Eigene Pfade zu gehen, statt das System zu flicken

Ihr seid gerade dabei, ein neues Projekt auf die Beine zu stellen – das Yachay Punku-Haus. Was ist die Geschichte und das Ziel dieses Projekts?
Katari: Wir alle sind Teil der Escuela Rebelde Saturnino Huillca (ERSH). Diese Schule wurde vor etwa sieben Jahren gegründet, mit dem Ziel, uns politisch zu organisieren. Wir kamen aus einem linken Hintergrund, mit einer dekolonialen und identitätspolitischen Perspektive. In der ERSH organisierten wir Demonstrationen und waren in Stadtvierteln mit educación popular (auf Paulo Freire zurückgehender Ansatz politisierender Bildung von der Basis aus, Anm. d. Red.) und kultureller Arbeit aktiv. Die Themenschwerpunkte haben wir über die Jahre hinweg beibehalten: Menschenrechte, Anti-Korruption und Anti-Extraktivismus.

Im Laufe der Jahre wurde es schwieriger, unsere Arbeit aufrechtzuerhalten, ohne eine konkrete Idee davon zu haben, in welche Richtung wir gehen wollen. Wir müssen uns konstant gegen den Vormarsch des Systems wehren, das uns unsere Rechte nimmt, unsere Wälder verbrennt und Menschen tötet. Aber bis zu welchem Punkt werden wir die Autobahn des Systems flicken, anstatt darüber nachzudenken, eigene Trampelfade zu gehen?

Bei den landesweiten Protesten 2022 und 2023 (soziale Revolte gegen die Regierung Dina Boluartes, die gewaltsam niedergeschlagen wurden, Anm. d. Red., siehe LN 587) waren wir in Lima an vorderster Front dabei. In dieser Zeit sind mehr als 50 junge Menschen in verschiedenen Teilen Südperus (der Teil des Landes, in dem sich die marginalisierteste Bevölkerung mit einem hohen Anteil Indigener Gruppen konzentriert, Anm. d. Red.) durch die Polizei und das Militär getötet worden. Dadurch wurde die klassistische und rassistische Gewalt des Kolonialstaates deutlich. Uns wurde klar, dass ein Großteil der Arbeit, die wir in Lima geleistet hatten, keine Wirkung zeigte. Denn es gab nicht so viele Menschen, die sich in dieser Zeit mobilisierten und uns unterstützten. Also beschlossen wir, alternative politische Organisationsprozesse vorzuschlagen.

Warum habt ihr Urcos, eine kleine Gemeinde im Süden des Landes, für dieses Projekt ausgewählt?
Katari: Die meisten in der ERSH haben Eltern oder Großeltern, die vom Land kommen und in die Hauptstadt gezogen sind. Die Beziehung zum Territorium ist Teil unseres Erbes. Wir haben beschlossen, im Süden mit Yachay Punku zu beginnen, da dort der Kern des Widerstands gegen das hegemoniale, koloniale, eurozentrische Projekt liegt. Wir sehen die Organisationsfähigkeit dieses Volkes. Da sie immer vom Staat im Stich gelassen wurden, haben sie ihre eigenen Organisations- strukturen. Diese Strukturen haben über Jahrtausende hinweg das Kolonisierungsprojekt überlebt und wir müssen sie wieder aufwerten, unterstützen, von ihnen lernen und uns in ihren Dienst stellen. Außerdem ist infolge der Gentrifizierung und der touristischen Kolonisierung ein Großteil des kulturellen Angebots für den Tourismus im Nordtal ausgelegt. Die Touristen leben in Gemeinden, in denen sie nicht einmal mit den Personen in Kontakt treten, die Quechua sprechen. Die Preise steigen, den Gemeinden wird gutes Land weggenommen, und die Kunst erfüllt lediglich den Zweck, diesen Menschen mit kolonialer Mentalität zu dienen. Wir denken, dass die Kunst für unser Volk gemacht werden muss, ob sie nun urban, zeitgenössisch, fremd oder angestammt ist. Yachay Punku möchte also auch eine Alternative zu dieser kolonialen, gentrifizierenden Kunst vorschlagen.

