Film | Nummer 545 - November 2019 | Sport

GENIE UND WAHNSINN IN NEAPEL

Asif Kapadias Doku Diego Maradona kommt dem argentinischen Ausnahmefußballer so nah wie selten zuvor

„Nichts“, sagt Fernando Signorini, „kann jemals den Aufstieg und Fall eines Fußballers beschreiben wie die Zeit von Diego Maradona beim SSC Neapel.“ Signorini war Maradonas Fitnesscoach seit seiner Zeit in Italien und laut Maradonas Aussage ein Genie, das ihn durch seine komplette Karriere begleitete und ihn so gut kennenlernte wie wenige andere. Signorinis Stimme ist die einordnende Referenz in der Fußball-Doku Diego Maradona, die versucht, den vielleicht kontroversesten Fußballer aller Zeiten und seinen Werdegang zu verstehen. Das ist, soweit für Außenstehende zu beurteilen, in bemerkenswerter Weise gelungen.

 

Von Dominik Zimmer

Unter Jubel Diego Maradona betritt das Spielfeld des SSC Neapel (Foto: Meazza Sambucetti/ AP / Shutterstock / DCM )

Diego Maradona ist ein Rausch der Bilder. Ein atemloses Eintauchen in die Dynamik des Spiels auf dem Platz und des (auch ohne Social Media) für Maradona überlebensgroß aufgeblasenen Ballyhoos darum. Aktuelle Gespräche mit Zeitzeug*innen oder Maradona selbst kommen stets aus dem Off, um die Kontinuität des Filmmaterials nicht zu unterbrechen. Zu sehen sind die Interviewpartner*innen nie. Nicht zu kurz kommen im Film jede Menge Spiel- und Jubelszenen, die die oft mit Handkamera fokussierten Bilder und ein hervorragendes Sounddesign größer wirken lassen als die Realität – von der „Hand Gottes“ bis zu den wenig glamourösen Niederlagenserien seiner Anfangszeit in Italien.
Asif Kapadia, Oscar-Gewinner für eine Doku über Amy Winehouse, kreiert so einen visuellen Strudel, der kaum Raum zur Reflexion lässt und nutzt ihn wie einen Erklärungsversuch für Maradonas oft widersprüchliche und schwer verständliche Entscheidungen. In körnigen, häufig Amateur*innenaufnahmen entsteht so das Bild eines einfachen Jungen, der die Dinge eher mit sich geschehen lässt, als sie selbst zu beeinflussen. Diego, der inmitten ärmlicher Baracken anfängt, gegen den Ball zu treten und so schon als Teenager seine ganze Familie aus dem Slum holt. Diego, verkauft als damals teuerster Fußballer der Welt vom Spitzenklub Barcelona an Neapel, eines der schlechtesten Teams der italienischen Liga. Diego, der sein erstgeborenes Kind, Ergebnis einer seiner unzähligen Affären, lange verleugnet. Diego, der auf dem Höhepunkt seiner Karriere eigentlich weg will aus Neapel, wo ihm zwischen Kokain und Camorra die Kontrolle über sein Leben entgleitet, und es doch nicht schafft.
Die Dokumentation konzentriert sich fast ausschließlich auf die Zeit, die Maradona in Neapel verbrachte. Was anfangs Enttäuschung hervorruft (die Jahre in Argentinien und Spanien werden quasi als Vorspann abgefrühstückt, sein Drogenentzug oder seine Trainerkarriere völlig ausgespart), ergibt im Laufe des Films immer mehr Sinn. Denn Maradonas fußballerische Karriere und auch sein restliches Leben werden von nichts anderem so sehr geprägt wie von diesen sieben Jahren in der Stadt am Vesuv. Bei seiner Ankunft von 85.000 Menschen im Stadion wie ein Gott gefeiert, wird er gemeinsam mit Fans und Spielern bei Auswärtsspielen bei den reichen Norditaliener*innen durchgehend beleidigt. „Wascht euch“ ist noch das Höflichste, was auf den Plakaten der gegnerischen Anhänger*innen steht. Maradona, der es aufgrund seiner Herkunft kennt, wie ein Ausgestoßener behandelt zu werden, treibt das zu Höchstleistungen an. Mit besessener Sturheit und seinem überragenden Talent formt er den SSC Neapel zu einem Spitzenteam. 1987 – mittlerweile Weltmeister – gibt er der ganzen Stadt ihren Stolz zurück, als er das Unglaubliche schafft und mit Neapel die italienische Meisterschaft holt. Für ihn, das scheint unverhohlen durch, ist dieser Titel mehr wert als der WM-Sieg.
Diesen Moment nutzt Kapadia geschickt als dramaturgischen Höhe- und Wendepunkt. Maradonas Einstellung zur im Wortsinn religiösen Verehrung, die ihm in Neapel entgegengebracht wird (in den Wohnungen hängt sein Bild oft zwischen denen von Christus und Maria), verändert sich danach. Saugt er sie zu Beginn regelrecht auf, wird er sich später davon distanzieren und seine Persönlichkeit in zwei Charaktere spalten, die Coach Signorini wie folgt beschreibt: „Mit Diego laufe ich bis ans Ende der Welt. Aber mit Maradona gehe ich keinen Schritt.“
Diego sieht man von da an im Film vor allem privat. Als naiv-volkstümlicher Junge schlittert er in die Abhängigkeit der neapolitanischen Mafia Camorra. Nach dem ersten Treffen mit dem Giuliano-Clan gibt er noch arglos zu Protokoll: „Das fühlte sich an wie in einem Hollywood-Film.“ In den folgenden Jahren wird er durch die Bosse ebenso mit Kokain und Frauen beliefert wie vor der Polizei und Dopingfahndung beschützt. Als Maradona schafft er sich eine neue Rolle in der Öffentlichkeit, erliegt aber immer mehr dem Größenwahn. Der kulminiert bei der Weltmeisterschaft 1990 in Italien in der fatalen Fehleinschätzung, das Stadion würde beim Halbfinale Italien gegen Argentinien tatsächlich ihn und sein Team unterstützen. Obwohl das Spiel in Neapel stattfindet, wird Maradona beim entscheidenden Elfmeter – den er verwandelt – ausgepfiffen. Als sich dies bei der argentinischen Hymne vor dem Finale gegen Deutschland wiederholt, formen seine Lippen deutlich sichtbar ein hijos de puta („Hurensöhne“). Es ist der Moment, von dem an Maradona in Italien – auch in Neapel – erledigt ist. Die genaue Dokumentation seines überstürzten Aufbruchs ist die geschlossene Klammer zum verdächtig überlebensgroßen Empfang in Neapel.
Man muss Kapadia ein Kompliment machen, dass er es geschafft hat, über Aufnahmen aus Privatarchiven der Familie Maradona und der Neapel-Ultras zu vielen intimen Momenten Zugang bekommen und aus dem umfangreichen Material eine fesselnde Komposition geschaffen zu haben. Zu einem besonderen Erlebnis macht Diego Maradona aber vor allem der Blick des Filmemachers, der zwar mit seinem Protagonisten sympathisiert und ihn nicht vorführt (was einfach wäre), sich aber auch nicht mit ihm gemein macht. Trotz aller Emotionalität der Bilder geht es Kapadia darum zu verstehen, nicht zu urteilen. Auch nach dem Film kann man sich also noch entscheiden, ob man Diego Maradona liebt oder hasst – oder ihn als widersprüchlichen Charakter, der er bis heute ist, akzeptiert.

 

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