessant ist das nicht nur aus sprachlichen Gesichtspunkten, sondern auch, weil die Geschichten viel über das nicht immer einfache Leben in der ländlichen Umgebung der brasilianischen Peripherie verraten. Die Lebensfreude der Bewohner*innen und deren oft emotionale Reaktionen beim Spiel und beim Hören der Geschichten machen Jogos Dirigidos zu einem aufschlussreichen und vergnüglichen Filmerlebnis.

Den Abschluss der Trilogie bildet der ebenfalls brasilianische Beitrag Apiyemiyekî? von Regisseurin Ana Vaz. Der Titel bedeutet „Warum?“ in der Sprache der indigenen Gruppe der Waimiri-Atroari aus dem brasilianischen Amazonasgebiet. Diese wurden Opfer des größten Genozids unter der Herrschaft der brasilianischen Militärdiktatur, der Film erzählt ihre Geschichte. Weil die Regierung Mitte der 1970er Jahre eine Straße nach Manaús baute, vertrieb sie die Waimiri-Atroari mit brutalen Mitteln aus ihrem Territorium, das auf dem Weg dorthin lag. Durch chemische Waffen wie Napalm und Massenexekutionen mit Macheten und Gewehren wurden bis zu 3000 Menschen ermordet. Erst 2019 kam es zum Prozess gegen die Regierung, der bis heute andauert.

Die Regisseurin verwendet für die künstlerisch ansprechende Dokumentation gemalte Bilder und erste schriftliche Zeugnisse der kurz vor dem Terror der Militärs alphabetisierten Mitglieder der indigenen Gemeinschaft. Visuell aufwändig werden diese wie transparente Folien über die reale Naturlandschaft des Gebietes der Waimiri-Atroari gelegt. Besonders gut gelingt dies bei den Aufnahmen von fließendem Wasser, auf die gezeichnete Boote montiert werden. Die grafischen und schriftlichen Zeugnisse dienen als Beweisstücke im Prozess gegen den Staat und bewahren eine kollektive Erinnerung der grausamen Begegnung mit den sogenannten „zivilisierten Menschen“. Die Frage nach dem Warum der Tötungen durch die „Zivilisierten“ wurde von den Indigenen am häufigsten gestellt und deshalb auch als Titel des Films ausgewählt. Mit Apiyemiyekî? ist Ana Vaz eine eindrucksvolle und visuell ambitionierte Verarbeitung eines der düstersten Kapitel der brasilianischen Militärdiktatur gelungen, die im Grunde einen Langfilm verdient hätte.

Das verbindende Element zwischen den drei filmischen Beiträgen ist der Einblick in lateinamerikanische Welten, deren Realitäten bislang vielen nicht bekannt sein dürften und die einfühlsam und informativ auf die Leinwand transportiert werden. Bleibt zu hoffen, dass trotz der etwas versteckten Platzierung als Programm 6 der Experimentalfilm-Sektion Forum Expanded viele diese empfehlenswerte Kurzfilm-Trilogie im Programm entdecken und auf dem Festival ansehen.

„ICH KANN NICHT UNTERWÜRFIG SEIN“

Claudia Ancapán Quilape ist Mapuche und arbeitet als Hebamme in Santiago. Sie kämpft als politische Aktivistin für die Rechte von LGBTIQ*-Personen. (Foto: Alea Rentmeister)

Seit kurzem läuft der Dokumentarfilm Claudia – vom Mond berührt in den Kinos. Wie sehen Sie die Rolle der Kunst im Kampf für die Rechte der LGBTIQ*-Community in Chile?
Die Kunst ist der Schlüssel und Antrieb zugleich, um uns sichtbar zu machen. Der Dokumentarfilm ist kein Mega-Hollywood-Film, aber er dient dazu, über das Thema Transidentität zu sprechen. Kunst schafft Realität und lädt zum Denken und Hinterfragen ein. In Chile wurde vielfach versucht, die Erinnerung an die Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur, gegen Frauen, die LGBTIQ*- und indigenen Gemeinschaften auszulöschen. Kunst, Bücher, Filme, Bilder sind Formen, Erinnerung zum Ausdruck zu bringen. Wir müssen dafür kämpfen, diese Erinnerungen zu bewahren. Vielleicht wird unsere LGBTIQ*-Community eines Tages ein Museum errichten, denn wir haben eine Geschichte und die werden wir irgendwann erzählen. Ich gehöre zu einem anderen, unsichtbar gemachten Chile, das als „das Andere“ bezeichnet wird, trotzdem aber Teil dieses Landes ist. Unsere Community wurde zum Schweigen gebracht, verdrängt und unterdrückt, doch das werden wir nicht mehr zulassen, unsere Geschichte muss erzählt werden.

Der Dokumentarfilm wurde schon auf der ganzen Welt auf Festivals gezeigt, kam aber erst vor kurzem in chilenische Kinos. Warum?
Weil sich viele Kulturorganisationen und -orte geweigert haben den Film zu zeigen, vermutlich aus Angst. Aber Francisco (gemeint ist Francisco Aguilar, der Regisseur des Films, Anm. d. Red.) und ich wussten vorher, dass genau das passieren würde, weil Sexualität für viele Menschen in Chile ein Problem ist. Ich erscheine auf dem Titelfoto nackt, denn das Foto soll dazu beitragen, die Unterdrückung der Sexualität in Frage zu stellen. Als ich den fertigen Film gesehen habe, habe ich gesagt: Das ist mächtig, das wird Konsequenzen haben.

