// Das Soziale Medienfeld nicht räumen

Soziale Medien gehören heute zu den wichtigsten Kanälen der Kommunikation. Bei jungen Menschen haben sie sich nicht nur als Mittel zur Kontaktaufnahme etabliert, sondern sind auch zentrale Quelle für politische Informationen. Etwa 73 Prozent der 16- bis 24-Jährigen in Deutschland nutzen laut Statista soziale Medien.

Doch die utopische Hoffnung der frühen Jahre des Internets, dass soziale Netzwerke demokratische und konstruktive Debattenräume sind, steht heute einer Realität gegenüber, in der vor allem die Rechten von den Mechanismen dieser Plattformen profitieren. Mechanismen wie zum Beispiel Algorithmen, die polemische, emotionsgeladene Beiträge favorisieren und die Entstehung von Filterblasen und Echo-Kammern provozieren. Soziale Medien bilden heute ein Umfeld, in dem einfache, polarisierende Botschaften bevorzugt werden. Negative Emotionen wie Angst oder Wut, mit denen rechte Diskurse gekonnt spielen, haben es daher leichter.

In Zeiten des Daten- und Überwachungskapitalismus sind zudem nicht nur die internen Dynamiken und ihre Auswirkungen Objekt der notwendigen Kritik, sondern auch die dahinterstehenden Besitzverhältnisse. Elon Musk & Co scheffeln massenweise Geld mit den Daten der Nutzer*innen und erweitern ihre Möglichkeiten der Einflussnahme. Aber es wäre ein gravierender Fehler, dies festzustellen und dann das Feld jenen zu überlassen, die daraus Vorteile ziehen. Die Skepsis der Linken gegenüber den Dynamiken der sozialen Medien ist zwar fundiert, jedoch nicht konstruktiv, wenn sie an dieser Stelle hängen bleibt. Genauso wie in Bezug auf andere Produkte im Kapitalismus können Boykott oder Ansätze des kritischen Konsums eine Möglichkeit sein, reichen aber als Strategie nicht aus. Vor allem helfen sie nicht dabei, die Linke wieder zu der Massenbewegung zu machen, die sie sein muss, um etwas zu verändern. Ob wir es wollen oder nicht: In der Gesellschaft, wie sie heute ist, sind soziale Medien zentral für politische Arbeit.

Und es gibt durchaus Beispiele dafür, wie diese erfolgreich von linken Gruppen und Organisationen genutzt wurden. Die Transnationalität der heutigen feministischen Bewegung geht zu großen Teilen auf das Nutzen sozialer Medien als Kommunikationskanäle zur Verbreitung von Informationen, Vernetzung und Mobilisieurng zurück. Als 2019 Feminist*innen auf der ganzen Welt die Performance „Un violador en tu camino“ (dt.: Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) des chilenischen Kollektivs Las Tesis nachahmten, nachdem diese über Facebook, Youtube und Instagram weltweit Berühmtheit erlangt hatte, wurde dies symbolisch deutlich. Auch die Kampagne #MileiNoSosBienvenido der Asamblea en Solidaridad con Argentina in Berlin und anderen Städten Deutschlands und Europas im vergangenen Monat kann als Positivbeispiel dienen: Mit der Kombination von verschiedenen Straßenaktionen und Publikationen ist es der Asamblea in kurzer Zeit gelungen, Tausende zu mobilisieren und Presseaufmerksamkeit zu generieren – alles mit Social Media als Hauptkommunikationskanal.

Es ist also möglich, linke Präsenz durch soziale Medien zu verstärken, Referenzfiguren und Perspektiven gerade an jüngere Leute heranzutragen. Dabei ist es zentral, das Publikum zu verstehen. Es geht meistens nicht nur um Aufklärung, sondern um Dialog und darum, gemeinsame Aktionsperspektiven zu finden. Die sozialen Medien können eine unterstützende Funktion für Aktivismus haben. Und für diese Funktion muss gekämpft werden. Seit es das Internet gibt, gibt es auch kritische Menschen, die sich die virtuellen Räume aneignen und sich, genau wie auch aus anderen Räumen, nicht vertreiben lassen. Die entsprechende kreative Hackerstrategie können wir uns zueigen machen.

Pharaonisches Projekt beerdigt sich selbst

Ortega Vaterlandsverkäufer Mobilisierungen gegen das Kanalprojekt im Jahr 2013 (Foto: Jorge Mejía Peralta via Flickr (CC BY 2.0))

Am 8. Mai verabschiedete die nicaraguanische Nationalversammlung den Gesetzentwurf zur Reform des Gesetzes des „Großen Interozeanischen Kanals von Nicaragua” sowie der in diesem Zusammenhang geschaffenen Kanalbehörde (Gesetz 800). Annulliert wurde dagegen das Gesetz 840, um dem chinesischen Geschäftsmann Wang Jing die ihm übertragene Konzession zu entziehen. Beide Gesetze bildeten die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Realisierung des gigantischen Bauprojekts einer Nicaragua durchquerenden Wasserstraße, wobei das Gesetz 840 Wang Jing gar die Nutzungsrechte für das Konzessionsgebiet für einen Zeitraum von 100 Jahren übertrug. Mit seiner Entscheidung bestätigt Ortega die Aussichtslosigkeit des Projekts, nachdem Wang Jing mit seiner Kanalbaufirma HKND wegen zweifelhafter Börsengeschäfte enorme Kapitalverluste hinnehmen musste.

Die vollmundigen Versprechen, die sich seit 2013 mit dem Kanalprojekt verbanden, um den Nicaraguaner*innen das Bauvorhaben schmackhaft zu machen, haben sich damit in Luft aufgelöst: ein jährliches Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von mehr als zehn Prozent, die Schaffung von mehr als 50.000 Arbeitsplätzen im Zusammenhang mit dem Bau von Zement- und Sprengstofffabriken, Straßen, Häfen, Flughäfen, dazu weitere tausend Arbeitsplätze in Freihandelszonen und großen Tourismuszentren, um nur einige der angepriesenen Vorteile zu nennen, die einen Ausweg aus der Armut mit sich bringen sollten.

„Heute ist ein Tag zum Feiern“

An die 100 Protestmärsche und der entschiedene Widerstand der Bäuer*innenbewegung haben zum Ende des Projekts beigetragen. Potenziellen Investor*innen haben die Proteste gezeigt, dass neben den technischen, ökologischen, finanziellen und kommerziellen Zweifeln an einem Projekt dieser Größenordnung auch mit Widerstand zu rechnen ist. Für die Anwältin und Expertin für Umweltrecht, Mónica López Baltodano, erweist sich die Unmöglichkeit, das Kanalprojekt zu verwirklichen, als „ungeheure Niederlage” für die Diktatur und als „Triumph” für den Umweltschutz und die bäuerlichen, indigenen und afro-deszendenten Gemeinschaften, die von den zerstörerischen Auswirkungen des Vorhabens unmittelbar betroffen wären. „Heute ist definitiv ein Tag zum Feiern, denn dies wäre ohne den konsequenten Einsatz von Tausenden von Nicaraguaner*innen, die sich der Auslieferung der nationalen Souveränität Nicaraguas widersetzt haben, nicht möglich gewesen”, so die Anwältin gegenüber der Nachrichtenplattform Confidencial in der Sendung Esta Semana. Gleichzeitig warnt sie jedoch vor allzu viel Optimismus. Man müsse aufpassen, „dass nicht andere Mafiaunternehmen um die Ecke kommen und wieder unter den Schutz des Gesetzes 800 gestellt werden”, zumal offensichtlich sei, dass „die Risiken der Enteignung und der Repression gegen die Gemeinden” fortbestehen.

Auch bei dem im Exil lebenden Umweltaktivisten und Direktoren der Umweltschutzorganisation Fundación del Río, Amaru Ruíz, überwiegt zunächst die Freude: In einem Interview mit Esta Noche sagte er, dass es endlich gelungen sei, „nach elf Jahren der Lobbyarbeit (…) zu beweisen, dass sowohl die Bäuer*innenbewegungen als auch die indigenen und afro-deszendenten Gemeinschaften Recht hatten, und dass schließlich die Aufhebung sowohl des Rahmenkonzessionsabkommens als auch des Gesetzes 840 erreicht worden ist.” Er sieht darin einen klaren Sieg für die Umweltschutzorganisationen, für die Gemeinden und die sozialen Bewegungen.

Kein Grund zur Entwarnung

Allerdings sieht auch Ruíz noch keinen Grund zur Entwarnung und stellt die Frage, was hinter der Gesetzesreform stecken könnte: „Offensichtlich ist das Gesetz 800 potentiell immer noch in Kraft und der Staat (…) und die Armee übernehmen die Kontrolle, denn schließlich ist die Person, die in den Verwaltungsrat (Direktion der Kanalbehörde nach der Änderung des Gesetzes 800) berufen wurde, ein Armeegeneral, Óscar Mujica. Es besteht die eindeutige Absicht, die Verhandlungen über das Projekt fortzusetzen, um die wirtschaftliche Lebensfähigkeit des Regimes abzusichern und ihm angesichts der sich abzeichnenden Wirtschaftskrise als Rettungsanker zu dienen.”

Die Bauernanführerin Francisca Ramírez gibt zu bedenken, dass die Tatsache, dass das Gesetz nicht aufgehoben wird, „noch mehr Zweifel aufkommen lässt”, da nicht bekannt sei, „an wen denn dann die Konzession vergeben wird.” Und der Bauernanführer und politische Ex-Gefangene Medardo Mairena meint, dass von Anfang an klar gewesen sei, dass das Kanalprojekt „nicht rentabel” war. Das Einzige, um das es gegangen sei, „war die Enteignung von Land.”

Um Landraub geht es auch bei der Klage der Territorialregierung der Rama- und Kriol-Völker der Gemeinde Monkey Point sowie der Gemeinschaft der Indigenen Schwarzen Kreolen von Bluefields vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (IACHR). Laut einem am 9. Mai veröffentlichten Kommuniqué des Rechtshilfezentrums für indigene Völker (Calpi) hat der IACHR bereits über die Klage gegen den nicaraguanischen Staat wegen der Konzession für den Interozeanischen Kanal entschieden. Danach hat das Gericht in seiner 165. ordentlichen Sitzung vom 7. bis 22. März über den Klageantrag beraten, dessen Urteil voraussichtlich während der nächsten Sitzung Mitte 2024 bekannt gegeben wird.

Das Rechtshilfezentrum Calpi weist darauf hin, dass die Annullierung des Gesetzes 840 und die Reform des Gesetzes 800 nur einige der Klagepunkte berühren, die dem Antrag an den IACHR zugrunde liegen. „Indigene und afro-deszendente Völker sind von diesen Gesetzen deshalb betroffen, weil sie nicht konsultiert wurden, obwohl 52 Prozent der Kanalroute durch ihre traditionellen Territorien führen”, erläutert Calpi die Begründung der Klageschrift. Diese stützt sich darauf, dass die betroffenen Gemeinschaften zwischen 2013 und 2020 allein 19 Klagen wegen der Verletzung ihrer grundlegenden Menschenrechte vor dem Obersten Gerichtshof Nicaraguas eingereicht hatten, ohne dass dieser sich auch nur mit einer ihrer Beschwerden beschäftigt hätte.

Das Calpi-Kommuniqué erinnert daran, dass die indigenen Autoritäten damals anprangerten, dass der nicaraguanische Staat den Präsidenten der Territorialregierung der Rama und Kriol (GTRK) kooptiert und ihn ohne vorherige informierte Zustimmung der Gemeinschaften dazu gebracht habe, ein angebliches Abkommen mit der Kanalbehörde zu unterzeichnen, in dem sie ihm illegal einen unbefristeten Pachtvertrag für 263 Quadratkilometer Land im Herzen ihres angestammten Territoriums gewährte. Desgleichen klagen die Autoritäten der Gemeinschaft der Indigenen Schwarzen Kreolen von Bluefields gegen den nicaraguanischen Staat, weil dieser „eine Parallelregierung zu der von ihnen rechtmäßig gebildeten Regierung förderte, den Prozess der Titulierung ihres traditionellen Territoriums abbrach, ihre Vertreterin in der Nationalen Kommission für Demarkation und Titulierung (CONADETI) rechtswidrig entließ und der Parallelregierung einen Titel über nur sieben Prozent des beanspruchten Landes übergab, sodass 93 Prozent ihres traditionellen Territoriums dem Megaprojekt zufielen”, so Calpi.

Elf Jahre lang flossen Unsummen in die Kanalbehörde – ohne Ergebnis

Laut Amaru Ruíz steht nicht nur die Bilanz von Menschenrechtsverletzungen noch aus, deren Bewertung durch den IACHR erwartet wird, sondern auch die Identifizierung des Korruptionssystems im Zusammengang mit der Tätigkeit der Kanalbehörde. Denn in den vergangenen elf Jahren wurde diese Behörde mit Mitteln aus dem Staatshaushalt finanziert, ohne dass Ergebnisse erzielt wurden. Dabei stellt sich die Frage, was mit den Unsummen geschehen ist, die der Kanalbehörde über all die Jahre zuflossen. „Es bleiben noch Korruptionssysteme, die aufgedeckt werden müssen. Die Personen, die daran beteiligt waren, müssen identifiziert werden”, so der Umweltschützer gegenüber Esta Semana. „Zum Beispiel sämtliche Unternehmen und das Netz, das im Fall der Wang Jing-Konzession aufgebaut wurde, nicht nur auf internationaler, sondern auch auf nationaler Ebene. Es gibt Anwälte, Geschäftsleute, Personen, die mit der Armee verbunden sind, Personen, die mit öffentlichen Institutionen in Verbindung stehen, die zahlen und zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Sie haben eine Konzession ausgehandelt, die eindeutig gegen die politische Verfassung Nicaraguas verstößt.”

Trotz der Suspendierung des Kanalprojekts wird sich der IACHR auch in Zukunft mit der Verletzung der Rechte indigener Gemeinschaften beschäftigen müssen: Am 22. April meldete das offizielle Gesetzesblatt La Gaceta die Übertragung einer Tagebaukonzession für 25 Jahre an das chinesische Bergbauunternehmen Xinxin Linze Minería Group in der nördlichen Autonomen Karibikregion. Dieses Gebiet wird hauptsächlich von indigenen Gemeinschaften der Miskitu und Mayagna bewohnt. Kritiker*innen bezweifeln, dass die gesetzlich vorgeschriebenen Umweltverträglichkeitsstudien durchgeführt wurden, wobei es weder zu den Auswirkungen auf die indigenen Gebiete noch zu vorherigen Konsultationen der betroffenen Gemeinschaften Informationen gibt. Nach der Auflösung von mehr als 3.600 Organisationen und der gewaltsamen Unterdrückung jeglichen zivilgesellschaftlichen Protests herrscht weitgehend Stille im Land. Für den Bergbausektor ideale Bedingungen, die es erlauben, Nicaraguas natürliche Ressourcen Akteur*innen zu überlassen, die sich weder um Gesetze noch um die Rechte und Lebensbedingungen der ansässigen Bevölkerung scheren.

Überleben durch radikale Zärtlichkeit

Lia García Künstlerin, Poetin, Pädagogin und Aktivistin für die Rechte der LGBTIQ-Gemeinschaft in Mexiko-Stadt (Foto: privat)

„Ich bin eine Frau des Wassers, sagen meine Vorfahrinnen. Tochter von Oshún, der Mutter aller Flüsse, die fließen und sterben, indem sie zum Meer werden, Wasser – Yemayá. Das Wasser ist mein Zufluchtsort vor all der Traurigkeit, all der Wut, hier fühle ich mich frei; alles fließt in ihm, genauso wie in meinem Körper und meinem Geschlecht. Alles ist transparent, wie ich und meine Schwestern, die wir täglich unser Gesicht zeigen trotz der Beleidigung und des Spotts darüber, dass wir vor den durch das koloniale Patriarchat aufgedrückten Normen fliehen.“ So stellt sich Lia García im Text „Durch Meere überleben wir: Metaphern des trans Schmerzes“ vor, der 2020 im Sammelband Tsunami 2 veröffentlicht wurde.

Lia García ist Künstlerin, Poetin, Pädagogin und Aktivistin für die Rechte der LGBTIQ-Gemeinschaft in Mexiko-Stadt. Sie hat in fast 20 Jahren der Arbeit ihre ganz eigene Verknüpfung von Performancekunst, Poesie und Pädagogik entwickelt, um Menschen auf emotionaler Ebene anzusprechen und Verbindung zu denen herzustellen, die im Alltag oft eine Bedrohung für sie darstellen. Ihre Form zu arbeiten führt sie unter anderem auf ihr Studium der Pädagogik an der UNAM (Universidad Nacional de México) zurück. Währenddessen lernte sie anarchistische und dekoloniale, feministische Gruppen kennen und schloss sich mit Kunststudierenden vom benachbarten Institut zusammen, um politische und künstlerische Räume für queere Personen zu öffnen und von dort aus auf die Gesellschaft einzuwirken.

Auf die Gesellschaft einwirken Lia García bei der pädagogischen Arbeit (Foto: privat)

Ihre Performances spielen mit Berührung und Poesie. Sie geht zwischen den Anwesenden umher, berührt ihre Gesichter und Arme, schaut ihnen in die Augen, trägt persönliche, emotionale Texte vor, nimmt das Publikum mit auf eine intime Reise in ihr eigenes Inneres und führt sie dabei gleichzeitig mehr zu sich selbst. Nicht selten beginnen einige zu weinen. „Lia hat die Fähigkeit, den Raum, den sie betritt, auf magische Weise zu verwandeln. Ihre Werke sind kraftvoll, tiefgehend und vermitteln starke Emotionen“, erzählt ihre Kollegin und langjährige Freundin Melina Castillo Morales LN im Interview. „Sie hat eine Art zu sein und das Leben zu betrachten an sich, die ansteckt. Mit ihr gibt es keine Oberflächlichkeit, es geht immer voll Intensität in die Tiefe.“

Lia Garcías Performances bringen Dinge zum Ausdruck, die intellektuell schwer vermittelbar sind. Valerie E. Leibold sieht in diesem Fokus auf Affekte und Emotionen in einer Analyse für die Zeitschrift Extravio einen Anstoß zur „kollektiven, dekolonisierenden Transformation“. Indem sie in ihren Per­formances vor allem Gefühle anspricht, entfernt sie die Anwesenden vom analytischen, bewussten Denken, das normalerweise als einzige Quelle legitimen Wissens anerkannt wird, und führt sie hin zu einem affektgeleiteten Erleben der Begegnung.

