DAMALS WIRD HEUTE

Die Rache der Mercedes Lima ist ein Roman, der in die Abgründe von Guatemalas Vergangenheit und Gegenwart blicken lässt. Bis 1996 tobte ein 36 Jahre dauernder Bürgerkrieg. Anhand einer Familiengeschichte beschreibt Arnoldo Gálvez Suárez den Versuch der nächsten Generation die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten.

Die Geschichte beginnt, als Alberto im Supermarkt eine Frau aus seiner Kindheit trifft. Er erkennt sie sofort: Es ist Mercedes Lima, eine ehemalige Studentin seines ermordeten Vaters. Von dem Moment an, in dem er sie anspricht, entwickelt er eine Obsession für sie. Er stellt ihr nach, weil er sie zu den Umständen des Mordes an seinem Vater Daniel Rodríguez Mena befragen will. Alberto ist sich sicher, dass sie etwas darüber weiß, denn kurz nachdem sie damals, vor 25 Jahren, auftauchte, wurde sein Vater auf offener Straße erschossen. Als wollte der Autor beweisen, dass Geschichte sich auch im Kleinen wiederholen kann, stellt sich heraus, dass auch der Vater Daniel ein zwanghaftes Verhalten gegenüber Mercedes Lima entwickelt hatte. Der Geschichtsprofessor war ein gebrochener Mann, er unterrichtete während des Bürgerkriegs an der Universität und beteiligte sich anfangs noch an studentischen Protesten, bis nach und nach alle führenden Köpfe verschwanden und umgebracht wurden. Daniel resigniert, mäandert durch die Gefahren, welchen Intellektuelle in Guatemala damals ausgesetzt waren. Als dann eine seiner Studentinnen verschwindet, mit der er eben noch geschlafen hat, macht sich eine Stimme in seinem Kopf breit: „Tun sie was, Professor!“ Doch er ist unfähig, seiner Ohnmacht etwas entgegenzusetzen oder die Stimme zum Schweigen zu bringen. Stattdessen hält er sich an der Routine fest, bis er eine Studentin kennen lernt, der er endlich einmal helfen kann, es ist Mercedes Lima.

Der Roman erzählt eine fiktive Geschichte innerhalb der harten Realität Guatemalas. Angesichts absurder Gewalterfahrungen scheinen manche Anekdoten wie Übertreibungen im Stil von Quentin Tarantino. Doch sie sind nicht übertrieben. Eine emotionale Distanz fällt deshalb schwer, weil die Schilderungen realistisch sind. Die Personen in dem Roman zu verstehen, „verlangt, eine Lupe auf den Gebrauch und die Mechanismen von Gewalt zu legen“, wie Arnoldo Gálvez Suárez in einem Interview erläuterte.

Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen miteinander. Kapitelweise springt die Erzählung zwischen den Protagonisten Vater und Sohn hin und her. Der Autor lässt die beiden durch ihre inneren Stimmen zu Wort kommen, wodurch wir ihre intimen Gedanken kennenlernen und manchmal auch aushalten müssen. Zuweilen irritiert der Roman mit emotionslosen Erzählungen von Sex, für deren Sinn in der Geschichte Fragezeichen bleiben. Doch Arnoldo Gálvez Suárez versteht es auf außerordentliche Weise, in der Abwechslung von Szenen und Zeitebenen Spannung aufzubauen und macht den Roman durch zahlreiche historische Hintergründe zusätzlich lehrreich.

 

MEIN NACHBAR, DER PARAMILITÄR


Erinnerungen und Schnaps Manche Geschichten erzählen die Bewohner*innen nur leise (Foto: Danilo Garcia)

 

Auf den ersten Blick wirkt der kleine Ort idyllisch. Amalfi, 20.000 Einwohner*innen, im Norden des kolumbianischen Departamentos Antioquia gelegen, ist von grünen Bergen umgeben, an deren Hängen Kaffee angebaut wird und hinter deren Silhouetten die Goldminen liegen. Über die vielen kleinen Straßen drängen sich Fahrräder bis sie an den zentralen Platz gelangen, auf dem Bäume, Bänke, Brunnen, Statuen, Kirche, Restaurants, Cafés und Kneipen zum Verweilen einladen. Amalfi ist belebt, freundlich, geschäftig; hinter den offen stehenden Türen lassen sich die großen Innenhöfe erahnen.

Im Park vor der Kirche steht die Statue eines Jaguars. Eine Hommage an jenen Jaguar, der vor vielen Jahren einst ins Dorf kam und für Unruhe sorgte. Als ihn mutige Amalfitanxs erlegten, wurde ihnen zu Ehren ein großes Fest gefeiert und ein Dorfmythos begründet. Diese Geschichte erzählen sie gerne in Amalfi. Andere nicht.

Jene anderen Geschichten lassen sich zwischen Fahrradklingeln und spielenden Kindern heute nicht erahnen. Nur wer sie kennt, sieht das Dorf mit anderen Augen. So wie Daniela*, 25 Jahre alt, Sozialarbeiterin, geboren in Amalfi und hier aufgewachsen. Sie schiebt ihr Fahrrad, immer wieder bleibt sie kurz stehen, um Menschen zu begrüßen. Als sie am luxuriösesten Haus des Ortes vorbeikommt, flüstert sie den Namen des Paramilitärs, der es gebaut hat. Bis heute wohnt seine Familie dort. Daniela kennt sie – natürlich. Eine ganze Reihe von mächtigen Paramilitärs sind in der circa 20.000 Einwohner*innen zählenden Gemeinde geboren. Unter ihnen die drei Castaño-Brüder, die mit den Autodefensas Unidas de Colombia (AUC, Vereinigte Bürgerwehren Kolumbiens) jene Gruppe gründeten, die für die meisten Massaker im kolumbianischen Bürgerkrieg verantwortlich sind. Doch auch die Brüder „Don Mario“ und „El Alemán“, sowie „Monoleche“ und „Arcángel“ kommen von hier. Namen, die in großen Teilen des Landes Schauer über den Rücken laufen lassen und die wie ein Nebel über dem Dorf von Amalfi liegen.

Wie Daniela haben viele Amalfitanxs Teile ihrer Biographien mit den Para-Kommandanten geteilt: „Ich hab damals als Kind mit den Castaños auf der Straße gespielt“, erzählt Leandro*. Damals ahnte er noch nicht, wie sich ihre Wege später noch einmal kreuzen würden. Leandro arbeitete als junger Erwachsener als Polizeiinspekteur. Seine Aufgabe: Jene Leichen protokollieren, die der Paramilitärchef und Kindheitsfreund Carlos Castaño in Auftrag gegeben hat.