Lou Mestizo: Während der Proteste in Lima waren wir ständig von dem aktuellen Kontext eingenommen. Unser Prozess war immer auf Selbstverteidigung ausgerichtet, um die mobilisierten Massen zu schützen. Aber die Arbeit ging nicht darüber hinaus, weil wir uns immer in der gleichen Situation befanden. Wir mussten uns neu orientieren und haben beschlossen, vom Aktivismus zu einer Militanz mit einem politischen Programm und einem politischen Horizont überzugehen. Wir hatten bereits eine dekoloniale Perspektive. Das war unser Ausgangspunkt, um das politische Programm durchzuziehen. Und der richtige Ort war hier, in Quispicanchi, in Urcos, um für die Ernährungssouveränität und die Verteidigung des Territoriums zu arbeiten.

Was sind derzeit die zentralen Herausforderungen in der Region und wie reagiert euer Projekt darauf?
Katari: In den Gebieten hier im Süden sind unsere Flüsse verschmutzt, das Wasser ist nicht trinkbar. Früher war der Fluss eine Quelle des Lebens, heute kann man das Wasser eigentlich nur noch für die Bewässerung nutzen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Stärkung der autonomen politischen Strukturen in dem Gebiet. Diese Strukturen haben Funktionen in der Minka und in dem Ayni. Das sind die kollektiven und gemeinschaftlichen Formen der Produktion, der Verwaltung und des Eigentums der Vorfahren. Sie beruhen auf direkter Demokratie, Versammlungen und der Lösung der unmittelbaren Bedürfnisse der Gemeinschaften. Wir wollen sie stärken, damit sie nicht von den staatlichen Strukturen vereinnahmt werden.

Akira: Wir streben die Herausbildung von kritischem Bewusstsein bei jungen Menschen und in den Gemeinden an. Autonomie hängt eng mit Ernährungssouveränität zusammen. Wir wissen, dass es in dieser Region eine Menge Unterernährung gibt, die Teil dieses Kolonialismus ist. Familien essen lieber gegrilltes Hähnchen oder Chaufa (gebratener Reis mit Hühnchen, Anm. d. Red.), anstatt zu den traditionellen Lebensmitteln zurückzukehren, die sie früher angebaut haben und die viele gesundheitliche Vorteile hatten. Deshalb gehen die Idee der Souveränität und des Antikolonialismus Hand in Hand. Die Kontrolle über die Ernährung, darüber, was und wie wir essen, ist von tiefgreifender Bedeutung. Denn das größte Erbe unseres Volkes besteht gerade darin, dass unsere Zivilisation auf der Entwicklung der Landwirtschaft beruht. Die hegemoniale Kultur greift unser Erbe und unsere Gesundheit somit direkt an. Sie will uns unsere Praktiken, unsere andine Ernährung, die im Prinzip heilsam ist, vergessen lassen, um uns Medikamente verkaufen zu können.

In Yachay Punku spielt das Konzept des Sumak Kawsay eine wichtige Rolle. Was versteht ihr unter diesem Konzept und wie seht ihr in der Aussaat, der Medizin und der Kunst eine daran orientierte Praxis?
Lou Mestizo: Das kapitalistische, konsumorientierte Leben, in dem sich alles um Raubbau und industrielle Produktion dreht, ist eine direkte Bedrohung für unsere Ökosysteme. Unsere Lebensweise heutzutage schadet unserer Gesundheit, verschmutzt unsere Flüsse und unsere Umwelt – das ist kein Buen Vivir. Die Krankenhäuser sind voll von Krebskranken, es gibt Waldbrände. Das kapitalistische System hat den Treibhauseffekt verursacht, nur sehr wenige Menschen können es sich erlauben, „gut“ zu leben – die großen Kolonialfamilien. Wir haben gesehen, dass in der Philosophie der Ahnen das Leben respektiert wird. Wasser, Fluss und Land sind Lebewesen und keine Produktionsmittel. Wir wollen, dass diese Philosophie in der Gemeinschaft wieder aufgenommen wird, so wie früher.

Katari: Sumak Kawsay ist eine spirituelle Quelle. Der Mensch ist von allem, was uns umgibt, abhängig. Wir fragen uns, wie wir eine gesunde Wechselbeziehung des Lebens schaffen können, ohne unsere Umwelt zu zerstören. Im Gegensatz zu anderen Völkern wie den Maya oder den Mexica haben wir die Literatur unserer Vorfahren noch nicht entschlüsselt. Es liegt an uns, weiter zu forschen, um die Konzepte wiederzufinden, die Sumak Kawsay nähren.