Die Performances sind dabei so vielfältig wie die Künstlerin selbst. Es gibt keine Eindeutigkeit in ihrer Arbeit, sie soll in der Gesellschaft verankerte Bilder aufbrechen. Risse und Brüche im System zu erzeugen, ist ein Ziel, das sich durch Lias Leben zieht. Daher erzählt sie LN auch gern eine Anekdote ihrer Großmutter Virginia aus Oaxaca: „Sie sagte immer, wenn ein Spiegel zerbräche, müsse ich ihn zusammenfegen und Wasser und Salz darüber schütten, um keine sieben Jahre Unglück auf mich zu ziehen. Doch eines Tages antwortete ich ihr, ich wolle den zerbrochenen Spiegel nicht wegwerfen. Ich mochte es, mich vervielfacht zu sehen, in Teile zerstückelt, denn ich bin viele Dinge, ich bin in einem kontinuierlichen, lebendigen Prozess der Selbsterkenntnis und Dekolonisierung, eine Vielfalt an Möglichkeiten.“

„Ein konstanter Ausnahmezustand“

Lia Garcías Arbeit muss in ihrem spezifischen, regionalen Kontext verstanden werden. Der mexikanische Alltag für eine trans Frau ist einer der konstanten Bedrohung und Gewalt. Das internationale Trans Murder Monitoring-Projekt registrierte im vergangenen Jahr 52 Morde an trans Personen in Mexiko. Auch das Leben von Menschen wie Lia García ist von Diskriminierung und Gewalt geprägt: „Wir trans Frauen leben in einem konstanten Ausnahmezustand“, beklagt sie. Die durchschnittliche Lebenserwartung von trans Frauen in Mexiko liegt laut einem Bericht der Interamerikanischen Menschen­rechtskommission (CIDH) von 2015 bei nur 35 Jahren.

In vielen Bundesstaaten Mexikos gibt es große Fortschritte in Bezug auf Gesetze zu Themen wie der Identitätsanerkennung, Zugang zu angemessener Gesundheitsversorgung oder Diskriminierungsprävention, wie ein weiterer Bericht der CIDH 2018 feststellte. Die gesetzlichen Bedingungen für trans Personen sind in vielen Teilen des Landes besser als noch bis vor kurzem in Deutsch­land. Doch der Wandel in der Gesellschaft schreitet langsamer voran. „Auch wenn der Staat uns mehr Rechte zugesteht, gibt es nach wie vor ein großes Problem der geschlechtsbezogenen Gewalt im Kulturellen“, so die Aktivistin. Trans Frau in Mexiko zu sein bedeutet, dass Trauer, Wut und Schmerz zum Leben dazugehören. Doch Lia lässt nicht zu, dass ihr Leben nur darauf beschränkt wird. Auch dazu passt eine Geschichte ihrer Großmutter Virginia über die Entstehung von Perlen, die Lia in „Durch Meere überleben wir“ nacherzählt: „Perlen, meine Kinder, sind keine Sache von Eleganz. Perlen verstecken ein Geheimnis in sich, das nur die enthüllen können, die wie wir gelernt haben, das Leben mit den Augen voller Wasser zu sehen. Damit eine Perle aus einer Muschel heraus geboren wird, müssen zehn Jahre vergehen. Um die zehn Jahre braucht sie, um die Bakterien, die sich durch ihr zerbrechliches, schwammiges Inneres gebohrt haben, mit Perlmutt zu überziehen, um sie einzukapseln und ihre Wunde in eine Perle zu verwandeln.“ Virginia sammelte als junge Frau Perlen in Puerto Ángel, Oaxaca. Es ist Tradition der Frauen der Familie, Perlen aufzubewahren und weiterzugeben, als Symbol dafür, „dass sie gelernt haben, aus ihrem Schmerz ihren wertvollsten Schatz zu machen.”

Heute trägt auch Lia gerne Perlen, die sie mit ihren Vorfahrinnen und mit dem Meer verbinden. Sie hat sich ihre Weiblichkeit dafür selbst aneignen müssen. Das Verknüpfen von Gefühlen wie Trauer oder Wut mit Zärtlichkeit und Widerstand ist zentraler Aspekt ihrer performativen Arbeit. Sie möchte Menschen Türen öffnen, um sich von den Zwängen patriarchaler Männlichkeitsnormen und der kolonialen Geschlechterbinarität zu befreien. Denn wie an vielen Orten der Welt gab es auch schon im Mexiko vor der Kolonisierung andere Geschlechtskonzepte als die heute dominanten. „Wir (trans Personen) wurden als göttlich betrachtet, doch dann kam die Kolonisierung und alles, was (den Europäeri*nnen) seltsam schien, wurde zur Sünde und musste ausgelöscht werden. Trans Frau zu sein bedeutet, sich in einem konstanten Prozess des Heilens kolonialer Wunden zu befinden“, erklärt Lia. Sie versteht die Gewalt als Teil der kolonial geprägten Gesellschaftsstrukturen, von denen auch cis Männer, die die Mehrheit der Täter bilden, in ihrer Identität beeinflusst sind. Daher arbeitet sie bewusst mit dieser Zielgruppe.

Radikale Zärtlichkeit In Performances tritt Lia García in die Nähe der Zuschauenden (Foto: privat)

Zärtlichkeit ist der Schlüssel ihrer Performances. Ein Gefühl, das für viele cis Männer in Mexiko im Alltag versperrt bleibt und sie verun­sichert – umso mehr, wenn es in Verbindung mit einer trans Frau steht. Auch Lia beobachtet dies in ihrem Leben. „Einen Mann in Verbindung mit Zärtlichkeit zu bringen, kann mich das Leben kosten“, sagt sie. „Die gesellschaftlichen Kosten davon, in Lateinamerika eine trans Frau zu lieben, sind so hoch, dass dieser Mann die Möglichkeit, sich zu verändern, im Keim ersticken muss.“

Dennoch oder vielmehr gerade deshalb bringt Lia ihre Performances auch an Orte wie Polizeischulen und Gefängnisse, Orte, an denen Männlichkeit geprägt und Macht stabilisiert wird. Die Arbeit mit genau den Männern, die oft am gewaltvollsten handeln, insbesondere mit jenen, die zugleich durch koloniale Strukturen marginalisiert werden und entsprechend in Polizei und Gefängnissen überrepräsentiert sind, hält Lia für unabdingbar. „Andere Feministinnen haben sich von dieser Arbeit abgewandt, sie haben uns trans Frauen die Arbeit mit Männlichkeiten überlassen“, kritisiert sie. Doch sie könnten sich das nicht leisten. Oft werden ihre Erfahrungen im Kontext von Feminismen, die durch cis Frauen geprägt sind, nicht ausreichend beachtet oder gar aktiv ausgeschlossen. Doch es gibt Bewegung in die richtige Richtung: „2005 war es noch ungewöhnlich, dass eine trans Frau von sich sagte, sie sei Feministin. Feminismus und der Kampf von trans Personen hatten noch wenig Kontakt miteinander. Mittlerweile finden mehr Gespräche statt.“ Ein Prozess des Lernens und auch einer des Verlernens von Transfeindlichkeit, der noch lange nicht abgeschlossen ist.

Transfeindlichkeit verlernen Ein langwieriger Prozess (Foto: privat)

Lias eigens entwickeltes Konzept radikaler Zärtlichkeit nutzt es aus, dass Überraschung und Emotionen Menschen dazu bewegen können, auch tief verankerte Muster und Denkweisen zu verlernen. Das solle zeigen, dass andere Begegnungen möglich und lohnend sind. Lia bezeichnet diesen Prozess daher als „politische Verfüh­rung“ – ganz nach dem Vorbild der Meerjungfrau, einer von Lias Identitätserweiterungen, wie sie die Figuren, in die sie sich in ihren Performances verwandelt, nennt. Meerjungfrauen sind ambivalente Wesen, die vielen Angst einflößen, da sie mit ihrem Gesang Menschen verzaubern und den Verstand verlieren lassen. Den Verstand zu verlieren in dem Sinne, sich auf Empfindungen einzulassen, die wir gelernt haben abzuwehren, ist genau das Ziel, auf das Lia hinarbeitet.

Weil die Meerjungfrau und die Braut im Hochzeitskleid zwei Figuren sind, die seit vielen Jahren Teil ihres Repertoires sind, ist Lia García auch als la novia sirena („die Meerjungfraubraut“) bekannt. Ihre Figuren sind Teil populärer Rituale wie das Feiern des 15. Geburtstags einer jungen Frau (Quinceañera) oder die Hochzeit. Wenn sie sich diese Figuren aneignet, knüpft sie einerseits an allgemein verbreitete emotionale Verbindungen zu bestimmten Bildern an, um Gefühle von Gemeinschaft und Liebe anzusprechen. Andererseits destabilisiert sie die normative Bedeutung dieser Bilder indem sie als trans Frau sich das entsprechende Kleid anzieht und die anwesenden Personen ihre eigenen Annahmen hinterfragen lässt. „Wenn eine trans Person in einem Kontext wie diesem umarmt wird, geliebt wird, gewollt wird, ist das sehr kraftvoll“, berichtet sie, „ich wollte schon immer angeschaut werden, gesehen werden, das Gefühl haben, dass alle Blicke auf mir ruhen wie auf einer Braut. Angeschaut und erkannt zu werden ist in dieser Gesellschaft ein Risiko, und gleichzeitig ist es ein politischer Akt zu sagen, „ich existiere, hier bin ich!“ So erfüllt sich Lia durch ihre Performances Wünsche, die ihr ansonsten durch gesellschaftliche Normen verwehrt bleiben und verhilft sich zu etwas Gerechtigkeit.

Eine starke Abgrenzung zwischen Arbeit und Alltag spüre sie jedoch nicht: „Wenn ich meine Performances vorführe, schlüpfe ich in keine Rolle, das bin komplett ich“. Nicht nur ihre Identitätserweiterungen begleiten sie konstant: „Die Zärtlichkeit hat mir geholfen, zu überleben, denn ich muss kontinuierlich mit den Blicken, Beleidigungen und Spekulationen zurechtkommen. Zwischen anderen und mir über meine Emotionen Verbindung herzustellen und ihnen dabei die ihren zu spiegeln ist Basis meines alltäglichen Überlebens. Schon den Busfahrer nett zu grüßen, stellt einen Bruch mit den Erwartungen der Leute dar. Den eindringlichen Blick einer Person in der Öffentlichkeit zu erwidern, verändert das ganze Narrativ. Die andere Person stellt sich durch mich infrage, anstatt nur mich infrage zu stellen.“ So viel Haltung in unangenehmen und potenziell gefährlichen Situationen aufzubringen, erfordert viel Kraft und ist auch mit Müdigkeit und Einsamkeit verbunden. Zärtlichkeit prägt jedoch auch Lias Umgang mit sich selbst. „Ich umarme die ganze Bandbreite dieser Gefühle“, sagt sie, „ich leiste auch dadurch Widerstand, dass ich heile, und heile dadurch, dass ich weiter Widerstand leiste“.

Mit vereinter Faust gegen die Kettensäge

Para leer en español, haga clic aquí.

Vor Kurzem hat sich der Tag des Militärputsches in Argentinien zum 48. Mal gejährt. In welchem politischen Kontext wurde in diesem Jahr der Opfer der Diktatur gedacht?
Wir beobachten mit Schrecken, dass die Regierung einige Errungenschaften der 1980er Jahre, darunter den demokratischen Grundkonsens, wieder über den Haufen werfen möchte. Dazu gehört auch das Bekenntnis zum Nunca Más („Nie wieder”). Sehr besorgt hat uns, dass eine Vertreterin der H.I.J.O.S., der Vereinigung der Kinder von Verschwundenen, zwei Tage vor dem Gedenktag am 24. März darüber berichtete, dass sie in ihrem Haus überfallen und mit einer Waffe bedroht wurde. Es ist unglaublich, dass Menschen, deren Familienangehöre verschwundengelassen wurden, nach 48 Jahren so etwas erleben müssen. Zurückgekommen ist auch die Diskussion darüber, ob es 30.000 Verschwundene waren oder nicht.

Wie geht ihr damit um?
Ich denke, auf solche Diskussionen müssen wir uns nicht einlassen. Stattdessen sollten wir das Menschenrechtsthema wieder mehr mit der Frage verbinden, für welches Projekt die Diktatur stand, nämlich für ein ungleiches, ungerechtes und gewaltvolles Land. Der Großteil der Verschwundengelassenen waren doch Arbeiter*innen! Diese Erfahrungen von Ausbeutung, Armut und Geschlechterungleichheit müssen wir wieder zum verbindenden Element machen. Damit die Menschen verstehen, dass Milei nicht für unsere Interessen einsteht. Und doch hat ihn die Klasse der Arbeiter*innen gewählt. Wir müssen also viel reden, Geduld haben und aktiver sein als je zuvor.

Poder Popular gibt es seit knapp zwei Jahren. Auf welchen Ebenen seid ihr aktiv?
Wir arbeiten zum Beispiel in Selbstverwaltungsstrukturen in den Stadtvierteln. Es gibt dort weiterführende Schulen, Kantinen und Gemeinde- zentren, in denen wir uns für bessere Wohnbedingungen engagieren. Außerdem sind wir mit Genoss*innen in gewerkschaftlichen Organisationen aktiv und kämpfen dort für bessere Arbeitsbedingungen, aber auch für demokratischere Gewerkschaften und versuchen, feministische Themen einzubringen. Dann gibt es noch Genoss*innen, die im Kulturbereich aktiv sind, zum Beispiel in unabhängigen Theatern, und natürlich auch an den Universitäten und in ökologisch-sozialistischen Kämpfen.

Was hat sich an eurer Arbeit verändert, seit Milei Präsident ist?
Wir leben schon seit Jahren in einer Wirtschaftskrise mit hoher Inflation, das macht uns das Leben als Aktivist*innen nicht leicht. Wenn man mehrere Jobs hat, um zu überleben, wird es schwierig. Seit Dezember 2023 erleben wir nicht nur eine Verschärfung dieser Krise, sondern auch noch einen repressiven Alltag: Viele Genoss*innen sind bei den Demos Opfer von Repression geworden und müssen sich jetzt vor Gericht verantworten, weil sie für den Schutz natürlicher Ressourcen, bessere Löhne oder gegen die Beschneidung ihrer Rechte demonstriert haben. Manche haben sogar ihren Job verloren.

Welche Probleme erlebt ihr in der Arbeit in Stadtvierteln und Gewerkschaften am häufigsten?
Mileis Regierung hat uns alle in eine prekäre Lage gebracht. Mit dem Ministerium für Humankapital zum Beispiel wurden viele frühere Ministerien zu Ämtern heruntergestuft, was dazu führt, dass alles lahmliegt. Diese Lähmung führt dazu, dass die Kantinen in den Vierteln keine Ware mehr bekommen und nicht mehr für die Kinder kochen können. Und das in einem Land, in dem 41 Prozent der Bevölkerung in Armut leben und weitere 11,9 Prozent als Bedürftige gelten.
Außerdem wurden viele staatliche Beihilfen gestrichen – mit seltsamen, kaum nachvollziehbaren Argumenten. Das betrifft Menschen, die zum Beispiel die Straße reinigen oder in Kooperativen mitarbeiten und für diese Arbeit mit Beihilfen unterstützt wurden. Nun bekommen sie nichts mehr. Wir sind also auch in der Gewerkschaftsarbeit mit der staatlichen Lähmung konfrontiert. Sie geht mit dem einher, was Milei die „Kettensäge“ nennt. Noch heute, Ende März, warten 70.000 Staatsangestellte auf die Nachricht, ob sie im April noch Arbeit haben oder nicht. Ihre Verträge waren im Dezember nur um drei Monate verlängert worden.

Mit dem Generalstreik am 24. Januar hatten die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen ja schnell auf drastische Maßnahmen wie diese reagiert…
Ja, das war der schnellste Generalstreik, den die Gewerkschaft CGT jemals einer neuen Regierung entgegengesetzt hat, nach nur eineinhalb Monaten an der Macht. Das zeigt, in was für einer konfliktiven Lage wir uns befinden. In Argentinien gibt es zurzeit zwei wichtige Player, die den Widerstand auf die Beine stellen: die Gewerkschaften und die sozialen Bewegungen. Wir sind in beiden aktiv. Bei den sozialen Bewegungen gibt es jetzt – und das ist neu – eine Einheit der peronistisch-populistischen Linken und dem Teil der radikalen Linken, der nie für eine bestimmte Regierung stand.

Wie erklärt ihr euch, dass Milei in der argentinischen Bevölkerung noch immer viel Zustimmung erfährt?
Eine Regierung wie die von Milei wächst nicht auf der Oberfläche und wird auch nicht allein im Netz berühmt. Sie wurzelt tief in der immer schlechteren wirtschaftlichen Lage und erklärt sich außerdem durch die desaströsen Vorgänger­regierungen. Ich denke, nach der Pandemie leben die Menschen unter so schlechten Bedingungen, dass sie tatsächlich glauben: Wenn ich jetzt noch ein bisschen etwas opfere, wird es bald besser.
Außerdem sind Mileis Medienberater natürlich sehr gut darin, Verwirrung zu stiften, Falschinformationen und Propaganda zu streuen. Es gibt Maßnahmen, die die Bevölkerung im Allgemeinen gutheißt, darunter die Deckelung der Gehälter für Abgeordnete und Senator*innen. Die verdienen viel mehr als der Durchschnittsbürger. Solche Maßnahmen gegen die „Kaste”, wie Milei sie schimpft, und die Folgen der Vorgängerregierungen – insbesondere des Kirchnerismus – führen zu dem, was Nancy Fraser progressiven Neoliberalismus nennen würde: Sobald das Leben mit immer mehr Entbehrungen einhergeht, heißt es, das läge am Staat. Natürlich sagen die Leute dann: „Wenn das der Staat ist, dann weg damit!”