Ein erbarmungsloser Krieg gegen alle, die nur in den Verdacht geraten, die Guerilla zu unterstützen

Die Geschichte der berühmt-berüchtigten Castaños beginnt mit den Aktivitäten von Fidel Castaño. Er wird 1951 als Sohn einer Viehzüchterfamilie auf einer Finca in Amalfi geboren und nimmt über den Autohandel bald Kontakt zur organisierten Kriminalität auf. In Medellín lernt er Pablo Escobar kennen, arbeitet mit ihm zusammen. 1979 wird Castaños Vater von der FARC entführt, Fidel ist zu dem Zeitpunkt 28 Jahre alt, sein Bruder Carlos 14. Die Familie bezahlt die Hälfte des Lösegeldes; das reicht der FARC nicht: die Guerillerxs ermorden das Familienoberhaupt. Zu jenem Zeitpunkt ist Entführung eine der Haupteinnahmequellen der Guerilla, viele Familien werden Opfer. Doch die Castaños haben die nötigen Mittel, um sich zu rächen. Schon bald schmieden Carlos und Fidel Pläne für den Aufbau eigener Kampfeinheiten. Mit einer kleinen Privatarmee, den Autodefensas Campesinas de Córdoba y Urabá (ACCU), beginnen sie in Córdoba und im Norden Antioquias ihren Rachefeldzug. Ein erbarmungsloser Krieg gegen die Zivilbevölkerung und jede*n, der*die nur in den Verdacht gerät, die Guerilla zu unterstützen, entbrennt. Damit haben die Castaños Erfolg, gewinnen die Unterstützung von Teilen des Staates und der öffentlichen Sicherheitsapparate, mit denen sie gemeinsam ihre Massaker verüben. Nachdem Fidel 1994 von einer Splittergruppe der EPL-Guerilla umgebracht wird, übernimmt Carlos Castaño das Ruder und vereint mehrere paramilitärische Gruppen zu den Autodefensas Unidas de Colombia (AUC). Allein im Zeitraum zwischen 1980 und 2000 brachten die paramilitärischen Gruppen über 120.000 Menschen um. Carlos Castaño selbst wird später von seinem jüngeren Bruder Vicente ermordet, der fortan den Schrecken weiterführt. Es ließe sich viel über die Castaños und anhand von ihnen über die jüngere Geschichte Kolumbiens erzählen. Auch über die Brüder Rendón Herrera, „El Alemán“ und „Don Mario“, die sich damals mit weiteren Amalfitanos den Castaños anschlossen. „Don Mario“ baute mit den Autodefensas Gaitanistas de Colombia die bis heute stärkste paramilitärische Gruppe auf.

Warum die Paramilitärs weitestgehend unbehelligt massenhaft Menschen ermorden konnten, ist eine Frage, die auch mit der Verflechtung von Zivilbevölkerung und Paramilitärs zu tun hat. Und die zu weiteren Fragen führt: Was bringt eine Viehzüchterfamilie dazu, zu Massenmörder*innen zu werden? Und wie geht und ging die Dorfgemeinschaft von Amalfi mit jenen Söhnen des Dorfes um?

Der Polizist Leandro hätte sich beinahe selbst den Castaños angeschlossen. Damals, als er als einziger Polizist in einem Vorort Amalfis arbeitete, in dem die ELN das Sagen hatte. Auch Leandro war den Befehlen der Guerilla unterworfen, selbst wenn er das so niemals zugeben durfte. „Ich beschränkte mich dann mehr auf Sozialarbeit.“ Eines Tages kam ein alter Freund auf Leandro zu und fragte, ob er nicht mit den Castaños kämpfen wolle; schließlich könne er mit der Waffe umgehen und hätte doch als Polizist Erfahrung darin, Gemeinschaften zu kontrollieren. Sie könnten ihm eine gute Waffe, viel Geld und ein Auto anbieten. Leandro dachte nach. Zwei, drei Tage bespricht er sich mit seinen Eltern. „Ich hab mich an meine Werte erinnert“, sagt er. Er ahnte, was auf ihn zukommen könnte. Als er später die Massaker sieht, ist die Realität noch schlimmer als das Befürchtete. Leandro sagt: „Ich wäre einer von denen gewesen.“ Heute wirkt Leandro mit seinen Falten und dem freundlichen Lächeln wie die Personifizierung des Amalfitanos, der es irgendwie geschafft hat, sich rauszuhalten, obwohl er mittendrin war.


Viel erlebt Maultier und Mensch und die Last der Vergangenheit (Foto: Danilo Garcia)

So handhabt er es auch, als er 1997 zur zentralen Polizei in Amalfi wechselt. Um den Schrecken kommt er nicht herum; seine Aufgabe ist die Registrierung der Toten. Es ist die Zeit, in der die Paramilitärs in das Dorf zurückkehren, bewaffnet und gnadenlos gegen jede*n, der oder die nur im Geringsten in den Verdacht gerät, die Guerilla zu unterstützen. „Teilweise haben wir an drei Tagen 14 Leichen begutachtet.“ Eines Tages rief der Kommandant der Paramilitärs bei Leandro an und kündigte an: „Du, für morgen hab ich zwei Leichen für dich. Kannst dich schon mal drauf vorbereiten.“ Leandro wusste viel und war doch machtlos. Er leitet die Berichte über die Toten an die Staatsanwaltschaft weiter. „Da versackten sie“, sagt Leandro, und fügt ein kolumbianisch-resigniertes „Natürlich.“ an. Er sagt, dass der Staat nicht präsent war. Dass der Staat die Leute im Stich gelassen hat. Und dass der Name paramilitar in Kolumbien zu lesen ist wie para militar – „für das Militär“. Teilweise waren es die gleichen Leute, die an einem Tag die Uniform der kolumbianischen Armee und am nächsten Tag die schwarze Armbinde der Paramilitärs trugen. Sie ist spürbar, die Enttäuschung eines Mannes, der selber an die Gesetze des Staates geglaubt hat. Sich für die Polizei und gegen ein Leben als Paramilitär entschieden hat. Und es ist die Geschichte eines Mannes, die zeigt, dass es viele hätte treffen können. Wäre er damals mitgegangen, nach Córdoba, nach Uraba, auf den Rachefeldzug der Castaños, wäre er zum Mörder geworden. Seine Geschichte ist eben auch jene, die zeigt, dass es doch eine Wahl gab.

„So sind die Paras Teil der Landschaft geworden.“

Dass die Castaños diese auch hatten, wird im Dorf zwar nicht abgestritten, aber auch nicht unbedingt betont. „Du musst dir vorstellen, die Guerilla hat ihren Vater entführt, sie haben zweimal Lösegeld bezahlt, und die haben ihn trotzdem umgebracht“, sagt der Nachtwächter Don Juan zur Rechtfertigung.

Dabei haben sie in Amalfi den Schrecken selbst erlebt. Das zeigt ein vierstündiges Kneipengespräch am Abend, das die alten Zeiten wieder aufleben lässt. Mit dabei zwei gute Seelen des Dorfes: Oscar Mejía, der seit mehreren Jahrzehnten im technischen Bereich der Stadtverwaltung arbeitet, 44 Jahre alt, und Omar Blandón, 48, der im Auftrag der Stadt Landwirtschaftsprojekte durchführt. Sie haben viele Gemeinsamkeiten: ein stets freundliches Lächeln, Gelassenheit. Doch an diesem Abend sprudeln aus ihnen die Erinnerungen aus mehr als drei Jahrzehnten, in denen bewaffnete Gruppen in Amalfi das Sagen hatten. Es sind die beiden Überfälle der ELN-Guerrilla 1991 und 1996, an die sie sich am besten erinnern. Damals stürmte die ELN die Polizeizentrale. Im wieder aufgebauten Gebäude zog eine Außenstelle der Universidad Nacional ein: Bildung gegen die Gewalt. Es sind die ersten kollektiven traumatischen Erinnerungen. Die Kämpfe, die vier bis fünf Stunden andauerten, die toten Zivilist*innen. Mejía erinnert sich, dass er mit Freunden bei einem Sportfest war. Die Schüsse hielten sie erst für Feuerwerk. Als sie in der Ferne Flugzeuge sahen, kam die Panik. Angst, die Armee könnte bombardieren. So kommt es nicht. Als später der Bürgermeister ermordet wird, setzt das Militär für zwei Jahre den ersten „Militärbürgermeister“ Kolumbiens ein.