Wie sieht die Arbeit im Yachay Punku-Haus im Moment aus und was sind die nächsten Schritte?
Katari: Ein wichtiges Ereignis, das bald ansteht, ist das Tupac-Amaru-Festival. Wir wollen dieses Festival als Plattform für die Vernetzung der sozialen und künstlerischen Prozesse in Abya Yala festigen, denn es kommen Menschen von überall her. Wir wollen dieses Mal und auch zukünftig einen Austausch von Prozessen und Künstlern mit dekolonialen Haltungen schaffen.

Außerdem fangen wir mit Sikuris-Workshops (andines Musikgenre auf Basis von Panflöten, Anm. d. Red.) in den Schulen an. Wir spielen dabei aber keine traditionellen Sikuris, die von Liebe oder der Jungfrau Maria erzählen, sondern kämpferische Sikuris, die von der Rückgewinnung des Territoriums erzählen, der Identität, von Sumak Kawsay.

Einige von uns kommen aus der Hip-Hop Szene, aber wir unterrichten keinen Rap in den Schulen. Wir lehren Sikuri, aber eigentlich wollen wir den Kindern einfach Werkzeuge geben. Letztendlich kann man ein Werkzeug neu interpretieren, man kann es so nutzen, wie man es für richtig hält. Und nun ja, mit all dem Gepäck der Dekolonisierung und allem, was dazugehört, sind wir dennoch nach wie vor die Fremden in Urcos, nicht wahr?


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„EINMAL AUSLÄNDERIN, IMMER AUSLÄNDERIN“

Donnerstagnachmittag in einem Café im mondänen Berlin-Schöneberg. Esther Andradi isst noch ein Stück Kuchen, bevor das Gespräch losgeht. Die Journalistin und Schriftstellerin ist seit Jahrzehnten in den Metropolen Lima, Berlin und Buenos Aires zu Hause, doch aufgewachsen ist die argentinische Schriftstellerin auf dem Land. Etwas mehr als 2.000 Einwohner*innen zählt ihr Geburtsort Atavila, von dem aus sie zum Studium der Kommunikationswissenschaft nach Rosario ging. Noch vor dem Militärputsch zog sie 1975 nach Lima und arbeitete als Journalistin. Entstanden ist in diesen, von der politischen Gewalt geprägten Jahren, auch ihr erstes Buch Ser mujer en el Perú („Frau sein in Peru“), das sie zusammen mit der Dichterin und Feministin Ana María Portugal veröffentlichte – ein Pionierwerk zu diesem Zeitpunkt.

Das Thema Frausein bildet eine der Hauptachsen, an denen entlang Esther ihre Werke ausrichtet: „Wenn eine Frau erzählt, tut sie das immer auch mit ihrem Körper und aus der alltäglichen Erfahrung heraus, eine Frau zu sein. Deshalb schreibe ich auch als Frau, mit allem, was ich gelernt, genossen und verloren habe. Ich empfinde es fast wie meine Pflicht, eine Ausdrucksweise zu finden, die für alle Frauen gültig ist … Zum Beispiel gefällt es mir, dass ‚die Macht’ im Deutschen feminin ist, während el poder im Spanischen maskulin ist. Aber das hilft wahrscheinlich nichts.“ Amüsiert von ihrer Beobachtung hat Esther den Satz lachend zu Ende geführt, um ernst fortzufahren: „Der Sexismus existiert einfach in der Gesellschaft. Solange sich am Sexismus in der Gesellschaft nichts ändert, wird er in der Sprache und überall sein.“

Mit der Art und Weise, wie Esther mit dem Thema Sexismus und Frausein umgeht, scheint sie einen Nerv zu treffen. Wegen ihres Buchs Tanta vida (Buenos Aires, 1998) – von der Literaturwissenschaftlerin Gina Canepa als „femizentrischer Anti-Roman“ bezeichnet – werde sie immer wieder zu Konferenzen eingeladen, wie zuletzt nach Lausanne. Sie produziere keine Best-, sondern Longseller, konstatiert die Schriftstellerin scherzhaft. Esther ist im Leben und im Schreiben aber nicht nur eine Frau, und wird immer eine bleiben, sondern auch die permanente Ausländerin. Und seit sie zum ersten Mal fortging, auch in ihrem Heimatland. Denn: „Einmal Ausländerin, immer Ausländerin.“ Es ist das alte Sprichwort vom Kommunisten, das Esther für sich umgemünzt hat. „Man ist immer an der Peripherie verortet. Dabei ist es ein sehr interessanter Ort, das nicht vollständige Dazugehören zur Heimat“, sagt sie. Ihr Freund Sebald habe darin bestens mit ihr übereingestimmt. Der Allgäuer Schriftsteller W.G. Sebald, der 2001 in England verstarb, blieb literarisch, genauso wie die Argentinierin, bis zuletzt in seiner Muttersprache zu Hause.