Mit welchen Strategien geht ihr gegen solche Diskurse und Maßnahmen vor?
Wir glauben, die wichtigste Strategie ist der Aufbau einer Einheitsfront mit vereintem Programm, Kandidat*innen und Sprecher*innen. Gleichzeitig finden wir es aber wichtig, weiterhin ohne Angst vor der Repression auf die Straße zu gehen. Wir müssen sichtbar machen, dass unfair ist, was hier passiert und dass nicht wir, die Leute aus den Stadtvierteln, die nichts zu Essen haben, die „Kaste” sind. Stattdessen versuchen wir zu entlarven, dass Mileis Wirtschaftsprogramm vor allem dem Großbürgertum in die Karten spielt. Denn während Milei sich über die „Kaste” beschwert, könnten die strategischen Firmen, die er mit dem Omnibus-Gesetz zu privatisieren versucht, am Ende in den Händen seiner Freunde landen.
Wir müssen also die Räume, die wir schon haben, weiter aufbauen und mit Inhalten füllen. Wir müssen jetzt dort sein, wo die Menschen sind – mehr denn je. Wir müssen wieder Verbindungen knüpfen: zwischen Arbeiter*innen, Arbeitslosen, Frauen und Queers. Nur so können wir diesen Maßnahmen mit vereinter Faust entgegentreten.

Welche Rolle spielt dabei die feministische Bewegung?
Die Feminismen sind zurzeit permanenten Angriffen auf die Errungenschaften der vergangenen Jahre und ihre Rechte ausgesetzt, darunter das weltbekannte Recht auf Abtreibung. Der Diskurs der Regierung verwehrt Frauen ihre Rechte, zum Beispiel, indem Hausfrauen jetzt keinen Anspruch mehr auf ihre Rente haben. Ganz zu schweigen davon, wie Milei zum Recht auf die eigene Geschlechtsidentität oder jenem gegen sexualisierte Gewalt steht. Genauso wie andere rechte Politiker*innen weltweit hat er sich die feministische Bewegung als Feind ausgesucht, als Sündenbock, der für all unser Unglück verantwortlich sein soll.
Ich denke, der Feminismus muss jetzt Brücken bauen und vor allem jene Menschen ansprechen, die noch nicht verstanden haben, warum Identitätspolitik so wichtig ist und wie wenig sie den Staat am Ende kostet. Als vor vier Jahren die Abtreibung legalisiert wurde, dachten wir, dass sich manche Diskussionen erledigt hätten. Etwa jene, dass es für den Staat viel billiger ist, Abtreibungen zu gewährleisten, damit all jene Frauen, die illegal abtreiben, nicht medizinisch behandelt werden oder sterben müssen. Offensichtlich steht das nun wieder in Frage. Deshalb müssen wir mehr an die Basis gehen und erklären, warum es hier auch um Klassenfragen geht.
Dafür finde ich es wichtig, den Strafdiskurs beiseite zu lassen, den der Feminismus irgendwann entwickelt hat und der uns sehr geschadet hat. Wir müssen für einen Queerfeminismus kämpfen, der nicht ständig Menschen beschuldigt und verfolgt, die im riesigen Universum des Feminismus anders über bestimmte Themen denken. Stattdessen sollten wir uns jetzt überlegen: Was ist es, das wir nicht bereit sind zu verlieren?

Wie blickst du auf die nächsten Wochen?
Ich glaube an unsere Leute und an die Fähigkeit, uns zu organisieren. Wir haben eine Diktatur überlebt, eine komplett unfähige neoliberale Regierung wie die von Carlos Saúl Menem, eine Wirtschaftskrise im Jahr 2001, also werden wir auch das hier schaffen. Dafür müssen wir unsere Strukturen der Teilhabe wiederbeleben und es schaffen, Macht von unten aufzubauen.
Eine Sache möchte ich noch sagen: Die Welt sollte unbedingt wissen, dass viele Dinge, die in Argentinien passieren, nicht in den großen Medien auftauchen. Es ist also wirklich wichtig, diese Nachrichten weiterzutragen. So fühlen auch wir uns nicht allein.

Ein Hauch von Hoffnung

Q’ equchi’ Maya gegen den Staat Proteste gegen Repression in Guatemala (Foto Aj Ral Ch’och’)

Das Strafverfahren gegen dich läuft seit 2017. Was ist der aktuelle Stand?

Damals wurde ich gemeinsam mit elf weiteren Personen angeklagt. Es ging um meine Recherchen zu den Verfärbungen im Izabal-See. Aktuell sind noch vier Personen angeklagt: Die Fischer Tomás Che, Cristobal Pop, Vicente Rax und ich. Wir hoffen, dass das Verfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt wird, da die Anklage auf falschen Behauptungen beruht.

Ich muss alle 30 Tage bei der Staatsanwaltschaft erscheinen und mich melden. Das ist eine Kontrollmaßnahme, die mich daran hindert, mich für längere Zeit an einem anderen Ort aufzuhalten und die mich zudem in meiner Arbeit einschränkt.

Im Jahr 2021 wurdest du ein weiteres Mal angeklagt.

Da ich trotz der Umstände weiter gearbeitet habe, unter anderem in dem Projekt „Mining Secrets“, hat der Staat ein weiteres Mal versucht, mich rechtlich zu verfolgen. Im Oktober 2021 war ich im Rahmen meiner journalistischen Tätigkeit auf einer Demonstration. Sie verlief friedlich, bis die Polizei die Autoritäten des consejo ancestral (dt. Ältestenrat) und auch mich angriff. Danach behaupteten die Polizist*innen, ich und weitere elf Personen hätten sie angegriffen und zeigten uns an. Im Januar 2022 wurde Haftbefehl gegen uns erlassen. Als im darauffolgenden März „Mining Secrets“ veröffentlicht wurde, sollte der Haftbefehl gegen mich vollzogen werden. Das war sehr belastend. Bei einer Gerichtsverhandlung im September legten meine Anwält*innen Beweise vor, dass ich die Polizist*innen auf der Demonstration nicht angegriffen habe: In einem Video, das wir vor Gericht zeigten, war zu sehen, wie Polizist*innen zu mir kamen, als ich gerade eine Live-Übertragung machte. Sie nahmen mir mein Handy weg, schlugen und traten mich. Ich erinnere mich, dass die Polizist*innen gerade dabei waren, Schusswaffen auszupacken, als ich mich ihnen damals während der Berichterstattung näherte. Sie wollten also kein Tränengas mehr verschießen, sondern hatten offenbar vor, das gleiche zu tun wie 2017, als Carlos Maaz erschossen wurde. Als ich mit einem Polizisten diskutierte und sie versuchten, mir meine Kamera wegzunehmen, kam jedoch ein Journalist hinzu und fotografierte mich. Das hat an diesem Tag wahrscheinlich Schlimmeres verhindert.

Was ist aus der Anzeige gegen dich geworden?

Bei dem Gerichtstermin im September 2022 fragte meine Anwältin die Staatsanwältin nach den Aussagen der Zeug*innen, auf denen die Anklage gegen mich beruhte und in denen die Namen derjenigen, die die Polizist*innen angeblich angegriffen haben sollen, genannt wurden. Doch weder in den von der Staatsanwältin verlesenen Aussagen noch in der entsprechenden Polizeiakte wurden Namen genannt. Sie haben sich die Namen also einfach ausgedacht. Als meine Anwältin fragte, wo die entsprechenden Aussagen seien, antwortete die Staatsanwältin, sie habe die Aussagen verlesen, so wie es von ihr verlangt worden sei. Es war unglaublich, was wir da hörten, aber in Guatemala leider möglich. Der Richter Edgar Aníbal Arteaga, der übrigens auch in dem anderen Strafverfahren gegen mich eingesetzt ist, war wütend, weil er auch in diesem Verfahren nicht so gegen mich vorgehen konnte, wie er wollte. Die Verhandlung dauerte höchstens acht Minuten und endete aufgrund mangelnder Beweise mit meinem Freispruch, also mit der Aufhebung des Haftbefehls gegen mich.

Du hast das Projekt „Mining Secrets“ erwähnt. Worum geht es dort?

Der kommunitäre Maya-Journalismus ist meine Leidenschaft, es geht mir um die Inhalte. Ich bin überzeugt, dass meine Arbeit dazu beiträgt, Geschichte zu schreiben und dass sie nicht nur einer Gruppe oder meiner Gemeinschaft helfen wird, sondern darüber hinausgeht, wie bei den Projekten „Mining Secrets“ und „Green Blood“ (Anm. d Red.: diese wurden von dem journalistischen Netzwerk Forbidden Stories durchgeführt und thematisieren die Geschichten von Journalist*innen, die über Umweltzerstörung in Folge von neoliberalen Großprojekten, wie durch die Rohstoffindustrie, berichten und deswegen kriminalisiert werden). „Green Blood“ wurde 2019 veröffentlicht, dort geht es um Skandale, die in Verbindung mit der Umwelt stehen, das „grüne Blut“ sozusagen. Es wird gezeigt, wie Journalist*innen leben, die Recherchen über Umweltzerstörung betreiben, vor allem im Bereich der Rohstoffindustrie. An dem Projekt waren Journalist*innen aus Tansania, Indien und Guatemala beteiligt. Die Journalist*innen erhielten Drohungen, einer wurde verbrannt, eine Journalistin musste ins Exil gehen. Und meine Geschichte in Guatemala war, dass ich meiner Arbeit in einer Situation der rechtlichen Verfolgung weiterhin nachging, aber verdeckt. Ich hatte einen Fuß im Gefängnis und den anderen draußen. Ich habe trotzdem meine Arbeit fortgeführt, weil es wichtig ist, sich zu äußern, Dinge aufzuzeigen und Einfluss zu haben. Für eine glaubwürdige Berichterstattung bedeutet dies, Beweise zu erbringen, damit es auch bei schwierigen Themen Informationen gibt. Es ist auch wichtig, dass die Geschichten nicht nur an einem Ort erzählt werden und dort verbleiben, sondern dass sie sich verbreiten. Ich denke, dass die Veröffentlichung von „Green Blood“ 2019 auch dazu beigetragen hat, die mediale Zensur zu dem Thema zu umgehen.

Am 25. Juni gab es in Guatemala allgemeine Wahlen. Wie schätzt du die Wahlergebnisse ein?

Zunächst ging man in Izabal und in anderen municipios (Großgemeinden) davon aus, dass es Unruhen geben würde. Denn ein Großteil der Bevölkerung ist unzufrieden mit dem System, mit der Regierung und mit dem Wahlbetrug, der sich seit langem abgezeichnet hat. Das ist die Meinung in den Gemeinden. Denn zunächst wurde die Präsidentschaftskandidatin Thelma Cabrera von der Bewegung für die Befreiung der Völker (MLP) durch Anzeigen aus dem Wahlprozess ausgeschlossen, dann folgten weitere Kandidat*innen.

Als ich in den Gemeinden unterwegs war, sagten sehr viele Leute, dass sie ungültige Stimmzettel abgeben wollten. Ich habe versucht, ihnen deutlich zu machen, dass diese Strategie uns nicht weiterhilft und sie dazu animiert, für die Würde zu stimmen. Denn es gab weiterhin Alternativen wie die sozialdemokratische Partei Semilla oder auch das linke Bündnis von URNG und Winaq. Die Wahlen wurden am Ende von viel Unmut seitens der Bevölkerung begleitet. Sandra Torres von der Partei der Nationalen Hoffnung (UNE) belegte den ersten und Bernardo Arévalo von Semilla den zweiten Platz.
Seit diesem Moment gibt es einen Hauch von Hoffnung, denn der Kandidat Arévalo hat eine politische Laufbahn und politische Kenntnisse vorzuweisen. Und zugleich ist es traurig, dass das MLP vom Wahlprozess ausgeschlossen wurde. Auch wurden in drei municipios Wahlzettel verbrannt. Es war die Absicht des Staates, die Stimmen für das politische Establishment zu verteidigen, aber die Menschen waren wütend und gingen dagegen auf die Straße. Auch in der Hauptstadt haben sie sich organisiert und dabei versucht, dass der Protest gewaltfrei verläuft. Die Menschen wollen, dass ihre Wahl respektiert wird. Denn so wie bisher können wir nicht weitermachen.

Wie hat die Regierung darauf reagiert?

Sie hat Polizei und Militär eingesetzt, zum Beispiel dort, wo Unternehmen sind, die Bergbau, Monokultur und Wasserkraftwerke betreiben. In Alta Verapaz zum Beispiel wurden Militär, Marineinfanterie und Luftwaffe eingesetzt. Die Streitkräfte dienen nicht der Bevölkerung oder dem Schutz des Lebens, sondern sie beschützen das Establishment. Ich denke, dass sich die Dinge verändern und dass sich gerade etwas bewegt, aber dass es dafür noch mehr bedarf. Am 20. August findet die Stichwahl der Präsidentschaftswahlen statt und am 21. August unsere Gerichtsverhandlung. Wir hoffen, dass das Verfahren eingestellt und der Termin nicht verschoben wird.

Politik und Poesie

Widerstand in Quito In der Hauptstadt Ecuadors kam es 2019 und 2022 zu Protesten (Foto: Karen Toro für laperiodica.net)

Wie haben Sie ihren Weg zur Poesie gefunden?

Ich schreibe schon, seit ich Kind bin. Ich war sehr introvertiert und die Umstände, unter denen ich aufwuchs, zwangen mich dazu, schnell erwachsen zu werden. Ich hatte immer das Gefühl, reifer zu sein, als die anderen Kinder in meinem Alter. Durch das Schreiben isolierte ich mich von ihnen. Die Lehrer bemerkten das und sagten: „Du kannst dein Gedicht schreiben“, wenn die anderen Kinder sangen oder tanzten. Mir gefiel das besser. Seitdem schreibe ich. Im Jahr 2017 habe ich mein erstes Buch veröffentlicht.

Wovon handelt Ihr erstes Buch?

Im Jahr 2006 ist mein Vater gestorben. Das war ein einschneidendes Erlebnis und ich begab mich auf die Suche nach mir selbst. In dem Umfeld, in dem ich aufwuchs, wurde ich nicht als indigen wahrgenommen, meine Indigenität wurde nicht anerkannt. Meine Familie gehört zwar der indigenen Bevölkerungsgruppe der Kayambi an, aber geboren bin ich im Territorium der Kitu Kara, etwa fünf Autostunden entfernt vom Rest meiner Familie. Ich bemerkte, dass meine Tanten und Onkel, zu denen ich zuvor kaum Kontakt hatte, Kichwa sprachen und sich anders kleideten. Das war ein Schock für mich. Ich hatte nie in die Welt der mestizos gepasst. Ich sah anders aus, hatte andere Gesichtszüge, andere Nachnamen. Ich gehörte den Kayambi an. Ich begann, mich mit den Ältesten der Gemeinschaft zu unterhalten, nahm an Zeremonien teil. Ich sammelte Eindrücke. Ich entdeckte die Kunst. Ich begann, das System infrage zu stellen, eine politische Position zu entwickeln. Das war erst möglich, nachdem ich meine eigene Identität gefunden hatte. Dieser Prozess dauerte zehn Jahre. Jemand sagte mir: „Das musst du aufschreiben.“ Und so kam es zu meinem ersten Buch.

Ihre Poesie ist sehr politisch und spricht viel über die Strukturen der indigenen Bewegung. Für die anstehenden Wahlen gab es einen indigenen Präsidentschaftskandidaten, der nun nicht mehr kandidiert. Warum?

Die Strukturen der indigenen Bewegung sind von außen schwer zu verstehen. Der Präsident der CONAIE sagt, dass es nicht seine eigene Entscheidung war, für die Präsidentschaftswahlen im August zu kandidieren, aber die Leute von außerhalb sagen: „Leonidas hat sich entschieden, zu kandidieren.“ Obwohl Leonidas selbst gar nicht kandidieren wollte. Er hat gesagt, dass die Bedingungen dafür nicht vorliegen, aber hat seine Kandidatur trotzdem eingereicht. Viele Menschen, die der Bewegung angehören, sehen nur, dass Leonidas einer von ihnen ist, und deswegen vertrauen sie ihm. Aber sie vergessen, die politische Situation zu analysieren. Andere von uns, die etwas mehr in den politischen Debatten stecken, wissen, dass die Bedingungen für eine Kandidatur gerade nicht gegeben sind. Die Entscheidung über die Kandidatur trifft eine Versammlung und Leonidas muss diese Entscheidung akzeptieren. Das hat er getan. Und als die Kandidatur zurückgezogen wurde, war es ebenso die Versammlung, die diese Entscheidung nach einer stundenlangen Debatte traf. Aber die großen Medien berichten, Leonidas hätte seine Kandidatur zurückgezogen. Das zeugt von einem Mangel an Verständnis. Es gibt in diesen Medien keine Journalist*innen, die das gemeinschaftliche System der indigenen Bewegung verstehen. Und so verbreitet sich dieser Diskurs landesweit.

Besonders der amtierende Präsident Guillerme Lasso hat Leonidas Iza regelmäßig beleidigt, ihm gedroht und ihn als Terroristen bezeichnet. Was macht das mit den Leuten?

Das macht die Menschen sehr wütend. Leonidas hat eine sehr wichtige Funktion, er repräsentiert die Bewegung und Lasso behandelt ihn wie einen Kriminellen. Diese Politiker wollen den Anführer der Bewegung zu Fall bringen und sie dadurch schwächen, aber sie verstehen die gemeinschaftliche Logik nicht. Seit 2019 ist ihnen das nicht gelungen und das wird wahrscheinlich auch so bleiben. Leonidas ist nicht nur jemand, der Entscheidungen fällt. Die Leute lieben und schätzen ihn. Er verbringt Zeit mit den Leuten. Wenn er Präsidentschaftskandidat wäre und es mit rechten Dingen zuginge, würde er gewinnen. Er würde die meisten Stimmen bekommen, weil wir, die Leute in den unteren Schichten, die armen Leute, mehr sind. Aber zum jetzigen Zeitpunkt sind die Voraussetzungen für eine Kandidatur nicht gegeben.