Doch nichts übertrifft den Schrecken, der mit der Rückkehr der Paramilitärs 1997 beginnt. „Es gab hier nie das ganz große Massaker“, erzählt Mejía. „Aber ein langsames Massaker der Betäubung.“ Tag für Tag gab es Tote. Sich nicht einzumischen war quasi unmöglich. „Am einen Tag kam die Guerilla und fragte dich, ob sie dein Huhn mitnehmen können. Jeder wusste, dass er keine Wahl hatte. Am nächsten Tag kamen die Paras und beschuldigten dich, die Guerilla durch das geschenkte Huhn unterstützt zu haben“, erzählt Mejía. Wer sich in irgendeiner Weise mit einer der Gruppen anlegte – oft ohne es zu wollen -, schaufelte sich sein eigenes Grab. Bei den Opfern der Paramilitärs galt das wörtlich: Nicht wenige zwangen sie vor der Ermordung, das Loch zu buddeln, in das man sie später tot hineinwarf.

Mejía erzählt davon, wie er einst selbst fast in einem der unbenannten Gräber gelandet wäre. Einer Freundin wurde ein Zettelchen unter der Tür durchgeschoben: „Du hast 24 Stunden, um zu gehen.“ Das kam vor, doch in ihrem Fall schien es ungewöhnlich. Mejía machte sich also auf den Weg und fragte den Kommandanten der Paramilitärs: Dieser verneinte, der Zettel sei nicht von ihm. Am selben Tag suchte Mejía den örtlichen Guerillachef auf und erhielt die selbe Antwort.

Später erfuhren sie: Jemand aus dem Dorf wollte die allgemeine Angst ausnutzen und sich auf diesem Weg den Arbeitsplatz der Freundin in der Stadtverwaltung ergattern. Die Freundin blieb, doch am nächsten Tag lud der Para-Kommandant Mejía vor. Seine Konsultationen wurden ihm zum Verhängnis. „Man hätte ihm gesagt, Mejía habe ein Treffen mit der Guerilla gehabt“, sagte der Para-Kommandant verärgert. Mejía erklärte sich. Sie lassen ihn gehen – vorerst. Am selben Abend werden in dem Vorort, in dem Mejía lebt, drei Personen von den Paramilitärs umgebracht. Mejía hatte sich an diesem Abend kurzfristig entschieden, in Amalfi zu bleiben und nicht nach Hause zu fahren. Sonst – und er sagt es heute lachend – hätte es ihn auch erwischt. In dieser Zeit lieferten viele Menschen durch falsche Anschuldigungen an die mordenden Paras aus.
Oscar Mejía überlegt, dann sagt er etwas bemerkenswertes: „Dabei habe ich vor der Guerilla eigentlich nie Angst gehabt. Mit denen konnte man reden.“ Unvergessen bleibt der Schrecken der Paramilitärs, wenn sie ins Dorf kamen. Der Pick-Up in scharfer Erinnerung: „Toyota, dunkelrot, Kennzeichen 619.“ Wen sie auf die Ladefläche zerrten, der betrat den „Weg in den Himmel“. Sie fuhren die Menschen aus dem Dorf, schnitten die Körper in Einzelteile und warfen sie in den nahegelegenen Rio Medellín. Das war eine Anordnung von Carlos Castaño. Nachdem die Menschen in der ersten Zeit noch offen im Dorf umgebracht wurden, wendeten sich mehrere alte Gefährt*innen an den Chef der mordenden Gruppe. „Carlos, kannst du nicht wenigstens dafür sorgen, dass das außerhalb des Dorfes stattfindet?“ Der Kommandant erfüllte diesen Gefallen.


„Wir haben in Amalfi eine besondere Gabe, zu vergessen.“

Das Morden wird zur Alltäglichkeit. Mejía wendet sich an Blandón: „Weißt du noch, als sie Limber, Camilo und die anderen beiden umgebracht haben? Da warfen sie die Leichen auf den Marktplatz und nebendran unterhielten sich die Leute weiter, als ob nichts passiert wäre.“ Auch die Soldaten stehen tatenlos daneben, als sie die Menschen auf die Pick-Ups laden. Mejía und Blandón erinnern sich an Namen, Tage, wie das Wetter war. Bei all dem, was sie den Menschen angetan haben: Wie steht man heute zu den Castaños? „Das waren gute Leute, fleißig, Leute vom Land“, da sind sich Mejía und Blandón einig, so wie die meisten in Amalfi. Es scheint, als hätte man sich stillschweigend darauf geeinigt. Natürlich haben sie schreckliche Sachen gemacht, aber… Und dieses „Aber“ ist groß geschrieben in Amalfi. Da gibt es den Schmerz über den Tod des Vaters. So wie die Macht des Geldes, die die Menschen eben schlechter macht. Und die falschen Freund*innen.

„Viele haben unter den Guerillas gelitten“, sagt Mejía. „Aber manche hatten eben das Geld, um sich zu wehren.“ So wie die Castaños. Für einige sind sie bis heute Helden. Die Capos kamen und luden auf Schnaps ein, 30 bis 40 Leute. „Mit denen konntest du dich gut hinsetzen und ein Bier trinken.“

„So sind die Paras Teil der Landschaft geworden“, sagt Omar Blandón und fügt an: „Die mussten sich hier nie entschuldigen.“ Sie waren eben da und wenn du nicht gehen wolltest, musstest du mit den Familien zusammenleben. Dazu kommt eine Neigung, dem Opfer eine Mitschuld zu geben. Manche wurden umgebracht, weil sie eben mit den falschen Leuten geredet hatte. Oder weil sie den Mund nicht halten konnte. Das nimmt die Täter erstmal aus der Schusslinie. „Die Leute hier sind sehr katholisch und hoffen, dass Gott eines Tages für Gerechtigkeit sorgen wird“, erklärt Mejía über seine Nachbarschaft. Diese Einigkeit unterstreichen die Amalfitanxs durch ein schwarzes Kreuz auf der Stirn. So leiten sie die „Semana Santa“, die heilige Zeit um Ostern, ein.

Ebenso einheitlich ist die Version der Geschichte, die in Amalfi heute laut ausgesprochen wird. „Die Castaños waren eine ehrenwerte Familie unseres Dorfes“, meint Mejía und erwähnt zum Beweis einen der Brüder, der unbehelligt auf seiner Finca lebte und sich aus dem bewaffneten Konflikt stets rausgehalten hatte. Vielleicht ist ein solches Geschichtsverständnis auch eine Notwendigkeit, um weiter die Dorfgemeinschaft aufrecht zu erhalten. Selbst im Krieg. Sonst ist es schwierig zu verstehen, warum heute in Amalfi die Menschen nach wie vor nett und aufgeschlossen wirken und die Türen der Häuser offen stehen. Es ermöglicht auch den Mitgliedern der Mörder*innenfamilien, in Ruhe zu leben. Ein Sohn von Carlos Castaño lebt nach wie vor im Dorf. Das Hostel am zentralen Platz gehört einer Tante. Die Supermärkte und weitere Geschäfte gehören Familienmitgliedern von „Don Mario“ und „El Alemán“. Und mit Federico Gil Jaramillo ist ein Familienmitglied der Castaños der wohl aussichtsreichste Kandidat für die nächsten Bürgermeister*innenwahlen. Ein Thema, über das sich nur mit leiser Stimme unterhalten wird – auch heute noch.

