Schreiben als Heilung

Wie ist das Kollektiv „Nacen Voces” und die Idee für das Buch entstanden?
Edwin: Ich war auf der Suche nach Dichter*innen, um für Leukemia Literaria ein Interview zu führen. Das ist eine kolumbianische Zeitschrift über Literatur, Gedichte, Essays und Kurzgeschichten. So habe ich Diana und Catalina kennengelernt. Dann begann 2021 die soziale Revolte in Kolumbien (siehe LN 563; 564; 568; Dossier 19) und wir fingen an, uns über die Situation auszutauschen. Bekannte in Kolumbien schickten uns Videos von dem, was geschah, und baten uns um Hilfe. Das schmerzte uns sehr und wir überlegten, was wir tun können, obwohl wir so weit weg sind: Abgesehen davon, die Videos zu teilen, sie an die internationale Presse zu schicken und sie auf der Website der Zeitschrift zu veröffentlichen. Da kam uns der Gedanke, über die Geschehnisse zu schreiben, denn Schreiben hilft manchmal, den Schmerz zu lindern und wir begannen mit dem Projekt.

Catalina: Davor hatten wir eine Facebook-Seite mit dem Namen „Verschwundene aus Kolumbien“ eingerichtet, in die viele Menschen eingetreten sind. Dort prangerten wir an, was während der Proteste geschah. Wir fingen auch an, eine Liste mit allen Personen zu erstellen, von denen uns mitgeteilt wurde, dass sie vermisst wurden. Aber wir hatten das Gefühl, dass man uns nicht beachten würde, weil wir nicht in Kolumbien waren und weil der kolumbianische Staat schon in so vielen Jahren des Verschwindenlassens und der Gewalt seine Bevölkerung nicht beachtet hatte. Es war eine sehr angespannte Lage. Es gab Sabotagen gegen unsere Facebook-Gruppe mit falschen Nachrichten, die versuchten, unsere Arbeit zu diskreditieren. Also beschlossen wir, dass wir mehr tun mussten als nur die Verbrechen anzuprangern. Und da unsere Stärken die Literatur ist, entschieden wir, dass wir eben auf diesem Gebiet einen Beitrag leisten könnten. Da wir nicht nur für uns selbst sprechen wollten, haben wir einen internationalen Aufruf gestartet. Wir wollten den Menschen, die unter staatlicher Gewalt gelitten haben und Opfer waren, eine Stimme geben und Prozesse der Erinnerung unterstützen. So begann der Prozess, uns als Kollektiv zu konsolidieren.

Manche Texte handeln von Kolumbien, manche von anderen Ländern Lateinamerikas, es gibt neuere und ältere Texte… Wie habt ihr diese ausgewählt?
Edwin: Ein Kriterium war, dass es sich um Texte über das gewaltsame Verschwindenlassen, staatliche Gewalt, geschlechtsspezifische Gewalt, willkürliche Verhaftungen und die Opfer all der Jahre des bewaffneten Konflikts handeln sollte. Diese Themen sind nicht nur in Kolumbien präsent, sie vereinen uns leider auch mit anderen Ländern Lateinamerikas.

Catalina: Wir haben ein breites Spektrum eröffnet, das all diese Verbrechen einschließt und natürlich auch das, was genau zu diesem Zeitpunkt geschah, nämlich die soziale Revolte. Da wir Kolumbianer sind, haben wir natürlich an Kolumbien gedacht, aber durch den internationalen Aufruf kamen auch Texte, die von der Diktatur in Venezuela sprachen, ein Gedicht erwähnt Chile, ein anderes das Verschwindenlassen in Mexiko. Lateinamerika ist nicht nur durch die Sprache, sondern auch durch sozioökonomische Probleme und Gewalt miteinander verbunden

Besteht das Kollektiv auch nach der Veröffentli­chung des Buches weiter?
Edwin: Sagen wir es mal so: das Kollektiv tut, was das Buch tut. Das Buch geht seinen eigenen Weg und das Kollektiv lebt von der Kraft des Buches selbst. Außerdem sind daraus Freundschaften entstanden. Nach der Buchvorstellung in Bogotá sind wir jetzt dabei, es zu verbreiten. Wir wollen es an alle Personen und Institutionen verteilen, die sich für das Thema des gewaltsamen Verschwindenlassens engagieren.

Catalina: Wir befinden uns jetzt in einem Prozess mit der Casa de la Memoria in Medellín und anderen Institutionen, um eine Ausstellung mit den Illustrationen und einigen Fragmenten des Buches zu gestalten. Davon ausgehend wollen wir auch andere Räume schaffen, etwa für Konferenzen und Vorträge. Das Kollektiv arbeitet also weiter und eins führt zum anderen. Und wir haben sehr interessierte Menschen in Kolumbien gefunden, die aktiv mithelfen und sich nach und nach dem Projekt anschließen.

In der Einleitung erwähnt ihr nicht die Soziale Revolte, obwohl diese der Entstehungsgrund für die Veröffentlichung war…
Edwin: Der Zweck des Buches ist ein Projekt des Schreibens als Heilung, die Idee, dass durch Worte Schmerz geheilt und transformiert werden kann. Wir wollten keine voyeuristischen Texte, deshalb haben wir sehr sorgfältig recherchiert. Das Ergebnis ist ein gewaltfreies Buch, obwohl es all den Terror und das Leid der Opfer anprangert. Es ist nicht voller Blut, nirgendwo fliegen Bomben, sondern es ist ein hoffnungsvolles Buch. Wir wollten vermeiden, wie die Boulevardnachrichten zu schreiben, die die Gewalt während der Soziale Revolte auf die Titelseite setzten.

Welche Rolle spielt für euch Kunst in Kontexten von politischer Gewalt?
Catalina: Wenn man dir eine Boulevardnachricht zeigt, siehst du den explodierenden Schädel, das Hirn, das Blut und die Eingeweide. Dann werden die Nachrichten mehr zu einem Spektakel als zu einer Möglichkeit, sie mit Bewusstsein zu verarbeiten. Die Kunst hilft einem, ein wenig vom Blut wegzukommen. Sie hat die Fähigkeit, das Grauen und die Tragödie durch einen Filter der „Schönheit“ zu zeigen. Obwohl es nicht schön ist, es ist unangenehm. Aber die Funktion der Kunst ist es, dir etwas zu vermitteln, ein friedliches Gefühl und zugleich dieses Unbehagen, sowie Traurigkeit und Freude. Das ist auch die Funktion des Wortes für uns. Es soll wie ein Filter sein, damit wir nicht im Spektakel verharren.

Präsident Petro hat sich im Wahlkampf dazu verpflichtet, sich für Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Opfer der Proteste und allgemein des Konflikts einzusetzen. Seht ihr da Fortschritte?
Catalina: Was getan wird, um die Verschwundenen zu finden, gibt mir Hoffnung. Einige Akteure des Konflikts liefern Informationen über Massengräber. Ich habe auch gehört, dass forensische Teams aus Guatemala mit Experten in Kolumbien zusammenarbeiten, um Leichen aus Brunnen zu bergen, in die Menschen geworfen wurden. Für mich ist diese Suche der Verschwundenen und die Tatsache, dass sich eine Regierung dafür einsetzt, bereits ein großer erster Schritt. In Europa gibt es Regierungen, die dies nicht getan haben. Ich lebe im Baskenland und im spanischen Bürgerkrieg gab es viele Verschwundene, die bis heute nicht wiedergefunden wurden. Es gibt viele Menschen, die immer noch nicht wissen, wo ihre Großeltern und Eltern sind. Das ist ein ständiger Schmerz und ich denke, dass die Arbeit an der Suche der Verschwundenen ein großer Schritt zur Wiedergutmachung ist. Nach so vielen Jahren der Gewalt und angesichts der Schwierigkeiten, mit denen diese Regierung konfrontiert ist, ist das nicht einfach. Aber im Gegensatz zu früheren Regierungen versucht sie es zumindest.

Edwin: Ich komme aus Jamundí im Valle del Cauca, eine Region, die stark von Gewalt betroffen ist. Meine Familie lebt im Herzen der Gewalt. Dort können die Kinder nicht zur Schule gehen, weil sie Angst vor Bomben haben. Wir müssen natürlich alle Prozesse, die gerade stattfinden, anerkennen. Aber in der Gegend, aus der ich komme, geht der Krieg weiter, und zwar auf sehr gewaltvolle Art und Weise. Das alles macht es schwierig, die Dinge hoffnungsvoll zu sehen. Wenn die Kinder deiner Geschwister nicht zur Schule gehen können und deine eigene Familie mitten im Krieg steht, ist das Problem sehr komplex. Natürlich sind dies Prozesse, die unter anderen Regierungen nicht stattgefunden hätten, wir sehen also Fortschritte, aber es ist nur ein Anfang und wir stehen vor einer jahrelangen Arbeit.

Natürlich, es ist sehr schwierig eine Übergangs­justiz umzusetzen, während der Gewaltkontext weiterhin besteht. Aber ist es nicht auch wichtig, Räume zu finden, um mit den Tätern zu sprechen? Denn sie sind diejenigen, die wissen, was sie getan haben und wo die Massengräber und die Leichen der Verschwundenen sind…
Edwin: Gerade mit diesen Menschen ist der Dialog notwendig, aber er ist wirklich schwierig. Ich hatte die „Möglichkeit“, in einem Kriegsgebiet zu leben und nicht nur mit den Akteuren zu sprechen, sondern mit ihnen aufzuwachsen. Viele meiner Schulkameraden haben sich am Ende für eine Seite entschieden, einige sind mit den Versprechungen der Guerilla gegangen, andere mit denen der Paramilitärs. Und leider mussten die wenigen von uns, die sich nicht für eine Seite entschieden haben, den Ort verlassen. Wenn man also mit ansehen musste, wie sein Freund zerstückelt wurde, was kein Mensch mit ansehen sollte, ist es ziemlich kompliziert, sich mit diesen Akteuren zu unterhalten.

Verfolgt ihr weiterhin die Fälle von Personen, die während der Proteste verschwunden sind?
Edwin: Wir haben irgendwann damit aufgehört, zum einen, weil die Sabotage und die Drohungen begannen. Andererseits, weil es eine unheimliche Last war. Das war sehr schwer zu ertragen und wir haben uns dazu entschieden, das Projekt der Heilung durch Schreiben fortzusetzen, und haben uns ein wenig von der Dokumentation der Fälle entfernt. Es wäre interessant, das wieder aufzugreifen, aber es ging damals wirklich zu Lasten unserer psychischen Gesundheit.

LA VOZ DIGNA – EIN AUSZUG

NO SIGUIERON EL JUEGO

Los niños dejaron
de jugar a las pistolas.
Temían disparar de verdad,
temían matar a los vecinos
o a los muchachos que iban pasando,
temían los cargos de conciencia,
las pesadillas de rostros y gritos,
temían decepcionar a la mamá
o la abuela,
temían ir a la cárcel,
temían no poder aprender más
en la escuela,
temían dormir solos
en un lugar lejano —y oscuro—,
temían ser juzgados de asesinos,
temían parecerse a los policías.

Julio César Plata Rueda
Colombia, 2021

Sie spielten das Spiel nicht mehr mit

Die Kinder haben aufgehört
mit Pistolen zu spielen.
Sie hatten Angst davor tatsächlich zu schießen,
sie hatten Angst die Nachbarn zu töten
oder die vorbeilaufenden Jungs,
sie hatten Angst vor der Last auf dem Gewissen,
vor den Albträumen von Gesichtern und Schreien,
sie hatten Angst ihre Mutter zu enttäuschen
oder ihre Großmutter,
sie hatten Angst im Gefängnis zu landen,
sie hatten Angst nichts mehr lernen zu können
in der Schule,
sie hatten Angst davor alleine zu schlafen
an einem weit entfernten – und dunklen – Ort,
sie hatten Angst davor als Mörder verurteilt zu werden,
sie hatten Angst, den Polizisten zu ähneln.

Julio César Plata Rueda
Kolumbien, 2021


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“Necesitamos ponernos en el radar del mundo”

Für die deutschsprachige Version hier klicken

„No dejen de bailar.“ El proyecto Yo Me Entacono de Miguel Ferrerossa da visibilidad a los cuerpos queers y feminizados en el mundo de la salsa. (Foto: Miguel Ferrerossa)

¿Cuándo empezaste a bailar profesionalmente y qué te llevó a fundar Yo me Entacono?
Yo comencé a bailar en una escuela de baile en el año 2013. Inicié en un barrio, el Distrito de Aguablanca, que es un sector donde salimos casi todos los bailarines del oriente de la ciudad. Es lindo porque el baile es un proceso social para arrebatarle los jóvenes a la violencia, a tantos problemas que tenemos quienes vivimos en la periferia de Cali.

Desde que yo inicié, yo ya tenía un estilo personal femenino, muy feminizado, y eso no encajaba mucho con los cánones de la danza dentro de las escuelas de Cali. Siempre me decían: “Eres muy bueno bailando como mujer, pero tienes que aprender a bailar como hombre”. Había una lucha constante entre qué significa ser hombre y qué significa ser mujer a través del cuerpo, a través de la danza. Yo tenía que personificar lo masculino. Tuve que hacer constantemente ese ejercicio porque era lo que la escuela me exigía. Fue un poco de crisis psicológica. Porque hay un proceso de identidad con 17 años: estás todavía intentando encontrarte. Una de las cosas que más me he cuestionado y que todavía sigo intentando entender era cómo yo tenía que personificar esa masculinidad y cómo personificaba esa feminidad, porque para mí eso nunca significó ser femenino si no ser yo, esa era mi energía, lo que yo sentía.

Desde esa experiencia tan personal se crea Yo Me Entacono en el 2019. Cuando empecé a bailar, yo veía a las chicas bailando en tacones, y dije: “Quiero bailar en tacones, me encantaría ver mi cuerpo en tacones, no sé por qué.”

¿Podrías contarnos más sobre tu proyecto con el que estás de gira por Europa?
El proyecto da visibilidad a cuerpos feminizados a través de la salsa, a través del tacón. La idea siempre inicia conmigo, con mi cuerpo. Estoy exponiendo mi cuerpo en espacios totalmente machistas, porque como sabemos, la salsa tiene unos valores demasiado fuertes y unas estructuras sociales muy marcadas sobre lo que significa ser hombre y ser mujer. Cuando te sales un poco de esta regla, hay una lucha constante.

La creación de Yo Me Entacono ha sido un proceso con mi propio cuerpo, pero también se está creando una comunidad. Crear una comunidad y una red de apoyo, no solamente entre personas queers, ha sido el proyecto desde el inicio. Cuando hablo de cuerpos feminizados, hablo de cuerpos que no representan lo masculino. Entonces somos todos los que simplemente no representamos el blanco y el masculino siempre vamos a tener una lucha constante. Y creo que la salsa puede estar involucrada en este proceso. El proyecto ha tenido muchos desafíos porque el hecho de ser algo tan nuevo y tan innovador tiende a ser también demasiado transgresor para la misma industria de la salsa, pero aquí estamos todavía.

Letztes Jahr hast du Yo Me Entacono auf einem Wettkampf in Medellín repräsentiert und den zweiten Platz belegt. Wie kam es dazu und was hat dieses Erlebnis für dich und das Projekt bedeutet?El año pasado representaste a Yo me Entacono en un concurso en Medellín y quedaste en segundo lugar. ¿Qué significó esta experiencia para ti y para el proyecto?
En el 2022 tuve una crisis de salud y dije: “Si no bailo ahora, mis planes nunca van a suceder”. Entonces quería competir. Dije: “Voy a hacer lo posible para bailar en una categoría masculina como solista. Al que le guste, bien, y al que no, también”. Fui un poco rebelde. Encontré la tutoría de Xiomar Rivas. Y ella me dijo: “Lo podemos hacer, vamos a hacerlo”. Obviamente había dudas.

En la salsa siempre hay formas de hacer el paso masculino y formas de hacerlo femenino; formas de describir lo que es lo uno y lo otro. Y yo estaba ahí, en una categoría masculina, en tacones, con un vestuario que tampoco representaba lo masculino. Y pues claro, todo eso es un reto. Algo que fue lindo y que va a ser muy duradero es que pude competir dentro de mi país y haber quedado en el segundo lugar de un pódium masculino estando en tacones, después de tantas dudas. No tengo ningún tipo de ejemplos en la salsa, ¿me entiendes? Es que, tenemos muchos chicos que están haciendo sus propuestas con tacones alrededor del mundo y los veo también como inspiración. Pero no había nadie que estuviera compitiendo, nadie que se lanzara a hacer tal exposición de tal grado. Eso también va a ser histórico para una población LGTBI en Colombia que ha luchado mucho por ese tipo de espacios. Creo que los jurados vieron el valor de la propuesta. Entendían un poco más lo que yo estaba intentando transmitir. Y creo que la experiencia llevó a otro nivel el proyecto.