Welche Bedingungen müssten sich ändern, damit Iza bei künftigen Präsidentschaftswahlen kandidieren könnte?

Der Grund, warum eine Kandidatur zum jetzigen Zeitpunkt keinen Sinn macht, ist Pachakutik (Pachakutik ist die aus der indigenen Bewegung hervorgegangene politische Partei, die im Parlament vertreten ist, Anm. d. Red.). Viele Abgeordnete sind ihren Prinzipien und den Prinzipien der Partei nicht treu geblieben. Als sie an die Macht gelangt sind, haben sie ihre Stimmen verkauft und die Wähler betrogen. Sie wechselten zur politischen Rechten. Wir brauchen jedoch Abgeordnete, die sich treu bleiben. Leute, die an den Protesten 2019 und 2022 teilgenommen haben. Leute, die dafür gekämpft haben, dass das Öl im Yasuní Nationalpark im Boden bleibt. Diese Leute müssten aus der Bewegung heraus ernannt werden. Aber das ist momentan noch nicht der Fall.

Das politische Projekt des ehemaligen Präsi-denten Rafael Correa, die Revolución Ciudadana, gewinnt als Partei momentan wieder an Aufwind. Wie betrachten Sie diese Entwicklung und die Kandidatur von Luisa Gonzáles, die die erste Präsidentin Ecuadors werden könnte?

Woran ich als erstes denken muss, ist, dass diese Partei zehn Jahre lang alles dafür getan hat, um uns zu spalten. Dass sie sich als unbesiegbar hingestellt hat, als würden sie nichts und niemanden brauchen. So verhalten sie sich gerade wieder. Von der indigenen Bewegung als Einheit wird es keine Annäherung geben. Wenn wir uns eines Tages gemeinsam an einen Tisch setzen sollen, um uns im Sinne des Gemeinwohls zu unterhalten – zum Beispiel, wenn es um die Ressourcen im Yasuní Nationalpark geht – ist das möglich. Wenn es tatsächlich zum Wohle der Gemeinschaft ist, dann ja. Aber nicht, wenn es um das wirtschaftliche Wohlergehen ein paar Weniger geht. Eine Allianz wird es nicht geben. Und dass die aktuelle Kandidatin keine Berührungspunkte mit der feministischen Bewegung hat, ist ein großer Verlust. Die feministische Bewegung Ecuadors ist sehr breit aufgestellt und sie ist sehr stark geworden. Die Genossinnen haben hart gekämpft, um Räume zu erobern.

Um noch einmal auf Ihre Poesie zu sprechen zu kommen: Wie verbinden Sie Poesie und Politik?

Meine Inspiration finde ich im System der Gemeinschaft, in den Versammlungen der indigenen Gemeinden. Meine Poesie gehört eigentlich nicht mir. Ich transkribiere und veröffentliche sie nur. Für manche meiner Gedichte lese ich vierseitige Beschlüsse der CONAIE und fasse sie in einem poetischen Text zusammen. Das macht meine Gedichte zu kurzen Kommuniqués – nicht mehr und nicht weniger.

Was motiviert Sie, Ihre Poesie mit Menschen auf der ganzen Welt zu teilen?

Wenn wir eine Veranstaltung besuchen – zum Beispiel zum Thema Klimaschutz – sehen wir dort immer wieder dieselben Gesichter, dieselben engagierten Leute, die unsere Positionen teilen. Warum sollen wir also noch weiterreden? Wir müssen die Leute erreichen, die noch nicht überzeugt sind. Ich bin überzeugt davon, dass Kunst neue Räume erschließt. Ich möchte die Menschen erreichen, denen unsere Realität unbekannt ist. Die, die noch nicht überzeugt sind. In diese Räume gelangt Poesie. Darin möchte ich meine Energie investieren und diese Kraft habe ich in der Poesie gefunden.

Lyrik aus Lateinamerika

LEVANTAMIENTO

Llenamos sus calles, sus plazas,
con rebeldía tejida de mil colores,
llegamos de lejos;
a exigir nuestros derechos,
en las manos traemos el dolor de la tierra,
en la mirada la esperanza de un mañana digno,
en el pecho traemos un grito.

Para ustedes los poderosos, los blanqueados
los podridos de avaricia, la única ley,
que pesa sobre el empobrecido sentencia;
no pensar, no reclamar,
no protestar, no levantar la mirada.
Ustedes pueden romper el orden constitucional,
nosotros ni siquiera llegar a la capital.

Ustedes pueden comprar jueces y fiscales,
a nosotros ni siquiera se nos garantiza el debido proceso.
Pero tiemblan, ustedes tiemblan,
saben que juntos y organizados, les jodemos el bolsillo.

No volverán a ver un agricultor callado
no volverán a ver a una madre de rodillas,
jamás volverán a ver silencio en los estudiantes
¡Nunca más un runa sometido!

Para ustedes los poderosos, los blanqueados
los podridos de avaricia, la única ley,
que pesa sobre el empobrecido sentencia;
no pensar, no reclamar,
no protestar, no levantar la mirada.
Ustedes pueden romper el orden constitucional,
nosotros ni siquiera llegar a la capital.

Ustedes pueden comprar jueces y fiscales,
a nosotros ni siquiera se nos garantiza el debido proceso.
Pero tiemblan, ustedes tiemblan,
saben que juntos y organizados, les jodemos el bolsillo.

No volverán a ver un agricultor callado
no volverán a ver a una madre de rodillas,
jamás volverán a ver silencio en los estudiantes
¡Nunca más un runa sometido!

Ustedes los poderosos,
que solo en campaña llegan al pueblo,
nos abren sus brazos de lejos, de lejitos nomás,
no vaya a ser que se les pegue lo apestoso.
No saben leer los caminos enlodados,
no saben leer las escuelas sin techo,
no saben leer el hambre ni el frío,
ustedes, no saben leer fuera de sus doctorados.

Ustedes los gobierno tienen aliados
nosotros tenemos ayllu,
ustedes los poderosos tiene negocios,
nosotros tenemos el ayni, la minka.

Y si nos quitan la vida con su dictadura
nuestros hijos, nuestras hijas,
volverán mañana a tomarse sus calles y sus plazas,
la lucha será dura pero, en ellos, en ellas volveremos.

ERHEBUNG

Wir füllen ihre Straßen, ihre Plätze,
mit Rebellion gewebt in tausend Farben
wir kommen von weit her;
unsere Rechte zu fordern,
in den Händen tragen wir den Schmerz der Erde,
im Blick die Hoffnung auf ein Morgen der Würde,
in der Brust tragen wir einen Schrei.

Für euch ihr Mächtigen, ihr weiß Getünchten,
in Geiz Verfaulten, heißt das einzige Gesetz,
das über den arm Gemachten einen Schiedsspruch auflastet;
nicht denken, nicht einfordern,
nicht protestieren, nicht den Blick erheben.

Ihr könnt die Verfassungsordnung brechen,
wir gelangen nicht einmal zur Hauptstadt.
Ihr könnt Richter und Staatsanwälte kaufen,
uns wird nicht einmal der gebührende Prozess garantiert.
Doch erzittert, erzittert ihr,
ihr wisst, zusammen und organisiert ficken wir euch den Geldbeutel.

Ihr werdet nicht noch einmal einen verstummten Landarbeiter sehen,
werdet nicht noch einmal eine Mutter auf Knien sehen,
niemals werdet ihr wieder Schweigen bei den Studenten sehen,
Nie mehr ein unterworfener Runa!

Ihr Mächtigen,
die ihr alleinig durch eine Kampagne zum Volk gelangt,
ihr uns die Arme von weither, von weitem nur öffnet,
damit ihr bloß nicht die Pestilenz berührt.
Ihr vermögt nicht zu lesen die verschlammten Wege,
vermögt nicht zu lesen die Schulen ohne Dach,
vermögt nicht zu lesen Hunger und Kälte,
ihr vermögt nicht zu lesen außerhalb eurer Doktortitel.

Ihr Regierungen habt Verbündete,
wir haben ayllu,
ihr Mächtigen habt Geschäfte,
wir haben ayni, minka .

Und wenn ihr uns mit eurer Diktatur das Leben raubt,
unsere Söhne, unsere Töchter
kehren morgen zurück, eure Straßen und eure Plätze einzunehmen,
der Kampf wird hart sein, aber in unseren Söhnen, unseren Töchtern kehren wir zurück.

„Wir fordern, in Würde leben zu dürfen“

Para leer en español, haga clic aquí.

Was sind eurer Meinung nach die akutesten Probleme der Legalisierung des Waffentragens in Ecuador?

Das Dekret 707 wird unmittelbar zu einer Verschärfung der Gewalt führen und macht Gruppen vulnerabler, die bereits jetzt regelmäßig Gewalttaten ausgesetzt sind. Gleichzeitig verleiht die Legalisierung dem Patriarchat mehr Macht. Das Gesetz wirkt sich negativ auf die Sicherheit von trans Menschen, Frauen, Kindern und Jugendlichen aus, aber auch auf Menschen mit eingeschränkter Mobilität, auf rassifizierte und verarmte Menschen. Bevölkerungsgruppen, die ohnehin wenig Schutz in unserer Gesellschaft erfahren. Hier in Ecuador, wie auch im Rest Lateinamerikas und vielen anderen Regionen der Welt, gelten wir weiterhin als Menschen dritter Klasse und die Legalisierung des Tragens von Waffen bedeutet in diesem Kontext die Legalisierung unseres Todes.

Aber wer wird eurer Erfahrung nach vom Erlass profitieren? Welche Art von Sicherheit wird hierdurch priorisiert?

Das, was der Präsident mit dem Erlass durchsetzen möchte, ist nichts Neues. Für diejenigen, die schon immer Zugang zu Waffen hatten, wird sich nichts ändern. Das sind die Gruppen unserer Gesellschaft, die zwar noch keine eigene Waffe mit sich tragen, aber die die nötigen Mittel besitzen, um einen eigenen privaten Sicherheitsdienst oder Wächter einzustellen. Gleichzeitig werden diejenigen von uns, die diesen Luxus nie hatten, weiterhin schutzlos bleiben. Denn wir sprechen hier von einem Land, in dem wir nicht mal genug Geld haben, um unsere medizinische Grundversorgung zu sichern. Der Prozess für eine Waffengenehmigung kostet viel Geld. Wie sollen wir ein psychologisches Attest und eine Bescheinigung des Ministeriums bezahlen, die für einen Waffenschein vorausgesetzt werden? Also wem dient das Gesetz wirklich?

Und warum bedeutet dieser erleichterte Zugang eine Gefahr für Menschen aus marginalisierten Bevölkerungsgruppen?

Die Personen, die die Anforderungen für eine Genehmigung erfüllen können, sind Menschen, die einen höheren finanziellen Status genießen. Und unserer Erfahrungen nach überschneidet sich die Gruppe der „wohlhabenden“ Bürger ironischerweise mit den selbsternannten „Lebensschützer*innen“. Sie sind diejenigen, die ohne lange zu zögern auf eine trans Person, eine Sexarbeiterin oder einen obdachlosen Menschen schießen würden. Deshalb hat die erlassene Verordnung für uns auch viel mit sozialer Säuberung zu tun. Und das ist etwas, was wir vor allem in Bezug auf die Situation von trans Sexarbeiter*innen beobachtet haben.

Welche Rolle spielt die Zuspitzung dieser Gewalt seitens krimineller Banden?

Bandenkriminalität ist ein Phänomen, das sich seit der Pandemie in Ecuador eingebürgert hat. In dieser Phase entstanden Erpressungsmafias, die durch Gewaltanwendung und Drohungen trans und cis Frauen, die Sexarbeit nachgehen, für den Verkauf von Drogen rekrutieren. Seitdem breitet sich Gewalt in Bezug auf den Drogenhandel weiter aus. Und die Situation, die Jéssica Martínez durchlebte, ist ein klares Beispiel für die Normalisierung des Narco-Staates in Ecuador. Der Anstieg dieser Form von Kriminalität in Ecuador steht in direktem Zusammenhang mit den enormen sozialen Ungleichheiten und dem strukturellen Rassismus, die im Land herrschen. Ein Beispiel dafür sind die Lebensbedingungen von Millionen verarmten, von Diskriminierung betroffenen Jugendlichen die sich gezwungen sehen, unmenschliche Arbeiten wie Auftragsmorde auszuführen. So wachsen die Ausgrenzung und Diskriminierung weiter. Diese Lebenssituationen werden durch den fehlenden Zugang zu Bildung, Kultur, Kunst, Gesundheit und Beschäftigung befördert. Und es war nicht nur Jéssica, die letztes Jahr ermordet wurde. Im September letzten Jahres wurde auch auf uns ein Attentat verübt. Ihr Mord war eines von vielen Hassverbrechen, die unsere Schwestern und Kampfgenoss*innen in den letzten zehn Jahren erlitten haben. Deshalb klagen wir: WIR WERDEN ERMORDERT!

Könnt ihr uns mehr über den Angriff erzählen, den ihr letztes Jahr erlebt habt?

Was wir letztes Jahr erlebt haben, war ein Ausdruck von Transfeindlichkeit. Die Situation fing zwar wie ein gewöhnlicher Raubüberfall an, aber es änderte sich als unsere Angreifer bemerkten, dass wir trans Menschen und Travesti sind. Danach begannen sie mit hasserfüllten Aktionen, Beleidigungen, Schlägen und schließlich kam der Schuss. Dieser Vorfall zeigt, dass eine Waffe dem Hass einen tödlichen Ausdruck verleiht.

Was uns sehr verärgert hat, war, dass wir nicht wussten, warum wir diese Situation durchmachen mussten. Wir wussten nicht, ob es eine Folge der Kriminalität war, die durch die neoliberale Regierung verursacht wurde. Oder ob es sich um eine Form der politischen Verfolgung von Anführer*innen sozialer Bewegungen handelte. Und das sind wir. Wir haben unsere Stimme erhoben als Jéssica ermordet wurde und zwei Wochen später wurden wir angegriffen.

Welche Folgen hat ein freier Zugang zu Waffen und die damit einhergehende Eskalation der Gewalt für die prekäre Sicherheitslage, in der sich schon jetzt soziale, ökologische und politische Aktivist*innen, wie ihr, befinden?

Für uns ist das neue Gesetz eine Strategie, um bestimmte politische Ziele durch Gewalt zu erreichen. Alles was in Ecuador passiert, deutet darauf hin: Die Massaker in den Gefängnissen, die Polizeigewalt während des Streiks von 2022, das Verschwinden von sozialen Anführerinnen, insgesamt die Kriminalisierung des sozialen Kampfes. Das zeigen die Ermordung von Jéssica Martínez und auch unser Fall. Wir haben die Gemeinschaftsutopie der Befreiung und Emanzipation PachaQueer im Mai 2013 in Quito gegründet. Hier werden Räume des Dialogs geschaffen, um Paradigmen über Geschlecht, Identität und verschiedene Sexualitäten zu verändern. Wir haben es direkt in unserem eigenen Leben, an unserem eigenen Körper erfahren. Wir werden zum Schweigen gezwungen. Das erlebte auch das Kollektiv, dem Jéssica angehörte. Nach dem Tod beschlossen die Sexarbeiter*innen, ihre Aktivitäten einzustellen und den Verein zu schließen.

Weil das Kollektiv sich durch die Vorfälle bedroht fühlte?

Natürlich war es wegen der Einschüchterung, der Unterdrückung, der Erpressung und der Angstkultur, die vom Staat legitimiert wird.

Welche Rolle spielt der Staat bei der Unterdrückung von Aktivist*innen?

Das ist etwas, was wir natürlich nicht außer Acht lassen können. Wir sind der Meinung, dass die Regierung durch die Eskalation der Gewalt gegen Aktivist*innen ein Beispiel setzen möchte. Momentan werden viele Menschen wegen Terrorismus oder wegen dem, was der Staat als Terrorismus definiert, verfolgt. Dazu gehören kommunistische und sozialistische Aktivist*innen und Freidenker. Sie werden mit absurden Strafen von bis zu 13 Jahren bestraft, nur weil sie sich für den sozialen Kampf einsetzen.

Die Kriminalisierung des sozialen Kampfes durch den Staat macht also Aktivist*innen in verschiedenen Bereichen anfälliger für Gewalthandlungen ihrer Gegner*innen?

Genau, deshalb können wir die zahlreichen Morde an Menschen, die sich für Freiheit, Gerechtigkeit und Würde einsetzen, uns nicht zu eigen machen. In vielen dieser politischen Räume gibt es Morde. Und nicht alle kommen ans Licht. Ganz pragmatisch betrachtet: diejenigen, die nicht glauben, dass Waffen uns vor anderen schützen können, haben nie eine Waffe mit sich getragen und werden ihre Meinung aufgrund dieses Gesetzes nicht ändern. Aber es gibt auch Menschen, die davon profitieren werden, weil sie es gewohnt sind andere mit Gewalt zum Schweigen zu bringen. Was diese Politik bewirkt, ist eine weitere Polarisierung der Gesellschaft. Das Ziel ist es, die öffentliche Aufmerksamkeit von den sozialen Problemen abzulenken, damit die Straflosigkeit, die Ungerechtigkeit, die Ausbeutung und die Unterdrückung, die wir erleben, weiterbestehen können.

Wie lauten eure Forderungen angesichts der mangelnden Sicherheit und der Umsetzung eines Gesetzes, das den Bedürfnissen der gefährdeten Bevölkerungsgruppen nicht gerecht wird?