Als in diesen Tagen die in der Gegend präsente ELN einen „bewaffneten Streik“ angekündigt hat und eines Abends die Lichter in Amalfi ausgingen, da erschrak Omar Blandón – so wie einst, als die Lichter ausgeknipst wurden, damit die Menschen im Dunkeln aus ihren Häusern gezogen und auf den Pick-Up geladen wurden. Noch vor wenigen Jahren war die Gefahr real. Es ist um das Jahr 2010, als die verschiedenen paramilitärischen Gruppen sich in Kolumbien, um die verbliebenen Pfründe bekriegen. Auch in Amalfi. Hier ist es heute ruhiger geworden. „Es gibt nicht mehr viel Koka, auch kaum mehr Gold in den Minen“, erklärt Oscar Mejía die Gründe für den überraschenden Frieden. Denn in den Nachbargemeinden ist der Tod nach wie vor Alltag. So leistet sich Amalfi ein seltsames Schweigen. In vielen vom Konflikt betroffenen Dörfern gibt es heute Erinnerungsräume oder zumindest eine Wand mit den Fotos der Opfer, ein Buch, in dem die Erinnerungen festgehalten werden. In Amalfi gibt es von alledem nichts. Als der damalige Präsident Juan Manuel Santos 2016 den Friedensvertrag mit den FARC zur Volksabstimmung stellte, gewann in Amalfi das „Nein“. Bis heute ist es eine Hochburg der Anhänger*innen von Alvaro Uribe, jenem ultrarechten Ex-Präsidenten, der den Paramilitarismus in Kolumbien mit aufgebaut hat. „Wir haben in Amalfi eine besondere Gabe, zu vergessen“, meint Oscar Mejía.

Daniela wollte sich damit nie abfinden: „Ich habe weinend im Park gesessen, als das Nein-Ergebnis aus Amalfi kam“, erzählt sie und sagt trotzdem: „Aber die Guten hier sind in der Überzahl.“ Zumindest arbeitet die Sozialarbeiterin daran – mit einem kommunalen Filmfestival, das jedes Jahr stattfindet und das dabei helfen soll, ein anderes Amalfi zu kreieren.
Es wird noch Jahre dauern.

Nachtrag: Entgegen der Beteuerungen, dass die Zeit der Gewalt vorbei sei, werden zwei Wochen nach dem Besuch des Autors fünf Bergarbeiter in einem Teil Amalfis umgebracht. Die Umstände werden nicht aufgeklärt. Gerüchte sagen, dass die Mörder Mitglieder der paramilitärische Gruppe Clan del Golfo waren.

* Name geändert

 

EINE RICHTERIN FÜR DIE GERECHTIGKEIT

YASSMIN BARRIOS
ist Richterin in Guatemala und Präsidentin des speziell eingerichteten Gerichtshof Tribunal Primero A de Mayor Riesgo, für Fälle mit besonders hohem Sicherheitsrisiko. Sie hat Prozesse zu den während des Bürgerkriegs verübten Massakern verhandelt sowie gegen den Ex-Diktator Efraín Ríos Montt.

Foto: Markus Dorfmüller


Wir waren am Wochenende in Sepur Zarco – einige der Frauen sind sehr frustriert, dass es zwar ein für sie positives Urteil gibt, aber dass die Umsetzung auf sich warten lässt. Können Sie das nachvollziehen?
Oh ja, für die Frauen hat die Übergabe der Finca, also des Landstreifens, Priorität, aber die ist bisher nicht vom Fleck gekommen. Das ist das Problem und dafür müssen ihre Anwältinnen nun sorgen – ich als Richterin habe da keinen Einfluss mehr.

Welche Relevanz hatte dieser Prozess für Sie persönlich: war es schlicht ein Fall?
Jeder Fall hat aus meiner Perspektive wichtige Charakteristika – so auch dieser. Klagen gegen Militärs von indigenen Frauen sind etwas Besonderes in Guatemala und darüber hinaus. Sepur Zarco war also etwas Besonderes – vor allen Dingen aus der Perspektive der Frauen.

Es hat auch Angriffe auf Sie persönlich gegeben, Kampagnen in den sozialen Netzwerken – warum?
Weil ich ein paar Prozesse verhandelt habe, die für dieses Land extrem wichtig waren: den Prozess gegen die Mörder von Monseñor Juan Gerardi, der den Bericht der katholischen Kirche zu den Menschenrechtsverletzungen im Bürgerkrieg herausgebracht hatte, den Prozess gegen Ex-Diktator Efraín Ríos Montt oder eben den Sepur Zarco Prozess, wo es um die spezifischen Rechte der Frauen ging. Kurz vor der Urteilsverkündung im Falle Gerardi wurde eine Granate auf mein Haus geworfen – das war 2001. Es war ein Akt der Einschüchterung, es ist nichts passiert und ich bin am nächsten Tag zur Arbeit gegangen. Das ist meine Verpflichtung, aber damit hatte niemand gerechnet. Aber ich habe und fühle diese Verantwortung.

Augenblicklich scheint der Druck auf die Justiz enorm. Was passiert in Guatemala, wird die Justiz systematisch geschwächt?
In den letzten Monaten hat es in Guatemala eine kaum zu übersehende Schwächung des Rechtsstaats gegeben. Die Nichtumsetzung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts ist dabei der gravierendste Fall.

Steckt dahinter eine Strategie?
Es ist kaum zu übersehen, dass man den Ermittlern der CICIG (Internationale Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala der UNO) in den letzten Jahren mehr und mehr Schwierigkeiten gemacht hat zu arbeiten – vor allem in Korruptionsfällen. Die CICIG hat in vielen Fällen die Staatsanwaltschaft animiert in diesem Bereich zu ermitteln und das hat sicherlich unsere Justiz gestärkt. Gleiches gilt für die neuen Instrumente, die die Justiz durch die Initiative der CICIG erhalten hat. Das hat unter dem Strich zur Stärkung der Justiz geführt. Die CICIG war und ist extrem wichtig.

Droht eine Rückkehr in die Straflosigkeit mit dem Ende der CICIG? Das Mandat läuft am 3. September 2019 aus.
Ja, ich denke das ist schon der Fall. Mit der Unterstützung der CICIG wurde die Ermittlungsarbeit im Justizsektor spürbar gestärkt – auch auf wissenschaftlicher und auf akademischer Ebene. Vor allem im Bereich der Korruption. Ich bin dafür, das Mandat der CICIG zu verlängern. Sie ist ein wichtiger Faktor, aber das müssen andere entscheiden.

Fehlt es an internationaler Unterstützung?
Ich denke, dass die internationale Beobachtung, die Begleitung der Arbeit der CICIG wichtig ist. Doch die hat in den letzten Monaten nur in Teilen stattgefunden, sodass die CICIG heute geschwächt ist. Grundsätzlich denke ich, dass die Verträge respektiert werden sollten, denn schließlich ist die CICIG auf Bitten der Regierung von Guatemala entstanden.

Aber es hat den Anschein, dass die Regierung diese Verträge nicht respektiert.
Die Regierung hat eine andere Sicht der Dinge, die der breiter Bevölkerungskreise widerspricht.

