DIE ENTFERNUNG DIE UNS TRENNT

 

Renato Cisneros ist 18 Jahre alt, als sein Vater 1995 stirbt. Er weiß, dass Luis Federico Cisneros, genannt „El Gaucho“, im peruanischen Militär hohe Posten bekleidete, doch erst Jahre nach seinem Tod beginnt er, sich ernsthaft mit dessen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Wer war dieser Mann wirklich? Welche Macht besaß er während den diktatorischen Präsidentschaften von Francisco Morales Bermúdez und Fernando Belaúnde? Was weiß er über die Verschwundenen, die Toten jener Zeit?
„Dies ist ein Buch über ihn oder jemanden, der ihm sehr ähnlich ist, verfasst von mir oder jemandem, der mir sehr ähnlich ist. Ein Roman, keine Biografie“, sagt Renato Cisneros gleich zu Beginn von Die Entfernung, die uns trennt, denn er weiß, „dass jede Wiedergabe dieser Wirklichkeit zur Fälschung, zur Verzerrung, zum Trugbild verdammt ist“. Dennoch bemüht er sich um Wahrheitsfindung. Und die fängt bei der Familie an.

Eine verhasste öffentliche Figur als Vater

Enttäuschende Väter und illegitime Liebschaften ziehen sich durch die Geschichte der Familie Cisneros. Auch der „Gaucho“ lässt die große Liebe in seinem Geburtsland Argentinien zurück, als er nach Peru, das Land seiner Familie, zurückkehrt. Dort zeugt er später erst mit der einen, dann mit der anderen Frau insgesamt sechs Kinder. Kurz nach Renato Cisneros’ Geburt wird der Vater zum Innenminister ernannt, ist oft abwesend, und erzieht die Kinder mit strenger Hand. Er unterdrückt sie, um sie „hart“ zu machen. Und doch gibt es die Momente der Nähe und des Stolzes, die der kleine Renato eifrig herzustellen versucht. Erst nach 150 Seiten nähert sich der Autor der politischen Seite des Vaters an und ändert somit radikal die Perspektive. Nun geht es weniger um den Papá denn um den Politiker, der Freund und Bewunderer von Pinochet, Videla und Viola ist, enge Beziehungen mit den Folterern der argentinischen Militärdiktatur pflegt und in seinem eigenen Land für Entsetzen sorgt.
Gewiss, Die Entfernung, die uns trennt hat in Peru, wo der Name Cisneros jeder und jedem geläufig ist, eine ganz andere Bedeutung als für deutsche Leser*innen. Das macht den Roman aber nicht weniger eindringlich. Er liefert nicht nur einen guten Einblick in rund drei Jahrzehnte peruanischer Geschichte (samt zahlreicher Unruhen), erzählt aus einer persönlichen, intimen Sicht. Das Buch ist auch das Zeugnis eines Mannes, der versucht, die öffentliche, verhasste Figur mit dem privaten Vater in Einklang zu bringen, der Abscheu und Horror ob der Taten, von denen er erfährt, empfindet, ohne dabei aufzuhören, ihn zu lieben und zu verehren.
Die Entfernung, die uns trennt ist weder Abrechnung noch Rechenschaft. Das Buch ist eine literarische, psychologische wie kritische Auseinandersetzung um die Frage, welche Faktoren bestimmend dafür sind, zu was für einem Menschen man sich entwickelt, und welchen Einfluss das auf die nächste Generation haben kann. Wie sehr der Vater sein eigenes Leben geprägt hat, realisiert Renato Cisneros erst im Verlauf der Recherche: „Wie viel haben die Kinder der Cisneros unternommen, um etwas Wirkliches über ihren jeweiligen Vater in Erfahrung zu bringen? Wie viel haben sie als Kinder erlebt, was sie als Erwachsene nicht verziehen haben? Wie viel, was ihnen schadete und was sie nicht erzählten, als sie selbst zu Vätern wurden?“

 

HEIMATSUCHE IM REGENWALD


Es ist die Suche nach etwas Verlorenem, nach den eigenen Wurzeln und der Herkunft, die Ramira umtreibt. Die Protagonistin in Fern von uns hat Heimat und Familie vor Jahren zurückgelassen, und es wird schnell deutlich, dass ihre Beziehung zu beiden nicht positiv ist. Die Erinnerung an die Heimat verfolgt Ramira, deren provinzieller Charakter sie abschreckt. Nun kehrt sie dennoch zurück, und besonders schwierig gestaltet sich das hinsichtlich ihrer Wiederannäherung an Sohn Matteo, der bisher von Ramiras Mutter großgezogen wurde und von ihr entfremdet ist.