¿Quién le ha apoyado a lo largo del camino? ¿De dónde saca la energía para que el proyecto siga adelante?
Era un proceso de vínculos, pero el común denominador siempre han sido las mujeres. Las mujeres son las que siempre me han dado apoyo. Las mujeres son las que han podido empatizar con lo que yo estoy viviendo, porque saben lo duro que es no representar lo masculino. Las mujeres te cobijan: a mí siempre me han hecho sentir que pertenezco. Eso es algo que tiene mucho valor en momentos fuertes que uno puede vivir dentro de la población LGTBI. Yo nunca siento que puedo pertenecer a la población LGTBI por ser tan femenino. Eso significa una lucha constante dónde estás intentando encontrarte en el proceso. Y cuando llegan estas mujeres y te cobijan, te abrazan, te dan casa, te dan comida, te dan un espacio, te permite ver lo bonito y bello que ha pasado durante el proceso.

Llevas desde abril viajando por Europa con Yo Me Entacono, en Berlín, Londres y París. ¿Qué experiencias has vivido aquí, qué significa para ti viajar con tu proyecto?
Lo que está buscando el proyecto es que se visibilice la situación de las personas LGTBI en el mundo. Los retos siempre se están presentando. Lo más difícil de todo es lidiar con la ignorancia de la gente. A veces no me cabe en la cabeza cómo te quieren atacar por simplemente existir. Me he encontrado con ataques homofóbicos en Berlín y en otros lugares de este viaje. Para mí es un reto salir a la calle porque me encuentro con la violencia. Yo llegué a Francia justamente cuando ha ganado la extrema derecha en las elecciones. Al final nunca estamos protegidos, al final nunca estamos seguros en la población LGTBI. En cualquier parte, en cualquier momento, algo puede cambiar de manera legislativa, pues eso también va a afectar directamente a nuestra salud mental y física. A través del arte y la danza se está buscando visibilizar todas estas historias porque es lo único que nos queda. O sea, si no nos mostramos, pues mucho más difícil va a ser que nos abran espacios. Necesitamos ponernos en el radar del mundo. Justamente eso.

¿Cómo ha influido el proyecto a su desarrollo personal como bailarín y como artista en general?
Todo ha sido un proceso muy personal. A través del proyecto puedo liberar un poco más mi cuerpo. Hasta el momento la transición es muy coherente con lo que ha pasado con mi cuerpo y con mi mentalidad. En el inicio mi outfit era un sombrero con una camisa blanca y un pantalón negro. Todo lo que representa como el vestuario masculino de la salsa. Ahora creo que es exactamente la forma contraria. Ahora muestra partes del cuerpo que no se deberían de mostrar ni para una mujer ni para nadie, porque seguramente es considerado vulgar o lo que sea. El proyecto hizo que yo haya tenido que romper muchos estigmas conmigo mismo. Tenía una idea masculinizada de mí, que me tocó también ir deconstruyendo porque no me sentía cómodo con ello. Y al final, los tacones. A pesar de que era un trabajo técnico porque había que trabajar la técnica, es una evolución personal a través de eso. Siempre que llevaba el cuerpo a un límite me he sentido mucho más cómodo con lo que puedo expresar entonces.

¿Qué planes tienes con Yo me Entacono? ¿Qué consejo te gustaría dar a las mujeres, a las personas queer y a cualquiera que sienta pasión por la danza?

Bailar fue lo que me sacó del barrio. Quiero seguir llevando el proyecto a otras partes del mundo. Yo siempre he planeado esto como mi forma de crear una comunidad para poder hacer arte de manera más completa, poder hacer música, poder actuar, poder hacer otras cosas.

Así que esa es la idea y la invitación a los que están viendo el proceso del baile y que se apasionan por esto: nunca lo dejen de hacer, más que todo a las mujeres que ven en esto un espacio para ser ellas mismas. De verdad me siento muy orgulloso de poder también tocar en algún momento su proceso. Siempre hemos hablado de la danza como algo que nos funciona a nivel social, pero creo que tiene mucho más trasfondo metafísico. De ahí es donde se unen las almas y se une todo lo que nos representa como humanidad para celebrar la vida. Sigan bailando. En este momento, para mí, la danza es mantenerse vivo.


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Indigene Völker 
unter Beschuss

“Empörung ohne Handeln bringt nichts”: Politisches Symbol des regionalen Widerstands des CRIC (Fotos: Consejo Regional Indigena del Cauca (CRIC))

El Palo ist ein kleines Dorf in der Gemeinde Caloto im Norden des kolumbianischen Departamentos Cauca. Es ist aber nicht einfach irgendein Dorf. El Palo ist eine unsichtbare Grenze und ein Gebiet von großer geostrategischer Bedeutung, da es direkt an der Kreuzung der Straßen nach Toribío, Corinto und Santander de Quilichao liegt. Gleichzeitig ist El Palo geschichtlich relevant. Um das Dorf zu erreichen, muss man zwei historische Schauplätze von Gewalt und Widerstand durchqueren.

Der erste ist die Farm El Nilo, auf der am 16. Dezember 1991 paramilitärische Gruppen 21 Menschen der Nasa, einer indigenen Gruppe, folterten und ermordeten – nur wenige Monate nach der Verkündung der neuen kolumbianischen Verfassung, durch welche indigene Völker wie die Nasa ihr Land zurückerhalten sollten. Ermittlungen des Gerichts für öffentliche Ordnung in Cali ergaben, dass das Massaker in Zusammenarbeit mit staatlichen Sicherheitskräften verübt worden war. Der Fall wurde vor die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH) gebracht, welche die kolumbianische Regierung aufforderte, das Volk der Nasa durch die Übergabe von 15.000 Hektar Land zu entschädigen. Der zweite bedeutsame Ort ist die Farm La Emperatriz. Hier haben die Nasa 2014 im Rahmen des „Prozesses der Befreiung der Mutter Erde (uma kiwe)“ Zuckerrohrmonokulturen angepflanzt – ein Protest gegen die Nichteinhaltung der Versprechen und Verpflichtungen des Staats.

Vorbei am Dorf El Palo steigt die Straße bis zum Rand eines Tals an, von dem aus man in etwas über einer Stunde das indigene Reservat Toribío erreicht. Hier sind die cabildos (indigene Räte, Anm. d. Red.) von Toribío, Tacueyó und San Francisco im plan de vida des Nasa-Projekts vereinigt. (Dabei handelt es sich um einen Ansatz zur Stärkung der Autonomie, Gemeinschaft, Lebensqualität und kulturellen Identität der indigenen Bevölkerung, Anm. d. Red.)

Trotz der Schönheit seiner Landschaft ist das Gebiet stark von wirtschaftlicher und soziopolitischer Gewalt betroffen: Der Drogenhandel hat einen Großteil der lokalen Wirtschaft übernommen und bei Auseinandersetzungen um die Kontrolle der Drogenhandelswege werden täglich Menschen ermordet. Gemeinsam mit den Gemeinden Corinto und Miranda ist Toribío Teil des „Marihuana-Dreiecks“. Dazu gehören auch Gebiete, in denen sich der illegale Koka-Anbau konzentriert (Argelia, El Tambo, López de Micay), denen Drogenhandelswege entspringen (Río Naya) und in denen bewaffnete Akteure besonders präsent sind (Buenos Aires, Suárez, Santander de Quilichao, Caloto, Caldono, Morales und Silvia). Das Dreieck stellt einen der Brennpunkte des bewaffneten Konflikts im Departamento Cauca dar.

Entschlossen trotz Bedrohung Jugendliche geraten besonders ins Visier bewaffneter Gruppen

Am Nachmittag des 16. März 2024 entführte die in der Gegend agierende bewaffnete Gruppe Front Dagoberto Ramos einen Jugendlichen aus der Gemeinde Toribío zur Zwangsrekrutierung. Bei der Front handelt es sich um Dissident*innen der FARC-EP, welche sich zum selbsternannten Zentralen Generalstab (EMC) zusammengeschlossen haben. Aufgrund der Entführung versammelte sich die Gemeinde im Ortsteil La Bodega, um die Befreiung des Jugendlichen zu fordern. Dort schoss die Front auf die indigene Garde und die Teilnehmenden und verletzte mehrere Personen. Francia Liliana Pequi berichtete später erschüttert: „Dann drehte ich mich um und die ganze Gemeinde lief verängstigt rückwärts, rannte weg (…), denn sie schossen. Sie waren schwer bewaffnet. Zuerst schossen sie in die Luft, und als wir sie nicht gehen ließen, fingen sie an, auf alle Leute zu schießen, die da waren.“

Unter den Verletzten befand sich auch die 62-jährige mayora (indigene Autorität, Anm. d. Red.) Carmelina Yule Pavi, Mitglied der Garde und indigene Anführerin. Sie starb am Sonntag, den 18. März, an ihren Verletzungen.

Angesichts dieser Ereignisse reagierten die indigenen Gemeinden und der Regionale Indigene Rat im Cauca (CRIC) mit Nachdruck und auf verschiedenen Ebenen. Die traditionellen Autoritäten erließen mit Hilfe der indigenen Sondergerichts­barkeit Haftbefehle gegen die Anführer der bewaffneten Gruppe, während die indigene Garde Streifzüge durchführte, um die illegale bewaffnete Gruppe aus dem Gebiet zu vertreiben. Der schwere Angriff auf die indigene Gemeinde war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und die nationale Regierung dazu veranlasste, den mit der EMC bestehenden bilateralen Waffenstillstand auszusetzen.

Widerstand gegen die Gewalt bewaffneter Gruppen CRIC und weitere indigene Gemeinden schließen sich zusammen

Obwohl dieser Waffenstillstand schon vorher nicht eingehalten worden war und die indigenen Gemeinden und Gebiete von Gewalt betroffen sind, hat sich die Situation seit dem 17. März deutlich verschlechtert. Die Militarisierung des Territoriums und die Offensiven der Nationalen Armee gegen die illegalen bewaffneten Gruppen führen zu fast täglichen Kämpfen, bei denen die Zivilbevölkerung häufig Opfer von Übergriffen wird. Auch die Angriffe von FARC-EP-Dissident*innen auf indigene Gemeinschaften haben zugenommen: Drohungen, Angriffe mit Sprengkörpern, Zwangsrekrutierungen und illegale Straßensperren sind an der Tagesordnung. Außerdem haben die Dissident*innen den Plan bekanntgegeben, jede*n Vertreter*in des CRIC als militärisches Ziel einzustufen.

Marisol Peña, indigene Autorität von Tacueyó, einer Gemeinde von Toribío, klagt: „Wir sind militärische Ziele, weil wir immer deutlich gemacht haben, dass unsere Autoritäten im Gebiet bleiben werden, um das Leben zu verteidigen.“ Der Tod der mayora Carmelina letzten Monat sei für die Gemeinden der Auslöser gewesen, auf die Straße zu gehen, Druck auszuüben und zu sagen: Wir werden nicht mehr zulassen, dass sie uns ermorden, dass sie unsere Jugendlichen mitnehmen und töten. Die Gemeinden sind fest entschlossen, die Kontrolle über ihr Gebiet zurückzuholen.

Heute befinden sich die indigenen Gemeinden und Gebiete von Cauca in einer ähnlichen humanitären Notlage wie in den dunkelsten Jahren des bewaffneten Konflikts. Wie Francia Liliana Pequi berichtet, hört man Schüsse, es gibt Konfrontationen und ständige Drohungen, weil sie sich nicht zum Schweigen bringen lassen. „Wir sind nicht wie die, die meine Großmutter ermordet haben – wir werden uns nicht verstecken.“

¡Guardía guardía, fuerza fuerza! Die Guardía Indígena kämpft für ein Leben in Frieden

Als Folge der Schießerei wurden in dem Gebiet Kontrollpunkte eingerichtet. Francia Liliana Pequi erklärt dazu: „Hier, wo wir sind, ist ein strategischer Punkt, weil sie sich vorher hier aufhielten. (…) Jetzt sind wir diejenigen, die diesen Kontrollpunkt haben.“

Nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens von La Habana im Jahr 2016 gab es eine kurze Phase relativer Ruhe im Land. So auch im Departamento Cauca, welches eine lange Geschichte mit der sechsten Front der FARC-EP hat. Es gehört zu den am stärksten vom bewaffneten Konflikt betroffenen Gebieten, insbesondere nach dem Auftauchen paramilitärischer Gruppen in den 1990er und 2000er Jahren.

Doch bereits 2018 wurde die Situation in den Gebieten wieder kritischer. Dies geschah zeitgleich mit dem ersten Jahr der friedensfeindlichen Regierung von Iván Duque, dem politischen Ziehsohn des ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe. Die Ursachen für diese Verschlechterung waren Versäumnisse des Staates in Bezug auf die Landreform, Landrückgabe, den Ersatz illegaler Anbaukulturen und die territoriale Entwicklung. Darüber hinaus bot die Regierung den indigenen Gemeinschaften keinen Schutz und weigerte sich das Wirtschafts- und „Entwicklungs“-Modell in Frage zu stellen, womit die historischen und strukturellen Ursachen der Gewalt intakt blieben. Infolgedessen haben sich neue bewaffnete Gruppen schnell die nach der Demobilisierung der FARC-EP „freigewordenen“ Gebiete einverleibt, die der Staat noch immer nicht mit an die Grundversorgung angeschlossen hatte. Neben den schon länger existierenden, bewaffneten Gruppen wie der Nationalen Befreiungsarmee (ELN) haben sich neue bewaffnete Akteure organisiert. Insbesondere Dissident*innen der FARC-EP, die sich vom Friedensprozess losgesagt haben und heute unter dem Kommando von Iván Mordisco stehen. Diese bewaffnete Gruppe ist im ganzen Land mit Einheiten präsent und ihr Interesse gilt dem Drogenhandel sowie der sozialen und territorialen Gebietskontrolle. Obwohl sie sich auf den politischen Diskurs und die Erinnerung der FARC-EP beziehen, haben diese Gruppen keinen wirklichen ideologischen Gehalt.

Dies spiegelt gut das neugestaltete Szenario des bewaffneten Konflikts wider: Es geht nicht um den Kampf bewaffneter Gruppen mit einem sozialen Bezug, die die Macht ergreifen wollen um die Politik und das Modell des Landes grundlegend zu verändern. Vielmehr handelt es sich um verschiedene Konflikte mit territorialem Fokus auf geostrategische Gebiete mit illegalen Wirtschaftszweigen. Natürlich geht das Ausmaß der Gewalt viel weiter und überschneidet sich mit historischen Konflikten um Landbesitz, sowie mit Interessen transnationaler Akteure an der Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Auch Faktoren der historischen Ausgrenzung von indigenen Völkern, Afroamerikaner*innen und Bäuer*innen bleiben bestehen.

Übergriffe im Cauca 800 Opfer im Jahr 2023 (Statistik: Consejo Regional Indigena del Cauca (CRIC))

Fest steht, dass die Zivilbevölkerung am meisten leidet. Insbesondere die indigenen Gemeinden und Gebiete sind dem Konflikt stark ausgesetzt. Im Jahr 2023 zählte der CRIC 800 indigene Opfer der verschiedenen Übergriffe in den traditionell indigenen Gebieten. Die Zwangsrekrutierung von Minderjährigen, Ermordungen, Drohungen und Zwangsvertreibungen stellten hierbei die häufigsten Menschenrechtsverletzungen dar. Für das aktuelle Jahr wurden bereits 320 Opfer gezählt. Die am meisten gefährdeten Bevölkerungsgruppen sind Jugendliche und diejenigen, die eine Führungsrolle ausüben und das Gebiet verteidigen, weil sie ein Hindernis für die Interessen der bewaffneten Gruppen darstellen.

Die Auswirkungen sind jedoch viel weitreichender und von struktureller Natur. Sie beschränken sich nicht auf die humanitäre Notlage, die die indigenen Völker im Cauca erleben und die sich seit Mitte März 2024 verschlimmert hat. Die grundlegende Auswirkung ist ein andauernder Völkermord. Durch den Einsatz von physischer Gewalt, Rekrutierungsstrategien und sozialer Kontrolle können die indigenen Gemeinden ihre Autonomie und ihre eigene Regierung nicht voll entfalten, was den möglichen Verlust ihrer Identität mit sich zieht. Auch wenn die verschiedenen bewaffneten Akteure in den Gebieten diejenigen sind, die die Gewalt ausüben, so sind die Hauptverantwortlichen doch die Feinde des Friedens, der Autonomie der indigenen Völker und des strukturellen Wandels des sozioökonomischen Modells unseres Landes.