Wie denken Sie über den CICIG-Direktor Iván Velásquez? Ist es nachvollziehbar, dass er nicht nach Guatemala einreisen darf und die Arbeit aus dem Ausland leisten muss (siehe LN 536)?
Ich denke, dass der CICIG-Direktor das Recht hat in Guatemala zu arbeiten. Das hat das Verfassungsgericht auch so bestätigt, aber die Regierung blockiert das.

Was war in Ihrer Karriere der schwierigste Prozess?
Jeder Prozess hat seine spezifischen Elemente und von jedem Prozess lässt sich etwas lernen. Doch in dem Gerardi-Prozess bin ich gewachsen, daraus habe ich viel mitgenommen. Aber mit diesem Prozess und dem Anschlag auf mein Haus, habe ich auch an persönlicher Freiheit verloren. Seitdem kann ich mich nicht mehr so wie vorher in Guatemala bewegen. Ich bin auf Schutz angewiesen. Ich muss mich unter Polizeischutz in der Stadt bewegen, in einem gepanzertem Wagen.
Der andere Fall, der mich sehr beschäftigt hat, war jener über den Genozid an den Ixil (Indigene in Guatemala, Anm. der Red.), der Prozess gegen Efraín Ríos Montt. Da bin ich von den Medien angegriffen worden, von einflussreichen Kreisen, die dahinter stehen und bin stark stigmatisiert worden. Guatemala ist nach wie vor ein Land, in dem die Rechte der Frau kaum akzeptiert werden. Das habe ich damals am eigenen Leib erfahren: ich bin etikettiert worden, mir wurde vorgeworfen einseitig zu argumentieren, die Gesellschaft zu schwächen. Das war aber nicht der Fall, denn dieser Prozess hat zur Stärkung der Zivilgesellschaft in Guatemala beigetragen. Teile der Zivilgesellschaft wurden mit dem Prozess erst sichtbar.
Das war ein überaus brisanter politischer Prozess. Ich bin keine politisch aktive Frau, gehöre keiner politischen Gruppe an – das wurde mir aber damals vorgeworfen. Dabei bin ich vor allem Juristin. Ich will der Justiz zu mehr Glaubwürdigkeit verhelfen, die Gesetze durchsetzen. Ich diene dem Rechtsstaat.

Sind Sie als Kommunistin bezeichnet worden?
Ja, das war der Fall und ich fühlte mich während des Prozesses in den kalten Krieg zurückversetzt – im Jahr 2013 herrschte ein Klima wie zu Zeiten der Berliner Mauer. Es prallten zwei Ideologien aufeinander, obwohl die Berliner Mauer bereits 1989 eingerissen wurde. In Guatemala herrschte in dieser Zeit ein Klima der Stigmatisierung, der latenten Bedrohung – zumindest auf medialer Ebene.

Kehrt dieses Klima zurück, fehlt ein Dialog zwischen den Generationen?
Ich glaube, dass wir diesen Dialog zwischen den Generationen brauchen und uns Richtern kommt dabei die Aufgabe zu, über Verbrechen der Vergangenheit heute zu urteilen. Das ist eine wichtige Aufgabe, denn die betroffenen Menschen hatten lange Jahre keinen Zugang zur Justiz, mussten oft den Weg über die interamerikanische Menschenrechtskommission gehen. Das ist ein Defizit und ich denke, dass die jüngere Generation erfahren muss, was in diesem Land passiert ist – das ist eine gesellschaftliche Herausforderung. Wir haben eine Aufgabe, wir müssen aus unserer Geschichte lernen und die kulturelle Vielfalt schätzen lernen. Das ist eine Herausforderung und viele dieser Fragen waren im Völkermordprozess präsent. Da wurden wir als Gesellschaft auf diese Probleme erst hingewiesen, auf die Polarisierung, auf die Stigmatisierung auf die Defizite bei der freien Meinungsäußerung. Wir wurden auf die tief sitzenden Probleme in unserer Gesellschaft hingewiesen.

Ist diese Gesellschaft nach wie vor traumatisiert vom Bürgerkrieg?
Ich denke ja, denn es gibt bis heute Ängste, die eigene Meinung kundzutun, Rechte einzufordern – der Krieg hat vielfältige Spuren hinterlassen nicht nur bei der Generation der Opfer, sondern auch bei den nachwachsenden Generationen.

2015 schien es so als wäre die Zivilgesellschaft erwacht (siehe LN 492). Wie sieht es 2018 aus?
Es gibt Initiativen, die Freiräume zu reduzieren, Teilnahme zu erschweren und die Bürgerrechte einzuschränken.

Wie steht es um die Rechte der Frauen in Guatemala, haben sie gleiche Rechte?
Aus juristischer Perspektive haben wir die gleichen Rechte, aber in der Praxis ist es alles andere als einfach, diese Rechte auch durchzusetzen. Da bildet die Justiz sicherlich keine Ausnahme. Guatemala ist eine Gesellschaft, die zutiefst vom Machismo geprägt ist; hier wird über die Kleidung der Frauen öfter debattiert als über ihre Leistung. Frauen müssen mehr leisten, um hier ernst genommen zu werden. Das ist eine Folge der patriarchalen Strukturen in diesem Land.

Haben Sie Vertrauen in die guatemaltekische Gesellschaft?
Ja, und mir gefällt es auch einmal in eine Schule zu gehen und mit Schülern zu diskutieren. Das ist mir wichtig und wenn es meine Zeit zulässt, gehe ich auch an die Schulen, um zu hören wie die neue Generation agiert und denkt. Dabei lerne ich auch etwas über die sozialen Verhältnisse im Land. Das gefällt mir.

Wie blicken Sie in die Zukunft?
Wir befinden uns in einer Krise, aber Krisen helfen auch dabei, sich selbst neu aufzustellen, zu definieren und nach vorn zu blicken. Wir müssen uns, jeder in seinem Bereich, für die Zukunft dieses Landes engagieren, dafür gerade stehen. Es geht darum, unser Land zu retten.

Thelma Aldana, die ehemalige Generalstaatsanwältin, will bei den Wahlen im Juni für die Präsidentschaft kandidieren – ist es Zeit für eine Präsidentin?
Das könnte eine wichtige Erfahrung für ein Land wie Guatemala sein. Es gibt Frauen, die entscheidungsfreudig sind, die ein Land führen können und ich denke, dass es Frauen gibt, die dazu in der Lage sind, die sensibler auftreten, die eine andere Perspektive verfolgen. Mir erscheint das eine gute Option für die Zukunft.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„WILLKOMMEN ZU HAUSE, BRÜDER UND SCHWESTERN!“

Elva Cutz erinnert sich noch gut an die kühle, vorletzte Nacht des Jahres 1996. „Meine Mutter und ich gingen zur Plaza de la Constitución im Zentrum von Guatemala-Stadt und sahen da Teile der Friedensverkündung. Aber ich habe das damals gar nicht verstanden. Ich sah nur Menschen, die weinten, Menschen, die sich vor Glück umarmten, und die vielen Parolen des Friedens dort auf dem riesigen Platz.“ Zwanzig Jahre sind vergangen seit jener Nacht. Auf der Plaza de la Constitución, dem Platz der Verfassung, dem wichtigsten Platz Guatemalas, hatten sich tausende Menschen versammelt. Sie jubeln, als der damalige Präsident Álvaro Arzú verkündet, dass über 35 Jahre Krieg zu Ende seien. Elva war damals noch zu klein, um zu begreifen, was dort passierte und welche Bedeutung dieser Tag für Ihr weiteres Leben haben sollte. Die Erwachsenen hatten es geschafft, für sie, wie für viele Kinder Guatemalas, eine Welt fern der schlimmen Erlebnisse zu schaffen, die sie selbst geprägt hatten. „Ich habe als Kind viele Geschichten gelesen“, erzählt die indigene Aktivistin Andrea Ixchiú. „Eine dieser Geschichten hieß Blutbad im Wald, von Ricardo Falla, einem jesuitischen Priester. Ich wollte wissen, warum die Geschichten der Erwachsenen so traurig und schrecklich sind. Ich erinnere mich, dass mein Vater sich zu mir gesetzt hat und sagte: Das sind keine Märchen, das ist wirklich passiert in Guatemala. Dass es einen Krieg gab, in dem schlimme Sachen passiert seien, aber dass das Land dann begonnen habe, Frieden zu schließen.“