Auf erstaunlich unsentimentale Weise erzählen die Regisseur*innen Verena Kuri und Laura Bierbrauer den Prozess der Annäherung einer jungen Mutter an ihr eigenes Kind. Dieser ist durch kleine Fortschritte, wiederkehrende Rückschläge und auf der Stelle treten gekennzeichnet. Fast genauso schwierig ist Ramiras Beziehung zu den anderen Familienmitgliedern: Das Urteil der Älteren über ihr plötzliches Verschwinden und ihre Rückkehr fällt vorwurfsvoll aus, mit ihrer Mutter befindet sie sich in einem stillen Konkurrenzkampf um die Erziehung Matteos. Als Ramira ihr Kind wegen hohen Fiebers in die nächstgelegene größere Stadt bringt und dabei in Konflikt mit den örtlichen Behörden gerät, ist ihr Tiefpunkt erreicht, und es flackert Neid zwischen Mutter und Tochter auf.
Dass gerade die nordargentinische Provinz Misiones, ein zwischen Paraguay und Brasilien eingeklemmtes Stückchen Land, Schauplatz des Films ist, erweist sich mitnichten als Zufall. Bedingt durch mehrere Einwanderungswellen aus Europa und ihrer besonderen geographischen Lage erscheint die Region als kultureller Schmelztiegel. So ist es nicht nur Ramira, die bei ihrer Rückkehr mit ihren Wurzeln fremdelt, sondern ebenso ihre Familie, eine Gemeinschaft deutschstämmiger Bauern im argentinischen Regenwald. Den Zuschauer*innen offenbaren sich hochinteressante Einblicke in diese deutsche Gemeinschaft im Exil, die nach ihrer Flucht ein neues Zuhause gefunden zu haben scheint. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch ein gewisser, durch das Leben zwischen den Kulturen bedingter Identitätsverlust deutlich. Auch zwischen den Familienmitgliedern brodelt es aufgrund ungeklärter Landbesitzansprüche und der knappen Erträge bei der Sojaernte. Die Kühe – seit Jahren die Lebensgrundlage der Bauern – versinnbildlichen die familiären Beziehungen und werden wiederholt in die Bildsprache des Films einbezogen.
Ramiras zwiespältigen Gefühle zu ihrer Heimat werden von den Regisseurinnen in Fern von uns zu einem intensiven Farbteppich verwoben und dadurch den Zuschauer*innen gefühlsecht nähergebracht. Es gelingt ihnen trotz eines relativ gemächlichen Erzählrhythmus und des spärlichen Einsatzes von Musik, eine dichte Atmosphäre zu erzeugen. Angesichts der gleichzeitig intimen und doch fremden Beziehungen beschleicht die Zuschauer*innen selbst ein bedrückendes Gefühl. Nicht zuletzt ist Ramiras existenzielle Frage nach der Entfremdung von der eigenen Herkunft und der damit einhergehenden Entwurzelung des Ichs – kurz: nach Heimat – im Zeitalter der Globalisierung aktuell.

ZEIT DES AUFBRUCHS

Foto: © Dublin Films


Bananen, die als Opfergabe an die Götter im Wasser treiben, riesige Dampfwolken, die die Denguemücken ausrotten sollen und immer wieder die rennende Jenniffer, die am Schluss des Films einfach aus dem Bild hinaussprintet – der in Kuba gedrehte Film des brasilianischen Regisseurs Aldemar Matias schenkt uns viele schöne Bilder, beglückende und auch lustige Momente und ein großartiges Mutter-Tochter-Gespann. Die beiden Protagonistinnen, die Sportlerin Jenniffer und ihre Mutter Marbelis, lassen die Kamera dabei so nah an sich heran, dass es kaum zu glauben ist, dass La Arrancada ein Dokumentarfilm ist. Nach dem Kurzfilm El enemigo, in dem Matias bereits Marbelis’ Schädlingsbekämpfungscrew porträtierte, verfolgt der Regisseur wieder sein selbst erklärtes Ziel, politische Zusammenhänge durch das Filmen familiärer Intimität zu verstehen und darzustellen.