Was wir fordern, ist die Aufhebung des Dekrets 707 und die Absetzung des aktuellen Präsidenten. Zurzeit gibt es viel Wut, viel Empörung und deshalb fordern wir keine Friedenskultur. Die Kultur des Friedens hat oft einen sehr hohen Preis für ausgeschlossene Bevölkerungsgruppen. Wir können nicht in Frieden leben, wenn wir mit weniger als dem Mindestlohn unseren Lebensunterhalt bestreiten müssen. Wir können nicht in Frieden leben, wenn wir keinen Zugang zur einer umfassenden Gesundheitsversorgung oder diskriminierungsfreier Bildung haben. Wenn es keine Mindestanzahl an Arbeitsplätzen für trans Menschen gibt. Wie können wir in Frieden leben, wenn Menschen weiterhin der Zugang zu Wohnraum verwehrt wird oder wenn unsere Geschlechtsidentität nicht anerkannt wird? Wir fordern vor allem, in Würde leben zu können. Und in diesem Land werden wir mit jedem Tag der vergeht, mit jedem Mord und mit jeder verschwundenen Person unserer Würde beraubt. Deshalb fordern wir die notwendigen Maßnahmen und Mittel, um sie wiederzuerlangen.

VIER FRAUEN, EIN GEMEINSAMER KAMPF

Gerechtigkeit Protestaktion von Me Muevo Por Colombia gegen die Kriminalisierung der ermordeten Mile Martin (Foto: Me Muevo de Colombia)

Während eines dreitägigen Mexikobesuches im September dieses Jahres traf sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier unter anderem mit Müttern von Verschwundenen. Zu ihnen gehört auch Ana* aus Honduras. Sie ist seit 2012 in Mexiko, um ihren Sohn Óscar Antonio López Enamorado zu finden, der im Jahr 2010 in Jalisco verschwunden ist. Er gehört zu über 100.000 Menschen, die in Mexiko offiziell vermisst werden.

Amtliche Zahlen über gewaltsam verschwundengelassene Migrant*innen existieren nicht. Während nach Angaben des Nationalen Registers verschwundener und vermisster Personen (RNPDNO) 2.414 Einwander*innen als vermisst gelten, geht die zivilgesellschaftliche Organisation Movimiento Migrante Mesoamericano von 80.000 Migrant*innen aus, die in Mexiko verschwunden sind.

Wie die Deutsche Menschenrechtskoordination Mexiko in einer Presseerklärung zur Reise von Bundespräsident_Steinmeier kritisiert, stehe die mexikanische Politik und Gesellschaft noch immer vor denselben Herausforderungen wie vor Ló-pez Obradors Amtsantritt im Jahr 2018. Denn obwohl die Regierung die Menschenrechtskrise anerkannt und Reformprozesse eingeleitet hat, fehle der Wille zur konsequenten Umsetzung von Gesetzen. Aus diesem Grund setzt auch Ana bei der Suche nach ihrem Sohn nicht auf die mexikanische Regierung, sondern vor allem auf eigenen Aktivismus. In ihrem täglichen Kampf um Antworten hat sie schon an zahlreiche Türen staatlicher Institutionen geklopft, Suchaktionen gestartet, Berichte verfasst und Anzeigen gestellt. Da sich die Mühlen der mexikanischen Bürokratie nur sehr langsam drehen, Verschwundene aber so schnell wie möglich gefunden werden sollen, hat sich die Honduranerin mit anderen Aktivist*innen zusammengeschlossen und das Netzwerk Red Regional de Familias Migrantes gegründet.

Gemeinsam mit dieser Gruppe unterstützt Ana andere Mütter dabei, ihre verschwundenen Angehörigen in Mexiko zu finden. Hierfür organisieren sie Demonstrationen, errichten und pflegen Denkmäler, starten Petitionen, halten Reden, geben Präventionsworkshops und bauen ein internationales Netzwerk auf, um sich weltweit gegen das Verschwindenlassen von Migrant*innen einzusetzen. Im Gespräch erläutert Ana ihre Devise klar und deutlich: „Nicht schweigen. Weiterhin unsere Stimme erheben. Diese untätigen Behörden weiterhin entlarven. Weiterhin die Familien begleiten. Sobald etwas passiert, weiterhin berichten, was passiert und nicht nachlassen. Mit dem Kämpfen nicht ruhen. Mit anderen Worten: Wir müssen hartnäckig sein, wir müssen eigensinnig sein, damit dies ein Ende hat. Denn wenn wir ruhig und passiv bleiben, wird nichts passieren“. Dass man selbst etwas tun muss, um Veränderungen zu bewirken, weiß auch Yarima. Sie stammt aus Kolumbien und ist zum Studieren nach Mexiko gekommen. Yarima ist Mitbegründerin des Kollektivs Me Muevo por Colombia. Die Gruppe besteht vor allem aus Frauen und Studierenden.

Die massive Protestbewegung der Bauern und Bäuer*innen 2013 in Kolumbien war damals der Ausgangspunkt für die Gründung des Kollektivs. Yarima hat sich daraufhin mit anderen Personen aus Kolumbien in Mexiko zusammengeschlossen, um sich mit den sozialen Bewegungen für den Frieden und gegen die sozialen Ungleichheiten in ihrem Herkunftsland zu solidarisieren.

Seit 2015 ist das Kollektiv auch gegen Feminizide an kolumbianischen Frauen in Mexiko politisch aktiv. In Mexiko werden täglich im Durchschnitt zwischen zehn und elf Frauen Opfer von Feminiziden, also geschlechtsspezifischen Morden. Bezogen auf die Feminizide an kolumbianischen Frauen erzählt Yarima, dass deren Kriminalisierung und Diffamierung durch die Medien und das Justizsystem ein großes Problem darstellt: „Eine Frau kolumbianischer Herkunft wird in Mexiko ermordet – und das Justizsystem, das für Gerechtigkeit sorgen sollte, kriminalisiert und reviktimisiert sie im Einvernehmen mit den Medien. Das ist ein Muster, das wir in mehreren Fällen beobachtet haben. Informationen über den Fall werden an die Boulevardpresse weitergegeben, die versucht, der Frau die Schuld an ihrem Tod zu geben. Diese Presse informiert falsch über Aspekte ihres Lebens. Dies dient dazu, sie zu diskreditieren und nicht zu ermitteln. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Arbeit der Frau oder verwendet die traditionelle Art, von Feminiziden abzulenken, indem sie Geschichten über Drogen und Alkohol erfindet“, erklärt Yarima. Vor allem bei Sexarbeiter*innen komme diese Herabwürdigung vor.

Zwischen zehn und elf Frauen werden in Mexiko täglich Opfer von Feminiziden

Anfangs hatte das Kollektiv es vermieden, sich öffentlich über solche Themen in Mexiko zu äußern, da der Verfassungsartikel 33 Ausländer*innen verbietet, sich in die politischen Angelegenheiten des mexikanischen Staates einzumischen. Doch weil immer mehr Fälle von Feminiziden an kolumbianischen Frauen in Mexiko an sie herangetragen wurden, entschieden sie, sich öffentlich dazu zu positionieren. „Es ist ein Thema, das uns betrifft, weil wir in Mexiko leben. Als Frauen müssen wir uns damit in Mexiko auseinandersetzen, da es sich um eines der gewalttätigsten Länder der Welt handelt. Als Kolumbianerin kommt dann noch die Last der Diskriminierung hinzu; Fremdenfeindlichkeit und Ungerechtigkeit“, sagt Yarima.

Diese Problematik hat Yarima und ihre Mitstreiter*innen auf die Straßen bewegt. Seit jeher gehen sie gegen die Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen vor. Das Kollektiv organisiert Demonstrationen, die Fälle von Diffamierung und Kriminalisierung von immigrierten Kolumbianer*innen bei mexikanischen Behörden melden oder die kolumbianische Botschaft zum Handeln auffordern. Dabei überschneidet sich der Aktivismus von Yarima und dem Kollektiv Me Muevo por Colombia mit vielen Forderungen der mexikanischen feministischen Bewegung, die sich für ein Leben ohne Gewalt gegen Frauen und Mädchen einsetzt. Aus diesem Grund sind bei Protestaktionen oft auch mexikanische Aktivist*innen dabei.

„Wenn wir ruhig und passiv bleiben, wird nichts passieren“

Die von Yarima beschriebene strukturelle Diskriminierung gegen Migrant*innen geht auch von anderen staatlichen Institutionen aus. Insbesondere stehen das Nationale Migrationsinstitut (INM) und die Nationalgarde wegen Menschenrechtsverletzungen in der Kritik. Beide Institutionen werden von der aktuellen Regierung zur Unterbindung der irregulären Migration eingesetzt. Allein im Jahr 2021 gingen bei der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) 1.239 Beschwerden gegen das INM ein. Unter anderem wurde dem Institut vorgeworfen, Migrant*innen erniedrigend zu behandeln, Personen willkürlich zu inhaftieren oder sie einzuschüchtern. Zivile Menschenrechtsorganisationen gehen allerdings von einer weitaus höheren Dunkelziffer aus, da viele Migrant*innen aus Angst vor negativen Folgen keine Beschwerden einreichen.

Yesenia (alias Tuty) aus El Salvador kennt diese Diskriminierungen bei Behördengängen nur zu gut und setzt sich als Privatperson für andere Migrant*innen ein. Sie ist alleinerziehende Mutter von drei Kindern und lebt seit 32 Jahren in Mexiko. Nachdem Yesenia ihr Jurastudium in Mexiko absolviert und nun durch ihre Arbeit in einem Rathaus in Mexiko-Stadt ein festes Einkommen hat, hilft und begleitet sie in ihrer Freizeit ehrenamtlich andere Personen aus Zentralamerika und Südamerika bei juristischen Angelegenheiten. Dazu gehören unter anderem die Regularisierungsprogramme für einen Aufenthaltstitel (Regierungsprogramm zur Legalisierung des Aufenthaltsstatus, Anm. d. Red.) oder Registrierungen von in Mexiko geborenen Kindern. Da sie selbst während ihres Regularisierungsverfahrens Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Herkunft und ihrer Hautfarbe durch INM-Beamt*innen erfuhr, will sie nun anderen helfen: „Ich tue es, weil ich nicht will, dass sie leiden. (…) Weil ich gelitten habe, möchte ich allen anderen helfen“. Einmal wurden Yesenia die Antragspapiere vor die Füße geworfen – sie solle sich keine Hoffnung auf eine Aufenthaltserlaubnis machen, denn sie sei weder blond noch weißhäutig.

Yesenias Solidarität mit Personen, die nach Mexiko kommen, geht so weit, dass sie oft Unbekannte bei sich übernachten lässt. Es sind meistens Familien, die in keiner Herberge für Migrant*innen unterkommen konnten und sonst auf der Straße hätten schlafen müssen. „Meine Kinder haben schon vorgeschlagen, unsere Wohnung in Herberge Tuty umzubenennen“, scherzt Yesenia. Migrant*innenherbergen werden in Mexiko zum größten Teil von zivilgesellschaftlichen Organisationen verwaltet. Sie unterstützen Migrant*innen, indem sie unter anderem Unterkunft, Essen, Kleidung, aber auch Rechtsbeistand und medizinische Hilfe anbieten. Doch oft sind diese Einrichtungen überbelegt, nicht jede Person kann bleiben. Bei Yesenia haben deswegen schon einige Migrant*innen eine warme Mahlzeit und einen Platz zum Schlafen bekommen.

Yesenia solle sich keine Hoffnung auf eine Aufenthaltserlaubnis machen, sie sei weder blond noch weißhäutig

Obwohl die Diskriminierung von Migrant*innen ein weit verbreitetes Problem ist, betonen Ana, Yarima und Yesenia, dass sie auch Mexikaner*innen kennen, die hilfsbereit und solidarisch sind. Die Venezolanerin Andrea, die vor sieben Jahren mit ihrem Sohn nach Mexiko kam, will sich deshalb mit ihrem sozialen Aktivismus für diese Unterstützung bei der mexikanischen Gesellschaft bedanken. Wie die anderen Frauen hat sie sich im Land ein neues Leben aufgebaut: „Mir geht es jetzt gut und deswegen wollte ich anderen helfen, die weniger haben. Es ist eine Gelegenheit, sich für die Möglichkeiten, die wir hier bekommen haben, dankbar zu zeigen. Außerdem geht es darum, sich gegenseitig zu unterstützen, damit die schwierigen Zeiten nicht so unangenehm sind“.

Spieltag mit der Gruppe Venezolanos al Rescate (Foto: Venezolanos Al Rescate)

Mit anderen Venezolaner*innen hat Andrea 2018 die Gruppe Venezolanos al Rescate gegründet. Gemeinsam unterstützen sie in Mexiko vor allem Kinder und Familien in armen Verhältnissen. Denn laut dem mexikanischen Rat für die Bewertung der sozialen Entwicklungspolitik (CONEVAL) leben immer noch 19,5 Millionen Kinder und Jugendliche in Armut. Aus diesem Grund organisiert Andrea mit ihrer Gruppe in abgelegenen Ortschaften zum Kindertag am 30. April Feiern, bei denen sie auch Essen, Kleidung und Spielzeug verteilen. Außerdem verschenken sie zum Schulbeginn Materialien, die zuvor an die Gruppe gespendet wurden. Neben diesen Aktionen, die sich vor allem an Kinder mit mexikanischer Staatsangehörigkeit richten, unterstützt Venezolanos al Rescate auch Personen aus Venezuela: Venezolaner*innen, die in Mexiko bleiben wollen, sich im Transit durch Mexiko befinden oder die in Venezuela leben. So hat die Gruppe aufgrund der humanitären Krise im Land auch schon Pakete mit Medikamenten nach Venezuela verschickt.

Ein Aktivismus, der von Medien kaum beachtet wird

Die vier hier porträtierten Frauen stehen nicht repräsentativ für alle Migrant*innen aus Zentral- und Südamerika in Mexiko. Sie kommen aus verschiedenen Herkunftsländern und haben sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten. Doch ihre Geschichten geben Einblick in einen Aktivismus, der von den Medien kaum beachtet wird. Diese Seite Mexikos, das zum Ankunftsland für Menschen aus Zentralamerika, Südamerika und der Karibik geworden ist, wird selten zum Thema gemacht.

Doch es sind starke Geschichten von Frauen, die anderen Menschen in Mexiko helfen und dafür keinerlei Gegenleistung einfordern. Ana, Andrea, Yarima und Yesenia haben sich unabhängig voneinander organisiert. Doch ihre vielfältigen und solidarischen Formen von Aktivismus haben eine Gemeinsamkeit: Sie alle richten sich gegen Ungerechtigkeiten in Mexiko, die in neoliberalen, patriarchalen und rassistischen Strukturen wurzeln.

* Auf Wunsch der Protagonistinnen und um ihre Sicherheit zu gewährleisten, werden nur die Vornamen verwendet.

FÜR DAS WASSER, FÜR DAS LEBEN

Die Karawane für das Wasser verbindet lokale Widerstände und Initiativen (Foto: Jana Bauch)

Mit der „Karawane für das Wasser und das Leben“ protestierten die mitreisenden Aktivist*innen gegen die Verschmutzung und Privatisierung des Wassers sowie gegen Extraktivismus. Damit stellten sie sich zugleich deutlich gegen die Idee des Fortschritts durch Wirtschaftswachstum, die die mexikanische Regierung aktuell durch große Infrastrukturprojekte propagiert. Dazu wurden Orte besucht, an denen verschiedene Gruppen und Gemeinden für den Schutz des Wassers und indigene Rechte kämpfen. Ziel war nicht nur, auf kollektiv organisierten Widerstand aufmerksam zu machen, sondern auch, die betroffenen Kollektive zu vernetzen.

Eine Reise des Zuhörens und des Austausches

Marina vom Bündnis der Pueblos Unidos de Choluteca fasst das so zusammen: „Die Karawane ist wie eine Reise des Zuhörens und des Austauschs, bei der wir verschiedene Ecken Mexikos besuchen, um zu sehen, wie sich an Orten des Todes Gemeinschaften organisieren, die für das Leben kämpfen und Autonomie aufbauen.“

Die Karawane startete an einem besonderen Ort: der ehemals besetzten Wasserfabrik Altepelmecalli im zentralmexikanischen Bundesstaat Puebla. Auf dem Gelände der Fabrik hatte Bonafont, eine Tochterfirma des französischen Lebensmittelkonzerns Danone, fast 30 Jahre lang große Mengen an Wasser abgepumpt – pro Tag etwa so viel, wie 50.000 Menschen in einem Jahr zum Leben brauchen. Am letztjährigen Weltwassertag, dem 22. März 2021, wurde die Fabrik von den indigenen Nahua besetzt, um dort ein Gemeindezentrum aufzubauen. Damit konnte die massive Wasserentnahme von über einer Million Litern täglich gestoppt werden, sodass sich die Brunnen der Gemeinde wieder mit Wasser füllten. Obwohl die Besetzung im Februar 2022 geräumt wurde und die Fabrik nun von Sicherheitskräften bewacht wird, stehen die Maschinen dort weiterhin still.

Die Wahl des Startpunktes war symbolisch – aus geographischer, aber auch aus zeitlicher Sicht: Am Weltwassertag 2022, also ein Jahr nach der erfolgreichen Besetzung, begann die Reise zu über dreißig verschiedenen Zielen, die sich teils ähnlichen, teils verschiedenen Kämpfen widmen: eine Mülldeponie, die das Trinkwasser vergiftet, eine geplante Goldmine der Aldama Group sowie Orte des Widerstands gegen die staatlichen Infrastruktur-Projekte Projecto Integral de Morelos (PIM) und Corredor Transístmico. Mit ersterem soll Zentralmexiko durch ein Wärmekraftwerk und eine Gas-Pipeline mit Energie versorgt werden. Seit Baubeginn im Jahr 2012 prangern lokale Gemeinden immer wieder die Wasserverschmutzung durch Abwasser des Kraftwerks an; Wissenschaftler*innen warnen vor den Risiken, die der Betrieb der Pipeline in der Nähe zum Vulkan Popocatépetl mit sich bringe. Im Jahr 2019 wurde mit Samir Flores ein prominenter Gegner des PIM getötet; seitdem wurden weitere Aktivist*innen ermordet. Auch der Corredor Transístmico, der die Landenge von Tehuantepec im Süden Mexikos mit einem Schnellzug und einer Freihandelszone als Alternative zum Panamakanal etablieren soll, steht stark in der Kritik.