Die, die damals schon älter waren, erinnern sich sehr wohl. Rafael Herrarte, Jahrgang 1959, stammt aus einfachen Verhältnissen. Sein Vater war Straßenarbeiter, seine Mutter besaß ein kleines Geschäft. Als Jugendlicher war Rafael Mitglied einer Kirchengruppe, später dann Gewerkschafter. „Meine Generation ist gezeichnet durch die Morde an Intellektuellen in den 1970er Jahren. 1980 dann stürmte die Polizei eine nationale Arbeiterversammlung und verschleppte 39 Gewerkschafter – Menschen, für die ich größten Respekt empfinde und die ich nie wieder gesehen habe. Das hat in mir den endgültigen Bruch mit dem ausgelöst.“

Community-Radios im Hochland: Radioaktivist Tino in Aktion (Fotos: Voces Nuestras)

1944 hatten die Guatemalteken den letzten einer langen Reihe von Diktatoren gestürzt. Bis dahin war Guatemala ein Feudalstaat gewesen, in dem Bäuerinnen und Bauern zur Arbeit auf den Kaffee- und Bananenplantagen gezwungen wurden und Arbeiter*innen kaum Rechte hatten. Die folgenden zehn Jahre der beginnenden Demokratie gelten bis heute als der „guatemaltekische Frühling“, eine Zeit des Aufbruchs, der Modernisierung. Nicht nur die Frauen erhielten das Wahlrecht, auch Analphabet*innen und damit ein Großteil des ländlichen und indigenen Guatemalas. Die demokratischen Regierungen machten sich an die Arbeit: Über den Ausbau der Universitäten, den Aufbau eines Gesundheitssystems, durch Bildungsreformen und Infrastrukturprojekte sollte Guatemala in das 20. Jahrhundert katapultiert werden.

Die Pläne für eine Landreform berührten jedoch direkt die Interessen der Großgrundbesitzer und des US-amerikanischen Bananenkonzerns United Fruit, bekannt vor allem durch seine Marke Chiquita. United Fruit kontrollierte damals riesige Ländereien in Guatemala und hatte beste Verbindungen zur US-Regierung des damaligen Präsidenten Dwight D. Eisenhower und zur CIA. Der Putsch gegen den gewählten Präsidenten Jacobo Árbenz kam schließlich im Juni 1954.

Die Militärs ergriffen mit US-Unterstützung für Jahrzehnte die Macht und gingen gegen Widerstand zunehmend brutal vor. In den 1970er Jahren vernichteten politische Morde einen Großteil der intellektuellen Klasse von Guatemalas, in den 1980er Jahren wurde das Land Schauplatz des schlimmsten Völkermordes der westlichen Hemisphäre seit dem Zweiten Weltkrieg – mit über Hunderttausend Toten, Verschwundenen, Vertriebenen.

Gerade auf die indigene Beteiligung am Aufstand reagierte die Militärdiktatur mit brutalster Gewalt. Ilom, Chel, Chisis, Acul, Río Negro, Sacuchum Dolores, San José und San Antonio Sinaché: es sind heute nicht nur Namen von indigenen Dörfern, sie stehen auch für die Massaker, die Guatemalas Armee und Todesschwadronen an der indigenen Bevölkerung begangen haben. Vor allem ein Name steht für die Gräueltaten der jahrzehntelangen Militärdiktatur: Efraín Ríos Montt. Als Junta-Chef von 1982 bis 1983 soll er mindestens elf Massaker an indigenen Dorfgemeinschaften befohlen haben.

Die guatemaltekische Politik hat jedoch bis heute kaum ein Interesse, die Konfliktursachen anzugehen, geschweige denn Verantwortung für die vom Staat begangenen Verbrechen zu übernehmen. Doch ein Staat, der seine Kriegsverantwortung nicht anerkennt, kann kaum den Frieden gestalten. Rafael Herrarte, dessen Jugend durch die Morde der Militärs geprägt war, ist heute Chef des Forensischen Institutes CAFCA. CAFCA hat nach dem Friedensschluss vor 20 Jahren, auch mit europäischer Unterstützung, Dutzende Massengräber aufgespürt und untersucht. Die meisten Massaker hatte die Armee angerichtet, in den Gräbern liegen die Skelette vieler Kinder. Viele Frauen waren vor ihrer Ermordung vergewaltigt worden. Wunden, die nur schwer verheilen.

In den 1990er Jahren änderte sich die Lage. Guatemala war aufgrund der Schreckensmeldungen international zunehmend isoliert. Dies ging der dominierenden Unternehmer- und Großgrundbesitzerkaste, den ehemals großen Unterstützern der Militärdiktatur, zunehmend ans Geld. Um wieder Geschäfte machen zu dürfen, musste der Staat auf internationalem Parkett wieder eine gewisse Legitimität zurückgegeben werden. Dazu musste man den Frieden schließen.

Während die einen zurück zu internationalen Märkten wollten, wollten Hunderttausende andere zurück auf ihr Land, zurück nach Hause, zurück zu ihren Familien. Frieden war in den 1990er Jahren die Antwort für alle. 1991 endlich begann Guatemalas Regierung unter Aufsicht der Vereinten Nationen in Mexiko und Skandinavien mit der URNG-Guerrilla zu verhandeln. Im Dezember 1996 wurden schließlich zwölf Friedensabkommen unterzeichnet. Auch César Saloj kann sich noch gut an jenen Tag erinnern. „Wir wohnten damals an der Interamericana, auf der tausende Flüchtlinge in unzähligen Bussen aus dem mexikanischen Exil zurückkehrten. Wir haben Transparente gemalt, wo drauf stand: ‚Willkommen zu Hause, Brüder und Schwestern!’. Wir haben Mandelmilch und Sandwichs verteilt. Mein Vater war sehr bewegt, er ging stundenlang von Bus zu Bus und hieß alle Willkommen. Aber wir Kleinen wussten nicht mal, warum all diese Menschen weggegangen waren.“

„Das sind keine Märchen, das ist wirklich passiert in Guatemala.“


Die zwölf Friedensabkommen handeln von Menschenrechten, von demokratischen Verfassungsreformen, von der Rückführung der Flüchtlinge und der Wiedereingliederung der Guerillakämpfer in die Gesellschaft. Sie versprechen Landreformen, ländliche Entwicklung und indigene Rechte, um die Ursachen des Konfliktes anzugehen. Eine Wahrheitskommission sollte die im Bürgerkrieg von allen Seiten begangenen Verbrechen aufklären. Unter dem Vorsitz des deutschen Völkerrechtlers Christian Tomuschat kam die Kommission 1999 zu dem Ergebnis, dass 93 Prozent der Gräueltaten von der Armee begangen worden und 83 Prozent der Opfer Indigene waren.