Das persönliche Fremdsein hat großen Einfluss auf Esthers Umgang mit der Sprache. Während wir uns auf Spanisch unterhalten, kommt sie nicht ohne ein paar deutsche Wörter aus: „Es ist eine ständige ‚Auseinandersetzung’, wie ihr auf Deutsch zu sagen pflegt, eine ständige Konfrontation damit, wie ich mich ausdrücke. Sowieso glaube ich, ist das Vermeiden von ‚Selbstverständlichkeiten’ genau das, was Literatur ausmacht. Nur wenn man in einer anderen Sprache lebt, ist das Bewusstsein dafür noch größer. Nicht, dass man ständig übersetzen würde, aber man spürt diesen permanenten Drang, den Bedeutungen auf den Grund zu gehen.“ 1982 ließ sich Esther in Westberlin nieder. Doch schon in Peru sei sie als Ausländerin aufgefallen und immer wieder gefragt worden, wie lange sie denn bleibe, als sei sie eine Touristin: „Bis dahin hatte ich im Glauben gelebt, dass die spanische Sprache eine Gemeinsamkeit sei. Das ist sie zwar in vielen Dingen, aber nicht im Alltag. Meine Umgangssprache war immer absolut argentinisch.“

Ihre erste Erfahrung des Fremdseins habe sie deshalb schon in Peru gemacht, sagt Esther. Bis heute trügen manche ihrer Texte eine „peruanische Patina“. Einen ihrer Texte hat sie mit dem spanischen Wort für Artischocke alcachofa betitelt, was – abgesehen vom Inhalt – an sich schon eine Provokation sei: „In Argentinien sagt man alcaucil. Mir gefällt alcachofa aber besser. Auch in anderen Texten kommt so etwas vor. Ich weiß genau, warum ich diese Wörter gewählt habe. Man könnte es auch die Distanzierung von der eigenen Muttersprache nennen.“ Geradezu ins Schwärmen gerät die Schriftstellerin, wenn sie über die deutsche Sprache mit ihrem überreichen Vokabular zu sprechen kommt. Es sei daher ein Privileg, hier zu sein. Die Annahme, dass es heutzutage nichts Besonderes mehr sei, wenn Autor*innen einer anderen Muttersprache auf deutsch schreiben, wie zuletzt mit der Einstellung des Adalbert-von-Chamisso-Preises suggeriert wurde, findet allerdings nicht ihre Zustimmung.
2003, als Esther nach sieben Jahren in Buenos Aires erneut nach Berlin kam, erntete sie teilweise Verwunderung darüber, dass sie noch nicht auf Deutsch schrieb. Auf diese offensichtliche Ignoranz antwortete sie mit der Anthologie Vivir en otra lengua („Leben in einer anderen Sprache“), die Porträts und Erzähltexte spanischsprachiger Autor*innen in verschiedenen Ländern Europas enthält. Zwar sei das Phänomen an sich kein neues, aber ihr sei es eben nicht um die viel besprochene Exilliteratur, sondern um diejenigen gegangen, die aus irgendeinem persönlichen Grund nicht in ihrem Heimatland leben. Mit der ursprünglichen Idee, einen „Kanon iberoamerikanischer Autoren im Lande Humboldts“ zu schaffen, hatte sie im Jahr 2007 in Deutschland vergeblich nach Interessierten gesucht. Ein argentinischer Verleger habe sich hingegen hellauf begeistert gezeigt und ihr Konzept von Deutschland auf Europa ausgeweitet.