Die Karawane setzte sich aus bis zu 50 Menschen aus verschiedenen politischen Kollektiven zusammen. Mit einem eigens organisierten Bus besuchten die Teilnehmenden widerständige Projekte und wurden dort zumeist von mehreren hundert Menschen in Empfang genommen. Gemeinsam wurden Demonstrationen organisiert, Kundgebungen abgehalten und Orte der Zerstörung besucht, aber auch direkte Aktionen, wie etwa Straßenblockaden, durchgeführt. Dabei kam es wiederholt zu Repressionen durch die Polizei und die Nationalgarde, etwa durch Beschlagnahmung von Material. Die Karawane war auf ihrem Weg außerdem mehrfach gewalttätigen Einschüchterungsversuchen von organisierten Drogenkartellen ausgesetzt.

Gemeinsam an Orten der Zerstörung kämpfen

Auch neun Klimagerechtigkeitsaktivist*innen aus Lützerath waren bei der Karawane mit dabei. Das Dorf im Rheinland wird als eines der letzten von den Kohlebaggern des Konzerns RWE bedroht. Auf Einladung aus Mexiko sind die Aktivist*innen im März nach Lateinamerika gereist, um die Karawane zu unterstützen. „Diese Menschen stehen an den Frontlines der Klimakrise und in direkter Konfrontation mit zerstörerischen Großkonzernen. Wir wollen uns mit ihnen austauschen, vernetzen und somit von Menschen lernen, die schon seit 500 Jahren im Widerstand gegen koloniale, patriarchale und kapitalistische Ausbeutung sind“, erklärt Ronni Zepplin aus Lützerath. Die Vernetzung zum Bündnis der Pueblos Unidos, die die Aktivist*innen schon vorher aufgebaut hatten, hat sich während der Karawane intensiviert. Das Ziel, ihre Kämpfe zu verknüpfen und sichtbar zu machen, wurde sogleich in die Praxis umgesetzt: Rund um Ostern organisierten die Pueblos Unidos internationale Aktionstage, an denen digitale Podiumsgespräche, eine virtuelle Demo mit 14 verschiedenen Gruppen und eine Aktion vor der deutschen Botschaft in Mexiko stattfanden. „Wir wollen die Kämpfe in Mexiko mit Öffentlichkeit unterstützen, aber auch die europäischen Konzerne angreifen, die in Mexiko wirtschaften, insbesondere das grüne und soziale Image, mit dem zum Beispiel Danone versucht, seine Produkte zu verkaufen“, so Zepplin.

Auch nach der Karawane soll die gegenseitige Unterstützung weitergehen. Zepplin kommentiert: „Die Kontakte, die wir hier geknüpft haben, wollen wir nutzen, um uns gegenseitig nicht mehr alleine zu lassen. Wenn sie eine von uns angreifen, greifen sie uns alle an.“

EINE NEUE SOZIALE MOBILISIERUNG VON UNTEN

Meilenstein der Bewegungen Das Ja zu einer neuen Verfassung schmückte 2020 die Wände von Santiago de Chile (Foto: Ute Löhning)

Im Oktober 2019 gingen aus Santiago de Chile die Bilder des neu benannten „Platzes der Würde“ um die Welt. Abend für Abend versammelten sich Tausende von Menschen, um zu protestieren. Nicht nur gegen die Fahrpreiserhöhungen, die das Fass zum Überlaufen gebracht hatten. Sondern um ein Ende der unwürdigen Lebensbedingungen zu fordern, denen eine neoliberale Verfassung und konservative oder vorgeblich progressive Regierungen sie unterwarfen. Sie zeigten Präsenz, sie zeigten unglaublichen Mut und sie sangen all die Lieder, die schon das Projekt der Hoffnung unter Salvador Allende begleitet hatten. Plötzlich, nach fast 30 Jahren neoliberaler Verfassung und ökonomischer Ausbeutung, schienen die Menschen endgültig genug zu haben von den Verhältnissen. Und so groß war der Wunsch nach Veränderung, dass sie sich durchsetzten gegen eine Regierung, die nur für ein „mehr desselben“ angetreten war und versuchte, dies mit unerbittlicher Härte zu verteidigen. „El pueblo unido jamas será vencido“ – der Kampfruf einer längst vergangenen Zeit hallte durch das Santiago von 2019 und erzwang die Wahl zu einem verfassunggebenden Konvent.

Nicht nur in Chile brach Ende 2019 eine Zeit der gesellschaftlichen Veränderung an: Kolumbien erlebte eine noch nie dagewesene Mobilisierung. Gewerkschaften, Studierende, Oppositionelle, feministische Bewegungen und indigene Verbände riefen zu einem Generalstreik auf, nachdem die Regierung Steuer-, Arbeits- und Rentenreformen zugunsten der Unternehmen und Superreichen angekündigt hatte. Hunderttausende nahmen am Paro Nacional teil. In Bolivien nutzte die Rechte die umstrittenen Präsidentschaftswahlen für einen Putsch, der zu heftigen Auseinandersetzungen auf der Straße und massiver Repression führte. Landesweite Proteste in Ecuador setzten eine Rücknahme der von Präsident Lenín Moreno angekündigten Streichung der Subventionen für Treibstoffe durch. Und in Argentinien trafen sich 250.000 Feminist*innen zum größten jemals organisierten nationalen Frauentreffen – Auftakt für eine Bewegung und Demonstrationen, die noch sehr viel größer werden sollten.

Es war eine aufregende Zeit der Mobilisierungen von unten, in so schneller Folge, dass kaum Zeit für eine Analyse blieb: Sollte nach dem Ende der meisten (gemäßigt) linken Regierungen und der Welle der Machtübernahmen durch Konservative eine neue Phase der Revolte und sozialen Proteste angebrochen sein?

Die Pandemie hat die Proteste gebremst, aber nie zum Erliegen gebracht

Doch dann kam Corona: Die Pandemie, die in den Ländern Lateinamerikas besonders viele Opfer forderte, bremste die Proteste auf der Straße aus, auch wenn sie nie vollständig zum Erliegen kamen. Und es gab weiterhin Erfolge. In Peru verschärfte die pandemische Situation die bestehenden politischen Widersprüche und führte im November 2020 zu den größten Protesten der vergangenen 20 Jahre. Nach der umstrittenen Absetzung des Präsidenten Martín Vízcarra protestierten vor allem junge Menschen gegen den rechten De-facto-Präsidenten Manuel Merino. Sie verkörpern eine Generation, die sich von den Diffamierungen alles politisch Linken nicht mehr einschüchtern lässt (siehe LN 559).

In Argentinien erreichte die feministische Bewegung das selbst gesteckte Ziel: Am 30. Dezember 2020 wurde endlich das gesetzliche Recht auf eine legale, freie und kostenlose Abtreibung durchgesetzt. Doch die Legalisierung der Abtreibung war zu diesem Zeitpunkt längst nur noch ein Baustein in der erfolgreich gemeinsam konstruierten feministischen Agenda. Diese hinterfragte immer stärker, was genau den „Kern dessen, was eine Frau als Bürgerin für den Staat bedeutet“, ausmacht, wie es die Aktivistin Marta Dillón formulierte. #EsLey und die Mobilisierungsfähigkeit der argentinischen Feminist*innen wurden zum Meilenstein mit Ausstrahlungskraft in ganz Lateinamerika (siehe LN 560).

Chile befindet sich heute auf dem Weg zu einer neuen Verfassung – eine Kernforderung der Demonstrierenden, die sich versprachen, nicht eher zu ruhen, „bis die Würde zur Selbstverständlichkeit wird“. Der im Mai 2021 gewählte Konvent hat die inhaltliche Arbeit begonnen, die wahrscheinlich mit der jahrzehntelangen neoliberalen Durchdringung der chilenischen Gesellschaft Schluss machen wird – ein Erfolg der Revolte, der soziale Bewegungen in ganz Lateinamerika und darüber hinaus inspiriert (Seite 8).

Es gibt also Anlässe genug, sich intensiver mit den sozialen Protesten der vergangenen Jahre in Lateinamerika zu beschäftigen, mit ihren Erfolgen, Niederlagen und den aufregenden, neu entwickelten Protestformen. Inwieweit diese vielschichtige Mobilisierung von unten in der Lage ist, tatsächliche gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen, ist nicht entschieden. Auch die Ziele der sozialen Proteste sind und waren vielfältig: Geht es vor allem um einen Staat, der tatsächlich Daseinsfürsorge betreibt? Oder geht es heute sehr viel weniger als früher darum, die „richtige“ Regierung ins Amt zu wählen, sondern selbst Mitsprache und Verantwortung zu erhalten – über die repräsentative Demokratie hinaus, die allzu oft nicht die Interessen der Bevölkerung im Blick hat, wie die Pandora Papers ein weiteres Mal gezeigt haben?

Wir nehmen aber in diesem Dossier nicht nur die erfolgreichen Bewegungen in den Blick. In Nicaragua kam es bereits 2018 zu riesigen Demonstrationen. Die Kugeln der Polizei, die nach ersten Mobilisierungen gegen die Kürzung der Renten mit unverhältnismäßiger, brutaler Gewalt gegen friedlich Demonstrierende vorging, wurden zur Initialzündung für einen landesweiten Aufstand. Die Bevölkerung errichtete Hunderte von Straßensperren und unzählige Barrikaden im ganzen Land, die die Wirtschaftsaktivitäten empfindlich störten. Entsprechend unerbittlich schlugen die Sicherheitskräfte zurück. Die Bilanz heute: Hunderte von Toten, Verhaftungen, Gefängnis, Folter, Zehntausende im Exil, die Gegenkandidat*innen Ortegas für die Wahl im November 2021 verhaftet (Seite 38).

In Brasilien gab es vor der Präsidentschaftswahl 2018 große Demonstrationen gegen den Kandidaten Jair Bolsonaro, auch die feministischen Bewegungen mobilisierten sehr erfolgreich mit #EleNão. Seit dem Beginn der Pandemie wurde der Protest jedoch fast ausschließlich online organisiert – eine große Herausforderung für die verschiedenen Feminist*innen, die gerade erst zu einer neuen Vernetzung gefunden hatten. Inzwischen sind die Proteste auf die Straße zurückgekehrt, doch erreichen sie nicht annähernd die kritische Masse, die notwendig wäre, um den rechtsradikalen Präsidenten aus dem Amt zu treiben. Zwei feministische Aktivistinnen ziehen auf Seite 22 eine Bilanz der Bewegung.

Auffällig ist bei allen Protesten die Mobilisierungsfähigkeit der Akteur*innen. Neben den feministischen sind es vor allem die indigenen Bewegungen, die Widerstand gegen alle Formen der Ausbeutung formulieren und eine angemessener Teilhabe aller Gemeinschaften in plurinationalen Staaten fordern. Nach dem Putsch in Bolivien war es vor allem die indigene Bevölkerung, die unter dem Banner der Wiphala die De-Facto-Regierung dazu zwang, die Wahlen im Oktober 2020 durchzuführen und nicht weiter zu verzögern. Trotz aller politischen Defizite der MAS als Partei zeigt dies die Stärke und das Selbstbewusstsein der indigenen Bewegungen (Seite 14).

Die Proteste beziehen sich auf- und lernen voneinander

Auch in Ecuador wurden die sozialen Proteste von der CONAIE angeführt, dem Dachverband der indigenen Bevölkerung, dessen Bedeutung seit dem Ende der Präsidentschaft von Rafael Correa wieder gewachsen ist (Seite 18). In Kolumbien ergriff der Widerstand in der Stadt auch das Land: Afrokolumbianische, indigene und kleinbäuerliche Bewegungen organisierten den Minga-Protestzug. Obwohl die Aufstandsbekämpfungseinheit der kolumbianischen Polizei (ESMAD) den monatelangen Protest mit blutiger Repression unterdrückte, flammte er im Jahr 2021 trotz der Pandemie erneut auf (Seite 11).

Der zunehmende indigene Widerstand ist angesichts der 500-jährigen Geschichte von Ausbeutung und systematischer Unterdrückung umso eindrucksvoller. Besondersn in Guatemala zeigt sich, dass traumatische Ereignisse, wie ein Putsch oder Genozid, zu einer anhaltenden Zersplitterung der indigenen Bewegungen führen, die die Organisations- und Widerstandsprozesse verlangsamen (Seite 26).

Aber nicht nur die wachsende Bedeutung von feministischen und indigenen Bewegungen haben die aktuellen sozialen Proteste gemeinsam, sie beziehen sich auch aufeinander, lernen voneinander, übernehmen erfolgreiche Protestformen aus anderen Ländern. Die Vernetzung und die Protestformen werden dabei immer digitaler, nicht nur wegen der Pandemie. Selbst neueste Technologien, wie der Einsatz von Drohnen am Rand der Proteste in Mexiko, erhalten Einzug in die Protestkultur (Seite 53). Gleichzeitig gibt es immer mehr künstlerische Protestaktionen und Live-Musik während der Demonstrationen (Seite 56). Die feministische Performance der chilenischen Gruppe Las Tesis ging um die Welt.

Dasselbe gilt aber auch für die verschiedenen Formen der Repression, denen der „Aufruhr auf der Straße“ ausgesetzt ist. So ist es kein Zufall, dass sowohl in Chile wie auch in Kolumbien eine große Anzahl von Demonstrierenden Augenverletzungen erlitten, dahinter stecken die gleichen Polizeitaktiken. Die Protestierenden wehren sich mit neuen Formen des Widerstands wie der primera línea, der „ersten Reihe“, die sich schützend zwischen Polizei und Demonstration stellt. Mehr dazu in zwei Beiträgen zu Repression und Protestformen in Chile und Kolumbien (Seite 42 und Seite  46).

Am Ende dieses Dossiers haben wir mehr Fragen als Antworten gewonnen. Ein Ende des „Aufruhrs auf der Straße“ scheint nicht in Sicht. El Salvador, das sich seit Präsident Bukeles Amtsantritt ebenfalls in Richtung Diktatur bewegt, erlebte im September 2021 die größten Proteste seit Jahrzehnten, als sich verschiedenste gesellschaftliche Gruppen gegen die Demontage der Demokratie und die Einführung des Bitcoins als Zahlungsmittel zur Wehr setzten (Seite 32).

Der Erfolg der sozialen Mobilisierung von unten ist ungewiss. In vielen Ländern scheint der Ausgang der gesellschaftlichen Auseinandersetzung offen, selbst in Chile, wo die Revolte bisher die weitreichendsten Erfolge errungen hat. „Laborando el comienzo de una historia sin saber el fin“ – „Den Anfang der Geschichte erarbeiten, ohne den Ausgang zu kennen“ – heißt es dazu treffend auf dem Wandbild des Titelbildes dieses Dossiers. Oder, wie es Marielle Franco, die Ikone der brasilianischen Frauenbewegung ausdrückte: „Wir müssen so handeln, als sei die Revolution möglich.“

FREI WIE DER ALBATROS

Widerständig Das “Anti-Denkmal” in Puerto Resistencia (Foto: Remux via Wikimedia Commons – CC BY-SA 4-0)

Auf dem Bildschirm taucht zuerst Nahuel auf: Sein Bild zeigt ein schlicht eingerichtetes Zimmer, irgendwo in Santiago de Chile. Ein junger Typ mit dunklen Locken, Brille und Ohrringen fängt an zu erzählen:

Nahuel: Hey, ich bin Nahuel Herane, 19 Jahre alt. Ich war bei der Revolte vom 18. Oktober 2019 in der primera línea dabei. Am 21. Dezember des gleichen Jahres – ich war 17 – haben mich sieben Schrotkugeln der Carabineros getroffen. Sechs auf den Körper und eine ins Auge. Bis heute kann ich auf dem linken Auge nichts mehr sehen.

Inzwischen ist auch Rolando Quintero da. Sein Bild wackelt, er ist auf dem Fahrrad in Puerto Resistencia unterwegs. Die Kreuzung war einer der zentralen Orte des kolumbianischen Nationalstreiks in Cali und ist heute ein Ort der Selbstorganisation von unten. Hier ist Rolando besser als El Profe (Der Lehrer) bekannt.

Profe: Hallo, ich bin Rolando, viele nennen mich el Profesor Papas oder el Profesor P. Ich habe an der Universidad del Valle Politikwissenschaften und Konfliktlösung studiert. Hier an dieser Kreuzung, früher Puerto Rellena und heute Puerto Resistencia genannt, habe ich mich am 28. April 2021 dem Generalstreik angeschlossen.

Der Profe ist an einer großen Baustelle angekommen. Hier entstehe ein riesiges Infrastrukturprojekt, erzählt er. Auf der Mitte des Platzes ragt eine große Hand in die Höhe – das „Anti-Denkmal der primera línea“, wie er es nennt.

LN: Wie kam es eigentlich dazu, dass ihr in der primera línea seid?
Nahuel: Ist es okay, wenn ich anfange, Profe?

Profe: Na klar, erzähl!

Nahuel: Also zu Beginn der Revolte war ich noch in der Oberstufe. Schon meine Familie hat eine sehr politische Geschichte: Mein Großvater war vor der Diktatur bei der Ermittlungspolizei PDI und 1973 als Personenschützer von Präsident Allende im Regierungspalast. Auch in der Diktatur waren meine Familienangehörigen in Widerstandsorganisationen wie der MIR aktiv. Mein politisches Bewusstsein hat in der Mittelstufe angefangen, also mit 14 oder 15. Ich fand die Politik der Regierungen schlecht, ging auf die Demos der Studierenden und Schüler und fand mich in einer anderen Welt wieder. Und dann kam der estallido social (so wird in Chile der Beginn der Revolte im Oktober 2019 bezeichnet, Anm. d. Red.). Erst da lernte ich die primera línea kennen. Die Tage nach dem 18. Oktober 2019 liefen immer gleich ab: Aufstehen, etwas essen und zur Plaza de la Dignidad, dem zentralen Ort der Proteste, laufen. Am späten Nachmittag kam ich nach Hause, habe gechillt und etwas gegessen, dann ging es auch schon wieder los zur Digni: zum Material suchen, andere Dinge vorbereiten. Es waren die chaotischsten Tage meines Lebens. Das ging zwei Monate, bis das mit dem Auge geschah. Von da an übernahm ich ruhigere Aufgaben.