Alberto Ramirez, genannt Tino, stammt aus einer Maya-Familie. Als Tinos Vater Anfang der 1980er Jahre von der Armee verschleppt und ermordet wurde, flohen Mutter und Tino zu der Guerilla in die Berge. Aus dem heranwachsenden Tino wurde ein Guerillero – und kämpfte gegen Rassismus und ungleiche Besitzverhältnisse. Aber Tinos Waffen waren weder Gewehr noch Dynamit, sondern ein Mikrofon und ein Fahrrad. Anfang der 1980er war der Guerilla klar geworden, dass sie ein eigenes Medium brauchte – um aufzuklären, anzuklagen, zu mobilisieren. „Mich hat man über die Grenze nach Mexiko geschickt“, erzählt Tino. „Von dort aus habe ich produziert und die Tonkassetten mit dem Fahrrad nach Guatemala geschmuggelt, die wir dann vom Vulkan gesendet haben“. Neun Jahre lang sendete La Voz Popular von den Hängen des Vulkans Tajumulco. Für Tino war das Guerilla-Radio ein Sprachrohr der Stimmlosen, das von den Mächtigen als Bedrohung empfunden wurde. Mehrere Militäroffensiven am Vulkan waren die Folge. Doch der Friedensschluss 1996 bedeutete das Ende von La Voz Popular. Heute lebt der mittlerweile 50-jährige Tino in der Nähe von Quetzaltenango, der zweitgrößten Stadt Guatemalas. Radio macht er weiterhin. Nach dem Friedensschluss gründete Tino zusammen mit anderen ehemaligen Guerillafunker*innen die NGO Mujb’ab’l Yol. Hier produzieren Jugendliche kulturelle, bildungsorientierte und politische Programme. Dem Senderverbund Mujb’ab’l Yol gehören mittlerweile 26 Community-Radios im Hochland an.

„Es kann keine Demokratie ohne freie Meinungsäußerung geben und ohne freie Medien keine freie Meinungsäußerung“, sagt Tino und fügt hinzu: „Aber Sprachrohre der Stimmlosen, die sind auch in sogenannten Demokratien für die Mächtigen eine Bedrohung.“ In Guatemala gebe es eine herrschende Klasse, die nicht wolle, dass Indígenas ihre eigene Entwicklung gestalten. Community-Radios würden aber einen Beitrag zur lokalen Entwicklung, zur Kultur, zur Bildung, auch zur Mobilisierung der Menschen leisten. Vielleicht auch deshalb haben Guatemalas Regierungen nach Friedensschluss die Legalisierung von indigenen Radios verhindert und sie stattdessen kriminalisiert.

„Gestern, heute und immer“: Wandbild im Senderverbund Mujb abl yol

Die Provinz Zacapa liegt zwar im trockenen, heißen Osten des Landes, aber durch zwei große Flüsse ist Zacapa gleichzeitig wasserreich. In Flussnähe werden Bananen, Ananas, sogar Weintrauben angebaut, dazu Tomaten, Paprika und Maniok, die Viehwirtschaft hat große Bedeutung. Die Flüsse speisen sich aus den Bergen in der Umgebung von Zacapa. In  diesen Bergen arbeitet Pfarrer José Pilar Álvarez Cabrera. Die Gemeinde des 54-jährigen zählt 350 Einwohner*innen, fast alle sind Maya Chort’i, Indígenas aus den Bergdörfern.

Die Bergwälder sind bedroht, durch den Bevölkerungszuwachs, vor allem aber durch die Großgrundbesitzer, die hier seit Jahrzehnten abholzen. Heute sind nur noch 20 Prozent intakt. Das Wasser ist spürbar weniger geworden. Es waren die Chort’i-Gemeinden, die sich als erste gegen die Abholzung organisiert und dann mit der katholischen und der lutherischen Kirche eine „Ökumenische und soziale Koordination zur Verteidigung des Lebens” gegründet haben.

Die Bergwälder sollen endlich unter wirksamen Schutz gestellt werden – zum Nutzen aller. Doch was so einleuchtend erscheint, hat eine Welle von Gewalt ausgelöst, gegen die indigenen Gemeinden, in Form von Morddrohungen auch gegen Pfarrer José Pilar selbst. Profite aus illegalem Holzeinschlag scheinen wichtiger als Wasser für alle. Frieden in Guatemala sehe anders aus, meint José Pilar: „Die Friedensabkommen sollten ja die Ursachen des Konfliktes beseitigen – Diskriminierung, den Rassismus, die äußerst ungleiche Besitzverteilung. Aber das hat man schnell beiseite gelegt und die Regierung hat stattdessen einen neoliberalen Kurs eingeschlagen.“ Heute gebe es mehr gewaltsame Todesfälle als während des Krieges, fügt er hinzu.

„Alle haben ganz bewusst Gewalt gegen Frauen als Machtmittel eingesetzt.“


Die Berglandschaft im Osten Guatemalas ist auch die Region, aus der Lorena Cabnal stammt. Sie ist Xinca-Indígena und Feministin. Schon in vorkolumbianischer Zeit habe sich der Machismo der Vorfahren gegen die Frau gerichtet, urteilt sie. Dann kamen Kolonialisierung und Kirche, später Diktaturen und die Aufstandsbekämpfungspolitik während des Bürgerkriegs. Aus Lorenas Sicht „haben sie alle ganz bewusst Gewalt gegen Frauen als Machtmittel eingesetzt. Der Neoliberalismus nach Kriegsende hat diese Situation sogar noch verschärft.“

Heute zählt Guatemala zu den Ländern mit den meisten Fallen von Femiziden auf der Welt: Fast 1.000 Frauen sind allein im letzten Jahr ermordet worden. Auch Lorena hat mehrfach Todesdrohungen erhalten. Die Friedensverträge haben den Frauen in Guatemala also nicht unbedingt etwas gebracht. Oder, vielleicht doch. Lorena verweist auf die heranwachsende, junge Generation, eine Generation, die wortwörtlich die Schnauze voll habe: „Es gibt neue Formen des Protests und neue künstlerischen Ausdrucksformen, Gesichter eines vielfältigen Widerstandes – und zwar sowohl in den Städten wie auf dem Land, in mestizischen wie indigenen Gemeinschaften. Diese neue Generation hat das Potenzial, in Guatemala tatsächlich etwas zu bewegen.“ Und auch Rafael Herrarte, der Chef des Forensischen Institutes CAFCA, sieht deutlich positive Entwicklungen: Die Wiederherstellung der Meinungsfreiheit, dass es heute viel mehr Raum gebe, sich zu organisieren, und etwas zu bewegen. Er verweist auf die Justiz, die in den letzten Jahren einige Militärangehörige zur Verantwortung gezogen hat.