Woher kommt die Unterdrückung der Sexualität in Chile?
Grund dafür ist nicht nur die Diktatur, sondern eine koloniale Struktur, die Jahrhunderte weit zurück reicht. Bevor die Spanier kamen, gab es in der indigenen Bevölkerung keinen Genderkonflikt. Es gab dazu eine neutralere Position. Die Religion des Kolonialismus zwang die Menschen dazu, sich vor Gott zu rechtfertigen und ihre Sexualität als etwas Sündhaftes zu empfinden. Machismo und Patriarchat nahmen ihre Stellung ein und positionierten sich als politische Kräfte, deren Konsequenzen die Frauen bis heute zu spüren bekommen. Die Erfolge des Feminismus – wie das Recht auf Abtreibung, auf Verhütungsmittel, sexuelle und reproduktive Rechte − zeigen sich erst allmählich und sehr verspätet.
Die sexuelle Unterdrückung beeinflusst Menschen in jeder Hinsicht. Früher gab es die Klassifizierung, in der Männer an erster Stelle standen, Frauen an zweiter und alle anderen an dritter. Sogenannte Minderheiten wurden in diesem Land lange unsichtbar gemacht. Rette sich, wer „anders“ ist, denn „das Andere“ durfte nicht existieren. Mit dem Aufkommen von AIDS ab 1984 wurde über LGBTIQ*-Personen nur als Homosexuelle gesprochen. Aber dahinter verbarg sich eine ganze Reihe von Identitäten.

Haben Sie das Gefühl, dass es in Mapuche-Communities weniger Diskriminierung von LGBTIQ*-Personen gibt?
Das ist ein sehr aktuelles und noch nicht eingehend behandeltes Thema, weil erst seit kurzem darüber gesprochen wird. Ich bin Indigene, aber ich bin auch trans und ich bin eine Frau. Wenn ich mit Menschen aus meiner Community, also den Mapuche, über dieses Thema spreche, scheint es so, als ob die Akkulturation bei manchen keinen so starken Einfluss gehabt hat. Sie sagen: „Schon unsere Großeltern haben uns davon erzählt, das hat etwas mit dem Mond und ganzheitlicher Liebe zu tun“. Doch diejenigen, die von der Religion beeinflusst sind, greifen dich sofort an: „Nein, das kann nicht sein, das geht gegen Gott“. Durch die Kolonisierung haben auch Menschen indigener Communities diese ablehnende Haltung angenommen. Auch in unserer Community gibt es intolerante und diskriminierende Personen, aber es gibt auch andere, die wissen, dass es vor der Ankunft der Spanier viele kulturelle Manifestationen gab, die genderlos oder transgender waren. Und daraus schöpfe ich, um zu zeigen, dass meine Existenz Fundamente hat.
Vor Jahren war es sehr schwierig, mich an dem Ort zu äußern, wo ich meine Kindheit und Jugend verbracht habe: ein Ort, der nicht nur religiös, sondern oft auch sehr konservativ, rassistisch und misogyn war. Ich bin evangelisch aufgewachsen und war an einer katholischen Schule. Durch die Religion habe ich mich für meine Genderidentität und meine Sexualität schuldig gefühlt. Wenn ich an die Religion und die Sünde glaubte, brächte ich mich um, denn das Einzige, was ich davon verstehe, ist, dass ich keinen Grund zu leben habe, kein Recht zu existieren. Heute verstehe ich, warum ich mich als trans Person wie in einer Blase befunden habe. Es kommt darauf an, woran du glaubst. Ich glaube an Gott, aber nicht im Rahmen der Religion. Wenn ich mich meiner eigenen Kultur zuwende, fühle ich mich frei.

Ende letzten Jahres verabschiedete der chilenische Kongress ein Gesetz zur Genderidentität, das trans Personen ermöglicht, ihren Namen und ihr Geschlecht auf dem Standesamt zu ändern. Das Gesetz wurde bereits 2013 vorgeschlagen. Ein langwieriger Prozess, wie es scheint?
Tatsächlich hat der Prozess schon viel früher angefangen, davor gab es schon zwei Gesetzesentwürfe. Der erste stammt aus den 90er, der zweite aus den 2000er Jahren.
Aber 2013 war die chilenische Gesellschaft durch den Tod von Daniel Zamudio sensibilisiert, einem jungen homosexuellen Mann, der auf grausamste Weise von einer Gruppe Neonazis ermordet wurde. Der Fall ging durch die Medien und führte dazu, dass die Menschen aufwachten. Durch diese Sensibilisierung gelangte der Gesetzesentwurf in den Kongress.
Ich war zweimal im Kongress, um über die Notwendigkeit des Gesetzes zu sprechen. Es war eine ewige Diskussion und währenddessen gab es weiterhin Selbstmorde und Morde an Personen unserer Community, sodass wir eines Tages damit begannen, Lobbyarbeit zu machen. Um Teil des Spiels zu sein, mussten wir Allianzen bilden, die Politik und öffentliche Räume nutzen, um über uns zu sprechen und uns zu zeigen. Schlussendlich wurde das Gesetz verabschiedet.
Ein Teil der Gegner des Gesetzes wollte, dass unsere Ausweisdokumente in irgendeiner Form gekennzeichnet werden, um uns als „anders“ zu kategorisieren. Gegen solche Argumente müssen wir immer noch ankämpfen. Das Gesetz lässt eine Kennzeichnung nicht zu, aber es gab die Absicht. Wie können sie uns markieren? Wir sind doch kein Vieh!

Im Hinblick auf das Gesetz über Genderidentität 2018, das Antidiskriminierungsgesetz 2013, den Oscar für Eine Fantastische Frau 2018, in dem Daniela Vega, eine trans Frau, die Hauptrolle spielt – haben Sie den Eindruck, dass sich die Situation der LGBTIQ*-Community verbessert hat? Oder hat sich letztlich nicht viel verändert?
Das alles sind Errungenschaften für eine inklusivere Gesellschaft, aber jede Errungenschaft hat ihren Preis. Daniela Vega hat Chile verlassen, denn abgesehen davon, dass es hier keine Filmindustrie gibt, die Kultur und Kunst achtet, hat man in den sozialen Netzwerken unglaublich viele Hasskommentare zu lesen. Wenn ich im Fernsehen oder in den Medien erscheine, passiert dasselbe. Aber das ist mir egal. Ich verlasse dieses Land nicht, höchstens im Urlaub. Ich bleibe hier, weil ich mein Land und meine Kultur liebe. Ich möchte aber deswegen nicht Nationalistin genannt werden, weil die konservative Rechte diesen Begriff in sehr negativer Weise benutzt: um Migration, indigene Herkunft und die LGBTIQ*-Community abzuwerten.
Unsere Gesellschaft ist eine gespaltene Gesellschaft. Dennoch müssen wir fähig sein, mit unseren Differenzen zusammenzuleben. Bislang schaffen wir das noch nicht. Unsere Gesellschaft hat so viele Probleme, die mich dazu inspirieren, zur Veränderung beizutragen.