© Dublin Films

Der Dokumentarfilm begleitet die Protagonistinnen über eine kurze Zeit der Unsicherheiten hinweg: Jenniffers Bruder bricht auf, um in Chile Geld zu verdienen, Jenniffer selbst schlägt sich seit Längerem mit einer Verletzung herum und hadert mit ihrer Sportkarriere. Gleichzeitig bekommen wir einen kleinen Eindruck eines Kubas, das in der Post-Castro-Ära zwischen den Zeiten zu hängen scheint. Der Film bricht dabei mit dem Bild, das europäische Zuschauer*innen wohl immer noch von Kuba im Kopf haben werden. Zwar pafft Marbelis des Öfteren dicke Zigarren und auch ein alter US-Wagen kurvt durch die Straßen, doch abends treffen sich Jenniffer und ihre Freund*innen auf dem „Wi-Fi-Platz“, um stundenlang mit ihren Smartphones herumzusurfen und reden alle darüber, das Land zu verlassen.

© Dublin Films

Der Film lebt vor allem von der besonderen Dynamik zwischen Mutter und Tochter. Marbelis ist eine rigorose Frau, als Chefin einer Schädlingsbekämpfungscrew geht sie hart gegen Menschen vor, in deren Gebäuden die gefährlichen Denguemücken gefunden wurden. Auch an ihre Tochter hat sie hohe Ansprüche, die diese aber geschickt zu tarieren weiß. Gleichzeitig ist ihre Beziehung von sehr viel Liebe und Vertrautheit geprägt. Dem Dokumentarfilmer Matias gelingt es, dieses besondere Verhältnis durch kleine Details, wie etwa das ausgefeilte Begrüßungsritual der beiden, einzufangen.

Es bleibt zu hoffen, dass dem Film, der auf der Berlinale seine Weltpremiere feierte, noch eine längere Karriere auf der Kinoleinwand beschert wird.

 

DER KLÜGERE FRAGT NACH

Schon immer fühlte sich Jeremías irgendwie unverstanden. Eine Kostprobe: „Mama, stimmt es, dass die ganze Erde sich langsam erwärmt. Es könnten die Pole abschmelzen. Macht dir das nicht Angst?“ Antwort: „Ob ich Angst vor Wärme habe? Wir bringen die Klimaanlage schon wieder in Gang.“

Jeremías ist acht Jahre alt und hat eine ganze Reihe Fragen, mit denen er sein Umfeld irritiert. Damit kommt er erwartungsgemäß in der Schule nicht gut an. Die harmlose Frage, was er werden möchte, nimmt er ernst. Er findet einen Freund in einem 80 Jahre alten Besitzer eines Buchladens, der ihn auf eine erste Fährte lenkt: das Schach spielen. Als eine Hochbegabung bei Jeremías festgestellt wird, eröffnen sich für ihn neue Möglichkeiten. Von nun an probiert der sympathische kleine Klugscheißer alles mögliche aus, um herauszufinden, was er mit seiner Begabung im Leben anfangen möchte. Jeremías ist zwar so klug wie Einstein, nur wo die Reise mit ihm hingeht, weiß er natürlich nicht. Der herrlich ehrliche und erfrischend freche Jeremías, von Martín Castro wunderbar gespielt, zieht die Zuschauer*innen spielerisch auf seine Seite.

Was die Komödie so sehenswert macht, sind neben den gelungen Charakteren, die ohne albernen Schabernack auskommen, vor allem die realen Themen aus dem Leben einer mexikanischen Familie. So möchte die Mutter ihren Schulabschluss nachholen, doch der Vater gibt seine Erlaubnis nicht. Jeremías versucht sie zu trösten, indem er erklärt, 48 Prozent der Bevölkerung habe keine abgeschlossene Schulausbildung. Derart schafft es der Film innerhalb einer angenehmen Erzählstimmung in der echten Welt zu spielen. Wohl aus diesem Grund ist er in Mexiko 2015 so erfolgreich in den Kinos gelaufen.

Jeremías – Zwischen Glück und Genie bedient sich gekonnt an der humoristischen Theke. Dabei bleibt vielleicht kein Muskelkater durch Lachkrämpfe zurück, aber es entsteht der beste Eindruck für eine gelungene Komödie: nicht nur veralbert worden zu sein.

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