Eigene Bildung von unten Aus dem Herzen von Abya Yala

Aus dem Südwesten Kolumbiens kommt deshalb der Weckruf an die Welt: Die indigenen Völker des CRIC stehen unter Beschuss. Der 53-jährige Organisationsprozess, der auf dem Widerstand der Indigenen Garde unter der Führung der 139 traditionellen Autoritäten beruht, wurde zum militärischen Ziel erklärt. Es ist trotzdem wichtig, weiterhin auf den Frieden zu setzen und Mechanismen für multilaterale Waffenstillstände zu schaffen. Die indigenen Territorien und Gemeinden müssen dabei aktive Akteure beim Aufbau einer echten Alternative zu Krieg und Ausbeutung sein.

Auch Francia Liliana Pequi teilt diese Meinung. In Gedanken an ihre Großmutter betont sie, dass sie eine große Anführerin war und sich sehr für die Rechte der Frauen eingesetzte. In Bezug auf den sehnlichst erwünschten Frieden in der Region fügt sie hinzu: „Sie hat viel für den Prozess getan. Auch wenn sie nicht mehr bei uns ist, weiß sie, dass wir ihr unendlich dankbar sind, dass sie uns den Weg für diesen wunderschönen Prozess geebnet hat.“


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Moby Dick im Río Magdalena

© Monte & Culebra

In den späten 1970er-Jahren brachte der Drogenbaron Pablo Escobar auf illegale Weise drei Flusspferde aus Namibia nach Kolumbien in seinen Privatzoo. Nach seinem Tod flohen sie aus seiner Finca Nápoles zwischen Bogotá und Medellín in den nahe gelegenen Río Magdalena, wo sie sich unter tropischen Bedingungen seither prächtig vermehren: Aus dem ursprünglichen Trio sind mittlerweile geschätzt 160 Tiere geworden. In einigen Jahren könnten es Tausende sein, was zu unvorhersehbaren Folgen für Mensch und Ökosystem führen würde. Das Erbe von Escobar macht der Region auch so bis heute zu schaffen. Aktuell plant die kolumbianische Regierung, die Tiere entweder zu sterilisieren oder in ein anderes Land umzusiedeln.

Der dominikanische Regisseur Nelson Carlos De Los Santos Arias stolperte als Rucksacktourist in Kolumbien über die Geschichte und beschloss, einen Film darüber zu machen – die Idee zu Pepe war geboren und hat es in den Wettbewerb der Berlinale geschafft. Seinen Titel gibt dem Film dabei das wohl bekannteste Exemplar der Flusspferdherde: Pepe, ein Bulle, der von der Gemeinschaft ausgestoßen wurde und sich deshalb als erster daran machte, das Territorium um den Río Magdalena auf eigene Faust zu erkunden. Da die kolumbianischen Flusspferde schon einige Spuren in der Popkultur hinterlassen haben – es gibt Podcasts und sogar eine Doku-Soap des National Geographic Channel mit dem reißerischen Titel Cocaine Hippos über sie – musste ein frischer Ansatz her. Der vom experimentellen Film kommende De Los Santos Arias entschied sich dafür, ihre Geschichte aus ihrer eigenen Perspektive zu erzählen, mit dezidiert antikolonialer Perspektive.

Den Tieren eine glaubwürdige Stimme zu geben, war dabei eine der wichtigsten Aufgaben. Pepe löst diese auf interessante Weise, indem professionelle Sprecher in verschiedenen Sprachen (Spanisch, Afrikaans, Mbukushu) eingesetzt werden, die ihre von banal bis philosophisch reichenden Monologe häufig mit Tierlauten untermalen. Geschickt zieht der Film so mit antikolonialem Dreh eine Parallele zum hunderte Jahre zuvor erfolgten Sklavenhandel: Wie damals Menschen, so wurden hier Tiere gegen ihren Willen von ihrem Heimatkontinent auf einen neuen verschleppt, an den sie sich anpassen mussten. Die Monologe der Flusspferde sind vor allem in der ersten Hälfte des Films zu hören und drehen sich nur am Rand um die Beteiligung Escobars an ihrer Zwangsumsiedlung. Stattdessen geht es mehr um Rangkämpfe, Beschreibung der Umwelt und die Erinnerung und Bedeutung der eigenen Herkunft.

Doch Pepe belässt es nicht nur bei der Flusspferd-Nabelschau, sondern begibt sich ab etwa der Hälfte der Laufzeit auf das Territorium der menschlichen Bewohner*innen am Río Magdalena. Die Szenen dort sehen dokumentarisch aus, sind aber komplett fiktionalisiert. Dieser Abschnitt des Films beginnt mit einer lustigen Episode über zwei junge Handlanger Escobars, die die undankbare Aufgabe haben, die ersten Flusspferde ihres patrón mit einem Lastwagen zu ihrem Bestimmungsort zu bringen. Im weiteren Verlauf kümmert sich der Film dann vor allem um den Fischer Candelario und seine Familie. Candelario stolpert als erstes über einen der nun frei im Fluss herumstreunenden Dickhäuter und wird nicht müde, allen die es interessiert (oder auch nicht), immer wieder seine Geschichte von dem „Baumstamm, Krokodil oder Ungeheuer“, das ihn fast aus dem Boot geworfen hätte, zu erzählen. In seinem Eifer, die Tiere vertreiben zu wollen, wirkt er fast wie ein kolumbianischer Käpt’n Ahab, der Moby Dick aus seinem Fluss jagen möchte. Die Polizei ist daran jedoch eher weniger interessiert und seine Frau Betania hält ihn gar für einen Spinner, was Candelario natürlich nur noch weiter auf die Palme bringt.

Pepe besteht aus einem bunten Sammelsurium aus Themen und filmischen Stilrichtungen (auch Cartoons werden ab und zu eingespielt), die ihre Höhen und Tiefen haben. Manchmal ist das etwas anstrengend. Denn eine durchgehende Handlung soll der Film gar nicht haben und ohne einiges an Insider*innen-Vorwissen besteht die Gefahr, an einigen Stellen den Faden zu verlieren. Zum Glück wird aber alles durch wunderschöne Naturaufnahmen der Flusslandschaften in Südwestafrika und Kolumbien zusammengehalten, was auch für so manche erzählerische Länge oder Merkwürdigkeit entschädigt.

LN-Bewertung: 3 /5 Lamas


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Hüter der verlorenen Lieder

© Natalia Burbano / Contravía Films

“Gelobte Seelen des Fegefeuers, zeigt mir den Weg”, betet José de Los Santos inmitten afrokolumbianischer Rituale. In seiner Gemeinde im Regenwald der kolumbianischen Pazifikregion Chocó vereinen und solidarisieren sich die Bewohner durch Gesänge und Gebete, um den Trauerprozess zu bewältigen. Der Protagonist des Films Yo vi tres luces Negras, (“I saw three black lights”), gespielt von Jesús María Mina, lebt unter den Toten, hat die Gabe, sie zu sehen und mit ihnen zu sprechen. Diese Kommunikation mit seinen Vorfahren ermöglicht es ihm, im Hier und Jetzt voranzukommen und seinen eigenen Weg zu gehen.

Yo vi tres luces negras ist die zweite Langfilm-Produktion des kolumbianischen Regisseurs Santiago Lozano und feiert auf der 74. Berlinale in der Panorama-Sektion des Festivals seine Weltpremiere. Wie schon in seinem ersten Film greift Lozano das Thema Tod und Bestattungsrituale des afrokolumbianischen Pazifikraums auf, diesmal anhand der schicksalhaften Reise von José de Los Santos. Der 70-jährigen wird von seinem verstorbenen Sohn Pium besucht, der nun auch ihm seinen Tod ankündigt. Pium teilt seinem Vater mit, dass er seinen letzten Gang in die Tiefen des Dschungels antreten muss. Auf dem Weg dorthin trifft José auf paramilitärische Gruppen, die ihn bei seinem Vorhaben behindern – dieselben, die seinen Sohn Jahre zuvor ermordet haben.

© Christian Velasquez / Contravía Films

Mit großer visueller und symbolischer Reichhaltigkeit zeigt der Film den Synkretismus, der in den Gemeinden des Departamento Chocó, praktiziert wird, wobei der Tod innerhalb dieser Weltanschauung besonders betont wird. Im Verlauf der Geschichte wird klar auf die Bedeutung der mündlichen Überlieferung für das Überleben archaischer spiritueller Praktiken der Pazifikregion hingewiesen. Diese gehen allmählich durch Gewalt verloren, während die dortigen Bewohner zum Schweigen gebracht werden. Und auch die Auswirkungen des Bergbaus auf die Lebensweise der Menschen und die natürlichen Ressourcen werden deutlich. José de Los Santos wird dabei als “Hüter des Landes” dargestellt, der seinen Kampf gegen Zerstörung und Ausbeutung jedoch mit ungleichen Waffen führen muss.

Besonders bemerkenswert an Yo vi tres luces negras ist die Kinematografie, die den Dschungel in seiner ganzen Tiefe eindringlich einfängt, so dass dieser wie ein eigener Charakter wirkt. Der Film beginnt und endet mit der imposanten Präsenz des Rio San Juan, einem der mächtigsten und wichtigsten Flüsse Kolumbiens. Das Wasser als symbolisches Element ist sowohl visuell als auch klanglich in der Geschichte präsent. Darüber hinaus trägt die beeindruckende Filmmusik von Nidia Góngora, einer Komponistin von und Forscherin zu traditioneller kolumbianischer Musik, Yo vi tres luces negras stimmungsvoll durch die Eingeweide des Dschungels.

Lozanos Arbeit als Regisseur ist zweifellos vielversprechend, denn er zeigt Engagement für seine eigene ästhetische Erkundung. Sein Blick ist nach innen gerichtet, aber er spricht universelle Themen an. Yo vi tres luces negras ist ein empfehlenswerter Film, der innerhalb der Panorama-Sektion der Berlinale sicher zu den stärkeren Beiträgen gehören wird.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas


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Podcast

Folge #10: Kolumbien, Chile und Europa: Mit grünem Wasserstoff gegen Klimawandel?

Grüner Wasserstoff soll der Hoffnungsträger im Kampf gegen den Klimawandel sein. Die Europäische Union und Deutschland investieren derzeit weltweit Millionen von Euro in die Entwicklung von diesem Energieträger, auch innerhalb Lateinamerikas.

Kolumbien und Chile arbeiten bereits an konkreten Projekten, um bald massiv produzieren zu können. Damit sollen einerseits die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Europa und Lateinamerika gestärkt und andererseits mit grüner Energie ein Beitrag zu Klimaneutralität geleistet werden.

Doch bedeutet “grün” auch gleichzeitig “gerecht”? Und wie “grün” sind die Projekte wirklich? Darüber sprechen wir mit zwei Expertinnen: Sophia Boddenberg ist freie Journalistin, lebt seit 2014 in Chile, arbeitet zu Umweltthemen, Rohstoffabbau und Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem Globalen Norden und Globalen Süden. Kristina Dietz ist Professorin der Uni Kassel für Internationale Beziehungen mit Schwerpunkt Lateinamerika, Teil einer Forschungsgruppe zu Landkonflikten in Lateinamerika und Subsahara-Afrika.

 

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Folge #9: Kohleabbau in Kolumbien: Welche Verantwortung trägt Deutschland?

 

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#9: En español: Explotación de carbón en Colombia: Qué responsabilidad tiene Alemania?

 

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Folge #8: Gefängnisse in Ecuador: Gewalt wird zum Alltag

 

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Folge #7: Honduras – Zwischen Hoffnung und Korruption

 

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Folge #6: Der negierte Krieg in Kolumbien – Die Geschichte von Stella Castañeda

 

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Folge #5

 

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Folge #4

 

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Folge #3

 

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Folge #2

 

 

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Folge #1

 

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Brot und Spiele

WM und Arbeitskämpfe verbinden Spielerinnen klagen über fehlende Unterstützung der Verbände (Foto: Medios Públicos EP via Flickr (CC BY-SA 2.0))

Es war spannend bis zur letzten Minute: Nach einer knappen 1:0-Führung in der Nachspielzeit gelang der haitianischen Stürmerin Melchie Dumonay ein weiterer Treffer, mit dem sie die chilenische Torhüterin überwand und einen historischen Sieg besiegelte, mit dem sich Haiti zum ersten Mal für die Weltmeisterschaft qualifizierte. Les Grenadières, wie die haitianische Frauen-Nationalelf auch genannt wird, hatten in der Gruppe A des Qualifikationsturniers den dritten Platz belegt und trafen damit im Februar zunächst auf Senegal und dann auf Chile. Nachdem Haiti beide Teams besiegt hatte, war die Teilnahme an der WM für Juli und August gesichert.

Panama musste ebenfalls in einem zusätzlichen Spiel um seine Teilnahme bei der WM kämpfen. Die Nationalelf besiegte Papua-Neuguinea mit Leichtigkeit, bevor sie sich mit einem 1:0-Sieg über Paraguay das letzte Ticket für die Weltmeisterschaft in Neuseeland und Australien sicherte. Auch für Panama ist es die erste Teilnahme an einer WM. Gegenüber der panamaischen Tageszeitung La Prensa äußerte sich die Torschützin Lineth Cedeño glücklich: „Es ist ein sehr wichtiges Tor für das ganze Land, das Tor, das uns zur Weltmeisterschaft bringt.“

Jahrelange Konflikte zwischen dem brasilianischen Fußballverband CBF und den Spielerinnen

Mit Brasilien, Argentinien, Kolumbien, Jamaika und Costa Rica haben sich fünf weitere Teams aus Lateinamerika und der Karibik direkt für den Wettbewerb qualifiziert. Brasiliens seleção ist mit neun WM-Teilnahmen und Superstars wie Marta, der besten brasilianischen Torschützin aller Zeiten, nicht nur das Team mit den besten Chancen auf den Sieg aus der Region, sondern unter den Favoriten auf den Titel. Die Teilnahme der Brasilianerinnen erfolgt nach jahrelangen Konflikten zwischen dem brasilianischen Fußballverband CBF und den Spielerinnen. Im Jahr 2017 verließen fünf langjährige Spielerinnen die Nationalelf, unter anderem Cristiane, Francielle und Rosana. Sie begründeten den Weggang mit der Entlassung der ersten weiblichen Trainerin Emily Lima und mit ihrer Erschöpfung „durch jahrelange Respektlosigkeit und mangelnde Unterstützung“, wie es damals in einem offenen Brief hieß. Im Jahr 2021 wurde dann der Präsident des CBF, Rogério Caboclo, aufgrund von Anschuldigungen wegen sexueller Belästigung von seinem Amt suspendiert. Im Jahr 2019 kam Pia Sundhage als neue Trainerin für das Team. Seither trainiert sie die brasilianische Nationalelf der Frauen. Damit wurde der 2017 von den Spielerinnen geäußerte Wunsch nach langfristiger Unterstützung durch den Verband und Beständigkeit im Trainerstab zumindest teilweise erfüllt.

Auch in Kolumbien und Argentinien kam es zwischen Nationalelf und Fußballverband zu Konflikten. Nach der Weltmeisterschaft 2019 in Frankreich trafen sich alle 23 argentinischen Spielerinnen, um ihre Unzufriedenheit mit der Ausrichtung des Teams unter dem damaligen Trainer Carlos Borrello zu diskutieren. Als Tage später mehrere Schlüsselspielerinnen, darunter Kapitänin Estefanía Banini, für die kommenden Spiele aus dem Kader geworfen wurden, protestierten die Spielerinnen in den sozialen Medien. Banini schrieb, der Grund ihres Ausschlusses liege auf der Hand und hänge mit der zuvor geäußerten Kritik zusammen.

Ähnlich wie Banini wurde 2016 die kolumbianische Mittelfeldspielerin Daniela Montoya, eine der Schlüsselspielerinnen für Kolumbien bei der Weltmeisterschaft 2015, nicht mehr für den Olympia-Kader aufgestellt. Sie hatte öffentlich kritisiert, dass der Verband den Spielerinnen Preisgelder von vergangenen internationalen Turnieren noch nicht ausgezahlt hatte. Drei Jahre später prangerte die kolumbianische Spielführerin Natalia Gaitán zusammen mit anderen Spielerinnen den kolumbianischen Verband wegen mangelnder Unterstützung für das Frauenteam an. Beide Spielerinnen, Banini und Montoya, sind inzwischen in ihre Nationalteams zurückgekehrt.

Kolumbien und Argentinien liegen auf dem 25. bzw. 28. Platz der Weltrangliste und haben sich aufgrund ihrer hervorragenden Leistungen bei der Copa América 2022 automatisch für die Weltmeisterschaft qualifiziert. Beide Teams haben bereits an mehreren Weltmeisterschaften teilgenommen und wollen ihre Leistungen verbessern. Las Cafeteras aus Kolumbien waren enttäuscht, dass sie die Teilnahme an der WM 2019 in Frankreich verpassten, nachdem sie 2015 als erstes südamerikanisches Team neben Brasilien ein Spiel bei einer WM gewonnen und die Gruppenphase überstanden hatten. Sie bereiten sich nun darauf vor, den Weltmeistertitel zu erspielen. „Wir wollen dabei sein und um den Weltmeistertitel kämpfen“, so die aktuelle Kapitänin Daniela Montoya gegenüber FIFA.com. Die Mannschaft sei aus erfahrenen und jungen Spielerinnen zusammengestellt worden. „Ich weiß, dass dies unser Moment ist, das Jahr, in dem die kolumbianische Nationalmannschaft an der Spitze stehen wird“, erklärte Montoya weiter.