Haben Sie deshalb aus Ihrem persönlichen Kampf einen politischen Kampf gemacht?
Ich glaube, ich bin bereit für die Politik. Ich würde gerne meine Leute repräsentieren, meine indigene Community und meine LGBTIQ*-Community. Ich möchte sie repräsentieren, weil ich gereift bin. Im November 2005 wurde ich von Neonazis vergewaltigt und fast umgebracht, weil ich trans bin. Ich fühle mich verpflichtet, dafür zu sorgen, dass niemand mehr solche Gewalt erleiden muss.
Ich habe Dinge erreicht, die ich erreichen wollte: als Hebamme zu arbeiten, zum Beispiel. Ich habe immer davon geträumt, eine Familie zu haben, einen Partner und zu heiraten. Bisher habe ich es nicht geschafft zu heiraten, aber ich habe einen Partner und eine Familie. Ein immenser Kampf für etwas so simples: sich verlieben zu können, ein Lebensprojekt zu entwerfen. Hätte ich dir gesagt, dass mein Traum wäre, Millionärin zu sein, Schauspielerin, berühmt zu werden…, aber das war nie mein Traum. Mein Traum war es, eine Bibliothek zu haben, ein Haus, einen Partner, eine Familie, es waren sehr einfache Dinge. Nur weil du anders bist, wird dir das Recht dazu abgesprochen. Dagegen kämpfe ich jeden Tag. Aber sie haben nicht gewonnen. Ich wollte unbedingt Claudia sein, das habe ich auch geschafft. Ich bin stolz auf meine indigene Herkunft, ich liebe es, trans zu sein und ich liebe es, Teil der LGBTIQ*-Community zu sein. Ich bin mir meiner Herkunft und meiner Identität bewusst, und ich bin bereit in die Politik zu gehen. Ich bin darauf vorbereitet, dass mich die Rechten angreifen und bereit mich zu verteidigen. Aber anstatt uns anzugreifen sollten wir debattieren und einander begegnen. Ich bin bereit für ein politisches Amt, denn ich glaube das ist meine Zukunft. Ich kann nicht unterwürfig sein, nie mehr!

 

GENIE UND WAHNSINN IN NEAPEL

Unter Jubel Diego Maradona betritt das Spielfeld des SSC Neapel (Foto: Meazza Sambucetti/ AP / Shutterstock / DCM )

Diego Maradona ist ein Rausch der Bilder. Ein atemloses Eintauchen in die Dynamik des Spiels auf dem Platz und des (auch ohne Social Media) für Maradona überlebensgroß aufgeblasenen Ballyhoos darum. Aktuelle Gespräche mit Zeitzeug*innen oder Maradona selbst kommen stets aus dem Off, um die Kontinuität des Filmmaterials nicht zu unterbrechen. Zu sehen sind die Interviewpartner*innen nie. Nicht zu kurz kommen im Film jede Menge Spiel- und Jubelszenen, die die oft mit Handkamera fokussierten Bilder und ein hervorragendes Sounddesign größer wirken lassen als die Realität – von der „Hand Gottes“ bis zu den wenig glamourösen Niederlagenserien seiner Anfangszeit in Italien.
Asif Kapadia, Oscar-Gewinner für eine Doku über Amy Winehouse, kreiert so einen visuellen Strudel, der kaum Raum zur Reflexion lässt und nutzt ihn wie einen Erklärungsversuch für Maradonas oft widersprüchliche und schwer verständliche Entscheidungen. In körnigen, häufig Amateur*innenaufnahmen entsteht so das Bild eines einfachen Jungen, der die Dinge eher mit sich geschehen lässt, als sie selbst zu beeinflussen. Diego, der inmitten ärmlicher Baracken anfängt, gegen den Ball zu treten und so schon als Teenager seine ganze Familie aus dem Slum holt. Diego, verkauft als damals teuerster Fußballer der Welt vom Spitzenklub Barcelona an Neapel, eines der schlechtesten Teams der italienischen Liga. Diego, der sein erstgeborenes Kind, Ergebnis einer seiner unzähligen Affären, lange verleugnet. Diego, der auf dem Höhepunkt seiner Karriere eigentlich weg will aus Neapel, wo ihm zwischen Kokain und Camorra die Kontrolle über sein Leben entgleitet, und es doch nicht schafft.
Die Dokumentation konzentriert sich fast ausschließlich auf die Zeit, die Maradona in Neapel verbrachte. Was anfangs Enttäuschung hervorruft (die Jahre in Argentinien und Spanien werden quasi als Vorspann abgefrühstückt, sein Drogenentzug oder seine Trainerkarriere völlig ausgespart), ergibt im Laufe des Films immer mehr Sinn. Denn Maradonas fußballerische Karriere und auch sein restliches Leben werden von nichts anderem so sehr geprägt wie von diesen sieben Jahren in der Stadt am Vesuv. Bei seiner Ankunft von 85.000 Menschen im Stadion wie ein Gott gefeiert, wird er gemeinsam mit Fans und Spielern bei Auswärtsspielen bei den reichen Norditaliener*innen durchgehend beleidigt. „Wascht euch“ ist noch das Höflichste, was auf den Plakaten der gegnerischen Anhänger*innen steht. Maradona, der es aufgrund seiner Herkunft kennt, wie ein Ausgestoßener behandelt zu werden, treibt das zu Höchstleistungen an. Mit besessener Sturheit und seinem überragenden Talent formt er den SSC Neapel zu einem Spitzenteam. 1987 – mittlerweile Weltmeister – gibt er der ganzen Stadt ihren Stolz zurück, als er das Unglaubliche schafft und mit Neapel die italienische Meisterschaft holt. Für ihn, das scheint unverhohlen durch, ist dieser Titel mehr wert als der WM-Sieg.
Diesen Moment nutzt Kapadia geschickt als dramaturgischen Höhe- und Wendepunkt. Maradonas Einstellung zur im Wortsinn religiösen Verehrung, die ihm in Neapel entgegengebracht wird (in den Wohnungen hängt sein Bild oft zwischen denen von Christus und Maria), verändert sich danach. Saugt er sie zu Beginn regelrecht auf, wird er sich später davon distanzieren und seine Persönlichkeit in zwei Charaktere spalten, die Coach Signorini wie folgt beschreibt: „Mit Diego laufe ich bis ans Ende der Welt. Aber mit Maradona gehe ich keinen Schritt.“
Diego sieht man von da an im Film vor allem privat. Als naiv-volkstümlicher Junge schlittert er in die Abhängigkeit der neapolitanischen Mafia Camorra. Nach dem ersten Treffen mit dem Giuliano-Clan gibt er noch arglos zu Protokoll: „Das fühlte sich an wie in einem Hollywood-Film.“ In den folgenden Jahren wird er durch die Bosse ebenso mit Kokain und Frauen beliefert wie vor der Polizei und Dopingfahndung beschützt. Als Maradona schafft er sich eine neue Rolle in der Öffentlichkeit, erliegt aber immer mehr dem Größenwahn. Der kulminiert bei der Weltmeisterschaft 1990 in Italien in der fatalen Fehleinschätzung, das Stadion würde beim Halbfinale Italien gegen Argentinien tatsächlich ihn und sein Team unterstützen. Obwohl das Spiel in Neapel stattfindet, wird Maradona beim entscheidenden Elfmeter – den er verwandelt – ausgepfiffen. Als sich dies bei der argentinischen Hymne vor dem Finale gegen Deutschland wiederholt, formen seine Lippen deutlich sichtbar ein hijos de puta („Hurensöhne“). Es ist der Moment, von dem an Maradona in Italien – auch in Neapel – erledigt ist. Die genaue Dokumentation seines überstürzten Aufbruchs ist die geschlossene Klammer zum verdächtig überlebensgroßen Empfang in Neapel.
Man muss Kapadia ein Kompliment machen, dass er es geschafft hat, über Aufnahmen aus Privatarchiven der Familie Maradona und der Neapel-Ultras zu vielen intimen Momenten Zugang bekommen und aus dem umfangreichen Material eine fesselnde Komposition geschaffen zu haben. Zu einem besonderen Erlebnis macht Diego Maradona aber vor allem der Blick des Filmemachers, der zwar mit seinem Protagonisten sympathisiert und ihn nicht vorführt (was einfach wäre), sich aber auch nicht mit ihm gemein macht. Trotz aller Emotionalität der Bilder geht es Kapadia darum zu verstehen, nicht zu urteilen. Auch nach dem Film kann man sich also noch entscheiden, ob man Diego Maradona liebt oder hasst – oder ihn als widersprüchlichen Charakter, der er bis heute ist, akzeptiert.

