LEBEN MIT DEM TODESURTEIL

Bild: verdadabierta.com
„Ich werde nicht aufhören, zu lachen und ich werde nicht aufhören, zu kämpfen!“ Entschlossen, aber mit Bitterkeit in der Stimme sagt Marta López Guisao diese Worte und man kann sich plötzlich vorstellen, wie es diese 49-jährige Kolumbianerin geschafft hat, noch immer am Leben zu sein – obwohl Paramilitärs schon fünfmal versucht haben, sie umzubringen, obwohl sie seit 2002 als „militärisches Ziel“ gilt, in Kolumbien ein Todesurteil. Sie sitzt am Tisch in einem schmucklosen Raum, das wettergegerbte Gesicht, die leicht angegrauten halblangen Haare, das blaue Kleid – alles an ihr strahlt Würde und Entschlossenheit aus. Eine Kämpferin. Der Ort bleibt namenlos, denn ihr Todesurteil ist noch immer gültig.
1991 vertrieben Paramilitärs die Familie von Marta López zum ersten Mal, aus Apartadó in der nordkolumbianischen Region Urabá, Teil der Provinz Antioquia. Ihre Mutter war bei der linken Partei Unión Patriótica aktiv, Marta López engagierte sich im Nachbarschaftskomittee und brachte Kindern aus armen Familien Lesen und Schreiben bei. So wurde aus Marta López la profesora, die Lehrerin. Urabá war eine der am stärksten umkämpften Regionen im kolumbianischen bewaffneten Konflikt und das zivilgesellschaftliche und basisdemokratische Engagement der Unión Patriótica war vielen Unternehmer*innen, Großgrundbesitzer*innen und Politiker*innen ein Dorn im Auge. Sie organisierten paramilitärische Banden und das basisdemokratische Experiment endete in einem Blutbad. Wie viele andere Familien floh die Familie López Guisao in die Hauptstadt der Provinz Antioquia, nach Medellín, zweitgrößte Stadt Kolumbiens.
„Wir kamen nach Medellín wie alle Vertriebenen, ohne zu wissen, wo wir leben und wie wir überleben sollen“, erzählt López. In jenen Jahren siedelten sich tausende Binnenvertriebene in den neu entstehenden Stadtvierteln an den Hängen von Medellín an. Viele der Vertriebenen organisierten sich, bildeten Komitees und gründeten schließlich ohne staatliche Hilfe ein eigenes Viertel: Olaya Herrera, knapp oberhalb der Comuna 13, einem marginalisiertes Viertel im Westen der Stadt. Marta López, ihre Schwestern und ihre Mutter halfen mit, das Viertel Olaya Herrera aus dem Nichts aufzubauen. Hilfe vom Staat gab es keine, denn das Viertel war, wie so viele, illegal. Weder Stadtverwaltung noch Polizei ließen sich blicken. Deshalb organisierten sich die Siedler*innen in Nachbarschaftskomitees und planten ihren eigenen Stadtteil: Wo werden die Straßen gezogen, wo kommen die Häuser hin? Noch heute schwärmt López davon, wie sie mit den neuen Nachbar*innen alles gemeinsam organisiert und aufgebaut haben: Die kleinen Häuser aus Holz, Treppen, Wasserleitungen, ein Gesundheitszentrum, Spielplätze. „Alles war sehr gut organisiert“, erinnert sich Marta. „Heute haben wir gemeinsam am Haus von Juan gebaut, morgen am Haus von Pedro; und wenn der ganze Block fertig war, konnte man einziehen.“ Marta López baute natürlich auch die Schule mit auf und arbeitete wieder als Lehrerin; ihre jüngste Schwester Alicia wurde Leiterin des Gesundheitskomitees.

„Aber weil wir sehr stark politisch organisiert waren, war klar, dass wir nicht einfach gehen“

Heute leben in den 23 Stadtvierteln der Comuna 13 etwa 130.000 Menschen. Ende der 1990er Jahre dominierten Milizen der FARC, der ELN und der CAP (Comandos Armados del Pueblo) viele dieser Viertel. Wie an vielen anderen Orten auch, versuchte die kolumbianische Armee, solche Guerillas mit paramilitärischen Gruppen gewaltsam zu vertreiben. Die meisten anderen Viertel von Medellín wurden damals bereits den immer stärker werdenden paramilitärischen Gruppen Bloque Cacique Nutibara (BCN) und Bloque Metro kontrolliert und zunehmend gab es Versuche, auch die Comuna 13 und die angrenzenden Viertel unter ihre Kontrolle zu bringen. In ihrem Viertel sei zwar die Kriminalität gering und der Umgang miteinander solidarisch gewesen, betont López. Doch in vielen anderen Vierteln der Stadt nahmen Morde, Entführungen und Schutzgelderpressungen zu.
Stadtverwaltung und Regierung verkündeten, die Milizen zu vertreiben und so für „Sicherheit“ sorgen zu wollen. Marta López erzählt die Geschichte anders: Für den Bau eines Tunnels sollten Teile der erst vor wenigen Jahren errichteten Stadtteile wie Olaya Herrera zerstört werden. „Aber weil wir sehr stark politisch organisiert waren, war klar, dass wir nicht einfach gehen“, erzählt López und setzt hinzu: „Wenn eine Gemeinde politisch stark ist und selbst für ihre Rechte sorgt, weil der Staat es nicht macht – dann macht das dem Staat, den Behörden und der Bourgeoisie Angst. Sie fürchteten, es würde einen Aufstand geben.“

  Militärübung in Olaya Herrera // Foto: Flickr, George Donnelly, Attribution 2.0 Generic (CC BY 2.0)

Paramilitärs konnten nun ungehindert Stützpunkte ober- und unterhalb der Comuna 13 aufbauen. Gleichzeitig errichteten Polizei und Armee nun immer häufiger Straßensperren oder drangen in die Comuna 13 und angrenzende Viertel ein. Am frühen Morgen des 27. Februar 2002 wurden an einer solchen Straßensperre vier Jugendliche und ein Taxifahrer erschossen. Die Armee behauptete, die Jugendlichen seien Guerillakämpfer*innen gewesen und legte als angeblichen Beweis ein Gewehr neben die Leichen. Anwohner*innen hatten jedoch nur einzelne Schüsse gehört, keinen Schusswechsel. Eine Hinrichtung. Marta López kannte die Jugendlichen gut; es waren ihre Schüler*innen, 14 bis 16 Jahre alt. „Die Jugendlichen wollten gegen fünf Uhr morgens zum Markt, denn es war der Geburtstag eines der Mädchen. Aber die Armee hatte eine Straßensperre errichtet und das Taxi mit den Jugendlichen gestoppt. Sie haben sie aus dem Wagen geholt, durchsucht – und schrecklich zugerichtet.“ López arbeitete an dem Morgen schon in der Schule, erzählt sie, als ein Kind weinend angelaufen kam und von dem Vorfall berichtete. Lòpez fuhr sofort zum Krankenhaus und traf dort die Eltern. Dann nahm sie der Arzt beiseite. López erzählt folgenden Dialog: „Der Arzt sagte, ‘Frau Lehrerin, kann ich Ihnen etwas anvertrauen?’ Ich: ‘Was ist passiert?’ Er sagt: ‘Was sollen diese Kinder nur angerichtet haben, dass sie auf diese Weise ermordet worden sind?’ Die Opfer wurden missbraucht und verstümmelt.“ López Stimme versagt, als sie sich daran erinnert.
Am 21. Mai 2002 startet die „Operation Mariscal“, der erste großangelegte Militäreinsatz in Kolumbien im innerstädtischen Raum. Noch vor Tagesanbruch dringen etwa 1.000 Polizisten und Soldaten in mehrere Stadtviertel der Comuna 13 ein, begleitet von Panzern, Maschinengewehren, Hubschraubern – und einem großen Medienaufgebot. Über zwölf Stunden lang schießen die Uniformierten auf alles, was sich bewegt.
Die Bilanz: Neun Tote, erschossen von Sicherheitskräften, drei davon minderjährig. 55 Menschen werden verhaftet. Dann wird die „Operation Marisca“ schließlich abgebrochen: Die Bevölkerung geht unter Lebensgefahr mit weißen Tüchern auf die Straßen, um die Verletzten zu bergen und ein Ende des stundenlangen Beschusses zu verlangen. Auch die mediale Berichterstattung setzt den Staat offenbar unter Druck. Die Paramilitärs vom BCN, die oberhalb des Gebietes auf Ihren Einsatz warteten, können vorerst nicht in die Viertel eindringen.
Doch nur drei Tage nach der „Operation Mariscal“ kommen die Soldaten erneut. Diesmal mit maskierten Männern und Uniformen ohne Abzeichen. Die Maskierten zeigen auf Häuser, die daraufhin von den Soldaten durchsucht wurden. Fotos, Ausweise und Unterlagen werden beschlagnahmt. Viele werden festgenommen, darunter auch Gemeindefunktionär*innen oder ganz normale Bewohner*innen. „Auch Alicia ist dabei“, berichtet López, „meine Schwester, die die Krankenstation leitet. Sie kamen mit Vermummten und Alicia wurde festgenommen, weil der Vermummte auf sie zeigte. Er sagte: Sie ist die Leiterin der Krankenstation, die die Verletzten versorgt. Vor den Augen ihres dreijährigen Sohnes wird sie verhaftet und geschlagen”.
In den folgenden Monaten werden die Bewohner*innen eingeschüchtert und leben im Kreuzfeuer der bewaffneten Gruppen. Ein Belagerungszustand. Die Armee errichtet Straßensperren und übergibt junge Männer an die Paramilitärs. Oft verschwinden diese Männer daraufhin spurlos; andere werden von den Paramilitärs angeworben oder gezwungen, Wohnorte von angeblichen Guerilleros zu verraten.
Am 16. Oktober 2002 beginnt die dreitägige Operation Orión. Zwei Monate zuvor hat Álvaro Uribe Vélez sein Präsidentenamt angetreten. Er hat die Wahl unter anderem mit dem Versprechen gewonnen, mit „harter Hand“ gegen die Guerilla vorzugehen. Die Operation Orión ist eine Art Generalprobe für seine „Politik der Demokratischen Sicherheit“.Comuna 13 // Foto: Flickr, Nigel Burgher, Attribution 2.0 Generic (CC BY 2.0)