La Albiceleste nehmen zum vierten Mal an einer Weltmeisterinnenschaft teil. Obwohl sie sich seit Anfang der 2000er Jahre verbessert hat, konnte sie bisher keinen greifbaren Erfolg verbuchen. In Frankreich 2019 holte sie mit zwei Unentschieden ihre ersten Punkte bei einer Weltmeisterschaft. Kapitänin Stefanía Banini sagte im Gespräch mit DSports Radio, dass das Team sich darauf konzentriere „dort gut anzukommen und einige der Spiele zu gewinnen.“

Jamaika und Costa Rica nehmen erst zum zweiten Mal an einer Weltmeisterschaft teil. Costa Rica kehrt dieses Jahr auf die WM-Bühne zurück, nachdem es bei der WM 2019 in Frankreich nicht klappte und ein neuer Tarifvertrag zwischen Spielerinnen und Verband abgeschlossen wurde. Das jamaikanische Team erlebt seinerseits den Höhepunkt seiner Wiedergeburt im Frauenfußball, auch wenn seine Situation prekär bleibt. In den 2000er Jahren stand das Team kurz vor der Auflösung und musste sich aus internationalen Wettbewerben zurückziehen, bis die Sängerin und Tochter von Bob Marley, Cedella Marley, als Investorin einstieg und zudem eine Crowdfunding-Kampagne für das Team startete. Auch nach der zweiten WM-Qualifikation gehen die Probleme jedoch weiter. Am 15. Juni 2023, nur einen Monat vor Beginn des Turniers, veröffentlichten die Spielerinnen einen Brief in den sozialen Medien, in dem sie Veränderungen im jamaikanischen Fußballverband forderten. Sie erklärten, dass sie wiederholt spielten „ohne die vertraglich vereinbarte Bezahlung zu erhalten“, Freundschafts-spiele wegen „extremer Desorganisation“ verpasst hätten und es weiter unklar sei, ob Tage vor der Weltmeisterschaft überhaupt noch ein Trainingslager stattfinden würde.

“Ich kann das derzeitige System nicht mehr unterstützen”

Unruhen zwischen Spielerinnen und Verbänden kommen jedoch auch außerhalb von Lateinamerika und der Karibik vor. Die Kapitänin der französischen Nationalelf Wendie Renard sowie zwei weitere Spielerinnen kritisierten den Verband und kündigten einen Boykott der WM an. Auf Twitter schrieb Renard: „Ich kann das derzeitige System nicht mehr unterstützen, das weit von den Anforderungen der ersten Liga entfernt ist.”. Zwei Wochen später wurde die Trainerin entlassen. Auch das kanadische Team protestierte gegen mangelnde Unterstützung und Lohnungleichheit, in Spanien wollten 15 Spielerinnen nicht für den Nationalkader berufen werden, „bis Situationen, die unseren emotionalen und persönlichen Zustand, unsere Leistung und folglich die Auswahlentscheidungen beeinträchtigen und zu unerwünschten Verletzungen führen könnten, rückgängig gemacht werden“, wie sie in einer Erklärung mitteilten. Drei der 15 unterzeichnenden Spielerinnen nehmen allerdings trotzdem an der bevorstehenden WM teil. Der fehlende Wille der Verbände in den Frauenfußball zu investieren und ihn damit zu professionalisieren, führen dazu, dass viele Spielerinnen sich kurz vor der WM mitten im Arbeitskampf befinden.

Diese Weltmeisterschaft ist auch in anderer Hinsicht einzigartig. Das Teilnehmerfeld wurde von 24 auf 32 Teams vergrößert, darunter acht Teams, die zum ersten Mal bei einer WM mitspielen. Außerdem garantiert die FIFA erstmals jeder Spielerin, die an der Gruppenphase teilnimmt, ein Preisgeld von umgerechnet mindestens 27.000 Euro. Für Teams, die über die Gruppenphase hinaus kommen, erhöht sich das Preisgeld. Dies ist ein wesentlicher Bestandteil der Förderung des Frauenfußballs und fällt besonders ins Gewicht, da 29 Prozent der Spielerinnen laut einem Bericht der Organisation FIFPRO „keine Zahlungen von ihren Nationalteams erhalten“.

Andere Verbände können sich ein Beispiel an der Vereinbarung zwischen dem costa-ricanischen Verband und seinen Spielerinnen nehmen. Diese unterzeichneten im April 2022 einen Tarifvertrag. Nach dem Vorbild der Vereinbarung für männliche Fußballer von 2014 wurden Prämien, Zulagen und Grundbedürfnisse für die Spielerinnen festgelegt. So wurde beispielsweise vereinbart, dass sie den gleichen Prozentsatz der von der FIFA gezahlten Einnahmen als Bonus erhalten wie die männlichen Profis.

Auch mit Blick auf die Berichterstattung gibt es positive Neuigkeiten. Mitte Juni unterzeichneten die deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ARD und ZDF mit der FIFA eine Vereinbarung über die Übertragungsrechte. Der Vertragsabschluss ließ auf sich warten, da die FIFA beschlossen hatte, die Übertragungsrechte für die Frauen- und Männer-WM getrennt zu verkaufen und sich dann mit dem ursprünglichen Angebot der europäischen öffentlich-rechtlichen Sender nicht zufrieden gab. Wegen der Zeitverschiebung werden alle Spiele nach deutscher Zeit am Vormittag in ARD und ZDF übertragen.


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STOCKENDE REFORMEN

Steht vor großen Herausforderungen Petro bei seiner Amtseinführung (Foto: Raúl Ruiz-Paredes via Flickr, CC BY-SA 2.0)

„Der kürzlich veröffentlichte Index für ungewöhnliche Arbeitsbedingungen bezüglich der Arbeitszeiten in den OECD-Ländern (Länder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) zeigt bedauerlicherweise, dass Kolumbien zusammen mit der Türkei auf dem letzten Platz liegt. Im Vergleich zu den anderen Ländern in der OECD sind wir Gesellschaften, die ihre Arbeitnehmer am meisten ausbeuten, obwohl sie den Reichtum produzieren“ – sagte Präsident Petro vom Balkon des Regierungspalast aus, in einer langen Rede am 14. Februar.

In seiner Rede versuchte er die Menge seiner Anhänger*innen zu begeistern, und somit seiner Arbeitsreform breite Unterstützung zu verschaffen. Seine Absicht ist es, einen Großteil der Maßnahmen zur Flexibilisierung der Arbeit umzukehren, die von Präsident Álvaro Uribe im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ergriffen wurden. Damit soll die Prekarisierung der Arbeit bekämpft und Arbeit würdevoller gestaltet werden.

Obwohl der Entwurf der Reform noch nicht vorliegt, hat die Regierung bereits begonnen, erste Schritte in diese Richtung zu unternehmen. Ende 2022 schlug Petro vor, den öffentlichen Dienst in Rekordzeit zu professionalisieren. Sein Plan sieht vor, die Verträge zur Erbringung von Dienstleistungen – kurzzeitige Werkverträge – im öffentlichen Dienst abzuschaffen. Mit diesen Verträgen kann eine Person nur für ein paar Monate eingestellt werden, also nur für eine kurze Zeit ohne Anrecht auf soziale Leistungen. Dadurch erspart sie dem Arbeitgeber, Urlaub zu bezahlen oder das Gehalt aufgrund von Betriebszugehörigkeit zu erhöhen. Wenn diese Regelung abgeschafft wird, müssen Arbeitskräfte nicht befürchten, ihren Job nach einigen Monaten zu verlieren, wenn sie sich einer Gewerkschaft anschließen oder Urlaub fordern.

Laut dem Plan der Regierung sollen alle Staatsangestellten innerhalb weniger Monate eine feste Anstellung bekommen. Allerdings haben Stimmen innerhalb derselben Regierung diesen Plan in Frage gestellt. Zum Beispiel glaubt César Manrique, Direktor der Verwaltungsabteilung des öffentlichen Dienstes, dass dieser Wechsel sehr viel langsamer sein wird, da sechs von zehn öffentlichen Angestellten über diese Form der Anstellung verfügen – fast eine Million Arbeiter*innen. „Außerdem werden viele dieser Werkverträge verwendet, um politische Gefälligkeiten zu bezahlen“, sagte Manrique dem Magazin Cambio. Die Arbeitsministerin Gloria Inés Ramírez, ehemalige Gewerkschafterin und Mitglied der kommunistischen Partei, sagte ebenfalls, dass die Reform in wenigen Monaten „unmöglich umzusetzen ist“ und warnte davor, dass Eile in dieser Angelegenheit zu einer Lähmung des Staates führen kann. Trotzdem teilt auch Ramírez Petros Ambitionen. Im Februar sagte sie der Zeitung El Tiempo: „Alle Verträge müssen unbefristet und mit Sozialversicherung sein. Wir müssen die Prekarisierung der Arbeit beenden.“ Verträge mit befristeter Laufzeit sollten nur in Ausnahmefällen abgeschlossen werden, so die Ministerin. In Kolumbien arbeiten rund 2,5 Millionen Menschen, etwa 20 Prozent der Arbeitskräfte des Landes (laut dem staatlichen Statistikamt DANE), im Rahmen dieser Regelung.

Darüberhinaus begeisterte Petro in seiner Ansprache die Menge mit der Forderung, dass „der Arbeitstag um 18 Uhr enden sollte, nicht um 22 Uhr.“ So wird erwartet, dass Arbeitskräfte ab 18 Uhr Nachtzuschläge erhalten. Dies würde auch für die Arbeit an Samstagen oder Sonntagen gelten, Tage, die laut Petro „als Ruhezeit betrachtet werden sollten.“ Diese Maßnahmen würden auch Änderungen rückgängig machen, die Uribe vor 20 Jahren einführte, welche die Arbeitgeber*innen von Überstundenzahlungen bis 21 Uhr befreite. Außerdem soll die Reform unter anderem die Beschäftigung bei digitalen Plattformen wie Uber reglementieren. Voraussichtlich sind dadurch keine großen Maßnahmen zur Lösung der informellen Beschäftigung zu erwarten. Denn 58,2 Prozent der kolumbianischen Arbeitnehmer*innen haben keinen Arbeitsvertrag oder ein festes Gehalt, und zahlen auch keine Sozialabgaben. Dabei handelt sich meistens um Menschen wie beispielsweise Straßenverkäufer*innen und Schwarzarbeitende.

Das Reformpaket stellt Petro und seine VErbündeten vor Herausforderungen

Die Arbeitsreform ist nur eine von vielen Reformen, die die Regierung in der ersten Hälfte des Jahres 2023 vorlegen will. Eine Reform des Gesundheitssystems soll die enormen Korruptionsprobleme der privaten Krankenkassen (Empresa Prestadora de Servicios, EPS) angehen. Eine Reform des Rentensystems soll das private individuelle Sparmodell reduzieren, und ein öffentliches, solidarisches System stärken.

Am Tag von Petros Rede wurde dem Kongress auch der Entwurf für die Gesundheitsreform vorgelegt. Diese Reform sieht vor, dass der Staat die Verwaltung des Gesundheitsbudgets wieder übernimmt. Die Kritik sowohl aus der Regierungskoalition als auch von der Opposition ließ nicht lange auf sich warten. Einen Tag nach Petros Rede sprach sich die Opposition mit Demos gegen die Reformen aus. Sogar Roy Barreras, der Präsident des Kongresses und ein Verbündeter von Petro, hat den Vorschlag der Ministerin heftig kritisiert: der Staat habe nicht die Kapazität, eine Milliarde Vorgänge wie Arztbesuche und Rezepte pro Jahr zu kontrollieren und zu verwalten, deshalb sei ein privater Vermittler notwendig.

Dieser Entwurf hat auch die erste Krise im Kabinett verursacht, denn Alejandro Gaviria, zwischen 2012 und 2018 Gesundheitsminister und heute Bildungsminister unter Petro, hat in zwei vertraulichen Dokumenten die Reform unter scharfe Kritik gestellt. Diese Dokumente wurden geleakt, was das Misstrauen des Präsidenten Gaviria gegenüber weckte. Am 27. Februar, nach etwa einem Monat Krise, kündigte Petro den Rücktritt Gavirias an. Auch die geplante Rentenreform hat zu Konflikten zwischen dem Präsidenten und seinem Finanzminister José Antonio Ocampo geführt. Die Dissonanz beruht darauf, dass Petro will, dass nur Personen mit hohen Einkommen privat für ihr Alter sparen. Ocampo hingegen ist der Meinung, dass individuelles Sparen nicht zu sehr eingeschränkt werden sollte. Laut Ocampo könnten durch die Gesetzesänderung und den Wegfall ihrer jetzigen Klient*innen, die Privatfonds gefährdet werden. Nicht zu vergessen ist hierbei, dass die privaten Rentenfonds zu den größten Kreditgebern des Staates gehören. Petro und Ocampo sind sich jedoch darin einig, dass Geringverdiener*innen in einem öffentlichen und solidarischen Rentensystem besser geschützt wären.

Es wird Regierbarkeit benötigt, aber es ist Wahlzeit

Petro plant, dieses umfangreiche Reformpaket vor Mitte des Jahres zu verabschieden. Aber die Kongresskoalition, die er zu Beginn seiner Regierung aufgebaut hat und die sich gegen die extreme Rechte durchsetzen konnte, besteht nicht nur aus Sympathisant*innen. Auch die Konservativen und die Liberalen gehören dazu: etablierte Parteien, die bis zum letzten Jahr auf einer anderen Seite als Petro standen. Diese fragile Allianz scheint zuweilen zu schwanken. Einerseits hat die Konservative Partei eine neue Führung gewählt: Efraín Cepeda, der ein harter Kritiker von Petro war. Andererseits hat der Präsident der Liberalen Partei, Cesar Gaviria, ein umfangreiches Dokument veröffentlicht, in dem er das von der Regierung vorgeschlagene Reformpaket kritisiert.

Vielleicht liegt hier der Grund, warum die Regierung es mit ihrem Reformpaket so eilig hat: Sie will um jeden Preis vermeiden, dass die Debatten im Kongress mit den im August beginnenden Wahlkämpfen zusammenfallen. Im Oktober 2023 werden in ganz Kolumbien Bürgermeister*innen und Gouverneur*innen gewählt. Es ist vorhersehbar, dass die Parteien der Koalition versuchen könnten, sich im Wahlkampf voneinander abzugrenzen, um ein gutes Ergebnis bei den Wahlen zu erzielen.

Laut Umfragen verliert Petro an Popularität, da im Februar nur noch 39 Prozent der Kolumbianer*innen seine Regierung unterstützten, während es im Oktober noch etwa 51 Prozent waren. Wenn die Beliebtheit von Petro weiter sinkt, ist ungewiss, was für seine Koalitionsparteien wie die Konservativen und die Liberalen wichtiger ist: die Zukunft der Reformen oder sich von der Regierung zu distanzieren, um bei den lokalen Wahlen im Oktober gut abzuschneiden.

Bei all diesen Risiken ist es immer noch zu früh, zu beurteilen, was mit den geplanten Reformen passieren wird. Bisher hat die Regierungskoalition in den vergangenen Monaten trotz schlechter Aussichten solide Mehrheiten für andere wichtige Gesetze sichern können, wie zum Beispiel beim „Gesetz des totalen Friedens” (LN 584) und für eine progressive Steuerreform. Schon bald wird der Ball erneut auf Seiten des Kongresses sein. Dort scheint es ein grundsätzliches Verständnis für die Notwendigkeit der Reformen zu geben. So hat es zumindest der Präsident des Kongresses, Roy Barreras, deutlich gemacht, indem er sagte, dass die Reformen verabschiedet werden müssen¸ weil „der Wandel nicht aus Reden besteht, Wandel besteht aus Reformen.“ Sicher ist eines: Zum Erfolg der Reformen wird Petro jetzt – mehr denn je – sein kompromissbereitestes Gesicht zeigen müssen.


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„DEN ORT WIE EINE FLUSSMÜNDUNG GESTALTEN“

Im März findet zum sechsten Mal die „Fiesta de la lectura y de la escritura del Chocó“ (Fest des Lesens und des Schreibens des Chocó, FLECHO) statt. Worum geht es da?