 

ERDE UND EMOTIONEN

Foto: © HDPERU


In einer riesigen Lagerhalle verabschiedet sich eine kleine Delegation aus Cusco von ihren Kartoffeln: „Weine nicht, kleine Kartoffel, weine nicht!“, singt Brizaida Siqus mit Tränen in den Augen. Angesichts der Bedrohung der Biodiversität haben die Kleinbäuerin und ihre Kooperative sich auf den weiten Weg nach Norwegen gemacht um alte Kartoffelsorten im Saatgut-Tresor von Svalbard vor dem Aussterben zu bewahren.

© HDPERU

Brizaida ist eine von fünf indigenen Kleinbäuerinnen aus den Gegenden um Cusco und Puno, die die Brüder Álvaro und Diego Sarmiento in ihrem Dokumentarfilm Sembradoras de vida porträtieren. Vor allem der Klimawandel ist bei den fünf Frauen ein großes Thema, denn seine Folgen sind im Hochland der Anden schon jetzt zu spüren. Techniken, mit denen seit Jahrhunderten das Wetter vorhergesagt wurde, greifen nicht mehr, wenn es gar nicht mehr regnet oder der Regen nicht mehr aufhört. Ihre Großmutter habe anhand der Frösche erkannt, wie die Ernte werde, erklärt die Anthropologin Eliana García, die nach dem Studium zur Landwirtschaft zurückgekehrt ist. Jetzt sei sie froh, wenn sie überhaupt einmal einen Frosch sehe. Doch Eliana und die anderen Frauen halten an der traditionellen Landwirtschaft fest. Der Film begleitet die harte Arbeit der Bäuerinnen in wunderschönen Bildern und verlässt selten die Quinoa-, Kartoffel- und Maisfelder. Untermalt von Gitarre und Panflöte sehen wir die fünf Frauen beim Säen und Ernten, bei Opfergaben und dabei, wie sie altes Wissen an ihre Kinder weitergeben. Ein äußerst stimmiger Film, der stets seine Protagonistinnen selbst zu Wort kommen lässt und auch nicht in verkitschende Zurück-zur-Natur-Romantik verfällt.

Dem Kurzfilm La herencia del viento von gleich drei jungen mexikanischen Regisseur*innen hätte es dagegen gut getan, sich ebenso viel Zeit zu lassen. In nur 16 Minuten möchte der Film zu viel zeigen und sagen. Reduktion auf wenige Szenen hätte hier gut getan, denn der liebevolle Umgang des Bauern Juan Zuñija mit Familie und Pflanzen ist wirklich beeindruckend. Für Juan sind Kindererziehung und Landwirtschaft kaum voneinander zu trennen. Die Erde merke, genau wie die Kinder, mit welchen Emotionen man an sie herantrete. Schon seinen kleinsten Kindern bringt der Bauer einen tiefen Respekt vor der Natur bei.