Diesmal dringen 1.500 Soldaten und Polizisten in die Comuna 13 ein, begleitet von Luftwaffe, Geheimdienst und Paramilitärs. Marta López ist in der Schule, als der Angriff beginnt. Stundenlang liegt sie mit den Kindern auf dem Boden und sucht Schutz vor den Querschlägern. Auch aus den Hubschraubern heraus werde geschossen, „als ob wir Ratten wären“. Im Verlauf der Operation werden nach Zählung der Corporación Jurídica Libertad 88 Menschen erschossen, davon 71 von Paramilitärs und 17 von Sicherheitskräften. Weitere 92 Menschen verschwinden spurlos.
Es ist der Beginn einer militärischen und paramilitärischen Belagerung, die sich bis Anfang Dezember 2002 hinzieht. Denn auch nach dem Ende der Operation werden Gemeindeaktivist*innen gezielt verfolgt. Dutzende Menschen werden verschleppt und tauchen nie wieder auf. Auch nach Marta López wird gesucht. „Die Lehrkräfte waren wie immer um halb sieben in der Schule, um die Kinder zu empfangen, als eine bewaffnete Gruppe ankam, die sich nicht auswies“, erzählt Marta. „Sie kamen mit einem Vermummten und fragten nach mir: ‘Wo ist die Lehrerin Marta?’” Aber López ist an dem Tag nicht in der Schule. Das Kollegium hat zuvor beschlossen, dass es für sie zu gefährlich sei.

„Was haben wir verbrochen, dass sie uns verfolgen und ermorden?“

Auch eine weitere ihrer Schwestern wird gesucht. In den folgenden Monaten bleibt die Familie in Medellín, weil Alicia noch immer in Haft ist, muss aber immer wieder den Wohnort wechseln, wird immer wieder aufgespürt. „Uns war klar: Wenn sie uns schnappen, dann foltern sie und töten uns“, sagt López knapp. „Deshalb haben wir uns Zyankalikapseln besorgt. Wir waren bereit, uns umzubringen, damit sie uns nicht foltern können.“ Als Alicia nach einem Jahr Haft endlich freigesprochen wird, flieht die Familie, begleitet von der Menschenrechtsorganisation Peace Brigades nach Bogotá.
Heute ist die Comuna 13 ein Schwerpunkt des Drogenhandels und der Gewalt. Über 180 Mütter der Verschwundenen suchen noch immer nach ihren Kindern. Bis zu 300 Leichen könnten auf der Bauschuttdeponie La Escombrera in Sichtweite der Comuna 13 liegen. Das haben mehrere Paramilitärs ausgesagt, unter anderem der Chef des inzwischen aufgelösten BCN, Diego Murillo Bejarano alias Don Berna. Damit wäre La Escombrera eines der größten Massengräber Kolumbiens. Doch die Deponie ist noch immer in Betrieb, eine Ausgrabung wird bis heute verhndert.
López arbeitet an ihrem neuen Wohnort mit Bäuer*innen in Sur de Bolívar, später in Venezuela, schließlich mit afroindigenen Frauen im Chocó. Erst 15 Jahre später wagen sich Marta López und ihre Schwester Alicia wieder nach Medellín, um ihren noch dort lebenden Bruder zu besuchen. Doch nach wenigen Tagen, am Morgen des 2. März 2017, kommt ein Mordkommando in das Restaurant des Bruders und tötet Alicia mit einem Kopfschuss. Marta López ist noch heute fassungslos, ihre Stimme bricht und für einen Moment weicht jede Entschlossenheit der Trauer, die sie noch immer quält: „Diese Todesstrafe war 15 Jahre später immer noch gültig in dem Viertel, aus dem sie uns vertrieben haben, dort wo sie uns zum Tod verurteilt haben – dort wurde meine Schwester erschossen!“ Und schluchzend fügt sie hinzu: „Als sie meine Schwester erschossen haben, dachten sie, sie hätten mich erschossen, die Lehrerin.“
Ausnahmsweise hat es in diesem Fall zwei Festnahmen gegeben; einer der Täter wird im Februar 2019 für den Mord zu 40 Jahren Haft verurteilt. Das Urteil ist allerdings noch nicht rechtskräftig. Und offen geblieben ist die Frage: Wer hat den Befehl gegeben? Und warum?
López lebt nun an einem halbwegs sicheren Ort. Sie heilt ihren Schmerz mit Meditation und spirituellen Ritualen, die sie auch bei den Frauen in den Gemeinden anwendet, die ebenfalls unter dem Krieg leiden. Denn sie ist entschlossen, ihren Kampf nicht aufzugeben: „Ich werde den Kopf nicht senken. Ich werde weiter als Menschenrechtsverteidigerin und Führungsperson arbeiten.“
Zum Schluss erhebt sie nochmal die Stimme zu einer Anklage: „Warum bringen sie uns um? Weil wir anders denken? Weil wir etwas einfordern? Weil wir den Gemeinden beibringen, ihre Rechte einzufordern? Deshalb bringen sie uns um? Was haben wir verbrochen, dass sie uns verfolgen und ermorden?“

ZWEI MORDE UND EIN LABYRINTH UNBEANTWORTETER FRAGEN

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(Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl)

Die Waffe, die Marielle Franco tötete, war eine HK MP5 von Heckler & Koch. Die Aktivistin wurde mit vier Kopfschüssen brutal hingerichtet, als sie am 14. März 2018 eine Veranstaltung im Zentrum von Rio de Janeiro verließ. Gemeinsam mit ihr wurde ihr Fahrer, Anderson Gomes, getötet. Seit mehr als zehn Jahren war sie Verteidigerin der Menschenrechte gewesen, vor allem für junge Schwarze und Angehörige der LGBTI*-Gemeinschaft, und wurde so zur fünft meist gewählten Stadträtin des Bundesstaates. Der Mord an der brasilianischen Stadträtin Marielle Franco wäre eine gute Handlung für eine Fernsehserie: die potentielle Beteiligung von Milizen, brutale Auftragsmorde und außerdem mutmaßliche Verbindungen zu hochrangigen Politiker*innen, nämlich zum Sohn des Präsidenten. Aber es ist vor allem eine Geschichte, in der sich Fiktion und Realität vermischen und es keine Grenzen gibt.

Im März 2019 jähren sich die beiden Morde. Kurz vor ihrem Tod hatte Marielle Franco außergerichtliche Hinrichtungen angeprangert, die von Polizei- und Staatsbeamt*innen in den Favelas von Rio de Janeiro durchgeführt wurden. Sie war Berichterstatterin für die Vertreter*innenkommission des Stadtparlaments geworden, deren Ziel es ist, das Eingreifen des Bundes in die öffentliche Sicherheit des Bundesstaates zu überwachen.
Marielle Franco wurde durch ein deutsches Maschinengewehr von Heckler & Koch getötet. Das Modell HK MP5, neun Millimeter Kaliber, hat eine hohe Präzision und wird für gewöhnlich nicht bei Bandit*innen in Brasilien beschlagnahmt. Es ist eine Waffe, die normalerweise von den Eliteeinheiten der Polizei von Rio de Janeiro verwendet wird.Wenn es eine Waffe aus dem Waffenarsenal der Polizei war, wie kam dann die HK MP5, die Franco getötet hat, in die Hände der Mörder*innen? Ermittlungen zufolge sind Milizen aus dem Bundesstaat Rio de Janeiro mögliche Verantwortliche für das Verbrechen. Doch auch ein Jahr nach der Ermordung der Stadträtin und ihres Fahrers ähneln die Ermittlungen eher einem Labyrinth unbeantworteter Fragen.

Die Ermittlungsrichtung, welche von der Politik am ehesten unterstützt und bereits vom Ministerium für Sicherheit von Rio de Janeiro im Dezember letzten Jahres bestätigt wurde, ist jene, dass Marielle Franco möglicherweise von Milizen getötet wurde, die von Landnahmen im Westen des Bundesstaates Rio de Janeiro profitieren. Der Sekretär und General Richard Nunes sagte der brasilianischen Presse im Dezember, dass Kriminelle möglicherweise die Arbeit der Stadträtin gefürchtet hätten. Franco hatte vor, die Bewohner*innen dieses Gebietes für die unrechtmäßige Aneignung ihres Landes zu sensibilisieren. Darüber hinaus wurden im Ermittlungsverfahren Haftbefehle erlassen, zum Beispiel gegen Anführer*innen der Gruppe Escritório do Crime. Die sollen ein Ableger der auf Auftragsmorde spezialisierten Miliz sein. Ihre Mitglieder sind ehemalige Polizist*innen, Elitekiller*innen, die handeln, ohne Spuren zu hinterlassen. Francos Tod soll 200.000 Reais, umgerechnet 47.000 Euro, gekostet haben, wobei von der Gruppe verübte Morde bis zu einer Million Reais, umgerechnet 235.000 Euro, kosten können. Bisher wurden mindestens fünf Personen in Verbindung mit der Ermordnung der Stadträtin und ihres Fahrers verhaftet. Unter den inhaftierten Mitgliedern der Militärpolizei befindet sich auch ein ehemaliger Leutnant im Ruhestand, der Chef der Miliz sein soll. Ein weiterer Verdächtiger befindet sich derzeit auf der Flucht: Es ist der ehemalige Kapitän Adriano Magalhães da Nóbrega aus der polizeilichen Eliteeinheit „Bope“ in Rio de Janeiro.