Profe: Oft erwacht das Bewusstsein über gesellschaftliche, politische oder wirtschaftliche Zusammenhänge ja an der Uni oder am Arbeitsplatz. In meinem Fall war das an der Universidad del Valle. Dort wurde mir die soziale Ungerechtigkeit in Kolumbien bewusst, die an vielen Orten unseres Subkontinents eine systematische Geschichte hat, die mit den Interessen nationaler und transnationaler Akteure zusammenhängt. Aus diesem Bewusstsein entwickelte sich in meiner Studienzeit ein Kampf – zuerst sehr persönlich. Schließlich habe ich beschlossen, dass dieser Kampf mein Platz in der Welt zum Sein, zum Denken und zum Fühlen ist. Das alles war vor dem 28. April 2021. An diesem Tag haben uns die Indigenen eine große Lektion erteilt: Dass Dinge geschehen, wenn man sie selbst in die Hand nimmt. Die Indigenen haben für das Niederreißen der Statue des sogenannten Gründers von Cali, Santiago de Cali, gesorgt. In dem Moment, als diese Statue fiel, fingen wir an, unser Anti-Denkmal, die Hand der Würde, zu errichten. Mit allem, was wir heute tun, knüpfen wir an die Kämpfe unserer indigenen Vorfahren an, die wir niemals begraben und vergessen können. Puerto Resistencia ist heute zu unserem Territorium geworden, auf dem wir diese Erfahrungen gemeinsam mit kämpferischen Menschen säen und düngen.

Wer sind die Leute links und rechts von euch, wenn ihr in der primera línea steht?
Nahuel: Die Revolte haben wir Oberstufenschüler angefangen, indem wir über die Drehkreuze der U-Bahn gesprungen sind und das ganze Land aufgeweckt haben. Aber in der primera gibt es alles. Oft sehen wir uns gegenseitig nur vermummt. Da weißt du nicht viel über die anderen – nur, dass die anderen Gefährten im Leben und im Kampf sind. Man riskiert sein Leben füreinander und denkt trotzdem kaum darüber nach, mit wem man dort ist. Oft sind es junge Menschen wie ich, aber es gibt auch Ältere, Arbeiter und so weiter. Von den Leuten, mit denen ich organisiert bin, kann ich sagen, dass wirklich alle mitmachen, auch Frauen, Queers, trans Personen, nicht-binäre Personen.

Profe: Das war in den Tagen von Puerto Resistencia auch so. In der primera línea verbündeten sich frühere Feinde, bauten gemeinsam dieses Anti-Denkmal auf und errichteten Barrikaden. Es gab eine 500 Meter lange Barrikade, die sich weder die Polizei noch andere Sicherheitsorgane zu durchbrechen trauten, weil dahinter so viele Menschen waren: 24 Stunden am Tag, 90 Tage lang. Da gab es Leute, die endlich die T-Shirts feindlicher Gruppen ablegten und beschlossen, ihre gewalttätigen oder sogar tödlichen Auseinandersetzungen beiseite zu lassen, um Puerto Resistencia aufzubauen.

Und natürlich dürfen wir den Beitrag der Mütter und Tanten in der Küche, beim Kochen und bei der Wäsche nicht vergessen. [Zeigt auf ein kleines Haus] Dort in diesem Häuschen hatten wir unsere improvisierte Krankenstation. Da gab es alles von Notfallsanitätern bis hin zu ausgebildeten Ärzten, sogar Chirurgen. Besonders bemerkenswert war die Hilfe der Bauarbeiter: Statt nach 14-Stundenschichten nach Hause zu gehen, kamen sie danach zu uns und halfen beim Bauen.

Wände machen Mut “Halte durch, primera línea!” (Foto: Ute Löhning)

Und wie versteht ihr euch mit den Protestierenden außerhalb der primera línea?
Nahuel: Das kommt sehr auf die Protestierenden an. Mich nervt es, wenn Leute auf Demos Alkohol trinken oder kiffen. Das ist nicht der richtige Ort dafür. Manchmal gab es auch nervige Diskussionen um Gewalt. Und trotzdem sorgt man sich natürlich um die Menschen hinter einem: um die Kinder, die Eltern, die alten Leute. Denn auch sie sind ja Gefährten im Kampf. Oft bilden sie die zweite Reihe und sind in den kritischen Momenten für uns da.

Profe: Also in Puerto Resistencia gibt es diese Unterscheidung gar nicht. Die primera línea sind wir alle, primera línea steht für Gemeinschaft. In der primera línea kommen alle zusammen, die für den Kampf um Würde und soziale Gerechtigkeit aus dem Schatten getreten sind. Da wird nicht zwischen den einen und den anderen unterschieden. Und wenn es Gewalt bei Aktionen gab, dann weil sie zur Verteidigung nötig war.

War das schon immer so?
Profe: Die Geschichte der primera línea begann dem Mythos nach vor ungefähr fünf Jahren an der Universidad Nacional de Colombia, der größten Uni des Landes. Dort haben sich ein paar junge Typen ohne militärische Ausbildung und ohne Erfahrung mit Gewalt und Konfrontation zusammengetan, um die Demos zu schützen: gegen die Waffengewalt des Staates, ganz besonders gegen die ESMAD. Die primera línea hatte Gasmasken, Schilder und Bleche dabei – und war gewillt und naiv genug, ihre Leute, die Protestierenden, zu schützen. Damals wurden sie belächelt wie der Albatros im Gedicht von Baudelaire. Heute, nach fünf Jahren, fliegt die primera línea wie ein freier Albatros. Heute werden wir mit Respekt behandelt und die Vertreter von Unternehmen verhandeln mit uns. Wir haben die Vermummung abgenommen. Deshalb sagen wir auch offen, dass wir alle primera línea sind. Stimmts?

Junge aus dem Off: Ich bin primera línea!

Profe: Der Freund hier ist gerade mal 15 Jahre alt und schon unser Menschenrechtskoordinator. Als Mensch, der das alles am eigenen Leib erlebt hat, erfüllt er alle Voraussetzungen, die es für diese Arbeit braucht. Dazu muss er heute unsere Verfassung nicht verstehen oder irgendwelche Artikel lesen – das kommt mit der Zeit. Ich verstehe das als zweite Phase unseres Widerstands: Heute nimmt fast die ganze primera línea an Kursen zu Menschenrechten und politischer Mitbestimmung teil, holt ihre Abschlüsse nach.

Aber habt ihr keine Angst vor Repression?
Profe: Wir haben die Angst verloren. Denn unsere Träume von einem Leben in Würde fliegen hoch wie der Albatros, von dem ich vorhin sprach – zu hoch für die Angst. Das heißt nicht, dass es keine Repression gibt. Wir beobachten, dass Leute aus der primera línea verschwinden oder für Taten verurteilt werden, für die es gar keine Beweise gibt. Manchmal landen sie auch ohne Verurteilung im Gefängnis. Wir aus Puerto Resistencia haben angesichts der willkürlichen Hinrichtungen der Staatsgewalt die Garantie unserer Rechte gefordert – aber das hat zu nichts geführt, denn Präsident Duque ist eine Marionette des Uribismus. Und vom Uribismus kennen wir die Stimmen der 6.402 falsos positivos – unschuldige Jugendliche, die entführt, ermordet und als angebliche von der Armee getötete Guerrilla-Kämpfer dargestellt wurden. Diese Art staatlicher Gewalt gibt es nur in Kolumbien.

Ich selbst bin schon drei Mal Opfer der Staatsgewalt geworden: Meine Freundin wurde von Militärs ermordet, mein Vater von Paramilitärs, weil er Gewerkschafter war. Und im Juni wurde mein Neffe von Polizisten in den Rücken geschossen, als er mit seinem Roller bei Rot über eine Ampel fuhr. Ihm geht es langsam besser, aber eine Zeit lang war er vom Nacken abwärts gelähmt. Trotz dieser Erfahrungen steht für meine Familie fest: Wir werden weiterhin unser Gesicht zeigen und unsere Geschichten erzählen. [Zeigt auf eine Ecke des Platzes] Guckt mal, da drüben sitzt die ESMAD. Sie spielen dort rund um die Uhr auf ihren Smartphones. Der einzige Grund, warum sie hier sind, ist, dass es eine angebliche Bedrohung der öffentlichen Sicherheit gibt. Die ESMAD ist eine systematisch mörderische und kriminelle Institution, die zur Unterdrückung von Protesten geschaffen wurde. Selbst hohe Richter in diesem Land geben zu, dass sie Gewalttäter und Mörder sind. Aber trotzdem wurde bisher keiner von ihnen verurteilt. Warum? Weil sie alle die gleiche schwarze Uniform tragen und es nicht möglich sei, zu sagen, wer von ihnen genau für die grausamen oder sogar tödlichen Handlungen gegen Protestierende verantwortlich ist. Da kommt es zu Gewaltexzessen: Die Leute verlieren ihre Augen oder Gliedmaßen.

Nahuel: Ja, so wie ich. Sie standen auch schon vor meiner Tür und wollten mich festnehmen. Das Justizsystem in Chile ist das Letzte. Und die Bullen werden immer mehr und die Demonstrierenden weniger. Sie haben auch neue Kampfmittel, riesige Wasserwerfer, gigantische LKWs, da wird die Repression immer stärker. Aber wir bleiben trotzdem auf der Straße, das sehen wir als unsere Pflicht den Menschen gegenüber an.

Was erhofft ihr euch davon für die Zukunft?
Nahuel: Ich setze absolut keine Hoffnung mehr in die politischen Parteien dieses neoliberalen Systems. Der wichtigste linke Kandidat für die kommenden Präsidentschaftswahlen ist Gabriel Boric. Das war der, der während der Revolte Piñeras Präsidentschaft gerettet hat, als er mit der Rechten paktiert hat. Und auch im Verfassungskonvent sitzen die gleichen, all das wird in Chile nichts ändern. Deshalb ist meine Hoffnung, dass die Leute wieder auf die Straße gehen und Chile wieder erwacht. Mit dieser Regierung, mit der Rechten werden wir nicht verhandeln, denn sie und ihre neuen Gesetze sind dafür verantwortlich, dass unsere Freunde im Knast sitzen. Also müssen wir wieder auf die Straße – es ist das einzige Mittel, das uns bleibt.

Profe: Das ist hier ein bisschen anders. Wir stellen sogar Kandidaten für den Jugendstadtrat auf und werden unsere Unterstützung für bestimmte Kandidaten öffentlich machen. Eigentlich sind sich alle Widerstandsorganisationen, nicht nur hier in Cali, sondern in ganz Kolumbien, darin einig, dass sie die Präsidentschaftskandidatur von Gustavo Petro und die Koalition Pacto Histórico unterstützen, also die Parteien, Bewegungen und Organisationen, die sich gegen das uribistische System stellen. Damit will ich nicht sagen, dass ganz Puerto Resistencia Petro- oder Pacto Histórico-Anhänger ist, aber dass sich die Menschen hier am ehesten mit den politischen Vorschlägen und progressiven humanistischen Ideen identifizieren können, die Gustavo Petro vorbringt. Wir wollen in dieser politischen Debatte nicht schweigen, denn es geht um unsere Zukunft.

REPRESSION OHNE GRENZEN

“Gerechtigkeit” Die Gesichter der Opfer von Menschenrechtsverletzungen an einer Hauswand in Santiago (Foto: Ute Löhning)

Eine Folge der Repression gegen die sozialen Proteste in Chile seit Oktober 2019 waren Tote und Verletzte, viele Menschen erlitten Augenverletzungen, es gibt Berichte über Folter durch Polizeikräfte. Wie haben Sie bei CODEPU diese Zeit erlebt?
Die Menschen kannten CODEPU noch aus Zeiten der Diktatur, als wir, wie auch die Vicaría de la Solidaridad, uns der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen annahmen. Nach dem Beginn der Revolte 2019 kamen sofort zahllose von Polizeiübergriffen Betroffene zu uns. Wir besuchten Festgenommene in Polizeidienststellen und Verletzte in den Krankenhäusern. Wir begannen die Informationen zu systematisieren und errichteten eine eigene – informelle – Gesundheitsstation, in der wir Verletzte betreuten und an Krankenhäuser weiterleiteten. Diese Arbeit führen wir bis heute fort. Wir haben bislang etwa 200 Strafanzeigen wegen Menschenrechtsverletzungen gestellt. Und wir vertreten etwa 60 Menschen anwaltlich, die während der Proteste verhaftet wurden.

Wie verlaufen die Strafverfahren wegen Menschenrechtsverletzungen, die von Angehörigen der staatliche Sicherheitskräfte begangen wurden? Gibt es Verurteilungen?
Seit dem 19. Oktober 2019 wurden tausende Strafanzeigen gestellt. Bislang gibt es erst vier verurteilte Polizisten. Eine dieser Verurteilungen – wegen Folter an einem Demonstranten aus Lo Hermida – haben wir erreicht. Doch die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Wir stellen leider fest, dass die Staatsanwaltschaft mit zweierlei Maß misst: Bei Vorwürfen gegen Protestierende wird schnell und eingehend ermittelt, es gab zahlreiche Verurteilungen und viele Beschuldigte sitzen über lange Zeit in Untersuchungshaft.

Bei Ermittlungen gegen Angehörige der staatlichen Sicherheitskräfte ziehen sich dagegen die Verfahren in die Länge, etwa 40 Prozent der Untersuchungen wurden eingestellt. Staatliche Stellen, die diese Verfahren unterstützen sollten, wie das gerichtsmedizinische Institut SML, wurden personell nicht aufgestockt und sind überfordert. So werden beispielsweise bei Foltervorwürfen notwendige forensische Gutachten verzögert. Das erschwert die Beweis-*führung, führt zu Frustration bei den Betroffenen und einem Glaubwürdigkeitsverlust des Justizsystems.

Sitzen mutmaßliche Täter*innen aus den Reihen der Polizei in Untersuchungshaft?
Einige Wenige. Beispielsweise führen wir Nebenklage im Fall eines am 23. Oktober 2019 in Buin verhafteten Demonstranten, Mario Acuña. Er wurde nach seiner Festnahme von sechs Polizisten schwer verletzt und gefoltert. Seit März dieses Jahres befinden sich nun drei Beschuldigte in Untersuchungshaft. Das ist ein großer Erfolg, denn wir beobachten, dass in vielen sehr bekannten Fällen, wie Gustavo Gatica oder Fabiola Campillay, die ihr Augenlicht verloren haben, die Beschuldigten unter Auflagen auf freiem Fuß sind. Wir hoffen, dass im Fall von Mario Acuña bei der anstehenden Haftprüfung die Untersuchungshaft der Beschuldigten aufrecht erhalten wird. Sie sind eine Gefahr für die Gesellschaft, sie haben im Verfahren nachweislich gelogen und die Ermittlungen behindert. Im Moment sind sie zumindest vom Polizeidienst suspendiert.

Wie viele der verhafteten Demonstrant*innen sitzen derzeit in Untersuchungshaft?
Es gab bis vor einiger Zeit um die 2500 politische Gefangene. Die Anzahl ist nun zurückgegangen, gegenwärtig sitzen noch etwa 70 politische Gefangene in Untersuchungshaft. Von den Gefangenen, die CODEPU vertritt, sind im Moment noch zwei inhaftiert. Wir haben vielfach eine Aufhebung der Untersuchungshaft beantragt. Doch obwohl keinerlei Beweise gegen sie vorliegen, sitzen sie weiterhin im Gefängnis. Das sind keine Einzelfälle: Viele Beschuldigte werden trotz fehlender Beweise nicht aus der Untersuchungshaft entlassen.

Auf politischer Ebene wird derzeit über ein Amnestiegesetz für die politischen Gefangenen debattiert. Wie steht CODEPU dazu?
Wir unterstützen die Forderungen nach einer Amnestie. In einer Stellungnahme haben wir den verfassungsgebenden Konvent dazu aufgefordert, die Problematik der politischen Gefangenschaft zu behandeln. Das Parlament hat eine Abstimmung über den Gesetzesentwurf für eine Amnestie bislang immer wieder verzögert. Formell handelt es sich bei dem Gesetzesentwurf um eine Begnadigung. Es sollen jedoch sowohl bereits Verurteilte wie auch Beschuldigte einbezogen werden, es handelt sich also letztlich um eine Amnestie. Vor einigen Tagen haben Angehörige der politischen Gefangenen einen Hungerstreik begonnen, der so lange aufrechterhalten werden soll, bis das Parlament darüber abstimmt. Ursprünglich gab es weitreichende Unterstützung im Parlament. Jetzt sieht es so aus, als würde eine Abstimmung bis nach den Wahlen hinausgezögert, das wäre kein gutes Zeichen.

Was bedeutet das für die politischen Gefangenen?
Die Gefangenen leiden körperlich und psychisch unter den schlechten Haftbedingungen, die internationalen Standards zuwiderlaufen. Es ist ein Wunder, dass es unter diesen Umständen noch zu keinen Corona-Erkrankungen unter ihnen kam. Viele der Gefängnisse in Chile werden von privaten Unternehmen verwaltet, die Mindeststandards nicht einhalten. Wir haben beim Rechnungshof eine Beschwerde eingereicht, damit der Staat regulierend eingreift und menschenwürdige Haftbedingungen garantiert.

Im vergangenen Juli waren Sie als Vertreterin von CODEPU Teil der internationalen Beobachtungsmission SOS Colombia, die während der sozialen Proteste in Kolumbien begangenen Menschenrechtsverletzungen dokumentiert und darüber einen Bericht verfasst hat. Wie waren Ihre Erfahrungen in Kolumbien?
Vor SOS Colombia haben andere Beobachter*innen Kolumbien besucht: Eine Delegation der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) sowie eine argentinische und eine katalanische Delegation. Sie besuchten einzelne Regionen und waren nur wenige Tage im Land. Unsere Delegation bestand aus 41 Mitgliedern aus 14 Ländern und war vom 3. bis 23. Juli in elf Regionen Kolumbiens unterwegs. Dort konnten wir an geschützten Orten etwa 180 Zeug*innen befragen.