© César Camacho

Es lässt hoffen, dass die Berlinale zwei Filmen Raum gibt, die zeigen, wie wichtig Biodiversität und ein umsichtiger Umgang mit unseren Ressourcen sind. So wird einmal mehr unsere Aufmerksamkeit darauf gelenkt, wie das klimafeindliche Verhalten des globalen Nordens schon jetzt das Leben derjenigen verändert, die am wenigsten zum Klimawandel beitragen.

 

AUF AUGENHÖHE

Foto: © Camila Freitas

So 10.02. 16:30 CineStar 8
Mo 11.02. 14:00 HAU Hebbel am Ufer (HAU1), Berlinale Talents
Di 12.02. 19:30 Cubix 9
Fr 15.02. 14:00 Delphi Filmpalast
So 17.02. 16:30 Delphi Filmpalast

Sektion: Forum


P.C. und seine Großmutter sitzen im Ausguck, halten Wache und schmieden Pläne. Die Großmutter – eine alte, aber erstaunlich kräftige Frau mit sonnengegerbter Haut – zählt auf, was sie einmal anbauen möchte, wenn sie ihr eigenes Land besitzt: Reis, Maniok, Orangen und Palmherzen. Ihr Enkel P.C., ein Mann Ende 30, notiert alles und erstellt den passenden Grundriss, ergänzt Ställe und Felder für die Tierzucht. Die zuversichtlichen Blicke der beiden schweifen aus dem Fenster, das nicht einmal eine Scheibe besitzt, hinüber zum Camp. Die Zelte, die nur aus Brettern, Baumstämmen und Planen bestehen und auf einer Wiese verteilt sind, schützen die Menschen kaum vor Wind und Wetter und sind noch weit entfernt von ihrem Traum vom eigenen Land. Aber P.C., seine Großmutter und die hunderten Familien, die wie hier im brasilianischen Bundesstaat Goiás Land besetzen, sind bereit, genau dafür zu kämpfen.

© Camila Freitas

Ganze vier Jahre lang hat die Filmemacherin und Kamerafrau Camila Freitas die Besetzungen der Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) begleitet. Dem daraus entstandenen Dokumentarfilm Chão ist ebendiese Ruhe und vor allem die Vertrautheit zwischen Filmemacher*innen und Gefilmten anzumerken. So ist ein nahes und respektvolles Porträt einer Bewegung entstanden, die Menschen in dem Grundgedanken vereint, sich ihr Stück Land von Großgrundbesitzer*innen und Konzernen zurückzuholen. Viele von ihnen sind in die Städte verdrängt worden, einige leben dort schon in zweiter oder dritter Generation unter ärmlichen Verhältnissen. Der Zustand der Landlosigkeit wird im Film auch als „Versklavung“ bezeichnet, aus der sich die Menschen nun versuchen zu lösen. Eine von ihnen, eine erschöpft wirkende junge Mutter, sagt mit starker und zuversichtlicher Stimme: „Ich komme vom Land, ich bin eine Kämpferin.“ Gemeinsam organisieren die Gruppen im MST Landbesetzungen, Blockade- und Protestaktionen, die Licht auf die ungerechten und ungesunden Verhältnisse in der brasilianischen Landwirtschaft werfen (siehe dazu auch die Berichterstattung der LN – Nummer 516 und 529/ 530). Gleichzeitig begleitet der Dokumentarfilm den Aufbau eigener landwirtschaftlicher und politischer Strukturen in den besetzten Gebieten. In Versammlungen entwerfen die Menschen gemeinsame Zukunftsmodelle für ein gerechtes und nachhaltiges Leben und Arbeiten.

© Camila Freitas

Auch wenn die Mitglieder des MST zuversichtlich wirken und die Menge an Menschen, die an den Aktionen teilnehmen, Hoffnung macht, verschweigt Chão nicht die Felsen, die den Landlosen in den Weg zum eigenen Land gelegt werden. „Die Gesellschaft ignoriert uns“, erzählt eine junge Frau. Die Beobachtungen, die Camila Freitas jahrelang gemacht hat und an denen sie nun auf der Berlinale ein großes Publikum teilhaben lässt, zeigen auch, wie die Landlosenbewegung von offizieller Seite kriminalisiert, bedroht und von den Medien verleumdet und als gewalttätig diskreditiert wird. „Das hier ist kein Wochenendausflug“, stellt ein Mann vom MST gleich zu Beginn einer neuen Landbesetzung klar. Die kräftezehrenden, aber friedlichen Aktionen der Bewegung, an der auch Familien mit Kindern teilnehmen, scheinen nicht in das bedrohliche Bild zu passen, das der Agrobusiness und Personen von offizieller Seite vom MST zeichnen wollen. Zu ihnen gehört auch der Blairo Maggi, Landwirtschaftsminister unter Michel Temer und selbst Großgrundbesitzer und Sojaproduzent. Die einzigen bedrohlich wirkenden Szenen von Chão aber zeigen die riesigen Genmais- und Sojafelder, die die Agrokonzerne mit monsterähnlichen Traktoren und Pestiziden bewirtschaften. Das vom MST besetze Land dagegen ist mit den unterschiedlichsten Pflanzen und Tieren vor allem eins: natürlich. Hier hegt und pflegt die Großmutter ihr Gemüsebeet, da wird Biodünger hergestellt, dort sitzt eine Familie am Abendbrottisch.
Statt das Thema der Landkonflikte in Brasilien schnell und reißerisch abzuhandeln und auf große Effekte oder gewaltvolle Szenen zu setzen, hat das Team um Camila Freitas keine Zeit und Mühe gespart, um sich den Menschen in der Landlosenbewegung ehrlich zu nähern. Chão schafft es, deren Leben und Miteinander unvoreingenommen zu begleiten und ihr wichtiges Anliegen zu vermitteln. Und genau das ist angesichts der ernüchternden Bilanz der ersten Wochen brasilianischer Agrarpolitik unter Bolsonaro höchst relevant. Nicht nur deswegen ist Chão unbedingt zu empfehlen.