Wir haben FLECHO 2018 ins Leben gerufen, weil wir eine Buchveranstaltung in Quibdó, der Hauptstadt des Chocó, haben wollten, die für alle offen ist. So etwas gab es vorher nicht. Wir wollten, dass der Chocó als Ort der Begegnung, des Wortes, der Kunst und der Kultur positiv wahrgenommen wird. Es geht dabei um das Recht auf Lesen. Auf dem Festival soll das Leben gefeiert werden, gemeinsam Gesellschaft geknüpft werden. Dieses Jahr werden wir uns mit Migration beschäftigen, einem Thema, das viel mit uns zu tun hat: mit den freiwilligen und unfreiwilligen Migrationsbewegungen, die wir erlebt haben, aber auch mit den biologischen Migrationen der Artenvielfalt, die uns umgibt und durchzieht.

In deinem Buch Aguas de Estuario (Mündungsgewässer), das 2020 erschienen ist, identifizierst du dich stark mit dem Pazifik. Du benutzt das Bild des Salzwassers, das gegen das Süßwasser drückt, um eine Art hybriden Raum zu schaffen. Wenn du der Pazifik bist, was sind dann diese Flüsse?

Davon gibt es sehr viele. Es gibt zum Beispiel einen sehr starken Fluss, der mit meiner Ausgrenzung und der kollektiven Ausgrenzung zu tun hat. Ich spreche kein Englisch. Und ich weiß, dass das daran liegt, dass ich als Afrofrau aus dem Chocó nie eine Schule besuchen konnte, in der ich Zugang zu einer guten Ausbildung gehabt hätte. Aber es gibt auch den Pazifik: Die Tatsache, dass mein Mann damit einverstanden ist, dass ich für ein halbes Jahr weggehe, um Englisch zu lernen, weil wir glauben, dass das für meine Arbeit als Schriftstellerin und Kulturmanagerin wichtig ist. Das ist der Pazifik, der gegen die Ausgrenzung anrollt. Ein anderes Beispiel ist unsere Arbeit mit MOTETE. Wir arbeiten mit Literatur, obwohl die Stereotypen uns auf die Arbeit mit Tanz und Musik reduzieren – auf die Körperlichkeit und die Mündlichkeit. Wenn man sich entscheidet, eine Kultur zu fördern, die normalerweise nicht mit der Afrobevölkerung in Verbindung gebracht wird, dann ist das der Pazifik, der gegen einen anderen Fluss ankämpft.

Was passiert, wenn der Pazifik auf diese Flüsse der Ausgrenzung trifft?

Wir werden von vielen Dingen erdrückt. Deshalb müssen wir versuchen, die Flüsse, die immer in diese Richtung geflossen sind, zurückzudrängen. Das bedeutet, dass wir diesen Ort wie eine Flussmündung gestalten: manchmal dunkel, manchmal transparent, manchmal schlammig, aber immer voller Leben. Hier wird viel Leben geboren. So wird dieser Ort, der so unbestimmt, so ungewiss, so gefährlich ist – denn er ist gefährlich und hat mit Strömungen zu kämpfen –, dieser Ort, von dem man nicht weiß, ob er süß oder salzig ist, zu einem fruchtbaren Ort.

Welche Autor*innen gibt es noch im Chocó, der für Literatur ja gar nicht bekannt ist?

Derzeit wird eine Bibliothek der kolumbianischen Literatur von Frauen erstellt, das ist sehr wichtig. Da wurden unter anderem Teresa Martínez de Varela mit Mi Cristo negro und meine Freundin Yihan Rentería Salazar aufgenommen. Sie erzählen von der Region Chocó aus. Ihre Stimmen sollten bekannter werden. Auch die Erzählungen von Carlos Arturo Truque, die in der Afrokolumbianischen Bibliothek erschienen, sind meiner Meinung nach nicht bekannt genug. Es gibt einen Roman mit dem Titel La hija del aguijón, geschrieben von Eyda María Caicedo, die jung verstarb. Es gibt noch andere Leute im Chocó, die im Selbstverlag publiziert haben. Ich schätze es sehr, dass César Rivas Lara oder Ana Gilba Ayala niemanden um Erlaubnis fragen, bevor sie veröffentlichen.

Woran liegt es, dass Literatur aus dem Chocó weniger bekannt ist?

Der kolumbianische Literaturbetrieb ist sehr geschlossen. Wir haben im Chocó mit großen Nachteilen zu kämpfen, zum Beispiel gibt es kein Literaturprogramm, es gibt keine Kunstfakultät, und das hat direkte Auswirkungen auf die Ausbildung neuer Autor*innen. Um gegen diese Strömungen anzukämpfen muss man so sein wie der Pazifik – sich einen Platz im Literaturbetrieb erkämpfen und die Entscheidung treffen, Schriftsteller zu werden. Es ist sehr schwer für uns, diesen Weg zu gehen, und ich bin sehr glücklich darüber, dass ich es geschafft habe.

Vor Kurzem habe ich in der Zeitschrift 070 einen Artikel mit dem Titel „Racismo en Esta herida llena de peces“ („Rassismus in Esta herida llena de peces“, Anm. d. Red.) veröffentlicht. Über den Rassismus in einem Roman zu sprechen, der bei Angosta Editores, einem sehr wichtigen Verlag in Kolumbien, erschienen ist, bedeutet: Das zu riskieren, was man sich aufgebaut hat – ein weiterer mächtiger Fluss, gegen dessen Strömung man anschwimmen muss. Zu sagen: „Dieser Roman handelt vom Chocó, und ich muss es sagen: Er ist rassistisch“, ist ein Drahtseilakt. Ich muss abwägen: Welchen Weg will ich im Literaturbetrieb dieses Landes einschlagen, wie will ich mich positionieren. Schweigen und den Kopf einziehen, um nicht rausgeschmissen zu werden? Es war entlarvend für mich, dass ich den Artikel an ein sehr wichtiges Medium geschickt hatte, das zunächst zusagte, sich dann aber nicht mehr meldete und den Artikel nie veröffentlichte. Zum Glück waren die Leute von 070 absolut offen.

Manchen gilt der Pazifik als Symbol für bestimmte Bevölkerungsgruppen. Was sagst du dazu?

In meiner vorherigen Antwort habe ich von Autoren aus dem Chocó gesprochen, weil ich glaube, dass diese Vorstellung vom Pazifik gefährlich ist. Sie verleitet uns dazu, eine Region über einen Kamm zu scheren, die sehr vielfältig ist. Das Cabo Corrientes als wichtiges geografisches Merkmal des Pazifiks zeigt, dass man nicht alles über einen Kamm scheren kann. Vom Cabo Corrientes aufwärts ist der Pazifik völlig anders als vom Cabo Corrientes abwärts. Das zeigt sich zum Beispiel in den gastronomischen Gepflogenheiten, in der Art zu sprechen, in der Musik und in vielen anderen Dingen. Die Menschen von der Pazifikküste sind ganz anders als die Menschen im Landesinneren, etwa am Fluss San Juan, am Fluss Atrato oder an der Karibik. Die Idee des Pazifiks ist eine weitere Vereinfachung aus dem Zentrum des Landes, eine so absurde Vereinfachung, dass sogar Cali darunter gefasst wird.

Was kann man dem entgegensetzen?

In einem Artikel der spanischen Tageszeitung El País werde ich als einzige lebende Afroschriftstellerin dargestellt, alle anderen seien Mestizos und Mestizas. Ich respektiere die dort Genannten sehr, einige von ihnen liebe ich von ganzem Herzen. Aber ja, sie sind zweifellos Mestizos und Mestizas. Ihre Romane sind sehr unterschiedlich, was den Sprechort der Protagonist*innen und die Figuren angeht. Ich finde, darin liegt ein Reichtum. Aber es sind ganz andere Stimmen als meine. Es geht mir nicht darum, die eine über die andere zu stellen. Ich glaube auch nicht, dass wir nur über uns selbst sprechen können. Aber es muss eine größere Vielfalt geben, das würde die Perspektiven bereichern. Ich versuche, Verallgemeinerungen über den Pazifik zu vermeiden, weil sie ein großes Risiko bergen. Zwar gibt es auch ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass dieses Gebiet, das nicht erzählt wurde, erzählt werden muss. Und es gibt einen Markt dafür. Und deshalb entstehen Dinge wie Esta herida llena de peces. Dabei ignorieren wir unsere Unfähigkeit, die Art und Weise zu hinterfragen, wie wir die anderen erzählen. Ich glaube nicht, dass man nur über sich selbst schreiben kann, man kann auch von anderen erzählen. Aber man muss in der Lage sein, sich zu fragen, wie man von diesem Anderen erzählt, und das ist vielleicht das Wichtigste bei dieser Übung, vom Pazifik zu erzählen. Wer schreiben will, soll es tun! Darum geht es in der Literatur, um Freiheit, aber es ist wichtig, dass wir uns fragen, wie wir vom Anderen erzählen, insbesondere von einem rassifizierten Anderen und einem ausgeschlossenen Anderen.

In deinem Buch benutzt du oft den Begriff des Glücks. Wie steht es heute um das Glück der Flussmündung?

Vergangene Woche bin ich aufgestanden und das erste, was ich las, war, dass zwei junge Frauen in Quibdó ermordet worden waren, ganz in der Nähe unserer Bibliothek. In meinem Dorf ermordeten Paramilitärs einen Schizophrenen, weil sie beschlossen, dass sie keine „Verrückten“ im Dorf haben wollten. In demselben Park, in dem wir das FLECHO-Festival veranstalten, haben sie um sechs Uhr abends zehn Mal auf ihn geschossen.

Gleichzeitig ist MOTETE größer geworden, hat ein wunderbares Arbeitsteam, Pläne und Verbündete. Alles, was wir tun, tun wir inmitten eines Departamento, das von der verstärkten paramilitärischen Gewalt zerrissen wird. Und man fragt sich: Was mache ich? Gebe ich mich der Trauer und dem Schmerz hin oder gebe ich mich dem Leben in einer Blase hin, um diesem Schmerz nicht begegnen zu müssen? Der Weg ist die Flussmündung. Oder, wie eine mit mir befreundete Lesefördererin sagte: „Ich habe verstanden, dass es kein Paradies ohne Schlangen gibt.“


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VIER FRAUEN, EIN GEMEINSAMER KAMPF

Gerechtigkeit Protestaktion von Me Muevo Por Colombia gegen die Kriminalisierung der ermordeten Mile Martin (Foto: Me Muevo de Colombia)

Während eines dreitägigen Mexikobesuches im September dieses Jahres traf sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier unter anderem mit Müttern von Verschwundenen. Zu ihnen gehört auch Ana* aus Honduras. Sie ist seit 2012 in Mexiko, um ihren Sohn Óscar Antonio López Enamorado zu finden, der im Jahr 2010 in Jalisco verschwunden ist. Er gehört zu über 100.000 Menschen, die in Mexiko offiziell vermisst werden.

Amtliche Zahlen über gewaltsam verschwundengelassene Migrant*innen existieren nicht. Während nach Angaben des Nationalen Registers verschwundener und vermisster Personen (RNPDNO) 2.414 Einwander*innen als vermisst gelten, geht die zivilgesellschaftliche Organisation Movimiento Migrante Mesoamericano von 80.000 Migrant*innen aus, die in Mexiko verschwunden sind.

Wie die Deutsche Menschenrechtskoordination Mexiko in einer Presseerklärung zur Reise von Bundespräsident_Steinmeier kritisiert, stehe die mexikanische Politik und Gesellschaft noch immer vor denselben Herausforderungen wie vor Ló-pez Obradors Amtsantritt im Jahr 2018. Denn obwohl die Regierung die Menschenrechtskrise anerkannt und Reformprozesse eingeleitet hat, fehle der Wille zur konsequenten Umsetzung von Gesetzen. Aus diesem Grund setzt auch Ana bei der Suche nach ihrem Sohn nicht auf die mexikanische Regierung, sondern vor allem auf eigenen Aktivismus. In ihrem täglichen Kampf um Antworten hat sie schon an zahlreiche Türen staatlicher Institutionen geklopft, Suchaktionen gestartet, Berichte verfasst und Anzeigen gestellt. Da sich die Mühlen der mexikanischen Bürokratie nur sehr langsam drehen, Verschwundene aber so schnell wie möglich gefunden werden sollen, hat sich die Honduranerin mit anderen Aktivist*innen zusammengeschlossen und das Netzwerk Red Regional de Familias Migrantes gegründet.

Gemeinsam mit dieser Gruppe unterstützt Ana andere Mütter dabei, ihre verschwundenen Angehörigen in Mexiko zu finden. Hierfür organisieren sie Demonstrationen, errichten und pflegen Denkmäler, starten Petitionen, halten Reden, geben Präventionsworkshops und bauen ein internationales Netzwerk auf, um sich weltweit gegen das Verschwindenlassen von Migrant*innen einzusetzen. Im Gespräch erläutert Ana ihre Devise klar und deutlich: „Nicht schweigen. Weiterhin unsere Stimme erheben. Diese untätigen Behörden weiterhin entlarven. Weiterhin die Familien begleiten. Sobald etwas passiert, weiterhin berichten, was passiert und nicht nachlassen. Mit dem Kämpfen nicht ruhen. Mit anderen Worten: Wir müssen hartnäckig sein, wir müssen eigensinnig sein, damit dies ein Ende hat. Denn wenn wir ruhig und passiv bleiben, wird nichts passieren“. Dass man selbst etwas tun muss, um Veränderungen zu bewirken, weiß auch Yarima. Sie stammt aus Kolumbien und ist zum Studieren nach Mexiko gekommen. Yarima ist Mitbegründerin des Kollektivs Me Muevo por Colombia. Die Gruppe besteht vor allem aus Frauen und Studierenden.

Die massive Protestbewegung der Bauern und Bäuer*innen 2013 in Kolumbien war damals der Ausgangspunkt für die Gründung des Kollektivs. Yarima hat sich daraufhin mit anderen Personen aus Kolumbien in Mexiko zusammengeschlossen, um sich mit den sozialen Bewegungen für den Frieden und gegen die sozialen Ungleichheiten in ihrem Herkunftsland zu solidarisieren.

Seit 2015 ist das Kollektiv auch gegen Feminizide an kolumbianischen Frauen in Mexiko politisch aktiv. In Mexiko werden täglich im Durchschnitt zwischen zehn und elf Frauen Opfer von Feminiziden, also geschlechtsspezifischen Morden. Bezogen auf die Feminizide an kolumbianischen Frauen erzählt Yarima, dass deren Kriminalisierung und Diffamierung durch die Medien und das Justizsystem ein großes Problem darstellt: „Eine Frau kolumbianischer Herkunft wird in Mexiko ermordet – und das Justizsystem, das für Gerechtigkeit sorgen sollte, kriminalisiert und reviktimisiert sie im Einvernehmen mit den Medien. Das ist ein Muster, das wir in mehreren Fällen beobachtet haben. Informationen über den Fall werden an die Boulevardpresse weitergegeben, die versucht, der Frau die Schuld an ihrem Tod zu geben. Diese Presse informiert falsch über Aspekte ihres Lebens. Dies dient dazu, sie zu diskreditieren und nicht zu ermitteln. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Arbeit der Frau oder verwendet die traditionelle Art, von Feminiziden abzulenken, indem sie Geschichten über Drogen und Alkohol erfindet“, erklärt Yarima. Vor allem bei Sexarbeiter*innen komme diese Herabwürdigung vor.

Zwischen zehn und elf Frauen werden in Mexiko täglich Opfer von Feminiziden

Anfangs hatte das Kollektiv es vermieden, sich öffentlich über solche Themen in Mexiko zu äußern, da der Verfassungsartikel 33 Ausländer*innen verbietet, sich in die politischen Angelegenheiten des mexikanischen Staates einzumischen. Doch weil immer mehr Fälle von Feminiziden an kolumbianischen Frauen in Mexiko an sie herangetragen wurden, entschieden sie, sich öffentlich dazu zu positionieren. „Es ist ein Thema, das uns betrifft, weil wir in Mexiko leben. Als Frauen müssen wir uns damit in Mexiko auseinandersetzen, da es sich um eines der gewalttätigsten Länder der Welt handelt. Als Kolumbianerin kommt dann noch die Last der Diskriminierung hinzu; Fremdenfeindlichkeit und Ungerechtigkeit“, sagt Yarima.

Diese Problematik hat Yarima und ihre Mitstreiter*innen auf die Straßen bewegt. Seit jeher gehen sie gegen die Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen vor. Das Kollektiv organisiert Demonstrationen, die Fälle von Diffamierung und Kriminalisierung von immigrierten Kolumbianer*innen bei mexikanischen Behörden melden oder die kolumbianische Botschaft zum Handeln auffordern. Dabei überschneidet sich der Aktivismus von Yarima und dem Kollektiv Me Muevo por Colombia mit vielen Forderungen der mexikanischen feministischen Bewegung, die sich für ein Leben ohne Gewalt gegen Frauen und Mädchen einsetzt. Aus diesem Grund sind bei Protestaktionen oft auch mexikanische Aktivist*innen dabei.

