DER LANGE WEG ZUR ANERKENNUNG

Tanz vor dem Regierungspalast Eine Gruppe aus Arica zeigt den afrochilenischen Tumbe // Foto: Ricardo Amigo

Für Marta Salgado ist es ein großer Erfolg. Das im März vom Parlament verabschiedete Gesetz bedeutet für die Vorsitzende der afrochilenischen Organisation Oro Negro nichts weniger als „Gerechtigkeit und die Anerkennung eines historischen Erbes.“ Das Ziel, das sich Oro Negro bei seiner Gründung im Jahr 2001 gesteckt hatte, ist erreicht. Mit dem Gesetz Nr. 21.151 verpflichtet sich der chilenische Staat, in Zukunft die Kultur der Afrochilen*innen als nationales Kulturerbe zu schützen und in den nationalen Bildungsplänen Unterrichtseinheiten zu ihrer Geschichte zu verankern. Durch die begriffliche Anlehnung an das Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über die Rechte indigener Völker, geht damit außerdem das Recht für Afrochilen*innen einher, im Vorfeld zu Gesetzesvorhaben oder zu sonstigen Projekten, die sie betreffen könnten, befragt zu werden.
Dies ist vor allem ein Erfolg der afrochilenischen Bewegung, die seit fast 20 Jahren auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene Überzeugungsarbeit geleistet hat. Ein Schlüsselmoment hierbei war die Regionalkonferenz gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, die im Dezember 2000 in Santiago de Chile durchgeführt wurde. Neben Vertreter*innen von indigenen Völkern und Organisationen der Nachfahren versklavter Afrikaner*innen aus fast allen Ländern der Amerikas nahm daran auch eine kleine Delegation aus Arica teil. Auf der Eröffnungssitzung dieser Konferenz behauptete der damalige Präsident, Ricardo Lagos, dass es in Chile keine Nachfahren versklavter Afrikaner*innen gebe, da die versklavten Afrikaner*innen die rauen Temperaturen im chilenischen Winter nicht überlebt hätten. „Er wiederholte nur, was in den Schulen gelehrt wurde“, kommentierte Salgado. „In diesem Moment sind wir fünf Personen aus der Region Arica-Parinacota aufgestanden, und wir wurden als chilenische Nachfahren versklavter Afrikaner*innen vorgestellt“, erzählt sie. „Das war ein wichtiges Ereignis, denn die Vertreter von vielen Ländern dachten, dass es uns nicht gäbe! Wie sollten wir denn das einzige Land gewesen sein, in das keine Afrikaner*innen verschleppt wurden?“

Vertreter des Pueblo Tribal Afrodescendiente vor dem Kongress // Foto: Ricardo Amigo

Lange behaupteten auch Historiker*innen, dass nur wenige versklavte Afrikaner*innen das damals vergleichsweise arme Chile erreicht hätten. Und diejenigen, die in diesen peripheren Landstrich verbracht worden seien, hätten – wie von Präsident Lagos wiederholt wurde – dem Klima nicht standgehalten. Tatsächlich spielte Chile jedoch eine Schlüsselrolle in den Routen des Handels mit versklavten Afrikaner*innen, und dementsprechend verblieb hier auch eine beträchtliche Anzahl von ihnen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts machten ihre Nachfahren rund 10 Prozent der Bevölkerung aus. Auch ihre politische und kulturelle Bedeutung ist mittlerweile durch zahlreiche Studien belegt. So spielten Militäreinheiten, die aus ehemals Versklavten bestanden, in den Unabhängigkeitskriegen nach 1810 eine wichtige Rolle. Unter maßgeblichem Einfluss afrikanischer Musik entstand in dieser Zeit auch ein Tanz, der während der Pinochet-Diktatur in den Status eines Nationaltanzes erhoben wurde: die Cueca. Trotzdem spielen Afrikaner*innen und ihre Nachfahren in der nationalistischen Erzählung und Geschichtsschreibung, die Chile als weiß begreifen wollen, kaum eine Rolle. „Oft bin ich nur aufgrund meiner Hautfarbe und meiner lockigen Haare in meinem eigenen Land als Ausländerin durchgegangen“, schreibt Marta Salgado in der Einleitung zu ihrem Buch Afrochilenos. Una historia oculta, in dem sie der afrochilenischen Präsenz in Geschichte, Kultur und Musik nachspürt.
Wenige Monate nach der Konferenz gegen Rassismus in Santiago wurde unter dem Vorsitz von Martas Schwester Sonia die erste afrochilenische Organisation gegründet: Oro Negro. Schon früh begann die Organisation in Zusammenarbeit mit Abgeordneten Gesetzesentwürfe zu verfassen. Ein weiteres, wichtiges Werkzeug der beginnenden afrochilenischen Bewegung war die Durchführung von statistischen Erhebungen, die dem demographischen Gewicht der Afrochilen*innen in der Region um Arica Ausdruck verleihen sollten. Wie sich Cristian Báez, Mitglied der 2004 als Abspaltung von Oro Negro gegründeten Organisation Lumbanga, erinnert, wurde im Vorfeld zum Zensus 2002 eine erste Befragung in der Stadt und dem nahe gelegenen, landwirtschaftlich geprägten Azapa-Tal organisiert: „Wir haben eine Art Zensus durchgeführt, nur mit Papier und Bleistift ausgestattet haben wir an Haustüren geklopft. Aber wir hatten nichts an Fachwissen, keinerlei Methodologie, nur Fragen. Und damit haben wir ein Register erstellt, das dazu dienen sollte, die Menschen zur Teilnahme an der Bewegung zu ermuntern.“ 2013 folgte dann eine Befragung mit staatlicher Unterstützung, die den Anteil der Nachfahren versklavter Afrikaner*innen an der Bevölkerung der Region Arica y Parinacota auf knapp 5 Prozent bezifferte, was ca. 8400 Menschen entspricht. Auf nationaler Ebene steht eine Erhebung der Zugehörigkeit zur Bevölkerungsgruppe der Afrochilen*innen jedoch nach wie vor aus.
Mit der Erhebung statistischer Daten sowie überhaupt mit dem Entstehen einer sozialen Bewegung der Nachfahren versklavter Afrikaner*innen in Chile nimmt Arica bisher eine Ausnahmestellung ein. Ebenso wie das weiter südlich gelegene Iquique wurde die Stadt erst in Folge des Salpeterkriegs im ausgehenden 19. Jahrhundert Teil des chilenischen Staatsgebiets. Die Bevölkerung beider Städte wurde daraufhin Opfer einer gewaltsamen und teils staatlich geförderten Verfolgung, die vor allem die Nachfahren versklavter Afrikaner*innen traf. Diese „Chilenisierung“ war, wie Báez sie beschreibt, „ein Prozess, in dem die Bevölkerung ‚weiß‘ gemacht werden sollte. Als Arica an Chile überging, wurden alle Praktiken in Arica als peruanisch stigmatisiert, so zum Beispiel die Verehrung von San Martín de Porres. Aber wenn du dir diese Bräuche anschaust, dann siehst du letztendlich, dass es ‚schwarze‘, afrikanischstämmige Bräuche waren. Diese Chilenisierung war der wichtigste historische Moment, in dem unsere afrikanischstämmige Kultur verloren gegangen ist.“ Viele afrikanischstämmige Bewohner*innen der ehemals peruanischen Städte verließen das Land, und die, die blieben, sahen sich gezwungen, sich dem „weißen“ Ideal des neuen Souveräns anzupassen.