Camila Freitas (mit Mikro), das Filmteam und Elizabet Cerqueira vom MST (rote Mütze) bei der Weltpremiere von Chão in Berlin (Foto: Christian Russau)

Wer sich für die aktuelle Situation des MST unter Bolsonaro interessiert, ist am Mittwoch (13.2.2019, 18:30 Uhr) herzlich ins FDCL eingeladen. Dort wird MST-Mitglied Elizabet Cerqueira, die anlässlich der Berlinale vor Ort ist, berichten und mit den Gästen diskutieren. Mehr Informationen unter: https://www.fdcl.org/event/brasilien-bolsonaro-und-die-landlosenbewegung-mst/

 

„VERLASSE DEINEN KÖRPER.”

© Clin d’oeil Films


Tania wächst als Mädchen bei ihrer strengen Großmutter im peruanischen Amazonasgebiet auf. „Hier wird nicht geweint”, gibt ihr die Großmutter noch auf den Weg, bevor sie stirbt. Tania hat nun das ganze Leben vor sich. Nur zu gerne lässt sie sich auf das Versprechen einer Trans*Frau ein, in einer Goldgräberstadt flussabwärts in einer Bar zu arbeiten und dort die Männer zum Trinken zu animieren. Auf der endlosen Flussfahrt über den ruhigen, schönen Amazonas nimmt ihr die Frau, deren Namen sie nie erfährt, den Pass ab und sagt: „Jetzt bis du niemand.”

© Clin d’oeil Films

So fangen wohl hunderte oder tausende Schicksale von jungen Frauen an, die in der Zwangsprostitution landen. By the name of Tania ist ein Hybridfilm, eine Visualisierung realer Zeugenaussagen, in der Tania aus dem Off in nachgestellten Szenen von ihrem Leidensweg erzählt. Es sind wenige, ruhige und auch schöne Einstellungen, zentral ist zunächst der Fluss. Und doch ist ständig eine Anspannung spürbar, die durch unscharfe Kameraeinstellungen und hallende, an- und abschwellende Lautstärke noch verstärkt wird. Der Film bekommt etwas Traumhaftes; doch es ist kein Traum und Tania heißt auch nicht Tania: „Ich habe alles verloren. Sogar das Schamgefühl. Sogar meinen Namen.” Immer häufiger taucht nun die Stadt auf und genauso wird häppchenweise die Verschlimmerung ihrer Lage eingestreut. Das Unsagbare passiert einfach und so wird Tania es wohl auch erlebt haben. Die allgegenwärtige Straflosigkeit, Rechtlosigkeit und Hoffnungslosigkeit auch anderer Akteure finden eher beiläufig Erwähnung. Intuitiv findet Tania ihre Überlebensstrategie: „Verlasse deinen Körper.”

© Clin d’oeil Films

By the Name of Tania ist bereits die dritte Dokumentarfilm-Koproduktion (nach Sobre las Brasas 2013 und Le Chant des Hommes 2015) der Regisseurinnen Bénédicte Liénard aus Belgien und Mary Jiménez aus Peru. Mit minimalistischen Mitteln geben sie einem Schicksal, das sich sein Leben schließlich zurückholt, eine Stimme, einen Namen und ein Gesicht. Damit verfolgen sie einen anderen Zugang zu diesem schwierigen Thema als etwa Lilja 4-ever (2002), der aber auch kein Dokumentarfilm ist. Beide Filme kommen ohne voyeurhafte Brutalität aus, Lilja 4-ever ist rasant und atemlos, wonach man heulen möchte. Nach By the Name of Tania frag man sich, und jetzt? Was ist aus den Tätern geworden? Was aus den anderen Frauen? Was sollte in Zukunft passieren? Und bleibt deshalb eher ratlos zurück.

 

NEOLIBERALES SCHNARREN

Foto: © Carnaval Filmes


Viel Hoffnung scheint es nicht zu geben. Das, was bleibt, ist das gleichförmige Rattern, Schnarren und Klicken der unzähligen Nähmaschinen, die sich zu einem einzigen großen vielmaschigen Soundteppich verweben. Dazu gesellt sich die Monotonie derselben, sich immer wiederholenden Bewegungsabläufe: Umkrempeln des rechten Beins, lange Naht rechte Seite, halbe Drehung, lange Naht linke Seite und wieder von vorn. Das Leben der Dorfbewohner*innen scheint von Gleichförmigkeit und Monotonie bestimmt. Das Hamsterrad der ewigen Profitmaximierung dreht sich unaufhaltsam weiter. Der moderne Kapitalismus interessiert sich nicht für die Einzelschicksale der Menschen, welche die Maschinen bedienen. Marcelo Gomez aber versucht einen Blick auf eben diese Persönlichkeiten zu werfen und die Auswirkungen eines menschenunwürdigen Systems am lebenden Objekt nachzuvollziehen.

© Carnaval Filmes

Die Kleinstadt Toritama in Agreste (Pernambuco), einer trockenen, vom Kapitalismus ausgebrannten Region im Nordwesten Brasiliens, dient als Schauplatz seines Dokumentarstreifens Estou Me Gourdando Para Quando O Carnaval Chegar. Ein Großteil dieser 40.000-Seelengemeinde hat sich über die Jahre hinweg eine oder mehrere Nähmaschinen zugelegt. Mehr braucht es nicht, um in die Jeansproduktion – die einzige vielversprechende Ernährungsgrundlage – einzusteigen. Hiermit lenkt der Regisseur die Aufmerksamkeit auch auf neue Auswüchse des modernen Kapitalismus und auf neue, schwer fassbare Beschäftigungsverhältnisse: Als Kleinunternehmer*in kann jede*r Bewohner*in durch den bloßen Besitz einer Nähmaschine für namentlich nicht genannte Konzerne von seinem eigenen Heim aus Hosenteile zusammenflicken. Jegliche gewerkschaftliche Organisation wird so von vornherein unterbunden, geregelte Löhne und Arbeitszeiten sind fehl am Platz. Es gilt die Devise: Je mehr du schuftest, desto praller gefüllt ist auch dein Geldbeutel. So kehrt der moderne Kapitalismus zu seinen Grundprinzipien und ursprünglich größten Verheißungen zurück und macht das abgedroschene neoliberale Motto „Du bist deines eigenen Glückes Schmied“ wieder salonfähig.