Das veröffentlichte Buch kam gut an. Die 1. Ausgabe ist vergriffen, eine zweite erschien 2010 in Spanien. „Das muss mit dem Denken im jeweiligen Land zu tun haben. Argentinien ist sehr nach außen orientiert. Deutschland dagegen war zu diesem Zeitpunkt immer noch viel mehr auf seine deutsche Literatur konzentriert. Jetzt gerade erst beginnt man sich mit Projekten wie ‚Stadtsprachen’ in Berlin für die anderssprachigen Autoren zu interessieren. Dabei kämpfen wir schon seit Jahren um Aufmerksamkeit.“ Die periphere Perspektive tritt auch in Esthers auffallendem Interesse für die deutsche Literatur außerhalb des Kanons zutage: „Seit ich hier lebe, interessiert mich die deutsche Literatur, von der man nicht erwartet, dass sie zur deutschen Literatur gehört.“ Eine der Autor*innen, die dür diese Überraschung steht ist May Ayim, die sie 1991 bei einem Symposium kennenlernte. Nach deren Selbstmord wenige Jahre später übersetzte Esther die Gedichte der Afrodeutschen ins Spanische. „Sie kommt weder aus einer anderen Sprache noch aus einer anderen Kultur, da sie in der deutschen Kultur erzogen wurde. Sie fand erst spät heraus, dass ihr Vater aus Ghana stammte und traf sich mit ihm. Aber seine afrikanischen Wurzeln waren nicht ihre eigenen. May Ayim war hier geboren, aber wegen ihrer Hautfarbe wurde sie ständig gefragt: ‚Woher kommst du? Wie lange bleibst du? Wann gehst du wieder?’ Von dieser Zerrissenheit sprach May Ayim in ihren Gedichten auf eine wunderbare Weise.“

Von Esther selbst wurden bislang nur wenige Bücher ins Deutsche übersetzt, neben Erzählungen in Anthologien die zweisprachige Miniaturen-Sammlung Sobre vivientes – Über Lebende. Gerade scheint sich das aber zu ändern. Eine deutsche Version des Romans Berlín es un cuento (deutscher Titel: „Die Erfindung Berlins“) ist in Arbeit, während das Buch Mein Berlin. Streifzüge durch eine Stadt im Wandel schon Ende letzten Jahres erschien. Bei der dafür zu treffenden Auswahl aus den Texten, die sie zwischen 1983 und 2014 fast monatlich für Zeitungen und Zeitschriften in Peru, Argentinien und Mexiko schrieb, sei ihr bewusst geworden, wie sehr sich nicht nur sie selbst, sondern die Stadt und das tägliche Leben verändert hätten, erzählt Esther. Und erinnert sich, wie sich das Vorhaben Politikkorrespondentin zu werden, bald nach ihrer Ankunft zerschlug, da Westberlin in den 80er Jahren politisch völlig uninteressant war: „Die Politik spielte sich damals in Paris ab, mit etwas Glück in Moskau, mit noch mehr Glück in Bonn, und mit noch viel mehr Glück in – wie es damals hieß – ‚Berlin Hauptstadt der DDR’. Das war, glaube ich, mein Glück. Denn sonst hätte ich nie diese Art des Schreibens entwickelt.“

Mit all den subjektiven Beschreibungen, humorvollen Schattierungen und manchem erhellenden Gedanken lässt sich anhand von Mein Berlin nachvollziehen, wie eine Argentinierin über drei Jahrzehnte hinweg einem lateinamerikanischen Lesepublikum die geteilte und wiedervereinte Stadt vermittelt hat: Ein Schiff namens „Amor“, Fahrraddemonstrant*innen, Tschernobyl und natürlich der Mauerfall haben hier ihren Platz, von Rosa Luxemburg über Prag als Zentrum Europas bis hin zum aufflammenden Rassismus Anfang der 90er Jahre ist die Rede. Und wie es so kommt, bringt Esther das Buch zurück zur Politik: Bei einer Lesung in einem Frauentreffpunkt in Treptow-Köpenick –„Tiefste DDR“ – sah sie sich überwältigt vom Ausdruck des heftigen Grolls, den die Thematik ihrer Texte hervorgerufen hatte: „Die Kritik war überhaupt nicht gegen mich gerichtet, aber ich fühlte die absolute Enttäuschung dieser Frauen. Sie sagten: ‚Wir haben auch viel gearbeitet, um die DDR aufzubauen, und plötzlich gab es dieses Land nicht mehr. Keine Arbeit, keine Kita. Wir sind überhaupt nichts wert.’“ Die Unsichtbarkeit dieses schwelenden Unmuts unter den Menschen, der kaum Räume findet, sich zu äußern, sieht Esther als Gefahr an. „In den 90er Jahren erzielten die Republikaner bis zu 20 Prozent der Stimmen (höchstes Ergebnis 1992: 12,8 Prozent in Neukölln, 14,4 Prozent in Wedding; Anm. der Red.), dann flaute es von selbst wieder ab. Trotzdem darf man mit bestimmten Dingen nicht leichtfertig umgehen. Uns wird gesagt, Deutschland stehe finanziell so gut da wie noch nie. Aber wofür wird das Geld ausgegeben? Das wird nicht gesagt.“
Und wofür würde sie es ausgeben? Keine Frage, für die Schulen.

 


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