„Ein Thema, das innerhalb der Familien verborgen wurde“


In der Anfangszeit der afrochilenischen Bewegung musste demnach erst mühsam an die vor-chilenische Vergangenheit angeknüpft werden. „Wir waren uns immer bewusst, dass wir Schwarze waren, Nachfahren von Sklaven, so wurde das damals gesagt“, erinnert sich Báez. „Es war aber ein Thema, das innerhalb der Familien verborgen wurde, es wurde nicht viel darüber geredet. Nachdem wir beim Zensus nicht berücksichtigt wurden, hat dann ein Prozess der Aufarbeitung unserer kulturellen Identität begonnen, eine Wiederaufnahme von Bräuchen, da nimmt auch die Neuerfindung des Tumbe (einer afrochilenischen Trommelmusik, Anm. d. Redaktion) ihren Anfang.“ Mit seiner Organisation Lumbanga organisierte Báez Gespräche an einem runden Tisch mit älteren Afrochilen*innen, die zum ersten Mal über ihre Erinnerungen sprachen. „Es gab viele Dinge, die verborgen waren, über die aber unsere Großeltern Bescheid wussten“, berichtet Báez. „Und nach und nach begannen sie, sich an Geschichten zu erinnern, sich an vieles zu erinnern und sich bestimmte Kulturelemente vor Augen zu führen, die uns kennzeichneten.“ Die Lebensgeschichten vieler älterer Afrochilen*innen, von denen viele bereits verstorben sind, hat Báez in seinem Buch Lumbanga. Memorias orales de la cultura afrochilena herausgegeben, das eindrucksvoll von den traumatischen Erlebnissen dieser Bevölkerungsgruppe im 20. Jahrhundert Zeugnis ablegt.
Auch wenn die rechtliche Anerkennung der Afrochilen*innen einen wichtigen Meilenstein darstellt, ist mit der Verabschiedung des Gesetzes noch nicht alle Arbeit getan. „Jetzt muss an den Durchführungsbestimmungen gearbeitet werden, die dieses Gesetz erst mit Leben erfüllen“, sagt Marta Salgado. „Alle Rechte, die das Volk betreffen, müssen respektiert werden, und wir brauchen auch wirtschaftliche Entwicklung und Zugang zu Gütern um unsere Lebensqualität zu verbessern, zum Beispiel zu modernen Landwirtschaftsgeräten in den Tälern.“ Darüber hinaus fordert sie auch „die Erforschung von Krankheiten, deren genetisch bedingte Prävalenz vor allem Nachfahren versklavter Afrikaner*innen betrifft und die im Gesundheitssystem nicht behandelt werden. Außerdem fordert sie, „dass wir in nationalen Erhebungen wie dem Zensus, der 2022 ansteht, berücksichtigt werden.“
Cristian Báez stimmt mit Salgado darin überein, dass mit dem neuen Gesetz die historische Schuld des chilenischen Staates gegenüber den Afrochilen*innen noch nicht abgetragen ist: „Die Chilenisierung hat uns dazu gebracht, uns selber zu verneinen. Unsere eigenen Eltern haben uns beigebracht, uns zu verneinen, zu versuchen, ‚weiß‘ zu werden. Daher ist es wichtig, die Geschichte neu zu schreiben, zu zeigen, dass es einen afrikanischen Beitrag gab. Das ist eine bleibende Schuld.“ Auch Azeneth Báez, die Vorsitzende von Lumbanga, verlieh bei ihrer emotionalen Rede während der Feierstunde im Regierungspalast dem Wunsch nach einer Neuschreibung der Geschichte besonderen Nachdruck: „Die Geschichte der Nachfahren versklavter Afrikaner*innen, die wir heute kennen, ist eine Geschichte, von der wir uns nicht repräsentiert fühlen. Es ist eine Geschichte, die uns keine Würde verleiht. Wir sind diejenigen, die dazu aufgerufen sind, sie neu zu schreiben und ihr mehr Menschlichkeit zu verleihen.“

 

HEIMATSUCHE IM REGENWALD


Es ist die Suche nach etwas Verlorenem, nach den eigenen Wurzeln und der Herkunft, die Ramira umtreibt. Die Protagonistin in Fern von uns hat Heimat und Familie vor Jahren zurückgelassen, und es wird schnell deutlich, dass ihre Beziehung zu beiden nicht positiv ist. Die Erinnerung an die Heimat verfolgt Ramira, deren provinzieller Charakter sie abschreckt. Nun kehrt sie dennoch zurück, und besonders schwierig gestaltet sich das hinsichtlich ihrer Wiederannäherung an Sohn Matteo, der bisher von Ramiras Mutter großgezogen wurde und von ihr entfremdet ist.