Aber es ist größtenteils der Zivilgesellschaft zu verdanken, wenn sich in den 20 Jahren nach Friedensschluss etwas bewegt hat. Dazu gehören auch die massiven Proteste gegen die Korruption, die im letzten Jahr den Präsidenten Otto Pérez Molina und seine Vizepräsidentin zuerst aus ihrem Amtssitz und schließlich ins Gefängnis beförderten. Aber wesentlich sozialer und gerechter, weniger rassistisch und sexistisch ist Guatemala bis heute nicht. Sechs von zehn Menschen leben in Armut, vier von zehn Kindern sind unterernährt. Menschen wandern in Scharen in die USA aus, zunächst wegen Armut und Perspektivlosigkeit, mittlerweile aufgrund der Gewalt. Heute sterben in Guatemala mehr Menschen eines gewaltsamen Todes als zu Zeiten des Bürgerkrieges. Vielleicht wäre alles anders gekommen, so denken viele Guatemaltek*innen, hätten die USA nicht den guatemaltekischen Frühling weggeputscht, damals, vor über 70 Jahren.

KEIN GRUND ZUM FEIERN

„Opfer des Bürgerkrieges fordern dazu auf, das Friedensabkommen zu befolgen“, heißt es in den großen Zeitungen Guatemalas. Eine eher kurze Nachricht, die überall identisch zu sein scheint und schnell wieder aus der Medienlandschaft verschwindet. Der Hintergrund: Opferverbände und Vertreter*innen staatlicher Institutionen  haben sich am 16. November getroffen, um einen Bericht über den Fortschritt der Friedensvereinbarungen zu präsentieren. Am 29. Dezember 2016 wird in Guatemala das 20. Jubiläum des Friedensschlusses gefeiert. Der Bürgerkrieg zwischen der Regierung und dem National-Revolutionären Verband Guatemalas (URNG) wurde im Jahr 1996 nach 36 Jahren offiziell beendet.
Opferverbände, darunter die Nationale Opfer-Bewegung Q’anil Tinamit, erinnerten die Regierung nun daran, sich an die Beschlüsse des Friedensabkommen zu halten. Sie blickten zum einen auf das Geschehene zurück und weisen zum anderen auf neue Probleme hin, etwa die Zwangsumsiedlung von indigenen Gemeinden zugunsten von neuen Bergbau- und Wasserkraftwerken im Landesinneren.
Die spärliche Berichterstattung und die geringe öffentliche Aufmerksamkeit des Jubiläums  sind symptomatisch für den guate-*maltekischen Umgang mit dem Bürgerkrieg. Der Völkermord an den Maya-Indigenen, vor allem den Ixiles, aus der Region des Quiché Anfang der 1980er Jahre wird dabei besonders kontrovers diskutiert, wenn überhaupt. Denn sowohl auf Regierungsebene als auch inneralb der Gesellschaft bleibt dieser ein Tabu. Als Voraussetzung für eine sinnvolle Aufarbeitung verlangt der Bericht daher, dass die Regierung  die Dokumentation der Kommission zur Geschichtsaufklärung (CEH) anerkennt, und somit auch den Völkermord als solchen.
Generell wurden symbolische wie auch praktische Vereinbarungen bis jetzt nur teilweise oder auch gar nicht umgesetzt – deshalb macht der Bericht konkrete Vorschläge. So erinnert er unter anderem an den Nationalen Tag der Bürgerkriegsopfer, den es zwar offiziell gibt, der jedoch fast nirgendwo gefeiert wird. Außerdem wird angemahnt, dass im nationalen Schulprogramm kein Platz für die Berichte des CEH eingeräumt wird. Ohne Geschichtsaufklärung könnten Verbrechen wiederholt werden, warnen die Opferverbände.
Darüber hinaus solle sich das Militär offiziell entschuldigen und die Verantwortlichen des Völkermords sollen juristisch verfolgt werden, so die Forderung. Dem gegenüber steht die Praxis der letzten Jahre, in denen das Militär immer häufiger im Inneren eingesetzt wurde und ein höheres Budget bekam. Die Opfer des Bürgerkriegs betrachten das als eine Bedrohung, da die Massaker an den Ixiles eben von Soldaten unter der Diktatur des General Efraín Ríos Montt verübt wurden.
Heute wird das  Militär als Schutzmacht für privatwirtschaftliche Großprojekte im Landesinneren eingesetzt, wo es gleichzeitig als Kontrollinstanz über die Einwohner*innen agiert. Für die Betroffenen ist der Zugang zu öffentlichen Rechtsinstitutionen wiederum oft schwer, sowohl wegen der langen Wege als auch wegen der Sprachbarrieren, denn es gibt nach wie vor wenige Übersetzer*innen der Maya-Sprachen. Kurzum: Während das Militär immer präsenter wird, bleibt der Anspruch auf Recht für die Landbevölkerung fern, wie zu Kriegszeiten. In diesem Sinne haben sich die Handlungsmöglichkeiten von Indigenen in den letzten Jahren sogar verschlechtert. Dass die Partei von Präsident Jimmy Morales von Militärveteranen gegründet wurde, macht die Zukunftsperspektive nicht gerade hoffnungsvoller.
Die klare Forderung der Opferverbände lautet, weniger Geld ins Militär zu investieren und stattdessen das Nationale Entschädigungsprogramm (PNR) zu stärken. Das PNR entstand ebenfalls aus den Friedensvereinbarungen und soll die Opfer entschädigen. Dies geschieht bisher nur in geringem Maße.
Eine weitere Aufgabe dieses Programms besteht in der Exhumierung von Personen, die entweder bei den Massakern ermordet und dann in Massengräbern verscharrt wurden, oder die als politische Gegner*innen von der Regierung „verschwunden gelassen“ wurden. Ziel ist es, die Ermordeten ihren Familien zu übergeben und offiziell zu beerdigen. Die Familien warten zum Teil schon 35 Jahre auf eine würdevolle Beerdigung ihrer Angehörigen. Nur so kann ein Prozess der individuellen und gesellschaftlichen Versöhnung beginnen. An dieser Stelle haben vor allem internationale Organisationen finanzielle Unterstützung bereitgestellt, nicht aber das dafür geschaffene Programm.
Auch wenn der Bericht über die Umsetzung des Friedensabkommens eine negative Bilanz zieht, gab es in den letzten Jahren Gegenbeispiele, die den Weg weisen, wie eine Aufarbeitung des Krieges aussehen könnte. Das Gerichtsurteil im Frühjahr 2016 etwa, in dem es um die Vergewaltigung von Frauen aus dem ehemaligen Militärposten Sepur Zarco durch Soldaten geht, fiel für die Opferverbände positiv aus (siehe LN 502). An diesem Beispiel wird deutlich, wie Rassismus und Sexismus im Krieg miteinander einhergehen, und dass das PNR unbedingt gezielte Programme für Frauen schaffen muss. Für Q’anil Tinamit und die Opfer-Bewegungen ist dieser Punkt besonders wichtig, angesichts der doppelten Diskriminierung, die indigene Frauen in öffentlichen Institutionen, inklusive im PNR, erleben.
Laut den Aktivist*innen müsse das Programm ernsthaftere Arbeit leisten und bräuchte dafür auch das vereinbarte Geld: 300 Millionen Quetzales im Jahr. Stattdessen wurden für das Jahr 2016 nur 25 Millionen zur Verfügung gestellt, wovon 60 Prozent für bürokratische Verfahren gebraucht werden. Darüber hinaus verlangen Frauen- und indigene Gruppen die Einrichtung einer Plattform auf Regierungsebene, um die öffentliche Politik des Friedens selbst mitbestimmen zu können. Der Bericht vom 16. November zeigt deutlich, dass die Aufarbeitung des Bürgerkrieges, der mehr als 200.000 Tote, 45.000  Verschwundene und 100.000 Vertriebene hinterlassen hat, lange noch nicht vorbei ist.

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