„Wenn wir ruhig und passiv bleiben, wird nichts passieren“

Die von Yarima beschriebene strukturelle Diskriminierung gegen Migrant*innen geht auch von anderen staatlichen Institutionen aus. Insbesondere stehen das Nationale Migrationsinstitut (INM) und die Nationalgarde wegen Menschenrechtsverletzungen in der Kritik. Beide Institutionen werden von der aktuellen Regierung zur Unterbindung der irregulären Migration eingesetzt. Allein im Jahr 2021 gingen bei der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) 1.239 Beschwerden gegen das INM ein. Unter anderem wurde dem Institut vorgeworfen, Migrant*innen erniedrigend zu behandeln, Personen willkürlich zu inhaftieren oder sie einzuschüchtern. Zivile Menschenrechtsorganisationen gehen allerdings von einer weitaus höheren Dunkelziffer aus, da viele Migrant*innen aus Angst vor negativen Folgen keine Beschwerden einreichen.

Yesenia (alias Tuty) aus El Salvador kennt diese Diskriminierungen bei Behördengängen nur zu gut und setzt sich als Privatperson für andere Migrant*innen ein. Sie ist alleinerziehende Mutter von drei Kindern und lebt seit 32 Jahren in Mexiko. Nachdem Yesenia ihr Jurastudium in Mexiko absolviert und nun durch ihre Arbeit in einem Rathaus in Mexiko-Stadt ein festes Einkommen hat, hilft und begleitet sie in ihrer Freizeit ehrenamtlich andere Personen aus Zentralamerika und Südamerika bei juristischen Angelegenheiten. Dazu gehören unter anderem die Regularisierungsprogramme für einen Aufenthaltstitel (Regierungsprogramm zur Legalisierung des Aufenthaltsstatus, Anm. d. Red.) oder Registrierungen von in Mexiko geborenen Kindern. Da sie selbst während ihres Regularisierungsverfahrens Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Herkunft und ihrer Hautfarbe durch INM-Beamt*innen erfuhr, will sie nun anderen helfen: „Ich tue es, weil ich nicht will, dass sie leiden. (…) Weil ich gelitten habe, möchte ich allen anderen helfen“. Einmal wurden Yesenia die Antragspapiere vor die Füße geworfen – sie solle sich keine Hoffnung auf eine Aufenthaltserlaubnis machen, denn sie sei weder blond noch weißhäutig.

Yesenias Solidarität mit Personen, die nach Mexiko kommen, geht so weit, dass sie oft Unbekannte bei sich übernachten lässt. Es sind meistens Familien, die in keiner Herberge für Migrant*innen unterkommen konnten und sonst auf der Straße hätten schlafen müssen. „Meine Kinder haben schon vorgeschlagen, unsere Wohnung in Herberge Tuty umzubenennen“, scherzt Yesenia. Migrant*innenherbergen werden in Mexiko zum größten Teil von zivilgesellschaftlichen Organisationen verwaltet. Sie unterstützen Migrant*innen, indem sie unter anderem Unterkunft, Essen, Kleidung, aber auch Rechtsbeistand und medizinische Hilfe anbieten. Doch oft sind diese Einrichtungen überbelegt, nicht jede Person kann bleiben. Bei Yesenia haben deswegen schon einige Migrant*innen eine warme Mahlzeit und einen Platz zum Schlafen bekommen.

Yesenia solle sich keine Hoffnung auf eine Aufenthaltserlaubnis machen, sie sei weder blond noch weißhäutig

Obwohl die Diskriminierung von Migrant*innen ein weit verbreitetes Problem ist, betonen Ana, Yarima und Yesenia, dass sie auch Mexikaner*innen kennen, die hilfsbereit und solidarisch sind. Die Venezolanerin Andrea, die vor sieben Jahren mit ihrem Sohn nach Mexiko kam, will sich deshalb mit ihrem sozialen Aktivismus für diese Unterstützung bei der mexikanischen Gesellschaft bedanken. Wie die anderen Frauen hat sie sich im Land ein neues Leben aufgebaut: „Mir geht es jetzt gut und deswegen wollte ich anderen helfen, die weniger haben. Es ist eine Gelegenheit, sich für die Möglichkeiten, die wir hier bekommen haben, dankbar zu zeigen. Außerdem geht es darum, sich gegenseitig zu unterstützen, damit die schwierigen Zeiten nicht so unangenehm sind“.

Spieltag mit der Gruppe Venezolanos al Rescate (Foto: Venezolanos Al Rescate)

Mit anderen Venezolaner*innen hat Andrea 2018 die Gruppe Venezolanos al Rescate gegründet. Gemeinsam unterstützen sie in Mexiko vor allem Kinder und Familien in armen Verhältnissen. Denn laut dem mexikanischen Rat für die Bewertung der sozialen Entwicklungspolitik (CONEVAL) leben immer noch 19,5 Millionen Kinder und Jugendliche in Armut. Aus diesem Grund organisiert Andrea mit ihrer Gruppe in abgelegenen Ortschaften zum Kindertag am 30. April Feiern, bei denen sie auch Essen, Kleidung und Spielzeug verteilen. Außerdem verschenken sie zum Schulbeginn Materialien, die zuvor an die Gruppe gespendet wurden. Neben diesen Aktionen, die sich vor allem an Kinder mit mexikanischer Staatsangehörigkeit richten, unterstützt Venezolanos al Rescate auch Personen aus Venezuela: Venezolaner*innen, die in Mexiko bleiben wollen, sich im Transit durch Mexiko befinden oder die in Venezuela leben. So hat die Gruppe aufgrund der humanitären Krise im Land auch schon Pakete mit Medikamenten nach Venezuela verschickt.

Ein Aktivismus, der von Medien kaum beachtet wird

Die vier hier porträtierten Frauen stehen nicht repräsentativ für alle Migrant*innen aus Zentral- und Südamerika in Mexiko. Sie kommen aus verschiedenen Herkunftsländern und haben sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten. Doch ihre Geschichten geben Einblick in einen Aktivismus, der von den Medien kaum beachtet wird. Diese Seite Mexikos, das zum Ankunftsland für Menschen aus Zentralamerika, Südamerika und der Karibik geworden ist, wird selten zum Thema gemacht.

Doch es sind starke Geschichten von Frauen, die anderen Menschen in Mexiko helfen und dafür keinerlei Gegenleistung einfordern. Ana, Andrea, Yarima und Yesenia haben sich unabhängig voneinander organisiert. Doch ihre vielfältigen und solidarischen Formen von Aktivismus haben eine Gemeinsamkeit: Sie alle richten sich gegen Ungerechtigkeiten in Mexiko, die in neoliberalen, patriarchalen und rassistischen Strukturen wurzeln.

* Auf Wunsch der Protagonistinnen und um ihre Sicherheit zu gewährleisten, werden nur die Vornamen verwendet.


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GENOSSIN FRANCIA, PRÄSIDENT PETRO

Gustavo Petro und Francia Márquez Linke Hoffnung für das Land (Foto: Casa Rosada via Wikimedia Commons , CC BY 2.5 AR )

Wird jetzt alles besser in Kolumbien? Mit einem riesigen Volksfest wurde die Amtseinführung der neuen Regierung am 7. August gefeiert. 1819 wurden an diesem offiziellen Feiertag die spanischen Invasoren in der Schlacht von Boyacá geschlagen. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes ist nun ein linkes Bündnis an der Regierung.

Der Sieg von Gustavo Petro und Francia Márquez bei der Präsidentschaftswahl am 19. Juni hat in den emanzipatorischen sozialen Bewegungen Hoffnung geweckt und Euphorie ausgelöst. Tagelang wurde gefeiert, vor allem in den ärmeren Departamentos, wo Petro und Francia bis zu 80 Prozent der Wähler*innen hinter sich haben. Dann begann die Arbeit an einem linken Regierungsprojekt. Bis zum offiziellen Amtsantritt am 7. August wurden Hunderte Treffen mit Vertreter*innen der unterschiedlichen Sektoren durchgeführt, der Regierungsplan ausgearbeitet, Staatsbesuche gemacht.

Parallel zur Hochstimmung macht sich aber auch Angst breit, bis kurz vor der Amtsübergabe wurde sogar vor einem möglichen Staatsstreich gewarnt. Tatsächlich lag die Befürchtung in der Luft, dass Petro oder Márquez ermordet werden könnten. Die neue Vizepräsidentin und Umweltaktivistin hatte erst vor wenigen Jahren einen Anschlag überlebt. Die kolumbianische Rechte betont, dass Gustavo Petro und Francia Márquez bei der Stichwahl mit 50,6 Prozent der Stimmen lediglich einen knappen Sieg gegen den konservativen Rodolfo Hernández (47,2 Prozent) errungen hätten. Aber auch eine andere Lesart ist möglich: Noch nie hat ein Kandidat so viele Stimmen mobilisiert wie Gustavo Petro.

Petro hatte bereits vor vier Jahren als Präsident kandidiert. Seitdem ist viel passiert in dem lateinamerikanischen Land: Die Pandemie hat die Hälfte der Bevölkerung ins Elend gestürzt, 50 Prozent leben unter der Armutsgrenze. Die Gewalt hat zugenommen, Hunderte Aktivist*innen wurden ermordet, der Friedensprozess mit der FARC, der ehemaligen größten Guerillagruppe im Land, kann als gescheitert gelten. Die 2017 gegründete FARC-Partei hat sich bereits mehrmals gespalten, erreichte bei der Parlamentswahl 2018 nicht einmal ein Prozent der Stimmen, 300 ihrer ehemaligen Mitglieder wurden seit der Demobilisierung bereits umgebracht. Die Verhandlungen mit der ELN, der anderen linken Guerilla Kolumbiens, wurden abgebrochen.

Die landesweiten Proteste 2021 haben das Land wochenlang lahmgelegt, bis heute wird mit den Demonstrant*innen verhandelt. Francia Márquez hat damals am Protest teilgenommen und ist nicht nur daher vielen Genoss*innen von der Straße bekannt. Vielleicht überwiegt vor allem wegen ihr die Hoffnung auf bessere Zeiten. Denn der Erfolg geht zu einem großen Teil auf ihr Konto, sie gibt den „Niemanden“ eine Stimme und ein Gesicht, den Millionen von marginalisierten Menschen in Kolumbien.

Kurz vor den massiven Protesten im Mai und Juni 2021 war Francia Elena Márquez Mina noch eine wenig bekannte Schwarze Umweltaktivistin, die meist afrikanische, traditionelle Kleidung trägt, bunte Tücher zum Turban gewickelt um den Kopf, Armreifen aus Perlen und Muscheln. Zum Gruß, beim Sprechen oder Singen hebt sie immer wieder die linke Faust. Jetzt ist sie eine Herausforderung für die traditionelle politische Klasse. Ihr Ziel ist in eigenen Worten, „die hegemoniale patriarchalische Politik zu brechen“. Und tatsächlich hat sie das Potenzial dazu hauptsächlich aufgrund ihrer zutiefst demütigen Haltung gegenüber kollektiven Prozessen. Ihr politischer Leitsatz lautet: „Ich bin, weil wir sind.“

Francia Márquez wurde 1981 geboren und ist in einer kleinen Dorfgemeinschaft mit kaum 100 Einwohner*innen im südlichen Department Cauca aufgewachsen. Das Haus der Familie ist aus Lehm gebaut, ihr Großvater versammelte an den Abenden die Gemeinschaft und galt als ihr Sprecher. In demselben Haus begleitete sie ihre Großmutter im Sterben. Schon als junges Mädchen schürfte sie am Fluss Gold und half beim Anbau von Kaffee, Kochbananen und Yuca. Francia Márquez hat 2021 an den Protesten teilgenommen und ist vielen Genoss*innen von der Straße bekannt.

Das Department Cauca ist eines der gefährlichsten und gewalttätigsten Gebiete des Landes. Allein im Jahr 2021 wurden 70 Menschen aufgrund ihres Aktivismus für den Umweltschutz und die Menschenrechte umgebracht. Schon in ihrer Jugend erkennt Márquez den Zusammenhang zwischen der Zerstörung der Umwelt und der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit in den Bergbaugebieten. 2019 muss die Aktivistin aufgrund von Morddrohungen ihr Dorf verlassen. In Cali trifft sie auf Schwarze Aktivistinnen, die sie in ihrem sozialen Zentrum Casa Chontaduro aufnehmen.

Weniger radikale Linke setzten auf Petro

In diesem neuen Zuhause begegnen ihr zahlreiche Lebensgeschichten, die ihrer eigenen sehr ähneln. „Meine Biografie ist nur deswegen relevant, weil viele das Gleiche durchgemacht haben: Kinderarbeit, von klein an, auf dem Land und im Bergbau, sexueller Missbrauch und Belästigung, sklavenähnliche Arbeitsbedingungen bei reichen Familien.“ Francia hält auch als Vizepräsidentin engen Kontakt zu ihrer Herkunft und zur Bewegungslinken. Ihren Sieg feierte sie in ihrem Wohnviertel in Cali, ohne Sicherheitspersonal und schusssichere Weste. Sie kommt weiterhin zu Veranstaltungen, und am Montag nach der Amtsübergabe hat sie in ihrem Heimatdorf die Einführung gefeiert.

Weniger „radikale“ Linke setzten ihre Hoffnung eher auf Petro, denn er provoziert weniger und versucht, seine Regierung als offen in alle Richtungen zu positionieren. Bei seiner ersten Rede nach der Wahl machte er klar: Der Präsidentenpalast stehe jederzeit auch für die Opposition offen. Er werde auf Versöhnung setzen. So traf er sich nach der Wahl bereits mit seinen politischen Gegner*innen aus dem ultrarechten Lager. Diese gemäßigte Politik passt auf den ersten Blick nicht unbedingt zur Vergangenheit Petros und zur Darstellung seiner Person in den traditionell konservativen Medien. Petro war Mitglied in der M19-Guerilla, und das rechte Lager warnte stets vor seinem Versuch, den Sozialismus einzuführen. Allerdings sind in Kolumbien bewaffnete oppositionelle Gruppen nicht auch selbstverständlich sozialistische Bewegungen. Die M19-Guerilla gehört politisch eher zum sozialdemokratischen Lager. Trotzdem ist seine Vergangenheit in vielen Kreisen ein Stigma.

Francia Márquez gibt den „Niemanden“ eine Stimme

Sein diplomatisches Geschick lässt allerdings erwarten, dass Petro nicht nur zu den emanzipatorischen und fortschrittlichen Regierungen der Region enge Beziehungen aufbauen wird. Bereits in den ersten Wochen nach der Wahl hat er Francia Márquez auf eine Südamerikareise geschickt, auf der sie die Präsidenten und Regierungsmitglieder Argentiniens, Chiles und Boliviens sowie in Brasilien den linken Präsidentschaftskandidaten Luiz Inácio „Lula“ da Silva besuchte. Das Verhältnis zu den USA wird sich sicherlich verändern, denn Petro wird die traditionelle Rolle Kolumbiens in der US-Außenpolitik anfechten: Kolumbien wird nicht weiter der Damm gegen linke Regierungen sein.

Auch für das Nachbarland Venezuela ist die Wahl Petros eine gute Nachricht. Die politische Rechte Kolumbiens war unter anderem am versuchten Putsch in Venezuela 2019 beteiligt, bei dem sich der venezolanische Politiker Juan Guaidó selbst zum Interimspräsidenten ernannte und sogar von der deutschen Bundesregierung anerkannt wurde. Kolumbianische Paramilitärs und Militärs hatten ihn damals unterstützt. Nun werden nach Jahren der Funkstille zwischen Kolumbien und Venezuela die diplomatischen Beziehungen wieder aufgenommen. Der venezolanische Außenminister Carlos Farías und sein zukünftiger kolumbianischer Amtskollege Álvaro Leyva Durán haben dazu bereits Ideen vorgelegt. Der Wirtschaftswissenschaftler Petro wird als erste Priorität eine Reform der Steuer- und Rentenpolitik angehen. Denn das primäre Ziel der neuen Regierung ist die Bekämpfung von Armut und Ungleichheit. Für die ersten 100 Tage kündigte Petro daher bereits konkrete Reformpläne an. Außerdem will die neue Regierung auch das Freihandelsabkommen mit den USA neu verhandeln. Im Wahlkampf hatten Gustavo Petro und Francia Márquez zahlreiche Forderungen der Bewegungen aufgegriffen: Im Zentrum der Wahlversprechen stand der Schutz der Aktivistinnen vor Gewalt und Verfolgung. Seit der Unterzeichnung des Friedensvertrags sind über 900 Aktivistinnen ermordet worden, Kolumbien gilt als eins der weltweit gefährlichsten Länder für die politische Linke. Zudem sollen die Friedensverhandlungen mit der immer noch aktiven ELN-Guerilla aufgenommen und der Friedensvertrag mit der FARC umgesetzt werden.