Auf erstaunlich unsentimentale Weise erzählen die Regisseur*innen Verena Kuri und Laura Bierbrauer den Prozess der Annäherung einer jungen Mutter an ihr eigenes Kind. Dieser ist durch kleine Fortschritte, wiederkehrende Rückschläge und auf der Stelle treten gekennzeichnet. Fast genauso schwierig ist Ramiras Beziehung zu den anderen Familienmitgliedern: Das Urteil der Älteren über ihr plötzliches Verschwinden und ihre Rückkehr fällt vorwurfsvoll aus, mit ihrer Mutter befindet sie sich in einem stillen Konkurrenzkampf um die Erziehung Matteos. Als Ramira ihr Kind wegen hohen Fiebers in die nächstgelegene größere Stadt bringt und dabei in Konflikt mit den örtlichen Behörden gerät, ist ihr Tiefpunkt erreicht, und es flackert Neid zwischen Mutter und Tochter auf.
Dass gerade die nordargentinische Provinz Misiones, ein zwischen Paraguay und Brasilien eingeklemmtes Stückchen Land, Schauplatz des Films ist, erweist sich mitnichten als Zufall. Bedingt durch mehrere Einwanderungswellen aus Europa und ihrer besonderen geographischen Lage erscheint die Region als kultureller Schmelztiegel. So ist es nicht nur Ramira, die bei ihrer Rückkehr mit ihren Wurzeln fremdelt, sondern ebenso ihre Familie, eine Gemeinschaft deutschstämmiger Bauern im argentinischen Regenwald. Den Zuschauer*innen offenbaren sich hochinteressante Einblicke in diese deutsche Gemeinschaft im Exil, die nach ihrer Flucht ein neues Zuhause gefunden zu haben scheint. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch ein gewisser, durch das Leben zwischen den Kulturen bedingter Identitätsverlust deutlich. Auch zwischen den Familienmitgliedern brodelt es aufgrund ungeklärter Landbesitzansprüche und der knappen Erträge bei der Sojaernte. Die Kühe – seit Jahren die Lebensgrundlage der Bauern – versinnbildlichen die familiären Beziehungen und werden wiederholt in die Bildsprache des Films einbezogen.
Ramiras zwiespältigen Gefühle zu ihrer Heimat werden von den Regisseurinnen in Fern von uns zu einem intensiven Farbteppich verwoben und dadurch den Zuschauer*innen gefühlsecht nähergebracht. Es gelingt ihnen trotz eines relativ gemächlichen Erzählrhythmus und des spärlichen Einsatzes von Musik, eine dichte Atmosphäre zu erzeugen. Angesichts der gleichzeitig intimen und doch fremden Beziehungen beschleicht die Zuschauer*innen selbst ein bedrückendes Gefühl. Nicht zuletzt ist Ramiras existenzielle Frage nach der Entfremdung von der eigenen Herkunft und der damit einhergehenden Entwurzelung des Ichs – kurz: nach Heimat – im Zeitalter der Globalisierung aktuell.

SPANNUNG UND TRAUER AM STRAND

Foto: © Volpe Films


Zwei junge Menschen kommen zu einem Haus in einer Küstenstadt. Es gibt nur ein Bett in dem Haus. Niemand will es benutzen, genausowenig wie das Bad, so als gäbe es etwas Unangenehmes, das die beiden nicht berühren wollten.

© Volpe Films

Los miembros de la familia die Geschichte der Geschwister Gilda (20) und Lucas (17), die in die Kleinstadt gekommen sind, um etwas für beide sehr Wichtiges zu erledigen: das Einzige, was ihnen von ihrer verstorbenen Mutter geblieben ist, ins Meer zu werfen.
Ihr Plan ist, dafür nur eine Nacht zu bleiben, aber aufgrund eines sich länger hinziehenden Busstreiks sind die Geschwister gezwungen, einige Tage gemeinsam in dem alten Haus ihrer Mutter zu verbringen. Mit der Zeit kommen alte Streitereien zwischen den beiden wieder zum Vorschein, Vorwürfe des Distanziertseins und der unterschiedliche Umgang der beiden mit dem Tod der Mutter.
Ständiger Nebel und weite Kameraeinstellungen der Küste symbolisieren in den Szenen mit Lucas die Öffnung einer sexuellen Suche, eine Suche, die weitere Personen einschließt, die in diesem Entdeckungsprozess langsam wichtig werden. Gilda wird ihrerseits in geschlossenen Räumen und aus einem etwas voyeuristischen Blickwinkel gezeigt. Als Zuschauer*in betrachtet man sie wie aus einer Ecke, ohne dass sie es merkt, so als ob man sie bespitzeln wollte um herauszufinden, was sie vor uns versteckt.

© Volpe Films

Die Spannung zwischen den Hauptpersonen ist während des größten Teils des Films zu spüren. Durch Abwesenheit jeglicher Musik und die Nahaufnahmen der traurigen und unzufriedenen Gesichter fühlt man sich als Zuschauer*in etwas unbehaglich und doch wie eine Person der Geschichte.
In seinem zweiten Spielfilm beschäftigt sich Regisseur Mateo Bendesky behutsam mit den Themen Heranwachsen und Trauer. Indem er die jugendliche Identitätssuche mit der Verarbeitung des Verlusts vermischt, taucht er uns in eine komplexe Welt der Gefühle und Empfindungen.

„WIR MÜSSEN UNSER DENKEN DEKOLONISIEREN”

(Foto: privat)

Frau Caballero, Sie kommen gerade von einer internationalen Frauenkonferenz. Welcher Zusammenhang besteht zwischen den Themen der Konferenz und der Arbeit Ihrer Organisation?
Wir forschen seit 2012 zu Geschlechtergewalt gegen indigene Frauen in Paraguay. Aus dieser Forschung heraus sind neue Möglichkeiten der Unterstützung entstanden. So haben wir einen Arbeitskreis zwischen indigenen und nicht-indigenen Frauen geschaffen, der ein interkulturelles Lernen ermöglichen soll und in dem wir über Themen wie empoderamiento (Empowerment) oder ein gewaltfreies Leben sprechen. Die Konferenz will, so wie es ihr Name andeutet, Schnittstellen zwischen den vielfältigen Erfahrungen der Frauenkämpfe suchen. Also Punkte, bei denen wir uns zusammentun und Kraft entwickeln können. Wir wollen einen Mentalitätswechsel im Hinblick auf die Art des Zusammenlebens in den Gesellschaften. Denn wir wurden uns einig, dass wir mit der Welt, in der wir leben, nicht zufrieden sind. Dort erleben wir Gewalt und Tod: Jeden Tag stirbt eine Frau an einem Ort durch physische oder strukturelle Gewalt. So leiden indigene Frauen an einem Mangel an Gesundheit und Bildung. Wir sprechen von einer Revolution im Sinne einer Veränderung, die uns zu dem führt, was die indigenen Völker el buen vivir („das gute Leben“) nennen.

