Ist der Friedensprozess in Kolumbien, den die seit dem 7. August amtierende Regierung von Gustavo Petro und Francia Márquez auf den Weg gebracht hat, schon in San José de Apartadó angekommen?
Leider nein. Auf dem Land üben die Paramilitärs, wie unter Petros Vorgänger Iván Duque, weiter die Kontrolle aus. Es ist ein raffinierter und moderner Paramilitarismus, der von Unternehmen eingesetzt wird, um Gebiete zu übernehmen, aber auch von lokalen Regierungen. Dort wird weiter eine Politik zu Gunsten der Unternehmer und Großgrundbesitzer ausgeübt – sie dient nicht dem Allgemeinwohl. So sagen sie zum Beispiel: „Wenn du mir das Land nicht verkaufst, wird es deine Witwe tun.“ Diese verbale und anmaßende Gewalt treibt die Landflucht weiter an. Bisher ist eine Staatsgewalt, die für einen Wandel und Sicherheit sorgen könnte, nicht in den Regionen aufgetaucht. Die immense Korruption in den lokalen Verwaltungen ist ungebrochen und die Paramilitärs bedrohen uns. Wir können uns ohne ihre Erlaubnis nicht in der Region bewegen, sie kontrollieren was angebaut wird, sie kontrollieren einfach alles.
San José de Apartadó hat sich 1997 zu einer Friedensgemeinde erklärt, seitdem wurden mehr als 300 ihrer Mitglieder getötet. Es heißt, die FARC-Guerilla sei für 20 Prozent und das Militär und die Paramilitärs für 80 Prozent der Morde verantwortlich. Sind diese Zahlen valide?
Ja, das kommt in etwa hin. In der Region Urabá im Nordwesten Kolumbiens, wo San José de Apartadó liegt, tobte über Jahrzehnte ein brutaler Konflikt zwischen Militär, Paramilitärs und der FARC-EP – dabei ist zu verzeichnen, dass die klare Mehrheit der Menschenrechtsverletzungen dabei auf das Konto von Militär, Polizei und Paramilitärs geht. Wir sprechen hier nicht nur von Morden, auch Folter und die Praxis des Verschwindenlassens waren keine Seltenheit. Wichtig zu betonen ist, dass Paramilitärs einen großen Anteil hier ausmachen. Sie sind im Auftrag von Unternehmern tätig, um für sie erst Land zu rauben und es anschließend zu sichern. Und die mehr als 300 Morde in den vergangenen 25 Jahren beruhen auf korrekten Angaben – das ist die traurige Wahrheit.
Auf dem Gebiet der Friedensgemeinde sind der Besitz von Waffen, die Weitergabe von Informa-tionen und der Anbau illegaler Pflanzen verboten. Ist mit dem Amtsantritt von Gustavo Petro ein wirklicher Friedensprozess denkbar, auch wenn dessen Ansatz nicht so weitreichend wie der der Friedensgemeinde ist?
Es wurde eine neue Regierung aufgestellt, um Auswege aus den Krisen des Landes zu finden: Die endemische Korruption die Armut und die Gewalt sollen bekämpft werden – das steht an erster und wichtigster Stelle. Dabei sollen die Geschehnisse der Hinterlassenschaften der rechten Regierungen von Álvaro Uribe (2002-2010), Juan Manuel Santos (2010- 2018) und Iván Duque (2018 – 2022) aufgearbeitet und priorisiert werden. Petro geht dabei sehr konsequent vor: Dutzende Generäle mussten ihren Dienst in der Armee bereits quittieren, weil ihnen Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Bei der Kabinettsbildung hat Petro einige bekannte und renommierte Personen ins Verteidigungs-, Außen- oder Agrarministerium berufen. Ihre Verdienste aus der Vergangenheit lassen darauf hoffen, dass sie Kolumbien wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich nach vorne bringen. Das gilt auch für Danilo Rueda, den Friedensbeauftragten. Er war Direktor der ökumenischen Kommission für Gerechtigkeit und Frieden (CIJP), einer Organisation, die sich für die Sichtbarmachung von Menschenrechtsverletzungen im kolumbianischen Konflikt einsetzt. Rueda war oft in unserer Friedensgemeinde. Die Regierung Petro verfolgt offensichtlich gute Absichten. Sie wird allerdings nicht viel Zeit haben, sondern nur vier Jahre. Eine Wiederwahl von Petro ist durch die Verfassung ausgeschlossen. Allerdings kann die Regierung den Anfang für ein anderes Kolumbien schaffen. Besorgniserregend ist allerdings, dass wir bisher nur einen Friedensprozess von oben erleben, unten in den Regionen ist er noch nicht angekommen.