Während der drei bis vier vorangegangenen Monate waren etwa 7.000 Menschen Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden. 8.500 wurden festgenommen, mehr als 800 Menschen sind verschwunden oder ihr Aufenthaltsort war zeitweilig nicht bekannt. Wenn dieses Ausmaß an Staatsterrorismus anhält, kann das zu hunderttausenden von Opfern führen.

Sowohl in Kolumbien als auch in Chile wurden die Proteste von staatlicher Seite als „Krieg“ bezeichnet und von internen Feinden gesprochen. Welche Unterschiede und Parallelen gibt es bei der Repression gegen die sozialen Proteste in beiden Ländern?
Bei den Menschenrechtsverletzungen in Chile und Kolumbien gibt es ähnliche Verhaltensmuster der Sicherheitskräfte. Es ist beispielsweise kein Zufall, dass es in Kolumbien, Chile und auch in Ecuador zahlreiche Augenverletzungen gab. In Chile gab es in den beiden vergangen Jahren 500 Opfer von Augenverletzungen. In Kolumbien waren es in drei Monaten bereits 114 Opfer. Auch in Ecuador wurden während der sozialen Proteste mehr als 80 Menschen an den Augen verletzt.

Ich denke, es gibt eine Politik des Staatsterrorismus, die darauf abzielt, die Demonstrierenden zu bestrafen, um die Proteste einzudämmen. In Zeiten der Diktatur sollten die Proteste ganz unterbunden werden. Heute geht es darum, die Zahl der Protestierenden zu verringern, indem ihnen Schmerzen zugefügt werden, indem sie verängstigt werden. Durch jede*n verletzte*n Demonstrierende*n wird Angst geschürt und weniger Menschen beteiligen sich am Protest.

Gibt es auch strukturelle Gemeinsamkeiten?
Chile und Kolumbien erhalten ihre Waffen von denselben Firmen und es sind Sicherheitskräfte aus diesen beiden Ländern, die Schulungen für Polizeikräfte in der gesamten Region durchführen. In beiden Ländern gab es bisher keine Polizeireform. In Chile agiert heute dieselbe Polizei wie zu Zeiten der Pinochet-Diktatur. Die ESMAD (Aufstandsbekämpfungseinheit der kolumbianischen Polizei, Anm. der Red.) wird auf der Grundlage eines Diskurses des „inneren Feindes“ für die Aufstandsbekämpfung instruiert.

Beide Organisationen werden nicht dafür ausgebildet, friedliche soziale Proteste zu begleiten. Ich denke, der Ursprung dieser Haltung liegt in der Escuela de las Américas (Schulungszentrum der USA für lateinamerikanische Polizeikräfte während der lateinamerikanischen Diktaturen, Anm. d. Red.) und dass diese Kooperation in den 1990er Jahren vertieft wurde.

Waren an den Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien und Chile extralegale Gruppen beteiligt, wie Paramilitärs oder andere bewaffnete Einheiten?
Ja, es gibt neben der Nationalpolizei und der ESMAD eine Reihe weiterer extralegaler Gruppen, die in Koordination mit Mitgliedern der Polizei Aktivist*innen einschüchtern und bedrohen. Das gibt es auch in Chile, zum Beispiel die paramilitärische Gruppe APRA, eine faschistische Gruppe, die vor allem in Wallmapu – den Mapuche-Territorien – aktiv ist. Die Aktivitäten solcher Gruppen haben sich dem Beginn der Revolte verstärkt, sie versuchen, Selbstjustiz zu üben, bleiben meist straflos und werden von Polizeikreisen gedeckt.

In Kolumbien sind solche extralegalen Gruppen noch weiter verbreitet. Letztlich agiert die Regierung dort gegen die Bürger*innen und die Institutionen funktionieren schlechter als in Chile. Beispielsweise gibt es in Kolumbien im Bezug auf gewaltsames Verschwindenlassen ein Warn- und Suchsystem. Dieses hat jedoch während der Proteste bei mehr als 800 Fällen von Verschwundenen vollständig versagt. Auch die Staatsanwaltschaften wurden nicht aktiv. Was die Institutionen angeht, sind wir in Chile einen Schritt weiter.

Es heißt, dass sich viele neue soziale Akteur*innen an den Protesten beteiligen. Welche Menschen gehen in Chile und Kolumbien auf die Straße?
Es gibt eine Reihe von neuen sozialen Akteur*innen in diesen Protestbewegungen, die nicht alle gleichermaßen von staatlicher Gewalt betroffen sind. Zu den wichtigsten Akteur*innen zählen in beiden Ländern die Aktivist*innen der primera línea, die besonderer Gewalt und Verfolgung ausgesetzt waren und sind. Unter den Opfern von Menschenrechtsverletzungen in beiden Ländern gab es viele Schüler*innen und Studierende, auch viele politisierte Fußballfans. Die Repression richtete sich gegen queere Menschen, gegen Migrant*innen, gegen medizinische Versorgungsposten auf den Demonstrationen. Besonders stigmatisiert und kriminalisiert wurden auch unabhängige Journalist*innen, die Übergriffe dokumentierten. Ihre Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen war oft nützlich für Strafanzeigen und Ermittlungen. Hier in Chile gab es fünf Fotograf*innen beziehungsweise Kamaraleute, die ein Auge verloren haben.

Der Abschlussbericht von SOS Colombia enthält eine Reihe von Empfehlungen. Welche würden Sie hervorheben?
Zu den besonders dringlichen Empfehlungen gehört die Demilitarisierung der Polizei. Sie sollte nicht mehr dem Verteidigungsministerium unterstehen. Außerdem sollten reale Verhandlungen zwischen dem kolumbianischen Staat und den an den Protesten beteiligten Gruppen geführt werden. Es gab bislang etwa elf Dialogrunden, die ergebnislos beendet wurden. Ebenfalls dringlich sind ein besserer Zugang zur Justiz, eine umfassende Entschädigung der Opfer sowie Garantien, dass sich das Vorgehen nicht wiederholt. Es sollte eine Untersuchungskommission zur Straflosigkeit von Akteur*innen, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, gegründet werden. Ausländische Investor*innen sollten zur Bedingung machen, dass die staatliche Gewalt endet und die Arbeitsgesetze eingehalten werden. Und als internationale Gemeinschaft sollten wir die Menschenrechtsverletzungen sichtbar machen, um Druck auf die kolumbianische Regierung auszuüben.

// ENTEIGNEN INSPIRIERT

„Die Ergebnisse in Berlin, bei denen die Linke stark abgeschnitten hat, sind sogar in Kolumbien gute Nachrichten“, sagt Verónica Vélez, eine in Berlin lebende, kolumbianische Aktivistin gegenüber LN nach den Wahlen vom 26. September. Damit meint sie den Ausgang des Volksentscheids zur Enteignung großer Immobilienkonzerne. „Die sozialen und politischen Bewegungen gegen Zwangsräumungen in Bogotá sind während der Pandemie stärker geworden. Die Möglichkeiten, für die das Berliner Referendum steht, haben eine große Bedeutung für den Kampf gegen Ungleichheit und das Recht auf Dasein und Wohnung.“ Dass der mit 56 Prozent Zustimmung zur Enteignung an den Berliner Urnen klar ausgefallene aktivistische Erfolg internationale Strahlkraft entfaltet und auch in den von Mietenspekulation gebeutelten Großstädten Lateinamerikas inspiriert, ist ein doppelter Erfolg.

Doch was den Subkontinent betrifft, sind leider nicht alle Ergebnisse der Wahlen in Deutschland so positiv. Für die deutsche Lateinamerikapolitik_bedeuten sie zunächst einen Rückschlag: Mehrere Parlamentarier*innen, die zuvor für eine kritische Öffentlichkeit zur Menschenrechtslage in Kolumbien und Brasilien sorgten oder bei Vorfällen von Polizeigewalt und politischer Verfolgung Druck bei den entsprechenden Regierungen ausübten, werden im neuen Bundestag nicht mehr vertreten sein. Dazu gehört beispielsweise Heike Hänsel (Die Linke), die durch das Programm „Parlamentarier schützen Parlamentarier” kolumbianische Abgeordnete wie Iván Cepeda unterstützt hat. Oder Uwe Kekeritz (Bündnis 90 / Die Grünen), der in der Vergangenheit maßgeblich Kleine Anfragen zur Lateinamerikapolitik der Bundesregierung stellte. Ohne die langjährigen Expert*innen wird die Lateinamerikapolitik der Fraktionen – zumindest vorübergehend – geschwächt. Mit Spannung erwartet werden auch die neuen Personalien der achtköpfigen Gemeinsamen Kommission von Auswärtigem Amt und Bundestag zum Thema Colonia Dignidad, aus der vier Abgeordnete ausgeschieden sind.

Angesichts von Einbußen an Fachexpertise zur Lateinamerikapolitik werden der Aktivismus und die Solidarität von außerparlamentarischen Gruppierungen umso wichtiger. Die parlamentarische Beobachtung der Menschenrechtslage in den Ländern Lateinamerikas erfordert Druck von außerparlamentarischen Akteur*innen. Auch bei dem verabschiedeten, aber noch nicht in Kraft getretenen Lieferkettengesetz muss die Zivilgesellschaft den Regierenden klarmachen, dass es erweitert und vor allem umgesetzt werden muss.

Es ist zu hoffen, dass nach dem bevorstehenden Regierungswechsel in einigen deutschen Ministerien künftig Politiker*innen sitzen, die empfänglicher für aktivistischen Druck sind und diesen an Entscheidungsträger*innen in Lateinamerika weitergeben. Bei den bevorstehenden deutsch-brasilianischen Regierungskonsultationen Ende November sollte die mögliche Neubesetzung an der Spitze des Verkehrsministeriums deutlicher fordern als der bisherige Amtsinhaber von der CSU, dass die Eisenbahnlinie Ferrogrão, die indigene Territorien bedroht, nicht gebaut wird. Auch ein Austritt Brasiliens aus der ILO-Konvention 169, die die Konsultation von Indigenen bei Baumaßnahmen auf ihren Territorien zwingend vorschreibt, müsste sanktioniert werden. Gerade weil diese Konvention in Deutschland erst im Juni 2021 ratifiziert wurde – nach langjährigem Druck der Zivilgesellschaft.

Vom Aktivismus der Berliner*innen, die sich weiter für die Kampagne „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“ engagieren, und deren Anbindung an verschiedene gesellschaftliche Akteur*innen könnte sich die außerparlamentarische Lateinamerikapolitik in den kommenden Monaten inspirieren lassen. Werden die parlamentarischen Organisationen schwächer, müssen sich die sozialen Bewegungen mehr Gehör verschaffen.

“SICH NICHT ZUM SCHWEIGEN BRINGEN LASSEN”

“La Negra” wurde ermordet! Wahrheit und Gerechtigkeit für Macarena Valdés

Illustration: Coordinadora de Justicia para Macarena Valdés, @justiciaparamacarenavaldes


Wie kam es dazu, dass du in feministischen Kontexten im Allgemeinen und speziell in der Koordinationsgruppe „Gerechtigkeit für Maca-*rena Valdés“ arbeitest?

So wie viele andere Frauen habe ich zuerst im Haus von Rubén, dem Partner von Macarena Valdés, geholfen. Das war ungefähr vor vier Jahren. Mit der Zeit wurde ich Teil der Gruppe, die Arbeiten im Haus und die Betreuung der Kinder übernimmt. Auch das war für mich schon Teil des Kampfes für die Gerechtigkeit für Maracena, seitdem gehöre ich zur Koordinationsgruppe.

Welche Bedeutung hatte diese gegenseitige Unterstützung in einer schwierigen Zeit?
Wir in der Gemeinde sind glücklich, dass Macarenas Familie so viel Unterstützung bekommen hat. Die größte Sorge in der Gemeinde war, dass Rubén und die Kinder allein dastehen würden. Ich persönlich glaube, dass die Kinder am wichtigsten sind, Macarenas Söhne. Mit der Zeit habe ich eine Art Mutterrolle für sie eingenommen, sie aufgezogen und mich um sie gekümmert. Es fühlt sich so an, als wären sie meine Kinder. Ich bin Teil ihres Kampfes geworden, aber auch Teil ihres Schmerzes. Ich habe ihnen dabei geholfen, nach und nach zu heilen. Ich denke, das war das Wichtigste nach Macarenas Tod: ihren Kindern bei der Heilung zu helfen. Auch in der Gemeinde waren viele sehr verletzt nach Macarenas Tod.

Woran arbeitet eure Gruppe aktuell?
Die Koordinationsgruppe versucht, dem Fall mehr Aufmerksamkeit zu geben. Dieses Jahr haben wir zum vierten Todestag von Macarena viele virtuelle Aktionen gestartet. Generell verbreiten wir das ganze Jahr über Illustrationen und die Arbeiten unserer Unterstützer*innen.

Hat die Pandemie eure Arbeit verändert?
Kaum. Aber die Krise hat uns dahingehend getroffen, dass wir uns nicht mehr ins Gesicht schauen können. Eine virtuelle Unterhaltung ist nicht das Gleiche, es fehlt die Wärme. Und das, was wir sagen, fühlt sich durch so einen digitalen Apparat manchmal sehr kalt an.

Was bedeutet der Tod von Macarena Valdés im Zusammenhang mit der Gewalt gegen Frauen in der Region?
Für uns in der Gemeinde ist es sehr deutlich, dass ihr Tod eine Warnung war. Die Warnung, dass uns das gleiche passieren kann, wenn wir weiterhin unsere Stimme erheben. Sie wollten Angst stiften, haben aber nicht gemerkt, dass Macarena bereits einen Samen des Widerstands in jeder Frau gesät hatte. Auch wenn sie sie getötet haben, so erblüht er jetzt in jeder von uns. Für Macarenas Familie und ihre Freundinnen war es ein großes Leid, aber aus der Wut heraus konnten sie Kräfte sammeln, um für sie zu kämpfen. Für sie und gegen die Straflosigkeit.

Das heißt, Macarenas Tod hat euch Frauen keine Angst gemacht?
Nein, im Gegenteil! Die Frauen in der Gemeinde sammelten daraus noch mehr Kraft, um zu demonstrieren und für ihre Rechte einzustehen. Sie wollen sich angesichts all dieser Ungerechtigkeiten nicht zum Schweigen bringen lassen.

Macarena war Frau, Mapuche und Umweltaktivistin. Wie ist das miteinander verbunden?
Bei den Mapuche ist die Frau diejenige, die am stärksten mit der Erde verbunden ist. Deswegen verstehe ich sehr gut, dass Macarena ihre natürliche Umgebung und den Fluss als gleichwertiges Wesen verteidigen wollte. Sie war Mapuche, aber eben auch Frau und Mutter. Deswegen hat sie für eine bessere Zukunft für ihre Kinder und Enkel gekämpft. Zu ihrer Vorstellung von dieser Zukunft gehörten keine Wasserkraftwerke. Macarena wollte nicht, dass die Erde als ökonomisches Gut ausgebeutet wird.

Welche Formen von Gewalt erleben Frauen in deiner Umgebung?
Die Mapuche erleben von Kindesbeinen an Gewalt: Rassismus, Diskriminierung, die Vertreibung vom eigenen Land, die Polizeigewalt. Der chilenische Staat deckt all das. Und das erleben Frauen, Kinder und Männer – alle gleich.

Wie wehrt ihr euch gegen diese Gewalt?
Wir Frauen kümmern uns gegenseitig um uns und unterstützen Frauen, die Gewalt erfahren haben. Gleichzeitig versuchen wir, Selbstverteidigungskurse zu organisieren. Wenn es nötig ist, habe ich zumindest irgendeine Art von Waffe dabei, um mich zu verteidigen. Ich laufe immer mit einem Messer herum, es ist mein Schutz. Ich musste es aber noch nie benutzen.

Welche Art von Selbstverteidigung lernt ihr?
Wir haben ein paar Mal zusammen mit anderen Frauen die Mapuche-Kampfsportart kollellaullin geübt. Auch Macarenas Söhne trainieren darin.

Gibt es in der Gemeinde eigene Wege, um mit Fällen von Gewalt gegen Frauen umzugehen?
Als Macarena noch lebte, fanden in ihrem Haus Kurse für Menschen aus der Gemeinde statt, die die Schule nicht abgeschlossen hatten. Viele brauchten den Abschluss jedoch für die Arbeit, um den Führerschein zu machen oder für andere Angelegenheiten. Wenn Macarena in diesem Zusammenhang davon mitbekam, dass manche Männer ihren Frauen und der Beziehung nicht die angemessene Bedeutung zukommen ließen, gingen sie das Thema aus der Perspektive der Kosmovision der Mapuche an. Dabei waren sie immer darum bemüht, die Identität und Integrität der Frau zu bewahren.

Was kritisiert ihr an der juristischen Aufarbeitung des Falles von Macarena Valdés?
Bis jetzt hat die chilenische Justiz nichts, aber auch gar nichts unternommen. Sie hat nicht einmal ein Blatt Papier bewegt. Im Gegenteil: Sie wollten die Untersuchungen abschließen, schon drei Mal sind die Berichte der Autopsie verloren gegangen. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, uns zu widersprechen, obwohl internationale Gutachten zeigen, dass Macarena umgebracht wurde.

Was fordert oder erwartet ihr von den chilenischen Gerichten und der Polizei?
Wir fordern, dass es Gerechtigkeit gibt und dass die Mörder von Macarena gefunden und für ihr brutales Verbrechen bestraft werden. Und natürlich hoffen wir, dass unser Kampf dazu führt, dass sich so etwas nicht wiederholt. Eigentlich fordern wir ja nur, dass der chilenische Staat und seine juristischen Institutionen ihre Arbeit machen – schließlich werden sie dafür bezahlt.

Newsletter abonnieren