Berlinale

AUF AUGENHÖHE

Mit Chão gelingt Camila Freitas ein eindrucksvolles Poträt der brasilianischen Landlosenbewegung

Von Merle Merkel

Foto: © Camila Freitas

So 10.02. 16:30 CineStar 8
Mo 11.02. 14:00 HAU Hebbel am Ufer (HAU1), Berlinale Talents
Di 12.02. 19:30 Cubix 9
Fr 15.02. 14:00 Delphi Filmpalast
So 17.02. 16:30 Delphi Filmpalast

Sektion: Forum


P.C. und seine Großmutter sitzen im Ausguck, halten Wache und schmieden Pläne. Die Großmutter – eine alte, aber erstaunlich kräftige Frau mit sonnengegerbter Haut – zählt auf, was sie einmal anbauen möchte, wenn sie ihr eigenes Land besitzt: Reis, Maniok, Orangen und Palmherzen. Ihr Enkel P.C., ein Mann Ende 30, notiert alles und erstellt den passenden Grundriss, ergänzt Ställe und Felder für die Tierzucht. Die zuversichtlichen Blicke der beiden schweifen aus dem Fenster, das nicht einmal eine Scheibe besitzt, hinüber zum Camp. Die Zelte, die nur aus Brettern, Baumstämmen und Planen bestehen und auf einer Wiese verteilt sind, schützen die Menschen kaum vor Wind und Wetter und sind noch weit entfernt von ihrem Traum vom eigenen Land. Aber P.C., seine Großmutter und die hunderten Familien, die wie hier im brasilianischen Bundesstaat Goiás Land besetzen, sind bereit, genau dafür zu kämpfen.

© Camila Freitas

Ganze vier Jahre lang hat die Filmemacherin und Kamerafrau Camila Freitas die Besetzungen der Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) begleitet. Dem daraus entstandenen Dokumentarfilm Chão ist ebendiese Ruhe und vor allem die Vertrautheit zwischen Filmemacher*innen und Gefilmten anzumerken. So ist ein nahes und respektvolles Porträt einer Bewegung entstanden, die Menschen in dem Grundgedanken vereint, sich ihr Stück Land von Großgrundbesitzer*innen und Konzernen zurückzuholen. Viele von ihnen sind in die Städte verdrängt worden, einige leben dort schon in zweiter oder dritter Generation unter ärmlichen Verhältnissen. Der Zustand der Landlosigkeit wird im Film auch als „Versklavung“ bezeichnet, aus der sich die Menschen nun versuchen zu lösen. Eine von ihnen, eine erschöpft wirkende junge Mutter, sagt mit starker und zuversichtlicher Stimme: „Ich komme vom Land, ich bin eine Kämpferin.“ Gemeinsam organisieren die Gruppen im MST Landbesetzungen, Blockade- und Protestaktionen, die Licht auf die ungerechten und ungesunden Verhältnisse in der brasilianischen Landwirtschaft werfen (siehe dazu auch die Berichterstattung der LN – Nummer 516 und 529/ 530). Gleichzeitig begleitet der Dokumentarfilm den Aufbau eigener landwirtschaftlicher und politischer Strukturen in den besetzten Gebieten. In Versammlungen entwerfen die Menschen gemeinsame Zukunftsmodelle für ein gerechtes und nachhaltiges Leben und Arbeiten.

© Camila Freitas

Auch wenn die Mitglieder des MST zuversichtlich wirken und die Menge an Menschen, die an den Aktionen teilnehmen, Hoffnung macht, verschweigt Chão nicht die Felsen, die den Landlosen in den Weg zum eigenen Land gelegt werden. „Die Gesellschaft ignoriert uns“, erzählt eine junge Frau. Die Beobachtungen, die Camila Freitas jahrelang gemacht hat und an denen sie nun auf der Berlinale ein großes Publikum teilhaben lässt, zeigen auch, wie die Landlosenbewegung von offizieller Seite kriminalisiert, bedroht und von den Medien verleumdet und als gewalttätig diskreditiert wird. „Das hier ist kein Wochenendausflug“, stellt ein Mann vom MST gleich zu Beginn einer neuen Landbesetzung klar. Die kräftezehrenden, aber friedlichen Aktionen der Bewegung, an der auch Familien mit Kindern teilnehmen, scheinen nicht in das bedrohliche Bild zu passen, das der Agrobusiness und Personen von offizieller Seite vom MST zeichnen wollen. Zu ihnen gehört auch der Blairo Maggi, Landwirtschaftsminister unter Michel Temer und selbst Großgrundbesitzer und Sojaproduzent. Die einzigen bedrohlich wirkenden Szenen von Chão aber zeigen die riesigen Genmais- und Sojafelder, die die Agrokonzerne mit monsterähnlichen Traktoren und Pestiziden bewirtschaften. Das vom MST besetze Land dagegen ist mit den unterschiedlichsten Pflanzen und Tieren vor allem eins: natürlich. Hier hegt und pflegt die Großmutter ihr Gemüsebeet, da wird Biodünger hergestellt, dort sitzt eine Familie am Abendbrottisch.
Statt das Thema der Landkonflikte in Brasilien schnell und reißerisch abzuhandeln und auf große Effekte oder gewaltvolle Szenen zu setzen, hat das Team um Camila Freitas keine Zeit und Mühe gespart, um sich den Menschen in der Landlosenbewegung ehrlich zu nähern. Chão schafft es, deren Leben und Miteinander unvoreingenommen zu begleiten und ihr wichtiges Anliegen zu vermitteln. Und genau das ist angesichts der ernüchternden Bilanz der ersten Wochen brasilianischer Agrarpolitik unter Bolsonaro höchst relevant. Nicht nur deswegen ist Chão unbedingt zu empfehlen.

Camila Freitas (mit Mikro), das Filmteam und Elizabet Cerqueira vom MST (rote Mütze) bei der Weltpremiere von Chão in Berlin (Foto: Christian Russau)

Wer sich für die aktuelle Situation des MST unter Bolsonaro interessiert, ist am Mittwoch (13.2.2019, 18:30 Uhr) herzlich ins FDCL eingeladen. Dort wird MST-Mitglied Elizabet Cerqueira, die anlässlich der Berlinale vor Ort ist, berichten und mit den Gästen diskutieren. Mehr Informationen unter: https://www.fdcl.org/event/brasilien-bolsonaro-und-die-landlosenbewegung-mst/

 

Chão // Landless // Camila Freitas // Brasilien 2019 // 112 Min. // Portugiesisch

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