Petro verfolgt einen umfassenden Ansatz für die Umsetzung von Frieden im Land. Das Maßnah-menpaket richtet sich an alle, die einen Verhandlungsprozess mit der kolumbianischen Justiz zur Zerschlagung krimineller Organisationen wünschen. Im Kongress liegt bereits ein Gesetzentwurf für den Umgang mit den Kämpfern der kriminellen Gruppen vor. Wenn sie die Waffen niederlegen und sich stellen, könnten sie demnach mit einer Reduzierung ihrer Strafe um 60 Prozent rechnen und zehn Prozent ihres Vermögens behalten. Eigentlich ein guter Vorschlag, oder?
Der erste wichtige Schritt ist, die bewaffneten Gruppen dazu zu bewegen, darüber nachzudenken, ihre Waffen niederzulegen. Dazu könnte dieses Angebot dienen. Der zweite Schritt wäre, dass der Staat den Demobilisierten Garantien für ein auskömmliches Dasein ohne Waffen verschafft. In der Frage der juristischen Aufarbeitung muss differenziert vorgegangen werden. Diejenigen, unter den Kommandanten, die sich schwere Menschenrechtsverletzungen haben zuschulden kommen lassen – egal ob aus Reihen der Paramilitärs, Militär oder Guerilla – sie müssen Gefängnisstrafen erhalten. Die einfachen Kämpfer nicht, sofern sie nicht an Massakern, Verschwindenlassen und Folter beteiligt waren. Bei der Frage nach Gefängnisstrafen muss sich die Regierung gut überlegen, wie sie es schafft, die Bewaffneten zu überzeugen: Wenn Guerilleros der ELN 30 oder 40 Jahre Haft drohen, werden sie kaum ihre Waffen niederlegen. Es muss eine Perspektive der Reintegration in die Gesellschaft geben. Nach dem Friedensabkommen mit der FARC-EP 2016 wurden ihre Mitglieder in sogenannten Übergangszonen versammelt und sollten dort auf die Wiedereingliederung in die Gesellschaft vorbereitet werden. Das hat aber nur ansatzweise funktioniert, weshalb sich einige ehemalige Kämpfer der FARC wieder zu bewaffneten Gruppen zusammengeschlossen haben.
Bereits zehn Gruppen haben einen einseitigen Waffenstillstand erklärt. Nach Angaben der Denkfabrik Indepaz wollen sich mindestens 22 Gruppen an dem Prozess beteiligen, darunter die ELN, wiederbewaffnete Gruppen der ehemaligen FARC und Banden aus dem Drogenhandel.
Ja, sehr viele haben ihre Bereitschaft bekundet und wenn sie sehen, dass bei den anderen die Demobilisierung und Reintegration gut läuft, werden sie sich auch anschließen. Entscheidend ist, dass die Kämpfer zivile Perspektiven sehen. Sie haben teilweise 30 bis 40 Jahre in der Guerilla verbracht, haben keine Ausbildung und nur gelernt zu kämpfen. Auch die Unternehmen müssen ihrer Verantwortung nachkommen. Bisher weigern sich viele, ehemalige Kämpfer anzustellen, weil sie als Mörder gelten. Die Regierung muss den Friedensprozess behutsam gestalten, es gibt viele Fallstricke.