Können Sie ein generelles Bild der Lage der indigenen Gemeinschaften Paraguays zeichnen?
In Paraguay befindet sich die Agrarindustrie in einem Prozess der extremen Ausweitung. Wir sind der viertgrößte Sojaproduzent der Welt. Unsere Regierungen setzen alles daran, den Sojaanbau und die Viehwirtschaft auszuweiten, doch dafür müssen Indigene und Kleinbauern von ihrem Land verschwinden. Täglich werden sie durch das Gift der Agrarindustrie und durch die Entwaldung getötet. Auch das Trinkwasser ist vergiftet, ihnen fehlt das Buschland, ihre Gesundheit verschlechtert sich und es mangelt an Zugang zu Bildung für sie.

Wie genau wirkt sich die Ausweitung der Sojagrenze und der Viehzucht auf das Leben der indigenen Gemeinschaft aus?
Die Mehrheit der indigenen Gemeinschaften lebt noch in den ländlichen Gebieten, aber viele von ihnen migrieren aufgrund der Entwaldung ihrer Territorien und des damit einhergenden Wegfallens ihrer Existenzgrundlage in die Städte. Sie waren ursprünglich Jäger, Sammler und Kleinbauern, aber jetzt können sie nicht mehr sammeln und jagen. In den Städten bilden sie auch Gemeinschaften, aber die Kinder, die dort geboren werden, wachsen natürlich mit einer anderen Kultur auf. Sie bleiben in der Stadt und verlieren den Bezug zu ihrem Heimatort.

Kehren die jungen Leute irgendwann zurück in die ländlichen Gebiete?
Aufgrund der Attraktivität und Annehmlichkeiten der Städte kehren sie selten zurück. Es passiert dasselbe wie mit den Bauern, die ihre Länder aufgrund der Ausbreitung der Agroindustrie verkaufen. Aber im Gegensatz zu diesen ist der Landbesitz der indigenen Bevölkerung kollektiver Art und kann nicht verkauft werden, so schreibt es die Verfassung vor. Deshalb wird der Druck, dass sie das Land verlassen, auf anderen Wegen verursacht.

Was sind das für Wege?
Meiner Meinung nach geschieht es über die fundamentalistischen Religionen, da diese das ganze kulturelle Gewebe der indigenen Völker kaputtmachen, indem sie ihre Überzeugungen und ihre Art zu leben angreifen. Vor einer Weile berichtete uns eine indigene Frau von einem skandalösen Fall. Es ging dabei um einen Pastor einer fundamentalistischen Kirche. Dieser nahm in Anwesenheit ihres spirituellen Führers einen der heiligen Gegenstände ihres Volkes, welchen man für traditionelle Rituale nutzt, sagte, er sei Teufelswerk und verbrannte ihn. Sie sagte, als der Pastor diesen Gegenstand, den nicht mal wir anfassen dürfen weil er so heilig ist, nahm und verbrannte, sei es so gewesen, als wenn er uns alle zusammen genommen, angezündet und verbrannt hätte. Sie versuchen also, die indigene Kultur auszulöschen, alles zu zerstören, damit die Indigenen geschwächt werden und weggehen. Und dann sagen sie, dass sie das Buschland und die Natur nicht mehr brauchen, sich nicht mehr dafür interessieren, und verlassen das Territorium. Dieses wird dann frei für die Monokulturen oder die Marihuanaplantagen.

Welche Reaktion entwickeln die indigenen Frauen angesichts dieser Bedrohung ihrer kulturellen Lebensweisen?
Da die Kultur dieser Gemeinschaften keine Akkumulation von Gütern, sondern eine andere Form des Zusammenlebens mit der Natur vorsieht, entwickeln die Frauen auch andere Mechanismen der Resistenz als beispielsweise Frauen in anderen Teilen der Welt. Wir sagen zum Beispiel, dass die indigenen Frauen die Hüterinnen der Erinnerung ihrer Gemeinschaften sind. Sie sind es, die die Lieder und das Kunsthandwerk bewahren sowie das Wissen der Medizin. Deshalb begleiten wir sie als Organisation in dem Prozess der Revitalisierung dieser Aspekte, also dessen, was ihnen Identität gibt.

Ein zentraler Ansatzpunkt von Grupo SUNU ist also die Stärkung der kulturellen Identität der indigenen Bevölkerung?
Ja, denn wir glauben, dass wir anfangen müssen, zu dekolonisieren. Das bedeutet, unsere eigenen Werte und unser eigenes Potenzial wiederzuentdecken. Geschichtlich betrachtet wurde uns in Paraguay vermittelt, zu Europa aufzusehen und es als das Erstrebenswerte und Perfekteste anzusehen, was es gibt. Wir sollten unser Denken dekolonisieren, damit indigene Völker ihr Selbstwertgefühl wiederentdecken und ihren enormen Reichtum schätzen können. Auf der Grundlage dieser Entdeckung und dieses Potenzials können sie alternative Vorschläge entwickeln und ihre Vorstellungen vom buen vivir verbreiten. Wir glauben, dass ausgehend von dieser Revitalisierung sowohl Indigene wie auch wir nicht Indigene etwas lernen können. Das ist es, was mich bestärkt, was mir Sinn gibt im Leben – zu wissen, woher ich komme. Es geht darum, mich sicher in der Welt zu fühlen. Wir helfen also auch dabei, die interne Organisation der Indigenen zu stärken, damit sie sich gegen die äußeren Bedrohungen wie das kapitalistische System wehren können. Wenn wir mit den indigenen Völkern arbeiten, müssen wir uns die westlichen Brillen abnehmen, versuchen zu verstehen, wie ihre Gesellschaft funktioniert, wie sie ihr Leben gestalten.