© Carnaval Filmes

Mittels einer meist statischen Kameraführung erzählt Marcelo Gomez von den Einzelschicksalen dieser Maschinerie und schaut in die Hinterhöfe und Garagen der Bewohner*innen von Toritama. Die Zuschauer*innen nehmen dabei durch auffallend unauffällige Weise Anteil an den Auswirkungen der Überproduktion auf die Menschen und ihre Beziehungen und erhaschen intime Einblicke in deren Familienverhältnisse. Auffällig ist, dass die meisten der Dorfbewohner*innen ihre Situation weitaus positiver bewerten, als es die meisten Zuschauer*innen wohl tun würden. Zwar hinterfragen viele das inhumane System, aber die Mehrzahl bewertet ihre Situation als relativ zufriedenstellend. Sie hätten ja Arbeit und das sei verglichen mit anderen auf dieser Erde ja das wichtigste, das und wiedabei nur zweitrangig, so sagen sie. Trotzdem sprechen sie von ihren Sehnsüchten, von ihren Träumen und – zwischen den Zeilen – auch von einem besseren Leben. Es wird offenkundig, dass die Widersprüche des Kapitalismus am drastischsten, da in fast allen Lebensbereichen allgegenwärtig, am Produktionsort hervortreten. Am stärksten zeigt sich dies am magischen Realismus des durch Landwirtschaft und Aberglauben geprägten Dorfalltags, welcher sich noch heute im krassen Gegensatz zur industrialisierten Moderne präsentiert. Zur Karnevalszeit scheint ein Mal im Jahr jenes bessere Leben für viele greifbar nahe. Sie verkaufen ihre Fernseher, ihre Kühlschränke und ihr letztes Hab und Gut, um sich die Reise ans Meer und einen Moment der Ausgelassenheit und des Glücks finanzieren zu können. Für ein paar Tage verwandelt sich Toritama in eine Geisterstadt und die Maschinen stehen still, nur um kurz darauf erneut in ein gleichförmiges, unaufhörliches Surren zu verfallen.


Estou Me Guardando Para Quando O Carnaval Chegar läuft auf der diesjährigen Berlinale in der Kategorie Panorama Dokumente

„SIE KÖNNEN ALLES VON UNS ERWARTEN, NUR KEINE STILLE”

Foto: © Bruno Miranda


Warum müssen wir für unsere Bildung kämpfen, wenn Bildung doch unser Recht ist?” Das fragen sich Nayara, Marcela und Koka, die diese jüngste Geschichte Brasiliens aus Sicht der Schüler*innenbewegung erzählen, von den ersten Protesten gegen die Erhöhung der Preise für den öffentlichen Nahverkehr 2013 bis zur Wahl des rechtsextremen Jair Bolsonaros Ende 2018. Espero tua (re)volta, der fünfte Dokumentarfilm der Journalistin und Regisseurin Eliza Capai, berichtet von vielen Brüchen und Niederlagen, aber auch von Mut, Power und Erfolgserlebnissen. Der Film könnte aktueller nicht sein und weiß dies auch. Eine seiner großen Stärken ist die Fülle an Material zu den verschiedenen Formen jugendlicher Rebellion gegen all das, was schon immer ein Problem in Brasilien war und nun mit dem neuen Präsidenten immer akuter wird: Sexismus, Homo- und Trans*phobie, Rassismus und die Unterteilung der Gesellschaft in Menschen erster und zweiter Klasse.

© Eliza Capai

Espero tua (re)volta, das die „Revolte“ schon im Titel trägt, ist eigentlich ein klassischer Dokumentarfilm – Bilder von Demonstrationen, Versammlungen, besetzten Schulen und, natürlich, exzessiver Polizeigewalt –, die Erzählform ist jedoch besonders. Nayara, Koka und Marcela waren von Anfang an bei den Protesten und den Schulstreiks im Bundesstaat São Paulo dabei, kommentieren die Szenen, in denen ihre jüngeren Ichs teils selbst vorkommen, und leiten die Kamera an. „Geh’ noch mal kurz zurück zu der Szene davor, ich war noch nicht fertig“ oder „wir müssen jetzt doch nochmal einen kurzen Exkurs ins Jahr 2012 machen“, heißt es, und die Kamera gehorcht. Mit viel Humor achten Nayara und Marcela darauf, dass Koka als männlicher Erzähler nicht zu viel Redezeit bekommt. „Jetzt sind wir Frauen wieder dran, deine Zeit ist abgelaufen“, heißt es gleich zu Beginn, und Koka gehorcht, verliert dabei aber nie seinen Mitteilungsdrang.

© Carol Quintanilha

Passend zur Energie der drei Erzähler*innen geht der Film musikalisch genauso kraftvoll vor, Baile Funk und Hiphop unterstreichen die rebellischen Szenen, in denen ein Meer junger Menschen durch die Straßen São Paulos zieht und Gerechtigkeit fordert, oder in denen die besetzten öffentlichen Schulen – insgesamt 200, deren Schüler*innen sich gegen die Schließung wehren – zu Orten der Selbstverwaltung werden, wo sich Arbeitsgruppen zu Themen wie Sexismus und Rassismus bilden und die Jungs putzen und kochen müssen. Nicht selten erfolgt plötzlich ein musikalischer Bruch, zu dem die drei ankündigen, dass Szenen voller Polizeigewalt gegen Minderjährige folgen werden. Dazu erfahren wir: „Die Diktatur ist vorbei, aber die Repression blüht.” In diesen Szenen wird deutlich, wie viel die Schüler*innen der Bewegung bereits an Gewalt haben ertragen müssen und wie sehr sie der eigene Kampf mitnimmt. Immer wieder folgt die Warnung: „Dies ist erst der Anfang, es wird wieder passieren“.

Umso wichtiger, dass Espero tua (re)volta trotz allem Hoffnung schenkt. Hoffnung in eine Generation junger Brasilianer*innen, die früh gelernt haben, was es heißt, für die eigenen Rechte zu kämpfen und nicht daran denken, diesen Kampf aufzugeben.