 “Eine kriegerische Erinnerung, die nicht erlischt” Murales in Rio erinnern an Marielle Franco (Foto: Dominik Zimmer)

Das politische Ansehen des umstrittenen und konservativen Bolsonaro-Clans wurde bereits im ersten Monat der Regierung erschüttert: Die brasilianische Presse berichtete, dass Untersuchungen einen möglichen Zusammenhang zwischen der Ermordung von Stadträtin Marielle Franco und dem Sohn von Präsident Jair Bolsonaro aus der PSL Partei ergeben hätten. Diese Verbindung habe einen Namen: Adriano Magalhães da Nóbrega. Wie brasilianische Medien im Januar ausführlich berichteten, beschäftigte das Büro des ehemaligen Abgeordneten und gewählten Senators Flávio Bolsonaro, Sohn des Präsidenten, bis November 2018 die Mutter und die Frau des ehemaligen Polizisten Nóbrega. Die Staatsanwaltschaft in Rio de Janeiro bezeichnete Nóbrega als Kopf der Miliz „Escritório do Crime“. Dabei handelt es sich um die gleiche Organisation, die bei den Ermittlungen als mutmaßlich verantwortlich für die Ermordung von Marielle Franco gemacht wird. Die Tageszeitung O Globo berichtet, dass der sich auf der Flucht befindende Adriano Magalhães da Nóbrega ein Freund von Flávio Bolsonaros ehemaligem Berater Fabrício Queiroz sei. Dieser stehe im Verdacht, so heißt es weiter, die Mitarbeiter*innengehälter des Politikers einzuziehen. Wegen dieser mutmaßlichen Taten laufen aktuell Ermittlungen gegen ihn. Laut dem Bericht war die Mutter des ehemaligen Polizisten, Raimunda Veras Magalhães, außerdem eine der Mitarbeiter*innen, die Überweisungen auf das Konto von Queiroz tätigten. Amnesty International Brasilien hat kürzlich einen Bericht veröffentlich, in dem die Einzelheiten der Untersuchung des Mordes an Marielle Franco und ihrem Fahrer Anderson Gomes dokumentiert werden. Der Bericht zeigt, dass Marielle Franco mit vier Kopfschüssen, von insgesamt 13 Schüssen, getötet wurde. Die Originalmunition, mit neun Millimeter Kaliber, wurde zum ersten Mal verwendet und war Teil einer Charge, welche normalerweise die brasilianische Bundespolizei verwendet.

Die Charge mit dem Namen UZZ-18 sei 2006 von dem Unternehmen Companhia Brasileira de Cartuchos (CBC) an die Bundespolizei verkauft worden, heißt es in dem Bericht weiter. Es handelt sich bei dem Unternehmen um einen der größten Munitionshersteller der Welt, das der „strategischen Verteidigung“ dient. CBC ist die Konzernmutter der Firma Taurus. Im Dezember 2018 berichtete die brasilianische Zeitung Folha de São Paulo, dass der Gerichtshof von Rio de Janeiro Aktiengeschäfte von CBC blockiert habe. Denn es besteht der Verdacht, dass der Unternehmenschef, Daniel Birmann weitere Unternehmen gegründet habe, einige davon in Steueroasen, um Vermögenswerte geheim zu halten. Wiederum sei die von CBC verkaufte Charge, die UZZ-18, 2009 von der Post des Bundesstaates Paraíba abgezweigt worden, zitiert Amnesty International den brasilianischen Minister für Sicherheit. Die Post erklärte, dass der Vorfall nicht dokumentiert sei. Es ist jedoch bekannt, dass Waffen derselben Charge im Jahr 2015 bei einem Massaker in São Paulo in den Regionen Osasco und Barueri eingesetzt wurden. 20 Menschen wurden bei den Vorfällen getötet. Möglicherweise waren daran Polizist*innen eben jener Killereinheit beteiligt, die auch die Stadträtin aus Rio de Janeiro getötet hat. Obwohl die Fingerabdrücke der möglichen Mörder*innen der Stadträtin und ihres Fahrers auf den Patronenhülsen gefunden wurden, gibt es in den Ermittlungen bisher keinen Hinweis darauf, wer diese Personen sind. Außerdem ist nicht klar, wie die Munitionscharge der Bundespolizei abhanden gekommen ist – und durch wen. Genauso, wie die Spur der verwendeten Munition, mit der Marielle Franco und ihr Fahrer Anderson Gomes getötet wurden, durch ihre Charakteristika, Fakten und beteiligte Personen unklar ist, so ist auch der Verkauf von Waffen der deutschen Firma Heckler & Koch nach Brasilien ein umstrittenes Thema.

Der in Deutschland lebende Aktivist Jürgen Grässlin untersucht seit Jahrzehnten die deutsche Firma Heckler & Koch. Grässlin schätzt, dass seit der Gründung des Unternehmens im Jahr 1949 durchschnittlich alle 13 Minuten ein Mensch auf der Welt durch eine dieser Waffen stirbt.
Nach dem Skandal der illegalen Waffenlieferungen nach Mexiko (siehe S. 22), die zum Tod mehrerer unschuldiger junger Menschen führten, kündigte das Unternehmen 2016 neue Regeln an, die auch einen Handelsstop mit Ländern mit niedrigem Demokratieindex beinhalteten. „Nach den vom Unternehmen 2016 angekündigten Regeln dürfte Heckler&Koch nicht mehr versuchen, in Brasilien Geschäfte zu machen“, sagte Grässlin der Deutschen Welle im Mai 2018. Brasilien scheint jedoch nicht unter den Ländern zu sein, mit denen Heckler & Koch in den letzten Jahren seinen Waffenvertrieb vermieden hat. Laut demselben Artikel der Deutschen Welle belegt der Jahresbericht des deutschen Waffenherstellers, dass zwischen Januar und April 2017, 37 Waffenexporte nach Brasilien stattfanden. Das Geschäftsvolumen der Exporte beträgt mehr als zehn Millionen Euro. Ein vielleicht für die deutsche Regierung ausreichendes Argument, die Exporte nach Brasilien einzuschränken, wäre, dass das lateinamerikanische Land laut der kürzlich veröffentlichten Studie Atlas de Violência des Instituts für angewandte Wirtschaftsforschung (IPEA) eine 30 Mal höhere Mordrate hat als Europa. Deutschland ist einer der fünf größten Waffenexporteure der Welt und beschäftigt mindestens 50.000 Personen in dieser Industrie.

Neben allen Kontroversen um den Namen der Firma Heckler & Koch und darum, wie eine Schusswaffe eingesetzt werden soll, damit Töten „ethisch vertretbar“ wird, definiert das Rüstungsunternehmen für seinen Waffenhandel „compliance standards“. „Unlauteres oder unethisches Verhalten gefährdet den Erfolg unseres Unternehmens bis hin zum Existenzrisiko“, heißt es dazu auf der Unternehmenswebseite. Geht man davon aus, dass die Waffe HK MP5 der Marke Heckler & Koch, die Marielle getötet hat, aus ethischen Gründen nicht in einem Land wie Brasilien kursieren darf, dessen Mord- und Kriminalitätsraten seit Jahrzehnten die Nachrichten prägt, bleibt die Frage: Warum gelangte die Waffe dann dorthin? Aber es ist nur eine der vielen Fragen, für die Menschenrechtsaktivist*innen versuchen, Antworten zu finden. Für die, wie im Fall von Marielle Franco, nur Spuren des Verbrechens in ein Labyrinth unbeantworteter Fragen führen.