Sie legen auch besonderes Augenmerk auf die Arbeit mit den indigenen Jugendlichen.
Es ist wichtig, dass die Jugendlichen Räume innerhalb ihrer Gemeinschaften finden und innerhalb der Organisationen. Denn in diesen Krisen, seien es die Entwaldung, der Einfluss der Medien oder der ganze kulturelle Verlust, mit denen die Gemeinschaften konfrontiert werden, sind es die Jungen, die am meisten leiden. Ihnen fehlt die Orientierung, und sie verfallen leichter den Verlockungen der Drogen und des Alkohols. Es gibt Fälle von Selbstmord, Fälle von Gewalt und immer sind es die Frauen, die unter der Gewalt der Männer leiden.

Sie hatten schon den Anbau von Marihuana erwähnt, der besonders im Territorium der Paî Tavyterâ zunimmt. In den letzten Jahren hört man immer wieder von Mordfällen an ihnen, die unaufgeklärt bleiben.
Solche Mordfälle passieren gerade häufig, da Männer und auch Frauen in die Marihuanaplantagen gehen, um Geld zu verdienen – letztere meist als Köchinnen oder Prostituierte. Wenn sich jemand dem Willen der Plantagenbesitzer*innen widersetzt, endet das oft tödlich. Aber wer wird in solchen Fällen schon nachforschen? Niemand geht in diese Plantagen hinein. Viele Indigene sind arm und können sich keinen Anwalt leisten. Und wenn es sich um Drogenhändler handelt, weiß man über deren genauen Verbleib nichts. Besonders gravierend ist das im Fall von Frauen. Vor einer Weile ist eine junge indigene Frau verschwunden und wurde dann irgendwo am Straßenrand vergewaltigt und ermordet gefunden. Aber den Staat interessiert so eine arme indigene Frau nicht.
Unterstützt Ihre Organisation indigene Gemeinschaften darin, ihre Rechte einklagen zu können?
Wir versuchen, innerhalb der Gemeinschaften einige Vermittler zu etablieren, die sich im nicht-indigenen Rechtssystem auskennen, damit die Indigenen ihre Rechte bei den zuständigen Instanzen im Land einklagen können.

Worin sehen Sie die größten Herausforderungen in der zukünftigen Arbeit Ihrer Organisation?
Unsere größten Herausforderungen hängen direkt mit denen der indigenen Völker Paraguays zusammen, also mit den Waldrodungen, dem Drogenhandel und den Vertreibungen aus indigenen Territorien. Viele der indigenen Weltanschauungen haben mit den Wäldern zu tun. Wie soll man den Kindern und Jugendlichen erklären, was bestimmte Mythen bedeuten, wenn der Kontext fehlt, wenn es gar kein Buschland mehr gibt? Jedes Tier hat eine bestimmte Funktion in ihrem System. Wie übermittelt man so etwas Jugendlichen, wenn das alles weg ist?
Und schließlich fragen wir uns, wie wir diesen großen Problemen, mit denen die Gemeinschaften konfrontiert sind, begegnen können. Wie können wir ein so großes globales System bremsen? Aus diesem Grund sind internationale Treffen sehr wichtig, denn so sehen wir, dass wir nicht alleine sind, dass auch in anderen Teilen der Welt, wie zum Beispiel in den Philippinen, die indigene Bevölkerung leidet. Wir erkennen, dass es sich um ein weltweites Problem handelt und dass die Politik unseres Staates von den großen multinationalen Firmen definiert wird. Trotz dieser schwierigen Situation sehen wir selbst in den kleinsten Widerständen großes Potenzial.

LAUT GEGEN DAS SCHWEIGEN

Im Weltraum schwebende Babykatzenköpfe, ein regenbogenfarbenes Bällebad und die Virgen de Guadalupe auf einem Baseballcap – schon die äußere Gestaltung von Rebeca Lanes drittem Soloalbum Alma Mestiza spiegelt die Heterogenität der CD wider. Mit einer Mischung aus Old-School-Hip-Hop, Reggae-Rhythmen, jazzigen Klaviersamples und Cumbia nähert sich die Rapperin mit viel Lust und Mut politischen Themen einer großen Spannweite an. Auch wenn die Texte selten so bonbonbunt und grell wie das Cover sind, steht doch auch immer wieder der Spaß im Fokus, auch an der Rebellion. Selbst schon lange Aktivistin, weiß sie dabei auch sehr genau, wovon sie spricht.

Bis vor fünf Jahren organisierte Rebeca Lane noch selbst Musikveranstaltungen und begann dann eher zufällig ihre Karriere als aktive Rapperin, nachdem sie gebeten wurde, etwas Bühnenzeit zu füllen. Mittlerweile ist sie längst über die Grenzen Guatemalas bekannt und tourt dieses Jahr auch durch Spanien und Deutschland (siehe unten). Als Mitbegründerin der Initiative „Somos Guerreras“ („Wir sind Kriegerinnen“) reiste sie 2016 durch Mittelamerika und versuchte, Frauen* mit Hip-Hop und Breakdance zu empowern.

Praktischer Feminismus ist auch auf Alma Mestiza ein großes Thema. Ob im Song „Este cuerpo es mío“ oder in „Ni encerradas, ni con miedos“ pendeln die Texte dabei zwischen einer Einfühlung in von Geschlechtergewalt Betroffenen und einer Anklage und Kampfansage an die machistischen und patriarchalen Gesellschafts­strukturen. Rebeca Lane benennt die strukturelle Geschlechtergewalt in Guatemala, einem der Länder mit der höchsten Anzahl von Feminiziden und Gewalt an Frauen*, und ermutigt gleichzeitig Frauen* aus der Isolation und gewaltvollen Beziehungen auszubrechen. Aber auch die Lust am Leben und sich selbst feiern kommen nicht zu kurz, wie „Libre, atrevida y loca“, einer der tanzbarsten Songs des Albums, zeigt.

Ein weiteres großes Thema von Alma Mestiza ist die fehlende Geschichtsaufarbeitung Guatemalas. Zwanzig Jahre nach dem Ende des 36 Jahre währenden Bürgerkriegs läuft die Aufklärung der vor allem an Teilen der indigenen Bevölkerung verübten Massaker nur langsam an. Statt einer Erinnerungskultur gibt es eine des Totschweigens. Dieser setzt Rebeca Lane eine laute Stimme entgegen, ruft die Namen von Verschwundenen in Erinnerung und prangert den gesellschaftlichen Rassismus an.