Zu Petros Wahlversprechen zählen zudem strukturelle Reformen in Polizei und Armee. Die Polizei soll aus dem Verteidigungsministerium ausgegliedert werden. Dies ist vor allem mit Blick auf die Sozialproteste ein wichtiges Thema für linke Bewegungen – alleine bei den Protesten 2021 wurden über 80 Menschen von der Polizei getötet. Bisher wurde niemand zur Rechenschaft gezogen. Bereits vor der offiziellen Amtseinführung hat die neue Regierung aus diesen Wahlkampfversprechen einige konkrete Vorschläge erarbeitet, darunter die Freilassung der politischen Gefangenen, die seit ihrer Teilnahme an den Protesten in Haft sind.

Weniger vielversprechend sieht es in der Klimapolitik aus. Obwohl das Thema im Wahlkampf eine Rolle gespielt hatte, kündigte Petro nun an, vorerst nicht aus dem Kohleabbau auszusteigen. Zwar will er perspektivisch weg von Öl und Kohle, doch wegen des Ukraine-Kriegs steigen derzeit die deutschen Kohleimporte aus Kolumbien wieder an. Und das Entwicklungsland kann es sich nicht leisten, sich dieses Geschäft entgehen zu lassen. So plant die neue Regierung, den Abbau von Bodenschätzen weiterhin zu ermöglichen, allerdings mit sozial- und umweltverträglichen Beschränkungen. Und zumindest die derzeit laufenden Pilotprojekte im Fracking werden ausgesetzt.

Weniger vielversprechend sieht es in der Klimapolitik aus

Außerdem wird in den kommenden Jahren in den Ausbau der sozialen Infrastruktur investiert. Das ist unglaublich notwendig in einem Land, in dem Menschen an heilbaren Krankheiten oder Kleinkinder an Unterernährung sterben. Und bis 2023 werden die öffentlichen Unis keine Einschreibungsgebühr nehmen. Grund zur Freude geben vor allem zwei neue Ministerien: Das Ressort für Gleichstellung wird von niemand geringer als Francia Márquez selbst geführt; sie wird sich um die Rechte von Frauen, LGBTIQ+ und gefährdeten Bevölkerungsgruppen kümmern und für die soziale und wirtschaftliche Gleichstellung ausgegrenzter Teile der Bevölkerung kämpfen. Zudem wird ein Ministerium für Frieden, Sicherheit und Zusammenleben eingeführt.

Das Kabinett der neuen Regierung entspricht Petros integrativem Politikstil. Das Außenministerium geht ans konservative Lager, an die eher liberale Strömung gehen die Ressorts Wohnen und Landwirtschaft. Aus dem eher linken Lager kommen der neue Bildungsminister, der Verteidigungsminister sowie die drei Frauen in den Ressorts Umwelt, Gesundheit und Kultur, María Susana Muhamad von der linken Partei Colombia Humana, Carolina Corcho und Patricia Ariza Flórez aus der Unión Patriótica. Insgesamt gibt Petro mit seinen Ernennungen vielen unterschiedlichen Lagern eine Repräsentation in der Regierung.

Trotz unterschiedlicher Einschätzungen seitens der linken Bewegung wird diese Regierung für mehr Einheit unter den Linken sorgen, für mehr Austausch und direkte Beteiligung vieler marginalisierter und ausgeschlossener Bevölkerungsgruppen. Ihr ständiger Bezug auf Protest und Bewegung, ihre direkten Kontakte zu Aktivist*innen und linken Intellektuellen lassen auf eine wirkliche Veränderung hoffen.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.


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AM ATRATO-FLUSS

Eigenes Rechtssubjekt Der Fluss Astrato und seine Nebenflüsse werden von der Verfassung geschützt – bedroht sind sie trotzdem (Foto: Produce1895 via wikimedia commons , CC BY-SA 4.0 )

Der wichtigste Fortschritt in Kolumbien in Bezug auf Territorium und Autonomie kam mit der politischen Verfassung von 1991, aus der der multiethnische und multikulturelle Staat hervorging. Etwa zwei Jahre später wurde das Gesetz 70 als Instrument zur Anerkennung des Rechts auf kollektives Eigentum erlassen. Das Dekret 1745 von 1995 definiert den Gemeinderat als höchste Instanz für die Verwaltung der Gebiete und die Ausübung der Autonomie.

In Kolumbien sind mehr als 5.000.000 Hektar Land im Kollektivbesitz. In der Praxis garantiert die Anerkennung der Autonomie über die kollektiven Territorien jedoch nicht, dass Gemeinschaften diese auch tatsächlich ausüben können. Der Staat kontrolliert die Gebiete mit militärischen und wirtschaftlichen Mitteln. Bergbau, Erdölexploration und Abholzung wird in Regionen vorangetrieben, die eigentlich der Kontrolle der Gemeinderäte unterlägen. Die Anwesenheit bewaffneter Gruppen hat eine Ausweitung des illegalen Koka-Anbaus, Waffen- und Drogenhandels in den Gebieten zur Folge. Drohungen und Morde gegen Führungspersönlichkeiten der Gemeinschaften nehmen zu.

Ein wichtiger Erfolg zur Ausübung der territorialen Autonomie ethnischer Gemeinschaften in Kolumbien ist auch das Urteil T-622 aus dem Jahr 2016. Vorausgegangen war diesem eine Klage, welche Basisorganisationen aus dem Chocó eingereicht hatten, die sich für die Rechte von afrokolumbianischen, Palenquero- und Raizal-Gemeinschaften einsetzen. Im Urteil erkennt das Verfassungsgericht den Fluss Atrato und seine Nebenflüsse als Rechtssubjekt an.

Weiterhin stellt das Urteil schwerwiegende Verletzungen der Rechte auf Leben, Gesundheit, Wasser und Ernährungssicherheit der Gemeinden im Einzugsgebiet des Atrato und seiner Nebenflüsse fest. Verantwortlich für diese Verletzungen sind laut Urteil staatliche Stellen und der illegale Bergbau.

Da der Atrato-Fluss somit als Rechtssubjekt anerkannt ist, muss der Staat seinen Schutz, die Erhaltung und Instandhaltung sowie Wiederherstellung garantieren. Dafür verantwortlich sind zwei „Wächter“ (guardianes), gestellt von der Regierung und den Gemeinschaften. Sie stehen in direkter Verbindung mit den Basisorganisationen und gemeinsam wurde ein System der Entscheidungsfindung geschaffen, in dem die Organisationen über Autonomie bei der Umsetzung des Urteils sowie einen Mechanismus zur Überwachung und Rechenschaftspflicht der Aktivitäten verfügen.

Trotz der Fortschritte gibt es noch viele Herausforderungen, welche die Anwendung des Urteils erschweren. Nach sechs Jahren sind die Gemeinschaften noch immer mit einer besorgniserregenden Situation aufgrund der vielen Menschenrechtsverletzungen konfrontiert.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.


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„PETRO WILL DAS LAND AUFRICHTEN“

Ist der Friedensprozess in Kolumbien, den die seit dem 7. August amtierende Regierung von Gustavo Petro und Francia Márquez auf den Weg gebracht hat, schon in San José de Apartadó angekommen?
Leider nein. Auf dem Land üben die Paramilitärs, wie unter Petros Vorgänger Iván Duque, weiter die Kontrolle aus. Es ist ein raffinierter und moderner Paramilitarismus, der von Unternehmen eingesetzt wird, um Gebiete zu übernehmen, aber auch von lokalen Regierungen. Dort wird weiter eine Politik zu Gunsten der Unternehmer und Großgrundbesitzer ausgeübt – sie dient nicht dem Allgemeinwohl. So sagen sie zum Beispiel: „Wenn du mir das Land nicht verkaufst, wird es deine Witwe tun.“ Diese verbale und anmaßende Gewalt treibt die Landflucht weiter an. Bisher ist eine Staatsgewalt, die für einen Wandel und Sicherheit sorgen könnte, nicht in den Regionen aufgetaucht. Die immense Korruption in den lokalen Verwaltungen ist ungebrochen und die Paramilitärs bedrohen uns. Wir können uns ohne ihre Erlaubnis nicht in der Region bewegen, sie kontrollieren was angebaut wird, sie kontrollieren einfach alles.

San José de Apartadó hat sich 1997 zu einer Friedensgemeinde erklärt, seitdem wurden mehr als 300 ihrer Mitglieder getötet. Es heißt, die FARC-Guerilla sei für 20 Prozent und das Militär und die Paramilitärs für 80 Prozent der Morde verantwortlich. Sind diese Zahlen valide?
Ja, das kommt in etwa hin. In der Region Urabá im Nordwesten Kolumbiens, wo San José de Apartadó liegt, tobte über Jahrzehnte ein brutaler Konflikt zwischen Militär, Paramilitärs und der FARC-EP – dabei ist zu verzeichnen, dass die klare Mehrheit der Menschenrechtsverletzungen dabei auf das Konto von Militär, Polizei und Paramilitärs geht. Wir sprechen hier nicht nur von Morden, auch Folter und die Praxis des Verschwindenlassens waren keine Seltenheit. Wichtig zu betonen ist, dass Paramilitärs einen großen Anteil hier ausmachen. Sie sind im Auftrag von Unternehmern tätig, um für sie erst Land zu rauben und es anschließend zu sichern. Und die mehr als 300 Morde in den vergangenen 25 Jahren beruhen auf korrekten Angaben – das ist die traurige Wahrheit.

Auf dem Gebiet der Friedensgemeinde sind der Besitz von Waffen, die Weitergabe von Informa-tionen und der Anbau illegaler Pflanzen verboten. Ist mit dem Amtsantritt von Gustavo Petro ein wirklicher Friedensprozess denkbar, auch wenn dessen Ansatz nicht so weitreichend wie der der Friedensgemeinde ist?
Es wurde eine neue Regierung aufgestellt, um Auswege aus den Krisen des Landes zu finden: Die endemische Korruption die Armut und die Gewalt sollen bekämpft werden – das steht an erster und wichtigster Stelle. Dabei sollen die Geschehnisse der Hinterlassenschaften der rechten Regierungen von Álvaro Uribe (2002-2010), Juan Manuel Santos (2010- 2018) und Iván Duque (2018 – 2022) aufgearbeitet und priorisiert werden. Petro geht dabei sehr konsequent vor: Dutzende Generäle mussten ihren Dienst in der Armee bereits quittieren, weil ihnen Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Bei der Kabinettsbildung hat Petro einige bekannte und renommierte Personen ins Verteidigungs-, Außen- oder Agrarministerium berufen. Ihre Verdienste aus der Vergangenheit lassen darauf hoffen, dass sie Kolumbien wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich nach vorne bringen. Das gilt auch für Danilo Rueda, den Friedensbeauftragten. Er war Direktor der ökumenischen Kommission für Gerechtigkeit und Frieden (CIJP), einer Organisation, die sich für die Sichtbarmachung von Menschenrechtsverletzungen im kolumbianischen Konflikt einsetzt. Rueda war oft in unserer Friedensgemeinde. Die Regierung Petro verfolgt offensichtlich gute Absichten. Sie wird allerdings nicht viel Zeit haben, sondern nur vier Jahre. Eine Wiederwahl von Petro ist durch die Verfassung ausgeschlossen. Allerdings kann die Regierung den Anfang für ein anderes Kolumbien schaffen. Besorgniserregend ist allerdings, dass wir bisher nur einen Friedensprozess von oben erleben, unten in den Regionen ist er noch nicht angekommen.

Petro verfolgt einen umfassenden Ansatz für die Umsetzung von Frieden im Land. Das Maßnah-menpaket richtet sich an alle, die einen Verhandlungsprozess mit der kolumbianischen Justiz zur Zerschlagung krimineller Organisationen wünschen. Im Kongress liegt bereits ein Gesetzentwurf für den Umgang mit den Kämpfern der kriminellen Gruppen vor. Wenn sie die Waffen niederlegen und sich stellen, könnten sie demnach mit einer Reduzierung ihrer Strafe um 60 Prozent rechnen und zehn Prozent ihres Vermögens behalten. Eigentlich ein guter Vorschlag, oder?
Der erste wichtige Schritt ist, die bewaffneten Gruppen dazu zu bewegen, darüber nachzudenken, ihre Waffen niederzulegen. Dazu könnte dieses Angebot dienen. Der zweite Schritt wäre, dass der Staat den Demobilisierten Garantien für ein auskömmliches Dasein ohne Waffen verschafft. In der Frage der juristischen Aufarbeitung muss differenziert vorgegangen werden. Diejenigen, unter den Kommandanten, die sich schwere Menschenrechtsverletzungen haben zuschulden kommen lassen – egal ob aus Reihen der Paramilitärs, Militär oder Guerilla – sie müssen Gefängnisstrafen erhalten. Die einfachen Kämpfer nicht, sofern sie nicht an Massakern, Verschwindenlassen und Folter beteiligt waren. Bei der Frage nach Gefängnisstrafen muss sich die Regierung gut überlegen, wie sie es schafft, die Bewaffneten zu überzeugen: Wenn Guerilleros der ELN 30 oder 40 Jahre Haft drohen, werden sie kaum ihre Waffen niederlegen. Es muss eine Perspektive der Reintegration in die Gesellschaft geben. Nach dem Friedensabkommen mit der FARC-EP 2016 wurden ihre Mitglieder in sogenannten Übergangszonen versammelt und sollten dort auf die Wiedereingliederung in die Gesellschaft vorbereitet werden. Das hat aber nur ansatzweise funktioniert, weshalb sich einige ehemalige Kämpfer der FARC wieder zu bewaffneten Gruppen zusammengeschlossen haben.

Bereits zehn Gruppen haben einen einseitigen Waffenstillstand erklärt. Nach Angaben der Denkfabrik Indepaz wollen sich mindestens 22 Gruppen an dem Prozess beteiligen, darunter die ELN, wiederbewaffnete Gruppen der ehemaligen FARC und Banden aus dem Drogenhandel.
Ja, sehr viele haben ihre Bereitschaft bekundet und wenn sie sehen, dass bei den anderen die Demobilisierung und Reintegration gut läuft, werden sie sich auch anschließen. Entscheidend ist, dass die Kämpfer zivile Perspektiven sehen. Sie haben teilweise 30 bis 40 Jahre in der Guerilla verbracht, haben keine Ausbildung und nur gelernt zu kämpfen. Auch die Unternehmen müssen ihrer Verantwortung nachkommen. Bisher weigern sich viele, ehemalige Kämpfer anzustellen, weil sie als Mörder gelten. Die Regierung muss den Friedensprozess behutsam gestalten, es gibt viele Fallstricke.

Mit einer Demobilisierung alleine ist es nicht getan, oder?
Nein. In den Friedensprozess müssen nicht nur die bewaffneten Gruppen einbezogen werden, sondern auch die Gemeinden. Denn paradoxerweise hat bisher die Präsenz bewaffneter Gruppen und der interne Konflikt in manchen Ecken auch dazu geführt, dass bestimmter Raubbau nicht betrieben wurde, weil die Geschäftsgrundlage zu unsicher war. Wenn jetzt bewaffnete Gruppen abziehen, könnte das neuen Bergbauaktivitäten den Weg eröffnen, ohne dass die Interessen der Bewohner auf eine intakte Umwelt berücksichtigt werden. Es wird wichtig sein, dass das im Friedensprozess konkret berücksichtigt wird. Dem rücksichtslosen Profitstreben multinationaler Unternehmen muss Einhalt geboten werden.

Hat sich in ihrer Region durch das Friedensabkommen mit der FARC-Guerilla 2016 etwas verändert?
Die Gewalt ging auch nach dem Friedensabkommen weiter aber jetzt ziehen keine FARC-Kämpfer mehr durch unsere Gegend, sondern nur noch das Militär und das Paramilitär. Ich selbst hatte eine Waffe an meinem Kopf, als fünf bewaffnete Paramilitärs uns am 29. Dezember 2016 überfielen. Zum Glück gelang es Dorfbewohnern, zwei der Männer zu entwaffnen und festzuhalten, die anderen flohen. Wir übergaben die Täter der örtlichen Polizei. Am nächsten Tag wurden sie auf richterliche Anordnung freigelassen. Wir haben in diesen sechs Jahren hunderte Übergriffe durch die Paramilitärs erlitten. Führungspersonen wurden in der Zeit nicht ermordet, aber einzelne Dorfbewohner, die sich gegen das Geschäftsmodell gewehrt haben. Die Paramilitärs bestimmten alles. Erst vor wenigen Tagen wurde ein 19-Jähriger ermordet, der sich Anordnungen der Paramilitärs widersetzte. Wir hoffen, dass der kommende Friedensprozess erfolgreicher verläuft als der derzeitige von 2016. Die Repression ist unter den Paramilitärs noch stärker geworden als zur Zeit der Vorherrschaft der FARC-EP.