EIN STAUDAMM WENIGER

Im Inneren von El Diquís                                  Foto: La Nacion de Costa Rica

Bereits in den 1980er Jahren gab es die ersten Pläne für das Projekt El Diquís – das mit 650 Megawatt Kraftwerksleistung größte Wasserkraftwerk Zentralamerikas. Ein Prestigevorhaben für das Land, das bereits fast 100 Prozent seiner Elektrizität aus regenerativen Energiequellen bezieht und durch die Wassermenge- und Sicherheit sowie die Fließgeschwindigkeit der Flüsse aus den faltenreichen Gebirgsformationen ideale Bedingungen für Wasserkraftwerke bietet.
„Diquís“ bedeutet „großer Fluss“ oder „breiter werdender Fluss“ in der Sprache der Teribe und Boruca, der Nachkommen der indigenen Diquís. Heute wird der Fluss Río Térraba genannt. Knapp 700 Jahre lang dominierte die Hochkultur der Diquís die südliche Pazifikküste Costa Ricas, bis zur Eroberung durch die Kolonisator*innen.
Das Staudammprojekt El Diquís war von Beginn an umstritten, weil es den Lebensraum der Teribe und Boruca gefährdet. Bis heute wurden nur einige Vorarbeiten umgesetzt, dabei hatten sich die Pläne bereits Anfang des 21. Jahrhunderts konkretisiert und El Diquís 2014 zum Vorzeigeprojekt der damaligen Regierung gemacht. Javier Orozco, Planungsdirektor des staatlichen Stromanbieters ICE, bezeichnete das Projekt noch 2017 als „essentiell, um dem steigenden Strombedarf des Landes gerecht zu werden.“ Luis Pacheco, ICE-Vorstand für Elektrizität, ging im April 2018 noch weiter: „Costa Rica muss seine Wirtschaft stärken, dafür braucht es Energie.“ Das Kraftwerk könne eine „Batterie“ des zentralamerikanischen Netzes werden, welches nach Kolumbien und Mexiko ausgebaut werden könne. Bedarfsstudien gibt es jedoch bis heute nicht.
Derartige Prognosen und vage Träume waren Argument genug, um mit über zwei Milliarden Dollar knapp 7.000 Hektar Land unter Wasser zu setzen und 1.500 Familien umzusiedeln. Doch die indigene Bevölkerung wehrte sich von Beginn an. Donald Rojas ist Buruca und Repräsentant der Mesa Nacional Indígena de Costa Rica, einer unabhängigen indigenen Interessenvertretung auf Landesebene. Ruhig zählt er die Befürchtungen der Bevölkerung vor Ort auf: „Mindestens 25 Prozent des Landes der Teribes und 10 Prozent anderer Völker gehen verloren. Ein Tunnel untergräbt unser Land, wir haben Zweifel an der technischen Umsetzung. Es gibt zudem keine Studien über die Umweltschäden.“ Denn Wasserkraft ist zwar regenerativ, aber keine saubere Art der Energiegewinnung. Sie verändert und zerstört den Fluss und das gesamte Ökosystem, das er prägt. „Zudem wirkt sich ein See solchen Ausmaßes auf das Mikroklima aus. Die Menschen vor Ort leben hauptsächlich von der Landwirtschaft. Auch die nötige Infrastruktur wird unser Land beeinflussen“, so Rojas. Allgemeines Misstrauen gegenüber dem Bauwerk wurde geäußert. Ausreichende Sicherheit könne in einer von Erdbeben und Tropenstürmen geprägten Gegend nicht gewährleistet werden.
Fünf Monate nachdem Vorstandsmitglied Luis Pacheco die Bedeutung des Staudamms betonte, erklärte die ICE-Vorsitzende Irene Cañas im November 2018 überraschend das Ende des Projekts. Costa Rica habe keinen Bedarf an zusätzlicher Energie und die Digitalisierung werde den Verbrauch eher senken. Belege oder Gutachten hat die Unternehmensleiterin dafür nicht. Die indigene Aktivistin Elides Rivera aber ist hocherfreut: „Dieser Kampf war für uns autochthone Völker sehr wichtig, weil wir unser Land verteidigt haben, das unser zu Hause ist; weil wir den Fluss verteidigt haben, der uns das Leben schenkt, und auch den Wald, den wir beinahe verloren haben und der für uns Leben bedeutet.“ Sie wertet das Projektende als klaren Sieg des Widerstandes. Vor allem der im Jahr 2018 beschlossene neue Konsultationsmechanismus habe dem Projekt das Genick gebrochen. Dieser setzt die indigenen Völkern durch Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) garantierte Kontrolle über ihre Territorien in nationales Recht um: Ohne die Zustimmung einer indigenen Gruppe im Rahmen in eines geregelten Konsultationsdialoges dürfen in ihrem Gebiet keinerlei Aktivitäten stattfinden. Donald Rojas hingegen wirkt nicht, als hätte er gerade einen jahrzehntelangen Kampf gewonnen. Auf seine Meinung angesprochen, warum das Staudammprojekt abgebrochen wurde, lacht er zunächst emotionslos.

„Ein Wunder, dass es keine Toten gab“


Das soll nicht bedeuten, der Widerstand wäre nicht vehement gewesen. „Es ist ein Wunder, dass es keine Toten gab“, meint Roy Arias. Er arbeitet seit über 15 Jahren mit den indigenen Völkern im Süden Costa Ricas zusammen. „Die Bevölkerung und ihre Meinungen vor Ort sind heterogen und die Situation war sehr angespannt.“ Das ICE habe versucht, einen Keil zwischen die Parteien zu treiben. Costa Rica ist ein demokratisches Land ohne Armee, die den Willen der Regierung umsetzen kann. Repressionen erfolgten eher strategisch und vor allem durch politische Institutionen. Zum einen wurde die nicht-indigene Bevölkerung motiviert, sich für den Staudamm auszusprechen. Diese erwarb im Laufe des letzten Jahrhunderts teils durch illegalen Landerwerb bis zu 70 Prozent des Territoriums der Teribe. Und unter den indigenen Bewohner*innen stiftete die Nationale Kommission für indigene Angelegenheiten (CONAI) Zwist. „Die CONAI ist eine staatliche Institution, die von keiner indigenen Gruppe als Vertretung anerkannt wird, diese aber offiziell innerhalb des politischen Systems vertritt“, erklärt Roy Arias. „Gemeinsam mit dem ICE haben sie Fehlinformationen verbreitet und versucht, die Indigenen durch scheinheilige Angebote von ihrem Territorium zu locken.“
Diese Institutionen, ihre verheißungsvollen Versprechungen, in Aussicht gestellte Ausgleichszahlungen und gezielte Fehlinformation erzeugten ein Klima der Unruhe. 2011 wendeten sich die Teribe an den interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte und die UN sandte einen Sonderbeauftragten nach Costa Rica. Er kritisierte vor allem die Konsultationsweise des ICE, die nicht mit der ILO-Konvention 169 vereinbar sei (siehe LN 449). Für das ICE war dies ein harter Schlag, da es sich als besonders nachhaltiges Unternehmen sieht. Auch die Informationspolitik und Repressionen gegen die Bevölkerung vor Ort wurden angesprochen. Eine Zustimmung zum Projekt habe es nie gegeben, betont Roy Arias. „Nur ein kleiner Teil der Menschen war dafür, vor allem Nicht-Indigene und Mitarbeiter*innen des CONAI. Ein etwas größerer Teil war entschieden dagegen. Und der allergrößte Teil hatte schlichtweg keine Ahnung.“ Über das Ausmaß, Risiken, Folgen des Vorhabens und potenzielle Entschädigungen wurde nie ausreichend informiert. Warum das Projekt letztendlich abgebrochen wurde, weiß Arias nicht.
Die Antwort liefert ausgerechnet Jesús Orozco, ICE-Finanzvorstand. Ein Problem sei der tortuguismo − der Schildkrötismus, also das bewusste Verschleppen von Projekten durch Mitarbeiter*innen, um länger von den Zahlungen zu profitieren. Zudem sei das ICE nicht nur den Indigenen gegenüber sehr verschlossen, sagte er der Tageszeitung La Nación. Die Ankündigung des Projektendes geschah auf der ersten Pressekonferenz seit Jahren. Informationen zu Projektabläufen, Kosten und dem Zustand des Unternehmens gibt es nicht. Das Management habe verheerende Arbeit geleistet, das Unternehmen stehe finanziell sehr schlecht da.
Am Ende äußert sich auch Donald Rojas noch zu den Gründen: „Die aktuelle Regierung sieht den Staudamm auch als unvereinbar mit dem Image Costa Ricas als nachhaltiges, umweltfreundliches und tolerantes Land. Der indigene Widerstand hat das Thema öffentlich gemacht. Und auch wenn der neue nationale Konsultationsmechanismus letztendlich durch das Projektende gar nicht zur Anwendung kam, so erhöhte er doch die Kosten des Projektes.“ Dies könne auch verhindern, dass das Projekt in Zukunft wieder aufgegriffen werde. Kleine, aber entscheidende Faktoren. Die Hauptgründe für den Projektabbruch sind aber wohl, wie es auch Rojas sieht, die Wirtschaftslage, fehlendes Wissen und langjährige Intransparenz innerhalb des ICE sowie laxe Kontrollen des demokratischen Apparates. Letztendlich führte ausgerechnet der schlechte Zustand der costa-ricanischen Demokratie und ihrer Unternehmen zu einem vorerst guten Ende für die im Staudammgebiet lebenden Menschen.

DOCH DIE WAFFEN EXISTIEREN WEITER

Ein enttäuschtes Seufzen geht durch Saal 1 des Stuttgarter Landgerichts. Soeben hat Frank Maurer, vorsitzender Richter der 13. Großen Wirtschaftskammer, sein Urteil verlesen: zwei Bewährungsstrafen und drei Freisprüche für ehemalige Mitarbeiter*innen des Waffenherstellers Heckler & Koch (H&K). Die Staatsanwaltschaft hatte ihnen vorgeworfen, zwischen 2006 und 2009 Tausende Sturmgewehre vom Typ G36 in mexikanische Unruheprovinzen geliefert zu haben ­– ohne die nötigen Exportgenehmigungen. Maurer sieht es als erwiesen an, dass ein ehemaliger Vertriebsleiter sich der banden­­­­mäßigen Ausfuhr von Waffen mit erschlichenen Genehmigungen schuldig gemacht hat. Der Mann bekommt vom Gericht eine Bewährungsstrafe von 22 Monaten und eine Geldstrafe über 50.000 Euro. Eine Sachbearbeiterin wird wegen Beihilfe zu 17 Monaten auf Bewährung und 250 Stunden Sozialdienst verurteilt. Der Vorsitzende bleibt damit unter der Forderung der Staatsanwaltschaft, Freiheitsstrafen ohne Bewährung zu verhängen. Doch das Seufzen im Gerichtssaal gilt vor allem den Freisprüchen. Besonders pikant ist der für Peter B., früherer Landgerichts-Präsident, der später bei H&K zuständig für Kontakte zu den Behörden war. Verächtliches Gelächter kommt auf, als Maurer die Begründung für den Freispruch verliest: der Ex-Geschäftsführer habe lediglich „Formulierungsvorschläge unterbreitet“, die Indizien würden nicht für eine Verurteilung ausreichen. Darum, was die Mordwerkzeuge in Mexiko angerichtet haben, ging es in dem Prozess nicht. Das stellt Maurer noch einmal klar. Diesen Part haben andere übernommen.