In diesem Zusammenhang stellt sie auch ihre eigene Identität und das Konzept von Identität im Allgemeinen zur Disposition. Als mestiza, wie sie sich selbst nennt, reflektiert sie zum Beispiel im titelgebenden Track *Alma Mestiza* einerseits das Erbe der Kolonisatoren, das sie notgedrungen in sich trägt und feiert andererseits die Mythologie und Kultur der Maya als etwas sehr Gegenwärtiges. Damit setzt Rebeca Lane auch einen klaren Kontrapunkt zum rassistischen Diskurs, in dem die „mestizische Mehrheitsgesellschaft“ indigene Kultur vielleicht folkloristisch feiert und historisiert, die Indigenen selbst aber an den Rand gedrängt werden.

Zwar könnte es manchmal ein bisschen weniger Reggaerythmen und Loungegedudel sein, doch machen die starken Texte und die klare Botschaft auch diesen Wermutstropfen wieder wett. Und mit ihrer musikalischen Offenheit ist Rebeca Lane, die im Übrigen fabelhaft rappen kann, vielleicht auch leichter für Menschen zugänglich, die Hip-Hop nicht zu ihrer Lieblings­musik zählen.

 

„EINMAL AUSLÄNDERIN, IMMER AUSLÄNDERIN“

Donnerstagnachmittag in einem Café im mondänen Berlin-Schöneberg. Esther Andradi isst noch ein Stück Kuchen, bevor das Gespräch losgeht. Die Journalistin und Schriftstellerin ist seit Jahrzehnten in den Metropolen Lima, Berlin und Buenos Aires zu Hause, doch aufgewachsen ist die argentinische Schriftstellerin auf dem Land. Etwas mehr als 2.000 Einwohner*innen zählt ihr Geburtsort Atavila, von dem aus sie zum Studium der Kommunikationswissenschaft nach Rosario ging. Noch vor dem Militärputsch zog sie 1975 nach Lima und arbeitete als Journalistin. Entstanden ist in diesen, von der politischen Gewalt geprägten Jahren, auch ihr erstes Buch Ser mujer en el Perú („Frau sein in Peru“), das sie zusammen mit der Dichterin und Feministin Ana María Portugal veröffentlichte – ein Pionierwerk zu diesem Zeitpunkt.

Das Thema Frausein bildet eine der Hauptachsen, an denen entlang Esther ihre Werke ausrichtet: „Wenn eine Frau erzählt, tut sie das immer auch mit ihrem Körper und aus der alltäglichen Erfahrung heraus, eine Frau zu sein. Deshalb schreibe ich auch als Frau, mit allem, was ich gelernt, genossen und verloren habe. Ich empfinde es fast wie meine Pflicht, eine Ausdrucksweise zu finden, die für alle Frauen gültig ist … Zum Beispiel gefällt es mir, dass ‚die Macht’ im Deutschen feminin ist, während el poder im Spanischen maskulin ist. Aber das hilft wahrscheinlich nichts.“ Amüsiert von ihrer Beobachtung hat Esther den Satz lachend zu Ende geführt, um ernst fortzufahren: „Der Sexismus existiert einfach in der Gesellschaft. Solange sich am Sexismus in der Gesellschaft nichts ändert, wird er in der Sprache und überall sein.“

Mit der Art und Weise, wie Esther mit dem Thema Sexismus und Frausein umgeht, scheint sie einen Nerv zu treffen. Wegen ihres Buchs Tanta vida (Buenos Aires, 1998) – von der Literaturwissenschaftlerin Gina Canepa als „femizentrischer Anti-Roman“ bezeichnet – werde sie immer wieder zu Konferenzen eingeladen, wie zuletzt nach Lausanne. Sie produziere keine Best-, sondern Longseller, konstatiert die Schriftstellerin scherzhaft. Esther ist im Leben und im Schreiben aber nicht nur eine Frau, und wird immer eine bleiben, sondern auch die permanente Ausländerin. Und seit sie zum ersten Mal fortging, auch in ihrem Heimatland. Denn: „Einmal Ausländerin, immer Ausländerin.“ Es ist das alte Sprichwort vom Kommunisten, das Esther für sich umgemünzt hat. „Man ist immer an der Peripherie verortet. Dabei ist es ein sehr interessanter Ort, das nicht vollständige Dazugehören zur Heimat“, sagt sie. Ihr Freund Sebald habe darin bestens mit ihr übereingestimmt. Der Allgäuer Schriftsteller W.G. Sebald, der 2001 in England verstarb, blieb literarisch, genauso wie die Argentinierin, bis zuletzt in seiner Muttersprache zu Hause.

Das persönliche Fremdsein hat großen Einfluss auf Esthers Umgang mit der Sprache. Während wir uns auf Spanisch unterhalten, kommt sie nicht ohne ein paar deutsche Wörter aus: „Es ist eine ständige ‚Auseinandersetzung’, wie ihr auf Deutsch zu sagen pflegt, eine ständige Konfrontation damit, wie ich mich ausdrücke. Sowieso glaube ich, ist das Vermeiden von ‚Selbstverständlichkeiten’ genau das, was Literatur ausmacht. Nur wenn man in einer anderen Sprache lebt, ist das Bewusstsein dafür noch größer. Nicht, dass man ständig übersetzen würde, aber man spürt diesen permanenten Drang, den Bedeutungen auf den Grund zu gehen.“ 1982 ließ sich Esther in Westberlin nieder. Doch schon in Peru sei sie als Ausländerin aufgefallen und immer wieder gefragt worden, wie lange sie denn bleibe, als sei sie eine Touristin: „Bis dahin hatte ich im Glauben gelebt, dass die spanische Sprache eine Gemeinsamkeit sei. Das ist sie zwar in vielen Dingen, aber nicht im Alltag. Meine Umgangssprache war immer absolut argentinisch.“