 

DIE STIMME DER MARGINALISIERTEN HOMOSEXUALITÄT

Foto: © Joanna Reposi Garibaldi, Gabriela Jara


Wer ist Pedro Lemebel? Er ist ein Erdbeben. Er ist die Straße. Er ist die unaufhaltsame Kraft, die von der armen, marginalisierten Homosexualität ausgeht. “Wenn dieser Homosexuelle AIDS hat, aus der dritten Welt kommt, arm und Indianer ist, wird er ermordet”, sagt Lemebel.

Er ist einer der bedeutendsten Künstler und Schriftsteller Chiles, in der Welt jedoch so gut wie unbekannt. Mit seinem Werk konfrontierte er das Land sowohl während der Pinochet-Diktatur als auch während der jüngsten chilenischen Demokratie in den neunziger Jahren mit unbequemen Themen.

© Joanna Reposi Garibaldi, Gabriela Jara

Wer sich für Ihn interessiert, hat jetzt die Möglichkeit den Dokumentarfilm Lemebel (Panorama Dokumente) von der Regisseurin Joanna Reposi Garibaldi auf der 69. Berlinale zu sehen. Der Film benutzt zahlreiche Archivaufnahmen seiner provokanten und teils riskanten Performances, die sich an Grenzsituationen vorwagen, sowie öffentliche Lesungen seiner scharfzüngigen Texte und TVInterviews, die den/die Zuschauer*innen Lemebel’s Werk und Genie entdecken lassen.

Gleichzeitig ist der Film eine Art audiovisuelles essayhaftes Porträt und Erinnerungsstück, das die Regisseurin mit intimen Aufnahmen und Interviews anreichert. Während der acht Jahre bis zu seinem Tod im Jahr 2015 wurde Lemebel von ihr gefilmt. Persönliche Reflexionen des Künstlers über seine Kindheit, seine Ängste, seine Beziehung zu den Eltern, der Horror der Diktatur und Probleme mit Alkoholismus werden in diesem Material festgehalten. Lemebel’s Stimme führt durch den Film. Dazwischen sprechen sein Bruder Jorge und die Dichter*innen Sergio Parra und Carmen Berenguer. Die Regisseurin schafft durch die Projektion von Fotografien Lemebels und Bilder seiner Performances gegen die nde in seinem einstigen Wohnviertel zusätzliche visuelle Ebenen. Eine innovative Art von Ästhetik, die sie als repetitives Hilfsmittel in dem Film einsetzt.

© Joanna Reposi Garibaldi, Gabriela Jara

Auf die traditionelle, dokumentarische Form und ebenso auf die Vermittlung von Hintergrundinformation über die chilenische Geschichte, die für den/die Zuschauer*innen wichtig sein könnten, verzichtet dieser Dokumentarfilm. Das Anliegen des Films von Joanna Reposi Garibaldi ist, vermittels des mit dem Künstler geführten intimen Gesprächs, sein Werk, seine Kraft und seine Stimme in der Welt bekannter zu machen.

Dafür ist die Berlinale die richtige Bühne.

 

ZEIT DES AUFBRUCHS

Foto: © Dublin Films


Bananen, die als Opfergabe an die Götter im Wasser treiben, riesige Dampfwolken, die die Denguemücken ausrotten sollen und immer wieder die rennende Jenniffer, die am Schluss des Films einfach aus dem Bild hinaussprintet – der in Kuba gedrehte Film des brasilianischen Regisseurs Aldemar Matias schenkt uns viele schöne Bilder, beglückende und auch lustige Momente und ein großartiges Mutter-Tochter-Gespann. Die beiden Protagonistinnen, die Sportlerin Jenniffer und ihre Mutter Marbelis, lassen die Kamera dabei so nah an sich heran, dass es kaum zu glauben ist, dass La Arrancada ein Dokumentarfilm ist. Nach dem Kurzfilm El enemigo, in dem Matias bereits Marbelis’ Schädlingsbekämpfungscrew porträtierte, verfolgt der Regisseur wieder sein selbst erklärtes Ziel, politische Zusammenhänge durch das Filmen familiärer Intimität zu verstehen und darzustellen.

© Dublin Films

Der Dokumentarfilm begleitet die Protagonistinnen über eine kurze Zeit der Unsicherheiten hinweg: Jenniffers Bruder bricht auf, um in Chile Geld zu verdienen, Jenniffer selbst schlägt sich seit Längerem mit einer Verletzung herum und hadert mit ihrer Sportkarriere. Gleichzeitig bekommen wir einen kleinen Eindruck eines Kubas, das in der Post-Castro-Ära zwischen den Zeiten zu hängen scheint. Der Film bricht dabei mit dem Bild, das europäische Zuschauer*innen wohl immer noch von Kuba im Kopf haben werden. Zwar pafft Marbelis des Öfteren dicke Zigarren und auch ein alter US-Wagen kurvt durch die Straßen, doch abends treffen sich Jenniffer und ihre Freund*innen auf dem „Wi-Fi-Platz“, um stundenlang mit ihren Smartphones herumzusurfen und reden alle darüber, das Land zu verlassen.

© Dublin Films

Der Film lebt vor allem von der besonderen Dynamik zwischen Mutter und Tochter. Marbelis ist eine rigorose Frau, als Chefin einer Schädlingsbekämpfungscrew geht sie hart gegen Menschen vor, in deren Gebäuden die gefährlichen Denguemücken gefunden wurden. Auch an ihre Tochter hat sie hohe Ansprüche, die diese aber geschickt zu tarieren weiß. Gleichzeitig ist ihre Beziehung von sehr viel Liebe und Vertrautheit geprägt. Dem Dokumentarfilmer Matias gelingt es, dieses besondere Verhältnis durch kleine Details, wie etwa das ausgefeilte Begrüßungsritual der beiden, einzufangen.

Es bleibt zu hoffen, dass dem Film, der auf der Berlinale seine Weltpremiere feierte, noch eine längere Karriere auf der Kinoleinwand beschert wird.

 

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