 

Im Namen der Opfer deutscher Waffen Friedensaktivist*innen vor dem Stuttgarter Landgericht (Fotografin: Kerstin Hasenkopf)

Vor dem Gericht machen Friedensaktivist*innen mit einer Mahnwache auf die Opfer der Praktiken von H&K aufmerksam. Wieder. Schon zu Prozessbeginn im Mai 2018 erinnerten sie an den Fall Iguala im September 2014. Damals verschwanden 43 Lehramtsstudent*innen spurlos, nachdem sie von Polizist*innen und Kriminellen angegriffen worden waren, auch mit H&K-Gewehren. Sechs Menschen starben bei dem Angriff. Der Verbleib und das Schicksal der Verschwundenen sind bis heute ungewiss. Iguala liegt in Guerrero, einem der vier mexikanischen Bundesstaaten, in die keine Waffen exportiert werden dürfen. So will es die Bundesregierung – eigentlich.

Die Opfer der Waffen in Mexiko fanden keine Beachtung bei dem Prozess

Die Aktivist*innen in Stuttgart singen kurz vor der Urteilsverkündung von einer Gitarre begleitet Lieder, präsentieren Transparente und entzünden Kerzen. Unter ihnen ist Jürgen Grässlin, der 2010 die Strafanzeige gegen H&K stellte. Carola Hausotter, Koordinatorin der Deutschen Menschenrechtskoordination Mexiko, verliest einen Brief von Leonel Gutiérrez Solano. Seinem Bruder, einem Studenten der Universität Ayotzinapa, wurde von Polizisten in der Nacht des 26. September 2014 in den Kopf geschossen. Seitdem liegt er im Koma. In dem Brief steht: „Wir wissen, dass die Polizisten des Staates Guerrero, die auf die Studenten schossen und meinen Bruder mit einem Schuss in den Kopf lebensgefährlich verletzten, Waffen aus Deutschland besaßen. Es waren Waffen der Firma Heckler & Koch, die sie nie hätten erhalten dürfen.“
Hausotter sagt, dass die Familie gerne am Prozess beteiligt gewesen wäre, das Gericht dies jedoch nicht zugelassen habe. In seinem Brief formuliert Gutiérrez Solano deutlich seine Erwartung, „die Schuldigen“ zu bestrafen und den Opfern und ihren Angehörigen wenigstens etwas Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – auf die sie nach wie vor warten (siehe LN 533). Das Urteil wenig später erscheint vielen Beobachter*innen sehr milde. Von einer „Zwei-Klassen-Justiz“ spricht Grässlin. „Die Kleinen hängt man und die Großen lässt man laufen“, konstatiert er. Grässlins Anwalt Holger Rothbauer kritisiert die Rolle des Staates: „Mit diesem Urteil ist die gesamte Rüstungsexportkontrolle in diesem Land ad absurdum geführt, weil klar wird, dass Endverbleibserklärungen überhaupt keine sinnvolle Funktion haben und beliebig ausgetauscht und gefälscht werden können, ohne dass die Genehmigungsbehörden irgendetwas prüfen“, sagt er. In den Endverbleibserklärungen steht normalerweise, für welche Region die Waffen bestimmt sind. Das Gericht hat die Endverbleibserklärungen für Waffenexporte nicht als Bestandteil von Waffenexportgenehmigungen von Seiten des deutschen Staates gewertet. Deshalb sind die Waffenlieferungen in die verbotenen Bundesstaaten Mexikos nicht nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz, sondern ausschließlich nach dem Außenwirtschaftsgesetz strafbar, das weniger harte Strafen vorsieht.

Auch Cristina Valdivia vom Ökumenischen Büro für Frieden und Gerechtigkeit bedauert, dass die Opfer in Mexiko keine Beachtung im Prozess fanden. Außerdem seien keine Menschenrechtsverletzungen verhandelt worden, sondern lediglich Verstöße gegen das Außenwirtschaftsgesetz und das Kriegswaffenkontrollgesetz. Trotzdem erkenne sie einen „ersten kleinen Schritt zur Gerechtigkeit“, sagt Hausotter. Sie sei zuversichtlich, dass sich in Mexiko etwas tue. Der neue Präsident Andrés Manuel López Obrador hat nach dem Machtwechsel im Dezember 2018 eine neue Wahrheitskommission für Iguala eingesetzt. Das Unternehmen aus dem baden-württembergischen Oberndorf wird vom Richterspruch aus Stuttgart empfindlich getroffen. Im Jahr 2017 machte es 13,4 Millionen Euro Verlust, in den ersten neun Monaten 2018 vier Millionen Euro. Das Urteil sieht eine Strafe von 3,7 Millionen Euro vor, der Gegenwert der Waffen, die der Prozess behandelte. Das Geld würde an den deutschen Staat gehen, die Familien von Opfern in Mexiko werden nicht berücksichtigt. H&K findet „die Einziehung des gesamten Kaufpreises nicht nachvollziehbar“. Man habe die Aufklärung „aktiv unterstützt und nachhaltig Konsequenzen gezogen“, teilte die Firma mit. Der Waffenhersteller hat, ebenso wie die Staatsanwaltschaft und die verurteilten Mitarbeiter*innen Revision eingelegt. Damit geht das Verfahren vor den Bundesgerichtshof.

Der Stuttgarter Prozess ist nicht das einzige Verfahren bei dem gegen einen deutschen Hersteller wegen illegalen Waffenexports nach Lateinamerika geurteilt wird. Auch im Prozess gegen drei Ex-Manager vom in Eckernförde ansässigen Waffenhersteller SIG Sauer vor dem Landgericht Kiel (siehe Kurznachrichten) zeichnen sich Strafen ab. Doch die Waffen existieren auch nach den Urteilen weiter.

 

KRIEGSERKLÄRUNG AN UMWELTORGANISATIONEN

Bolsonaro am Ziel Auch Faschist*innen werden manchmal zu Präsident*innen gewählt (Senado Federal, Marcos Brandão/Agência Senado/ Flickr, CC BY 2.0)

Brasiliens neuer Umweltminister, Klimawandel-Leugner und Lobbyist der Agrarindustrie, Ricardo Salles, begann bereits in den ersten vierzehn Tagen nach der Amtsübernahme Bolsonaros, das von diesem geforderte Ende des Aktivismus im Umweltschutz einzuleiten. Am 15. Januar setzte er alle Partnerschaften und Vereinbarungen mit Umweltschutzorganisationen für 90 Tage aus, um die Zusammenarbeit „neu zu evaluieren“. Dies erlaube es zu beurteilen, ob die Verträge fortgesetzt werden könnten sowie mögliche Veränderungen und Anpassungen durchzuführen. Zunächst betrifft dies 47 Kooperationen, eine Anzahl, die sich laut Salles „noch ändern werde“. Dazu gehört auch der Fundo Amazônia, der von der brasilianischen Entwicklungsbank BNDES verwaltet wird und vor allem Mittel von der deutschen und der norwegischen Regierung erhält.

“Wenn ich Präsident werde, wird es kein Geld für NGOs geben. Diese nutzlosen Leute werden arbeiten gehen müssen.“

Am 17. Januar bestätigte Salles bei der Amtseinführung des neuen Direktors des Instituto Chico Mendes de Conservação da Biodiversidade (ICMBio) die Aussetzung der Verträge und Zahlungen. Er kündigte außerdem „Überraschungsbesuche“ bei den Nichtregierungsorganisationen an, mit denen staatliche Institutionen kooperieren. „Ich werde die Orte besuchen, an denen die Projekte durchgeführt werden. Ich möchte gerne mehr über die Erfahrungen mit der Verwendung öffentlicher Mittel herausfinden.“ Während seiner Wahlkampagne hatte Bolsonaro versprochen: „Ihr könnt sicher sein, wenn ich Präsident werde, wird es kein Geld für NGOs geben. Diese nutzlosen Leute werden arbeiten gehen müssen.“
Acht Netzwerke von Umweltorganisationen kritisierten die Aussetzung der Verträge als „nicht gerechtfertigt“ und nicht verfassungskonform: Kooperationen zwischen der Regierung und NGOs können nur durch ein formales Prozedere ausgesetzt werden, nachdem Unregelmäßigkeiten in der Arbeit der Organisationen dokumentiert wurden. Selbst die Zeitung O Globo kommentierte, die Ankündigung „höre sich an wie eine Kriegserklärung an Umweltschutzorganisationen“.