Gewalt gibt es auch im Zusammenhang mit dem Drogenhandel. Petro hat einen „Paradigmen-wechsel“ versprochen. Er will den Anbau von Koka ersetzen und das Sprühen mit Glyphosat aus der Luft verbieten. Ist der Drogenhandel unter Kontrolle zu bringen?
Es wird schwer. Petro hat wohl vor, Marihuana zu legalisieren. Bei der Koka-Pflanze, von der Kolumbien der größte Produzent der Welt ist, geht es vor allem um Einkommensalternativen. Wenn die Kleinbauern für andere Agrarprodukte Preise bekommen, von denen sie leben können, werden sie den Kokaanbau herunterfahren, aber derzeit sind Mais, Yucca oder Bananen so gut wie nichts wert. Solange es für Lebensmittel so schlechte Marktpreise gibt, haben die Kleinbauern gar keine andere Option, als vorrangig Koka anzubauen. Zumal es keine Subventionen für Kleinbauern gibt wie in Europa. Wenn die Regierung Programme auflegt, die es den Bauern ermöglichen, umzusteigen, werden sie den Anbau sicher reduzieren. Was nicht funktioniert, ist wie in der Vergangenheit aus der Luft die Kokafelder mit Glyphosat zu besprühen, um den Anbau zu bekämpfen. Das macht die Umwelt kaputt, trifft auch die angrenzenden Felder mit Nahrungsmitteln und hat den Koka-Anbau selbst nie dauerhaft zurückgedrängt. Petro wird da andere Wege gehen, er ist dem Umweltschutz stark verpflichtet. Die Regierung wird sicher auch um finanzielle Hilfen aus dem Ausland ersuchen. Sowohl für den Friedensprozess und die Reintegration der vielen Kämpfer aus den bewaffneten Gruppen als auch für die Substitution des Koka-Anbaus werden viele Mittel benötigt. Petro hat ein armes Land geerbt, das von seinen Vorgängern ausgeraubt wurde.

Wie sehen Sie die USA in diesem Kontext? Ist von der Regierung unter Biden Unterstützung zu erwarten?
Das müssen wir abwarten. In der Vergangenheit hat die US-Regierung die kolumbianischen vor allem mit militärischer Hilfe bei der Bekämpfung des Drogenhandels unterstützt. Kolumbien hat eine hohe Auslandsverschuldung gegenüber den USA aus den Zeiten der rechten Regierungen. Petro hat nun die Beziehungen zu Venezuela wieder aufgenommen. Venezuela ist aber aus Sicht der USA ein Feind. Welchen Weg die USA gegenüber Kolumbien einschlagen werden, ist noch offen. Immerhin hat US-Außenminister Antony Blinken bei einem Treffen mit Petro Unterstützung für dessen umfassenden Ansatz signalisiert.

Petros Reformpläne umfassen eine Steuererhöhung für die wohlhabende Schicht, ein Programm gegen den Hunger und mittelfristig eine Abkehr von Öl und Gas und eine Hinwendung zu erneuerbaren Energien. Am 26. September dieses Jahres gab es die ersten Proteste gegen die Regierung Petro, die von der kolumbianischen Rechten und Geschäftsleuten angeführt wurden. Was glauben Sie, wie stark der Widerstand gegen das fortschrittliche Projekt von Petro sein wird?
Er wird groß sein. Schon jetzt setzen viele Unternehmen ihre Beschäftigten unter Druck, weil ihnen die progressive Steuerreform ein Dorn im Auge ist, deswegen drohen sie mit Entlassungen und versuchen die Beschäftigten gegen Petro aufzubringen. Petros rechter Vorgänger Iván Duque musste seine Steuerreform 2021 wegen der starken Proteste von Gewerkschaften und sozialen und indigenen Bewegungen im ganzen Land zurückziehen. Petros Steuerreform geht zu Lasten der reichen Bevölkerungsschicht und kommt der ärmeren zugute – während Duques Regierung war es genau umgekehrt.

Petros Slogan ist der totale Frieden. Mehr als eine Utopie?
Es ist ein Slogan. Jeder Präsident gibt einen Slogan aus. Petro den des totalen Friedens. Es ist ein Traum. Totalen Frieden gibt es nirgendwo auf der Welt, schon gar nicht in Kolumbien. Aber eine Gesellschaft braucht auch Träume. Petros Traum ist die Befriedung des Landes. Millionen Kolumbianer teilen diesen Traum. In vier Jahren wird er das nicht schaffen können. Er kann Weichen stellen, einen echten Friedensprozess einleiten. Wenn er das nicht schafft, wird er in vier Jahren kritisiert werden. Wieder antreten kann er ja nicht. Kolumbien liegt am Boden und Petro will das Land aufrichten. Er wagt es und macht den Anfang.

Und dann kommt Francia Márquez, seine Vizepräsidentin, als Präsidentschaftskandidatin ins Rennen?
Das kann sein, ich tippe eher auf den Bürgermeister von Medellín, Daniel Quintero. Aber bis dahin ist es noch hin. Petro hat gerade erst seine Amtszeit begonnen. Und er hat den Rückhalt der einfachen Bevölkerung und der Mehrheit der Bevölkerung. Aber in Kolumbien ist Zurückhaltung bei den Prognosen angebracht. Die Gefahr eines Staatsstreichs sollte man nicht unterschätzen. Gerade weil Petro den Militärs, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, den Kampf angesagt hat. Petro ist sehr intelligent, er geht strategisch vor. Das gibt uns Hoffnung.


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// BRUCH NACH 500 JAHREN

Kolumbien erhält am 7. August die erste linke Regierung seiner Geschichte: Dann treten der Ex-Guerillero Gustavo Petro mit seiner afrokolumbianischen Vizepräsidentin Francia Márquez an die Spitze eines Staates und eines Landes, das bisher ungebrochen von der Rechten und der gewalttätigen Rechten kontrolliert wurde. „Der Sieg von Petro und Márquez ist auch das Ergebnis des Kampfes und der Mobilisierung durch die sozialen Bewegungen, insbesondere der afrokolumbianischen und indigenen Bewegungen, die sich seit Beginn des Kolonialismus vor über 500 Jahren zur Wehr gesetzt haben – gegen die rassistische, koloniale und patriarchale Weltordnung.“ Das sagt die afrokolumbianische Wissenschaftlerin Edna Martínez, eine Mitstreiterin von Francia Márquez, im LN-Interview.

Vertreter*innen der sozialen Bewegungen zogen vor der Stichwahl am 19. Juni von Haus zu Haus, um die Menschen von der historischen Chance zu überzeugen. Ihr Argument: Petro ist kein Messias, aber er kann die Weichen für eine sozialere, gerechtere, menschlichere Gesellschaft stellen. Und der Wunsch, einen neuen politischen Kurs einzuschlagen, zeigte sich nicht nur an der höchsten Wahlbeteiligung seit 1998 (57,5 Prozent), sondern auch am Verhalten vieler traditioneller Nichtwähler*innen, die vor Jahrzehnten ihren Glauben an Politik und Institutionen verloren hatten und diesmal, sogar oft zum ersten Mal, wählen gegangen sind.

Seit seiner Wahl ist Petro auf der Suche nach Kompromissen: mit der politischen und ökonomischen Elite des Landes, mit Unternehmer*innen, Großgrundbesitzer*innen und all denjenigen, die über genügend Macht verfügen, um ihm alle möglichen Steine in den Weg legen zu können. Petros Aufgabe ist nicht einfach. Er hat sich bereits mit mehreren führenden Politiker*innen getroffen, unter anderem auch dem Ex-Präsidenten Álvaro Uribe – fraglos einem Kriminellen, aber auch der wichtigste Oppositionsführer –, um im Rahmen seines vorgeschlagenen Acuerdo Nacional gemeinsame Lösungen für die Probleme des Landes zu finden.

Moderat geht Petro auch bei der Besetzung seines Kabinetts vor. Die Fachkompetenz der Mitglieder ist sein Hauptkriterium. Sein Versprechen: ein paritätisches Kabinett. Und er hält Wort. Von den sieben bisher designierten Minister*innen sind vier Frauen.

Der Kurs von Petro steht schon vor der Amtseinführung: Im Land sollen Räume geschaffen werden, um den versprochenen Wandel in Taten umzusetzen. Dem erwartbaren Widerstand der Rechten gegen notwendige Reformen wie die Agrarreform, einer Reform der Streitkräfte und einer Neuausrichtung der Umwelt- und Drogenpolitik soll schon vorab der Wind aus den Segeln genommen werden. Es sind genau diese Themen, die im Bericht der Wahrheitskommission vordringlich erwähnt wurden, der am 28. Juni in Bogotá und am 6. Juli in Berlin der Öffentlichkeit präsentiert wurde.

Derweil steht eine Überarbeitung der deutsch-kolumbianischen Beziehungen an. Im Deutschen Bundestag wurde zwar Anfang Juli erneut beschlossen, den Friedensprozess in Kolumbien stärker zu unterstützen, doch konkrete Verantwortlichkeiten blieben ausgespart. Das gilt auch für einen weiteren Konfliktpunkt: Die deutsche Bundesregierung möchte weiterhin mehr kolumbianische Kohle importieren, um den Verzicht auf russische Kohle zu kompensieren. Die Regierung von Petro hingegen möchte einen neuen Kurs in der Umweltpolitik einschlagen und sukzessive von einer „extraktivistischen“ auf eine produktive Umweltpolitik umsteigen, bei der keine natürlichen Ressourcen ausgebeutet werden. Und kurzfristig sollen die Rohstoffe nicht zu Schleuderpreisen verkauft werden, sondern zu Preisen, die Raum für soziale Umverteilung schaffen. Fraglich, ob diese Pläne beim rohstoffarmen Deutschland auf Gegenliebe stoßen. Nicht nur in Kolumbien, auch in Deutschland sind die sozialen Bewegungen gefordert, damit es mit einer sozial-ökologischen Erneuerung endlich vorangeht.


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HER MIT DEM GUTEN LEBEN

Viele Analyst*innen hatten nach der ersten Wahlrunde behauptet, Petro habe sein gesamtes Potenzial ausgeschöpft. Ein linker Kandidat in Kolumbien könne kaum mit mehr als den in der ersten Runde erhaltenen 8 Millionen Stimmen und dem Rückhalt von 40,3 Prozent der Wähler*innen rechnen. Dennoch gewann Petro in der Stichwahl überraschend 2,7 Millionen dazu und fuhr dadurch mit 50,4 Prozent der Stimmen einen knappen Wahlsieg gegen eine vereinte Rechte ein.

Hernández versuchte dieses Streben nach einem Neuanfang in einem für seine 77 Jahre sehr hippen TikTok-Wahlkampf mit harscher Kritik am Establishment und an Korruption zu verkörpern. Allerdings erschien dieses Versprechen im Vergleich zu Petro und Márquez deutlich unglaubwürdiger. Der in der internationalen Presse oft mit Donald Trump verglichene Hernández war auch wegen eines während des Wahlkampfs laufenden Korruptionsprozesses aus seiner Zeit als Bürgermeister von Bucaramanga aufgefallen. Weitere Skandale betrafen ein Lob für Adolf Hitler als großen deutschen Denker, Schläge gegen einen Abgeordneten der Opposition aus seiner Zeit als Bürgermeister, misogyne und xenophobe Äußerungen über venezolanische geflüchtete Frauen (sie seien „Gebärfabriken armer Kinder”), sowie über Frauen, die im Idealfall nicht arbeiten, sondern zu Hause die Familie versorgen sollen. Nicht zuletzt wird auch seine Weigerung, Petro in einer Debatte vor laufenden Kameras gegenüberzutreten, bei einem großen Teil der unentschlossenen Wähler*innen dafür gesorgt haben, die Eignung des 77-Jährigen anzuzweifeln.

Es wäre verkürzt, den Wahlerfolg Petros lediglich mit der Schwäche seiner Gegner zu erklären. Zwar ist die Rechte durch die laufenden Prozesse gegen Ex-Präsident Álvaro Uribe und eine negative Regierungsbilanz des Amtsinhabers Iván Duque geschwächt. Entscheidend für den Wahlsieg Petros waren allerdings − ähnlich wie in Chile − die vorangegangenen Proteste im November 2019 und April und Mai 2021. Die paros nacionales (dt. Generalstreiks) richteten sich gegen die neoliberale Austeritätspolitik der Duque-Regierung, darunter die höhere Besteuerung der Mittel- und Unterschicht sowie die Reform des Gesundheitssystems nach US-amerikanischem Vorbild. Die monatelangen Proteste wurden mit massiver Polizeigewalt und Militarisierung von Seiten des Staates unterdrückt und veränderten die Stimmung im Land.

„Wie konnten wir erlauben, dass das geschehen ist”

Zusätzlich spielten die besonders durch strukturellen Rassismus und Repression betroffenen Gebiete der Schwarzen und indigenen Bevölkerung eine zentrale Rolle, wie beispielsweise das stark indigen geprägte Valle del Cauca nahe der afrokolumbianisch geprägten Stadt Cali. Die Allianz der Bevölkerung in den von staatlicher Gewalt betroffenen, strukturell benachteiligten urbanen Vierteln und der ländlichen Regionen brachte eine neue Solidarität und neue Diskussionen über die Identität des Landes in Gang. Sinnbildlich dafür waren die in Kolumbien so nie dagewesenen Bilder von gestürzten Statuen von Konquistadoren im ganzen Land und von in Cali einfahrenden, mit der indigenen Wiphala- und Mizak-Flagge geschmückten Bussen voller indigener Demonstrant*innen aus dem Umland.

Die Taktik des linken Wahlbündnisses Pacto Histórico (dt. Historischer Pakt), nicht wie in vergangenen Anläufen grüne oder liberale Vize-Präsidentschaftskandidat*innen zu berufen, erwies sich als Erfolgsrezept. Durch die Wahl von Francia Márquez, einer afrokolumbianischen Umweltaktivistin und ehemaligen Goldminenarbeiterin und Hausangestellten, die bei den Abstimmungen innerhalb des Pacto Histórico den zweiten Platz belegt hatte, schaffte es das Bündnis, einer bisher kaum auf nationaler Ebene präsenten Schicht eine Stimme zu verleihen.

Der Wahlsieg steht für viele im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung

So betonte Márquez in der Wahlnacht in ihrer Ansprache, in Anspielung auf Martin Luther Kings I-Have-a-Dream-Rede, dass sie davon träume in einem Land zu leben, in dem Frieden herrscht. Ihr Ausspruch „vivir sabroso” (dt. etwa „gehaltvoll leben“) beschreibt nämlich nicht – wie von Gegner*innen oft behauptet – ein Leben mit Geld, sondern steht sinnbildlich für ihren Traum eines Lebens ohne Angst und eines Kolumbiens, in dem niemand wegen seiner politischen Ansichten in Gefahr lebt. Es ist dieser Traum einer sanften Politik der Versöhnung, der sich nach den jahrelangen Kämpfen und der exzessiven Repression der letzten Jahre mit allein 154 ermordeten sozialen Aktivist*innen im vergangenen Jahr und 80 Toten durch Polizeigewalt während der Proteste, für viele Menschen in Kolumbien wie eine Umarmung voller Hoffnung anfühlt.

Wie sehr die Gewalt das Land in den letzten Jahren geprägt hat, wurde zwei Wochen nach der Wahl im Abschlussbericht der Wahrheitskommission deutlich. „Wie konnten wir erlauben, dass das geschehen ist. Und wie können wir es wagen, es weiterhin zuzulassen”, kommentierte der Vorsitzende der Wahrheitskommission Francisco de Roux die Veröffentlichung des Berichts. 450.664 Tote insgesamt, davon der größte Anteil durch die dem Staat nahestehenden rechten Paramilitärs, waren die Bilanz aus über 60 Jahren Bürgerkrieg in Kolumbien.

Der Sieg Petros und Márquez’ ist angesichts der Geschichte und des Zulaufs von 2,7 Millionen Stimmen zwischen der ersten und der zweiten Wahlrunde nur dadurch zu verstehen, dass sie es geschafft haben ein Angebot zu machen, das sowohl linke als auch liberale Stimmen des Landes vereint. Die Linie, den „Kapitalismus weiterzuentwickeln”, wie es Petro in seiner Rede zum Wahlsieg angekündigt hat, ist aus linker Sicht antikapitalistisch und als Kampfansage an den Neoliberalismus zu verstehen. Gleichermaßen ist sie auch ein Hinweis an Liberale, den Kapitalismus nicht abschaffen zu wollen, sondern ihn ähnlich wie die von den Grünen in Deutschland ausgerufene „sozial-ökologische Transformation” zu reformieren und an neue Herausforderungen sozialer und ökologischer Natur anzupassen. Es bleibt abzuwarten, ob dieser Schachzug, liberale und linke Stimmen zu vereinen, in den nächsten Jahren glücken wird. Zusammen mit dem Freudentaumel des Wahlsiegs und der durchfeierten Wahlnacht, die in den großen Städten des Landes wie ein WM-Sieg gefeiert wurde, ist die mit etwas Skepsis begleitete Hoffnung auf Frieden die vorherrschende Stimmung einer neuen Ära, die in Kolumbien begonnen hat.


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