Mit einer Demobilisierung alleine ist es nicht getan, oder?
Nein. In den Friedensprozess müssen nicht nur die bewaffneten Gruppen einbezogen werden, sondern auch die Gemeinden. Denn paradoxerweise hat bisher die Präsenz bewaffneter Gruppen und der interne Konflikt in manchen Ecken auch dazu geführt, dass bestimmter Raubbau nicht betrieben wurde, weil die Geschäftsgrundlage zu unsicher war. Wenn jetzt bewaffnete Gruppen abziehen, könnte das neuen Bergbauaktivitäten den Weg eröffnen, ohne dass die Interessen der Bewohner auf eine intakte Umwelt berücksichtigt werden. Es wird wichtig sein, dass das im Friedensprozess konkret berücksichtigt wird. Dem rücksichtslosen Profitstreben multinationaler Unternehmen muss Einhalt geboten werden.
Hat sich in ihrer Region durch das Friedensabkommen mit der FARC-Guerilla 2016 etwas verändert?
Die Gewalt ging auch nach dem Friedensabkommen weiter aber jetzt ziehen keine FARC-Kämpfer mehr durch unsere Gegend, sondern nur noch das Militär und das Paramilitär. Ich selbst hatte eine Waffe an meinem Kopf, als fünf bewaffnete Paramilitärs uns am 29. Dezember 2016 überfielen. Zum Glück gelang es Dorfbewohnern, zwei der Männer zu entwaffnen und festzuhalten, die anderen flohen. Wir übergaben die Täter der örtlichen Polizei. Am nächsten Tag wurden sie auf richterliche Anordnung freigelassen. Wir haben in diesen sechs Jahren hunderte Übergriffe durch die Paramilitärs erlitten. Führungspersonen wurden in der Zeit nicht ermordet, aber einzelne Dorfbewohner, die sich gegen das Geschäftsmodell gewehrt haben. Die Paramilitärs bestimmten alles. Erst vor wenigen Tagen wurde ein 19-Jähriger ermordet, der sich Anordnungen der Paramilitärs widersetzte. Wir hoffen, dass der kommende Friedensprozess erfolgreicher verläuft als der derzeitige von 2016. Die Repression ist unter den Paramilitärs noch stärker geworden als zur Zeit der Vorherrschaft der FARC-EP.
Gewalt gibt es auch im Zusammenhang mit dem Drogenhandel. Petro hat einen „Paradigmen-wechsel“ versprochen. Er will den Anbau von Koka ersetzen und das Sprühen mit Glyphosat aus der Luft verbieten. Ist der Drogenhandel unter Kontrolle zu bringen?
Es wird schwer. Petro hat wohl vor, Marihuana zu legalisieren. Bei der Koka-Pflanze, von der Kolumbien der größte Produzent der Welt ist, geht es vor allem um Einkommensalternativen. Wenn die Kleinbauern für andere Agrarprodukte Preise bekommen, von denen sie leben können, werden sie den Kokaanbau herunterfahren, aber derzeit sind Mais, Yucca oder Bananen so gut wie nichts wert. Solange es für Lebensmittel so schlechte Marktpreise gibt, haben die Kleinbauern gar keine andere Option, als vorrangig Koka anzubauen. Zumal es keine Subventionen für Kleinbauern gibt wie in Europa. Wenn die Regierung Programme auflegt, die es den Bauern ermöglichen, umzusteigen, werden sie den Anbau sicher reduzieren. Was nicht funktioniert, ist wie in der Vergangenheit aus der Luft die Kokafelder mit Glyphosat zu besprühen, um den Anbau zu bekämpfen. Das macht die Umwelt kaputt, trifft auch die angrenzenden Felder mit Nahrungsmitteln und hat den Koka-Anbau selbst nie dauerhaft zurückgedrängt. Petro wird da andere Wege gehen, er ist dem Umweltschutz stark verpflichtet. Die Regierung wird sicher auch um finanzielle Hilfen aus dem Ausland ersuchen. Sowohl für den Friedensprozess und die Reintegration der vielen Kämpfer aus den bewaffneten Gruppen als auch für die Substitution des Koka-Anbaus werden viele Mittel benötigt. Petro hat ein armes Land geerbt, das von seinen Vorgängern ausgeraubt wurde.