Auch Carlos Rittl, Direktor des Klima-Observatoriums, kritisierte die Aussetzung als unbegründet. Weil Kooperationen zwischen Regierung und NGOs auf der Grundlage langer, klar geregelter Verfahren geschlossen würden und letztere ständig über die Fortschritte der Projekte berichteten, sei der Minister bereits im Besitz aller Informationen, die zur Evaluierung der bestehenden Verträge notwendig seien. „Der Minister hat deutlich mehr Interesse gezeigt, die Organisationen zu attackieren, die die Umwelt schützen, als Umweltverbrechen zu bekämpfen“, sagte er. Die Schäden der dreimonatigen Aussetzung könnten irreversibel sein. „Der Umweltschutz wird attackiert. Alle Anzeichen zeigen, dass Entwaldung und Gewalt gegen Indigene ansteigen werden.“

Auch internationale Nichtregierungsorganisationen geraten unter politischen Druck. Per Dekret verfügte Bolsonaro, dass der Minister des Präsidialamts, der Militär Carlos Alberto dos Santos Cruz, die Aufgabe übernimmt, die Aktivitäten internationaler Organisationen zu beobachten und zu koordinieren. Die Direktorin von Amnesty International in Brasilien, Jurema Werneck, äußerte sich besorgt über diese Maßnahme: Nichtregierungen seien entscheidend, um die Arbeit der demokratischen Institutionen zu kontrollieren.

 

IRRWEG EXTRAKTIVISMUS

Welche Positionen konntet ihr bei der Klimakonferenz einbringen?
An erster Stelle ist es sehr wichtig, dort als Vertreter der Zivilgesellschaft hinzufahren und zu hören, was unsere Regierung sagt. Was verlangt sie? Bekommt sie Geld und wenn ja, wofür? In unserer Geschichte hat unsere Regierung uns nie erlaubt, Teil ihrer Delegation zu sein. Die mexikanische Delegation hat die Tradition, fünf NGO-Abgesandte in ihre Delegation aufzunehmen. Da unsere Regierung das nicht macht, versuchen wir mit Kollegen aus anderen Staaten wie Deutschland, Niederlande, Belgien oder Parteien wie zum Beispiel den Grünen, zu sprechen. Sie informieren uns über die Verhandlungen. Außerdem arbeiten wir mit anderen NGOs zusammen, besonders Fraueninitiativen aus Lateinamerika oder der Internationalen Vereinigung der ökologischen Landbaubewegungen in Bonn (IFOAM).

Was war die offizielle nicaraguanische Position?
Die Delegation bestand nur aus zwei Männern, die Vertreter der Regierung Paul Oquist und Javier Gutiérrez. Die zwei haben wir nicht gesehen, im Plenum blieb der Platz für Nicaragua unbesetzt. Man war anscheinend die ganze Zeit mit dem Green Climate Fund (GCF) beschäftigt. Dieser ist sehr wichtig, da er die Gelder des Pariser Klimaabkommens für Klimaprojekte in den ärmeren Ländern verwaltet. Die Entscheidungen des GCF werden sehr intransparent getroffen, obwohl dort über die Verwendung mehrerer 100 Millionen US-Dollar entschieden wird. Zur Einordnung der Rolle unseres Landes: Nicaragua hatte das Pariser Klimaabkommen zunächst nicht unterschrieben und sich auf das Anklagen der großen Klimasünder USA und EU beschränkt. Dadurch bekam Nicaragua politische Aufmerksamkeit. Nach dem Umschwenken Nicaraguas und der Unterzeichnung des Abkommens 2017 wurde ihr Delegationsleiter Oquist dann zum Vize-Präsidenten des GCF gemacht.

Nutzt die nicaraguanische Regierung Klimagelder für andere politische Interessen?
Ich denke schon. In erster Linie will sie Werbung für die eigene Regierung machen und sich gegen die internationale Isolierung wehren. Nicaragua hat in den letzten Jahrzehnten viel Geld bekommen – von europäischen Staaten, von der UNESCO – aber mit der Umwelt geht es ständig bergab. Politiker sind straflos in Umweltskandale verwickelt: Das staatliche Unternehmen Alba Forestal fuhr 2017/2018 ununterbrochen wertvolles Holz aus den Naturschutzgebieten des Nordens ab, dem Besiedeln dieser Naturschutzgebiete in Nord- und Süd-Nicaragua wird kein Riegel vorgeschoben. Im Gegenteil, illegale Siedler werden beim Rauben von indigenem Land noch unterstützt, teilweise mit Waffengewalt.

Wird das Ergebnis der Klimakonferenz einen Einfluss auf den Umweltschutz in Nicaragua haben?
Kattowitz könnte einen negativen Einfluss auf Nicaragua haben, denn die Konferenz bedeutet Macht und Geld für die Regierung und nicht für die Zivilgesellschaft. Die Klimagelder werden an die Regierung überwiesen und kommen bei den Basisinitiativen, die tatsächlich für Umwelt und Klima arbeiten, nicht an. Diese werden sogar verfolgt oder verboten.

Welche Relevanz hat dabei insebsondere der Klimaschutz in der Region?
Natürlich trägt Nicaragua zur globalen Erwärmung ungeheuer wenig bei, aber das befreit uns nicht von der Pflicht, auch unser Verhalten entsprechend zu ändern. Vor allem aber geht es für die betroffenen, armen, äußerst verletzlichen Länder wie den mittelamerikanischen darum, die nicht mehr aufhaltbaren Folgen abzumildern. Ein Beispiel ist, die Bewaldung zu erhalten, die Landwirtschaft auf Agroforstwirtschaft umzustellen und vieles mehr. Stattdessen erlaubt die Regierung das Abholzen, die Verschwendung, die Vergiftung und das Versiegen der Gewässer. Auch in diesem ungeheuer wichtigen Bereich zur Erhaltung der Lebensgrundlagen ist das Regime unwillig und unfähig. Die neoliberalen Vorgängerregierungen konnten wir durch unsere Kritik stark unter Druck setzen. Die jetzige schießt.

Kannst du uns mehr über eure Arbeit als Umwelt-NGO in Nicaragua erzählen?
Wir sind schon lange als Umwelt-NGO in Nicaragua aktiv – schon seit mehr als 30 Jahren. Verschiedene NGOs haben sich nun zusammengetan, um zum Beispiel auf die Folgen des geplanten Kanalprojekts aufmerksam zu machen und auf den generellen Irrweg des Extraktivismus. Wir versuchen, die Bauernfamilien zu unterstützen, sie zu informieren und praktische landwirtschaftliche Widerstandsarbeit mit ihnen zu initiieren. Deswegen sind wir auch in Gefahr, da die Regierung unsere Arbeit als Anstiftung zum Aufruhr wertet.

Wie hat sich der politische Druck auf euch in den letzten Jahren verändert?
Die Bauern haben seit dem Gesetz zum Kanalbau mit Protesten angefangen, sich organisiert und mit uns zusammengearbeitet. Wir haben die gesamten wissenschaftlichen Informationen und Forschungsergebnisse, aus denen hervorgeht, warum vorherige Vorhaben für einen Kanal durch Nicaragua nicht umgesetzt wurden, gesammelt, analysiert und den Bauern gegeben. Die Bauerngruppen haben sich zu einem Dachverband zusammengeschlossen, 25 Vertreter von Kommunen bilden diesen Rat. Von ihnen sind heute sechs Anführer im Gefängnis, andere leben im Exil oder verstecken sich. Sie hatten protestiert und sind mit LKWs von ihren Dörfern bis Managua gezogen. Auf die Demonstrationen antwortete die Regierung mit Polizeigewalt. Der politische Druck hat sich 2018 in einen polizeilichen, militärischen bewaffneten Druck verändert und das bei der Außerkraftsetzung aller anwendbaren Gesetze und Vorschriften.

Was wäre eine Forderung an Deutschland und europäische Staaten, wie eure Arbeit unterstützt werden könnte?
Wir als NGOs kriegen zum Teil Geld von europäischen Regierungen durch Stiftungen. Dieses Geld bekommen bisher nur Organisationen, die den Status einer juristischen Person haben. Immer mehr nicaraguanische NGOs verlieren diesen Status durch aktuelle Maßnahmen der Regierung. Sie werden enteignet, von den Bankkonten über die Büroeinrichtung bis zu ihren Gebäuden. Aktivisten werden verfolgt, immer mehr müssen fliehen oder sich verstecken. Wie können wir als „nicht eingetragene Vereine“ weiterhin Geld und Unterstützung aus Europa bekommen? In Zukunft müssen die Verwalter der Gelder für NGOs natürliche Personen sein – gegenseitiges Vertrauen und neue Methoden des Transfers und der Abrechnung müssen her. Aus den Erfahrungen mit anderen Diktaturen – wie unter Pinochet, während der Apartheid oder DDR – und der Hilfe für die Widerstandsarbeit gibt es sicher einiges zu lernen. Für Nicaragua bräuchten wir Solidarität, dass Unterstützer in Deutschland, die deutsche Regierung und andere in Europa uns helfen. Denn wenn es so weitergeht, können wir nicht nur enteignet werden, sondern auch als „Terroristen“ im Gefängnis landen. Wir brauchen größtmögliche Aufmerksamkeit, direkte materielle Hilfe sowie politischen und ökonomischen Druck auf das Regime. Die zurückgewiesene „Einmischung in interne Angelegenheiten” ist nur ein Trick des Regimes, um die Solidarität aufzuhalten.

 

„WIR WISSEN NICHT, OB WIR NOCH IM LAND ARBEITEN KÖNNEN.”