Ihre erste Erfahrung des Fremdseins habe sie deshalb schon in Peru gemacht, sagt Esther. Bis heute trügen manche ihrer Texte eine „peruanische Patina“. Einen ihrer Texte hat sie mit dem spanischen Wort für Artischocke alcachofa betitelt, was – abgesehen vom Inhalt – an sich schon eine Provokation sei: „In Argentinien sagt man alcaucil. Mir gefällt alcachofa aber besser. Auch in anderen Texten kommt so etwas vor. Ich weiß genau, warum ich diese Wörter gewählt habe. Man könnte es auch die Distanzierung von der eigenen Muttersprache nennen.“ Geradezu ins Schwärmen gerät die Schriftstellerin, wenn sie über die deutsche Sprache mit ihrem überreichen Vokabular zu sprechen kommt. Es sei daher ein Privileg, hier zu sein. Die Annahme, dass es heutzutage nichts Besonderes mehr sei, wenn Autor*innen einer anderen Muttersprache auf deutsch schreiben, wie zuletzt mit der Einstellung des Adalbert-von-Chamisso-Preises suggeriert wurde, findet allerdings nicht ihre Zustimmung.
2003, als Esther nach sieben Jahren in Buenos Aires erneut nach Berlin kam, erntete sie teilweise Verwunderung darüber, dass sie noch nicht auf Deutsch schrieb. Auf diese offensichtliche Ignoranz antwortete sie mit der Anthologie Vivir en otra lengua („Leben in einer anderen Sprache“), die Porträts und Erzähltexte spanischsprachiger Autor*innen in verschiedenen Ländern Europas enthält. Zwar sei das Phänomen an sich kein neues, aber ihr sei es eben nicht um die viel besprochene Exilliteratur, sondern um diejenigen gegangen, die aus irgendeinem persönlichen Grund nicht in ihrem Heimatland leben. Mit der ursprünglichen Idee, einen „Kanon iberoamerikanischer Autoren im Lande Humboldts“ zu schaffen, hatte sie im Jahr 2007 in Deutschland vergeblich nach Interessierten gesucht. Ein argentinischer Verleger habe sich hingegen hellauf begeistert gezeigt und ihr Konzept von Deutschland auf Europa ausgeweitet.

Das veröffentlichte Buch kam gut an. Die 1. Ausgabe ist vergriffen, eine zweite erschien 2010 in Spanien. „Das muss mit dem Denken im jeweiligen Land zu tun haben. Argentinien ist sehr nach außen orientiert. Deutschland dagegen war zu diesem Zeitpunkt immer noch viel mehr auf seine deutsche Literatur konzentriert. Jetzt gerade erst beginnt man sich mit Projekten wie ‚Stadtsprachen’ in Berlin für die anderssprachigen Autoren zu interessieren. Dabei kämpfen wir schon seit Jahren um Aufmerksamkeit.“ Die periphere Perspektive tritt auch in Esthers auffallendem Interesse für die deutsche Literatur außerhalb des Kanons zutage: „Seit ich hier lebe, interessiert mich die deutsche Literatur, von der man nicht erwartet, dass sie zur deutschen Literatur gehört.“ Eine der Autor*innen, die dür diese Überraschung steht ist May Ayim, die sie 1991 bei einem Symposium kennenlernte. Nach deren Selbstmord wenige Jahre später übersetzte Esther die Gedichte der Afrodeutschen ins Spanische. „Sie kommt weder aus einer anderen Sprache noch aus einer anderen Kultur, da sie in der deutschen Kultur erzogen wurde. Sie fand erst spät heraus, dass ihr Vater aus Ghana stammte und traf sich mit ihm. Aber seine afrikanischen Wurzeln waren nicht ihre eigenen. May Ayim war hier geboren, aber wegen ihrer Hautfarbe wurde sie ständig gefragt: ‚Woher kommst du? Wie lange bleibst du? Wann gehst du wieder?’ Von dieser Zerrissenheit sprach May Ayim in ihren Gedichten auf eine wunderbare Weise.“

Von Esther selbst wurden bislang nur wenige Bücher ins Deutsche übersetzt, neben Erzählungen in Anthologien die zweisprachige Miniaturen-Sammlung Sobre vivientes – Über Lebende. Gerade scheint sich das aber zu ändern. Eine deutsche Version des Romans Berlín es un cuento (deutscher Titel: „Die Erfindung Berlins“) ist in Arbeit, während das Buch Mein Berlin. Streifzüge durch eine Stadt im Wandel schon Ende letzten Jahres erschien. Bei der dafür zu treffenden Auswahl aus den Texten, die sie zwischen 1983 und 2014 fast monatlich für Zeitungen und Zeitschriften in Peru, Argentinien und Mexiko schrieb, sei ihr bewusst geworden, wie sehr sich nicht nur sie selbst, sondern die Stadt und das tägliche Leben verändert hätten, erzählt Esther. Und erinnert sich, wie sich das Vorhaben Politikkorrespondentin zu werden, bald nach ihrer Ankunft zerschlug, da Westberlin in den 80er Jahren politisch völlig uninteressant war: „Die Politik spielte sich damals in Paris ab, mit etwas Glück in Moskau, mit noch mehr Glück in Bonn, und mit noch viel mehr Glück in – wie es damals hieß – ‚Berlin Hauptstadt der DDR’. Das war, glaube ich, mein Glück. Denn sonst hätte ich nie diese Art des Schreibens entwickelt.“

Mit all den subjektiven Beschreibungen, humorvollen Schattierungen und manchem erhellenden Gedanken lässt sich anhand von Mein Berlin nachvollziehen, wie eine Argentinierin über drei Jahrzehnte hinweg einem lateinamerikanischen Lesepublikum die geteilte und wiedervereinte Stadt vermittelt hat: Ein Schiff namens „Amor“, Fahrraddemonstrant*innen, Tschernobyl und natürlich der Mauerfall haben hier ihren Platz, von Rosa Luxemburg über Prag als Zentrum Europas bis hin zum aufflammenden Rassismus Anfang der 90er Jahre ist die Rede. Und wie es so kommt, bringt Esther das Buch zurück zur Politik: Bei einer Lesung in einem Frauentreffpunkt in Treptow-Köpenick –„Tiefste DDR“ – sah sie sich überwältigt vom Ausdruck des heftigen Grolls, den die Thematik ihrer Texte hervorgerufen hatte: „Die Kritik war überhaupt nicht gegen mich gerichtet, aber ich fühlte die absolute Enttäuschung dieser Frauen. Sie sagten: ‚Wir haben auch viel gearbeitet, um die DDR aufzubauen, und plötzlich gab es dieses Land nicht mehr. Keine Arbeit, keine Kita. Wir sind überhaupt nichts wert.’“ Die Unsichtbarkeit dieses schwelenden Unmuts unter den Menschen, der kaum Räume findet, sich zu äußern, sieht Esther als Gefahr an. „In den 90er Jahren erzielten die Republikaner bis zu 20 Prozent der Stimmen (höchstes Ergebnis 1992: 12,8 Prozent in Neukölln, 14,4 Prozent in Wedding; Anm. der Red.), dann flaute es von selbst wieder ab. Trotzdem darf man mit bestimmten Dingen nicht leichtfertig umgehen. Uns wird gesagt, Deutschland stehe finanziell so gut da wie noch nie. Aber wofür wird das Geld ausgegeben? Das wird nicht gesagt.“
Und wofür würde sie es ausgeben? Keine Frage, für die Schulen.