Wie sehen Sie die USA in diesem Kontext? Ist von der Regierung unter Biden Unterstützung zu erwarten?
Das müssen wir abwarten. In der Vergangenheit hat die US-Regierung die kolumbianischen vor allem mit militärischer Hilfe bei der Bekämpfung des Drogenhandels unterstützt. Kolumbien hat eine hohe Auslandsverschuldung gegenüber den USA aus den Zeiten der rechten Regierungen. Petro hat nun die Beziehungen zu Venezuela wieder aufgenommen. Venezuela ist aber aus Sicht der USA ein Feind. Welchen Weg die USA gegenüber Kolumbien einschlagen werden, ist noch offen. Immerhin hat US-Außenminister Antony Blinken bei einem Treffen mit Petro Unterstützung für dessen umfassenden Ansatz signalisiert.
Petros Reformpläne umfassen eine Steuererhöhung für die wohlhabende Schicht, ein Programm gegen den Hunger und mittelfristig eine Abkehr von Öl und Gas und eine Hinwendung zu erneuerbaren Energien. Am 26. September dieses Jahres gab es die ersten Proteste gegen die Regierung Petro, die von der kolumbianischen Rechten und Geschäftsleuten angeführt wurden. Was glauben Sie, wie stark der Widerstand gegen das fortschrittliche Projekt von Petro sein wird?
Er wird groß sein. Schon jetzt setzen viele Unternehmen ihre Beschäftigten unter Druck, weil ihnen die progressive Steuerreform ein Dorn im Auge ist, deswegen drohen sie mit Entlassungen und versuchen die Beschäftigten gegen Petro aufzubringen. Petros rechter Vorgänger Iván Duque musste seine Steuerreform 2021 wegen der starken Proteste von Gewerkschaften und sozialen und indigenen Bewegungen im ganzen Land zurückziehen. Petros Steuerreform geht zu Lasten der reichen Bevölkerungsschicht und kommt der ärmeren zugute – während Duques Regierung war es genau umgekehrt.
Petros Slogan ist der totale Frieden. Mehr als eine Utopie?
Es ist ein Slogan. Jeder Präsident gibt einen Slogan aus. Petro den des totalen Friedens. Es ist ein Traum. Totalen Frieden gibt es nirgendwo auf der Welt, schon gar nicht in Kolumbien. Aber eine Gesellschaft braucht auch Träume. Petros Traum ist die Befriedung des Landes. Millionen Kolumbianer teilen diesen Traum. In vier Jahren wird er das nicht schaffen können. Er kann Weichen stellen, einen echten Friedensprozess einleiten. Wenn er das nicht schafft, wird er in vier Jahren kritisiert werden. Wieder antreten kann er ja nicht. Kolumbien liegt am Boden und Petro will das Land aufrichten. Er wagt es und macht den Anfang.
Und dann kommt Francia Márquez, seine Vizepräsidentin, als Präsidentschaftskandidatin ins Rennen?
Das kann sein, ich tippe eher auf den Bürgermeister von Medellín, Daniel Quintero. Aber bis dahin ist es noch hin. Petro hat gerade erst seine Amtszeit begonnen. Und er hat den Rückhalt der einfachen Bevölkerung und der Mehrheit der Bevölkerung. Aber in Kolumbien ist Zurückhaltung bei den Prognosen angebracht. Die Gefahr eines Staatsstreichs sollte man nicht unterschätzen. Gerade weil Petro den Militärs, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, den Kampf angesagt hat. Petro ist sehr intelligent, er geht strategisch vor. Das gibt uns Hoffnung.