Darci Frigo, Gründer undKoordinator der Organisation Terra de Direitos und Vizepräsidentdes brasilianischen Nationalen Rates für Menschenrechte (Foto: Cleia Viana_Câmara dos Deputados)

Ihre Organisation Terra de Direitos leistet juristische Unterstützung in Landkonflikten. Insbesondere ist sie im Bundesstaat Pará aktiv, wo es die meiste Gewalt im ländlichen Raum gibt. Der rechtsradikale Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro hat angekündigt, dass er die Aktionen der Landlosenbewegung MST wie terroristische Taten behandeln wird. Am Sonntag vor der Wahl hat er erklärt, dass er das Land von linken Aktivist*innen „säubern“ will. Wie bewerten sie die Situation ihrer Organisation, Terra de Direitos, und der Menschen, die sie verteidigen, sollte Bolsonaro gewinnen?
Die Drohungen Bolsonaros gegen alle linken Aktivisten sind sehr ernst zu nehmen. Er hat ja schon einzelne Organisationen benannt, gegen die er vorgehen will. Er will die zivilgesellschaftlichen Kräfte isolieren, um Wirtschaftsprojekten, die gegen die Verfassung und die Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte verstoßen, Tür und Tor zu öffnen. Insgesamt ist das eine sehr beunruhigende Situation, die alle Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen im Land betrifft. Es handelt sich um einen Angriff, der in der brasilianischen Demokratie noch vor zwei oder drei Jahren unvorstellbar war. Mit dem Impeachmentverfahren gegen Dilma Rousseff kamen diese Kräfte auf und wurden immer stärker. Durch die Korruptionsskandalen der letzten Jahre haben die traditionellen rechten Politiker ihre Glaubwürdigkeit verloren. Angesichts der sozialen, ökonomischen und politischen Krise, die Brasilien durchlebt, will die Bevölkerung einen Kandidaten, der verspricht, alles anders zu machen. Und so hat sich Bolsonaro immer präsentiert: Als der Kandidat, der es anders machen wird. Aber was er anbietet ist eine schreckliche Veränderung: Er hat mehrfach erklärt, dass er die demokratischen Institutionen nicht respektiert. Wir in den Menschenrechtsorganisationen sind nun sehr besorgt, sowohl um das Leben der Menschen, die sich in Konfliktsituationen befinden, als auch um das Fortleben unserer Organisationen.

Gewalt gegen linke Aktivist*innen und in Landkonflikten gab es in Brasilien ja auch in den letzten Jahrzehnten. Was ist das Neue an der Gewalt, die nun mit Bolsonaro droht?
Seit dem Impeachment von Dilma versucht das Agrobusiness jede Politik, die weitere Territorien von indigenen und andere traditionellen Bevölkerungsgruppen anerkennt, zu verhindern. Nach der Absetzung von Dilma Rousseff hatten die Farmer weniger Hemmungen, um im Landkonflikten Gewalt einzusetzen. In den Jahren 2012 und 2013 gab es pro Jahr um die 30 Morde im Kontext von Landkonflikten; also Morde an Aktivisten, Gemeindeanführern und so weiter. Im Jahr 2017 waren es 70 Morde. Mit dem Impeachment hat sich also die Gewalt auf dem Land praktisch verdoppelt. 80 bis 85 Prozent dieser Morde fanden im südlichen Teil Amazoniens statt, in den Bundesstaaten Rondônia, dem Norden von Mato Grosso, Pará und Tocantins, also dort, wohin die Agrarindustrie expandiert, dort wo es viele ungelöste Landkonflikte gibt und die meisten Rodungen stattfinden.
Die Gewalt in dieser Region ist bereits jetzt sehr extrem. Aber Bolsonaro beschimpft die staatlichen Kontrollbehörden wie das Umweltministerium IBAMA als linke Extremisten, die nur die Agrarindustrie behindern. Er behauptet, sie würden die Farmer und die Leute, die Wald roden, verfolgen. Bolsonaro will der Agrarindustrie die totale Freiheit geben, um den Amazonas-Regenwald zu zerstören.

Brasiliens Wirtschaft hängt zu 49 Prozent vom Export von Rohstoffen ab. Hauptsächlich handelt es sich um Erze und Soja: Das sind ja auch die Waren, die Amazonien am meisten bedrohen. Die geplanten Staudämme am Fluss Tapajós sollen ja auch eine Wasserstraße herstellen, um diese Rohstoffe aus dieser Region besser abtransportieren zu können. Ende 2016 wurde ja der Bau des größten dort geplanten Staudamms, São Luiz do Tapajós, durch das Umweltministerium IBAMA und die Indigenenbehörde FUNAI verhindert. Glauben Sie, dass diese Pläne mit Bolsonaro wieder auf den Tisch kommen?
Es reicht schon, wenn das Wirtschaftswachstum in Brasilien wieder anzieht, und diese Pläne kommen erneut auf den Tisch. Dann steigt wieder der Energiebedarf und dann kann das Thema wieder aktuell werden. Derzeit wird ja weiterhin die Fernverkehrsstraße BR-163 asphaltiert, die von den Sojaanbaugebieten in Mato Grosso zum Hafen Miritituba am Río Tapajós im Bundesstaat Pará führt. Von dort können die Rohstoffe aus dem Süden Parás und Mato Grosso über den Hafen Santarém verschifft werden. Man sagt, das sei der beste logistische Knotenpunkt für das Landesinnere, weil man über diese Route besser die Absatzmärkte in Nordamerika, Asien und Europa erreicht, als über die bisherige Route, über den Hafen von Santos in São Paulo. Diese ganzen Pläne fußen aber auf der Vorstellung, dass die brasilianische Wirtschaft Rohstoffe exportieren muss, um sich zu entwickeln, anstatt die Binnennachfrage anzukurbeln. Und dieses Entwicklungsmodell führt zu massiver Gewalt bei Landkonflikten und der Zerstörung des Regenwaldes in dieser Region. Insbesondere der Bergbau in dieser Region ist die größte Bedrohung für die ländliche Bevölkerung dort, für Indigene und andere traditionelle Bevölkerungsgruppen. Diese Pläne sehen praktisch vor, die ganze Region in einen einzigen Tagebau zu verwandeln, so viele Projekte liegen bereits vor. Dieser relativ kleine, aber sehr weit verbreitete Bergbau ist meines Erachtens eine größere Gefahr als die großen Wasserkraftwerke, denn er breitet sich auf dem ganzen Territorium aus.

Was denken Sie, wie sieht Brasiliens Zukunft mit Bolsonaro als Präsidenten aus?
Wie sich Bolsonaro konkret als Präsident verhalten wird, kann keiner sagen. Er nimmt an keinen Debatten teil, seine Forderungen sind sehr allgemein gehalten. Er erklärt nicht, wie er sie konkret umsetzen will. Er propagiert einen Antikommunismus wie aus Zeiten des Kalten Kriegs und predigt Hass, damit mobilisiert er die Leute. Dass er damit Erfolg hat, ist auch dem Versagen der bisherigen demokratischen Regierungen geschuldet, die die Verbrechen der Militärdiktatur, die militärische Struktur der Polizei und so weiter aufgearbeitet haben. Es scheint so, als ob sich diese alten Kräfte dafür rächen wollen, dass es eine Redemokratisierung gab und die Armen auf einmal mehr gesellschaftlich teilhaben. Die Armen werden als Feinde dargestellt, und man weiß nicht mal, Feinde von was oder wem sie sein sollen. Die Demokratisierung war in Brasilien abgeschlossen. Die Armen wurden der Gnade des organisierten Verbrechens überlassen. Und die Mafias, wie Comando Vermelho und Primeiro Comando da Capital, drängen immer mehr aus ihren angestammten Gebieten, in Rio de Janeiro und São Paulo, in den Norden des Landes. Die arme Bevölkerung wird so praktisch zu Geiseln dieser Verbrecher. Und diese Bevölkerung wählt dann Bolsonaro, denn der verspricht ihnen einen leichteren Zugang zu Waffen und dass er mit Gewalt gegen diese Kriminellen vorgehen wird. Aber jetzt redet Bolsonaro kaum noch davon, mit Gewalt gegen das Verbrechen vorzugehen. Er redet nur noch über die Gewalt, die er gegen linke Aktivisten anwenden will. Das ist ernst zu nehmen! Auf Whatsapp verabreden sich bereits Bolsonaro-Anhänger, um nach der Wahl Aktivisten zu terrorisieren.

Wenn er wirklich gegen den Drogenhandel vorgehen wollte, müsste er gegen die Farmer*innen vorgehen…
Da besteht ein eindeutiger Widerspruch bei Bolsonaro. Sein Sohn hat sich mehrfach mit Politikern in Rio de Janeiro getroffen, die mit der Mafia in Zusammenhang stehen. Und auf dem Land ist die Situation schon dramatisch. Viele Farmer haben bereits Milizen, die in Landkonflikten die arme Landbevölkerung terrorisieren. Bolsonaro möchte ihnen den Zugang zu Waffen noch erleichtern und verspricht ihnen, mit totaler Freiheit zu agieren. Keine Polizei der Welt tötet mehr Menschen im Einsatz, als die brasilianische und Bolsonaro will der Polizei noch die Lizenz zum Töten erteilen. Er will die Möglichkeit abschaffen, dass ein Polizist, der im Einsatz jemanden tötet, dafür belangt wird. Das alles zusammen ergibt eine explosive Mischung für Brasilien.