 

ABENTEUER ÜBERSETZUNG

Mexiko, woher die Texte des Erzählbandes Potslom stammen, ist ein Land mit vielen parallelen Welten, ungleichzeitigen Zeitläufen und verschiedenen Zeiträumen. In vielen Geschichten tritt dies deutlich zutage. In der
Erzählung Der Reiter wird ein Raum eröffnet, in dem ein Geist nicht schläft, sondern als Schatten auf einem großen und stattlichen Pferd durch das Dorf reitet. In der Geschichte Achá Turí wird ein fremder Mann, von dem
gesagt wird, er sei ein Sklave von Hernán Cortés gewesen, gefangen genommen und dann zum König eines Dorfes gekrönt.

Nebensächlichkeiten bekommen in den Geschichten ein für westliche Leser*innen befremdliches Gewicht. So zum Beispiel in der Geschichte Erinnerungen an einen Gewissenlosen, eine persönliche Erinnerung an den Ausbruch des Vulkans Chichonal 1982. Den Aluminiumtopf, in dem der Großvater am Morgen des Vulkanausbruchs die Bohnen aufwärmte, hatte dieser bei einem fahrenden Händler auf dem Markt von Magdalena gekauft. Der Ausbruch des Vulkans, bei dem ein Steinhagel das Dach aus Pappe zerschlug, wird fast beiläufig beschrieben. In diesem Minimalismus, der Abwesenheit des Brutalen, wird die Apokalypse des Vulkanausbruchs betont. Diese Geschichten eröffnen Panoramen, in denen man die vom offenen Herdfeuer verrauchten Häuser fast riechen oder den schnarrenden Klang einer abgewetzten Gitarre hören kann.

In der Geschichte Die Blase im Mund des Indios werden die noch heute wirkenden kolonialen und rassistischen Strukturen der Unterdrückung deutlich und außerdem die Probleme der Übersetzung fassbar. Der Begriff „máasewal“ wird aus dem Maya ins Spanische und Deutsche als „Indio“ übersetzt. Im Englischen wird es als „Indian“ übersetzt. Der Begriff „máasewal“ bezeichnet aber auch einen sozialen Status, mit dem in Yucatán heute
„einfache Leute“, Bauern und Proletarier gemeint sind. Gleichzeitig hat er eine ethnische Bedeutung. Am Ende der Geschichte gibt der Großvater seinem Enkel den Rat, die brennende Blase in seinem Mund als Quelle seiner
Kraft zu verstehen und genau dann, wenn der Schmerz nicht mehr auszuhalten ist, den Kampf des Unterdrückten aufzunehmen und den Fremden zu verletzen.

Beim Lesen wird klar: Das Abenteuer der Übersetzung ist ein Zweifaches. Zum einen ist der Prozess der Übersetzung immer wieder ein Mysterium, in dem der Inhalt aus einer Sprache in eine andere Sprache hinüber gesetzt wird. Zum anderen kann sich durch das Lesen der Übersetzung ein Tor zu einer fremden Lebenswelt öffnen. Das bedeutet nicht, dass man beim Lesen dieser Geschichten die fremden Lebenswelten versteht. Nein, vielmehr bekommt man ein Gefühl für die Fremdheit und das eigene Unverständnis. Aber nur so kann ein Verstehen erarbeitet werden: Wenn man vom Unverständnis ausgeht und Schritt für Schritt auf einander
zugeht, ohne dabei die sozio-ökonomischen und kulturellen Unterschiede in einem „Wir sind doch alle Menschen“ zu negieren. Wenn man die ethnische Frage auf sozio-ökonomische Konflikte reduziert, verhindert das den Blick auf das Andere, das kulturell Fremde und man sieht im Spiegel nur sich selbst. Der Erzählband Potslom umfasst 12 Geschichten in neun verschiedenen indigenen Sprachen Mexikos: Purépecha, Mayo, Tepehuano del norte (Odami), Nahuatl, Mazateco, Triqui, Maya, Zoque und Tsotsil, die wiederum jeweils
ins Spanische, Deutsche und Englische übersetzt wurden. Dass aus dem Spanischen ins Deutsche und Englische übersetzt wurde, ist natürlich schade, da bei einer direkten Übersetzung der Inhalt weniger verändert werden würde. Eine direkte Übersetzung hätte den Kosten- und Zeitrahmen des Erzählbandes sicherlich gesprengt. Die Prosatexte in diesem Band sind mal Geschichten und Erzählungen, mal persönliche Berichte, ein anderes Mal Fabeln oder Legenden.

Potslom, die Erzählung, die dem Buch seinen Namen gegeben hat, unterscheidet sich von den anderen Geschichten, da sie einen Spannungsbogen und eine überraschende Wendung hat. Ein anderer Autor aus dem Buch bezeichnete in einem Gespräch mit dem Herausgeber diese Geschichte als verunreinigt. Der Autor von Potslom war zur Universität gegangen und hätte dort die westliche Logik von Geschichten gelernt. Für den Herausgeber, Lino Santacruz Moctezuma, stellt dieser Prozess jedoch vielmehr eine Bereicherung dar
und den Kontakt, den er mit der Veröffentlichung dieses Buches anstrebt: Die indigenen Welten in Mexiko sind der urbanen-mestizischen Mittelschicht weiterhin unbekannt. Das Buch will diese parallelen Welten zusammenbringen, Brücken bauen und einen Beitrag leisten zu der Frage: Wer sind wir Mexikaner*innen? Und was macht uns aus?

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