Wenn man das alles berücksichtigt, wie bewerten Sie die Möglichkeit für einen effektiven Widerstand gegen Bolsonaro? Und wie können wir hier in Deutschland Solidarität leisten?
Wir haben sehr wenig Zeit, um uns darauf vorzubereiten. Wir können nicht bis Januar abwarten, wenn Bolsonaro das Amt übernimmt. Alles weist darauf hin, dass die zu erwartende Explosion der Gewalt früher beginnt. Die jetzige Regierung ist sehr schwach. In Wirklichkeit wird sie von General Sergio Etchegoyen aufrecht erhalten.
Wir haben sehr wenig Zeit, um zu überlegen, wie wir Menschenrechtsverteidiger schützen können. In den letzten Tagen haben wir den Führungspersönlichkeiten von sozialen Bewegungen mitgeteilt, dass sie nicht mehr alleine herumlaufen sollen, dass sie darauf acht geben müssen, welche Informationen sie von sich preisgeben und so weiter. Der ganze zivilgesellschaftliche Aktivismus ist gefährdet. Am Sonntag vor der Wahl hatte Bolsonaro in einer Rede ja angekündigt, „mit dem Aktivismus Schluss zu machen“. Die Zivilgesellschaft in Brasilien mobilisiert schon den Widerstand dagegen, aber die Gefahr für einzelne Personen ist groß. Wir haben bereits die UNO und die Organisation Amerikanischer Staaten über die besorgniserregende Situation informiert. Es besteht die Gefahr, dass wir wieder in die Militärdiktatur zurückfallen. Wir werden auf jeden Fall sehr viel internationale Solidarität brauchen. Die internationalen Menschenrechtsorganisationen müssen Komitees für Nothilfe gründen, um Menschen zu unterstützen, die Angriffen ausgesetzt sind. Die Drohung Bolsonaros, alle auszuweisen, die anderer politischer Ansicht sind als er, ist nicht rhetorisch zu verstehen. Es ist eine reale Bedrohung. Sie könnte sogar schlimmer werden, als in der Rhetorik. Es droht die physische Auslöschung der Aktivisten. Deshalb bin ich ja gerade in Berlin, um die hiesigen Hilfsorganisationen über diese Bedrohung zu informieren, damit diese Nothilfemaßnahmen einrichten.

MENSCHLICHKEIT IM TIEFEN SINNE

Wir haben eine Rede von Lohana Berkins zum Travestismo als politische Identität abgedruckt. Können Sie nochmal sagen, was für Sie den argentinischen Travestismo ausmacht?
Unser Begriff Travesti unterscheidet sich von anderen Transgenderbewegungen im Bewusstsein und in der Komplexität, mit der wir uns selbst sehen. Wir sehen uns nicht aus einer Genderperspektive, ohne uns vorher aus der Klassenperspektive betrachtet zu haben. Die Trans- und Travesti-Community in Argentinien ist stark durch strukturelle und symbolische Armut geprägt. Wir beziehen uns in unserem Transgenderismus auf Subjektivität mit klarem eigenen Gehalt. Wir sind eine radikal andere Option der Identität. Wir wollen gar nicht in die Kategorien von Mann und Frau passen. Das ist eine Halluzination der Heterosexualität, dass wir euch imitieren wollen. Wir wollen weder Mann noch Frau sein, da beide ein gescheitertes Dasein haben.
Wir sehen Mann und Frau als systemisches Paar: Es ist nicht allein das Patriarchat und die Männer, es sind Männer und Frauen, die an dieser Gesellschaft, wie wir sie heute haben, schuld sind. Um diese Gesellschaft so derart scheitern zu lassen, haben sich Männer der Unterdrückung bedient. Aber Frauen sind mitverantwortlich, sie sind notwendig in diesem systemischen Paar. Sie tragen immer noch dazu bei, dass das Ganze erhalten bleibt. Bedauerlicherweise müssen sie anfangen, darüber nachzudenken.

Wird das nicht in der Frauenbewegung getan?
Der Feminismus ist eine notwendige Kritik, aber eine Kritik, die nicht die Veränderungen schafft, die die Welt braucht. Und das, was der Feminismus macht, um das Bestehende zu erhalten, macht er besonders gut. Jeden Tag erhält er das Patriarchat, den Kapitalismus und den Machismus, der heute weltweit die Gesellschaft ausmacht.
Die Wahlmöglichkeit der Frauenbewegung bleibt die der Frau, zu entscheiden, dass sie eine Frau sein will. Wir kommen nicht umhin, zuzugeben, dass der Ort der Frau vom Patriarchat und vom Mann konstruiert wurde. Der Mann definiert und er erlaubt, ob dieser Ort sich verändern kann oder nicht. Er erlaubt oder erlaubt nicht, dass heute für ,Ni una menos’ protestiert wird, er erlaubt heute, dass unsere Schwarze Bevölkerung nicht mehr verschleppt und versklavt wird und ob sich Bedingungen ändern.
Dass aber heute in meinem Land immer noch Menschen umgebracht werden, geschieht aufgrund eines systemischen Paars aus dominierendem Mann und funktionaler Frau. Und sogar die Frauen, der Feminismus und die Bewegungen, die aus der weiblichen Subjektivität heraus etwas schaffen wollen, sind immer noch zwingend notwendige Komplizinnen dieses systemischen Paars. Und solange, wie sie sich nicht aus dieser Illusion der obligatorischen Heterosexualität befreien, tun sie so, als ob sie keine Verantwortung dafür tragen würden, funktional für und mitschuldig an einem System zu sein, das tötet.

Können Sie genauer erklären, inwiefern die obligatorische Heterosexualität gescheitert ist und Tod produziert?
Das ist so offensichtlich, dass ich nicht weiß, was ich euch daran noch erklären soll. Ich könnte euch von religiösen Bewegungen erzählen, ganz beispielhaft von der katholischen Kirche mit ihrer Geschichte der Hexenverbrennungen und der Inquisition, Verbrechen, für die sie sich nie entschuldigt hat. Der Mittlere Osten ist ein permanenter Kriegsherd, der Imperialismus produziert immer weitere Tote. Und es regiert der Heterosexismus, um Kinder zu bekommen, ohne dass es irgendjemanden interessiert, ob diese Kinder auf dem Müll landen. Wir sehen nur zerstörte Kindheiten. Wir sehen die Verbrechen gegen die indigene Bevölkerung – Benetton kommt und kauft ein Stück Land und lässt Hunderte Mapuche umbringen; Wichis werden vertrieben, weil neues Soja angebaut werden muss, die Menschen werden mit Glyphosat vergiftet. Die heterosexuelle Welt definiert sich also über das Scheitern und den Tod. Die Diktaturen in Lateinamerika, die 30 000 Verschwundenen in Argentinien, die weiteren in der heutigen Demokratie – all diese Toten! Die Frauenmorde in Mexiko, die Kinder in der Produktion, bei den Paramilitärs der Drogenkartelle…
Die Heterosexualität ordnet die Welt auf diese Art und Weise. Wir verstehen nicht, dass wir euch, die Heterosexualität, Patriarchat und Kapitalismus aufrechterhalten, immer noch erklären müssen, dass ihr versagt habt und sehenden Auges Tod produziert.

Was sind unsere Möglichkeiten, die kulturell besetzten Machtbeziehungen zwischen Mann und Frau und die damit verknüpften konstruierten Identitäten zu ändern?
Der Mann ist heute Herr des Hauses und ihm gehört die Hegemonie. Egal ob das daher kommt, weil er Kapitalist, Patriarch oder Imperialist ist. Und er sagt: ‚Du bist Frau, du bist Travesti, du bist eine Schwuchtel, du bist homosexuell, du bist indigen, du bist, du bist, du bist.’ Und er definiert uns. Er definiert sich nicht selbst. Wir, der Rest der entwerteten Subjekte, definieren diesen Mann. Die überwältigende Mehrheit akzeptiert ihre sekundäre Rolle. Wenn wir Travestis davon sprechen, trans zu sein, geht es um eine politische Position, da wir dieses systemische Paar verlassen.
Auch heterosexuelle Männer und Frauen, schwule Männer und lesbische Frauen können trans sein, hinsichtlich einer neuen Kondition, die eindeutig politisch ist. Das bedeutet, sich nicht in diesem Binom und nicht in diesen alleinigen Kategorien von Mann und Frau zu denken – die außerdem von jeglicher Seite völlig widerlegt sind, auch von der Natur. Weil wir alle aus der Natur kommen, wir sind Intersexuelle, wir sind Lesben, Schwule, Heterosexuelle oder was auch immer. Außerdem handelt es sich um Konstrukte, in denen wir sehr viel mehr aufgrund der Unterdrückung, als aufgrund der Natur festgefahren sind. Der Gebrauch des Wortes Natur wird für Unruhe sorgen, da die Rechte es benutzt, um zu definieren, was natürlich ist. Oder es wird gesagt, dass Gott befiehlt, Mann oder Frau zu sein. Das ist eine völlige Lüge. Der natürliche Charakter des Menschen ist es, sich selbst und die Welt um ihn herum zu verändern, zu transformieren. Wir sind natürlicherweise kulturelle Wesen.

Was ist der politische Ansatz des Travestismo?
Unser Travestismo ist ein politischer Diskurs, wir berufen uns ganz klar auf die Menschenrechte. Wir sind Subjekte ohne jegliche Verhandlungsmacht. Aus dieser ,Unmacht‘ heraus verhandeln wir. Warum müssen wir immer noch fordern, das wir nicht gesteinigt, nicht umgebracht, nicht verhaftet, nicht verfolgt werden? Wenn das doch etwas Wesentliches des Menschlichen ist? Warum müssen wir darüber diskutieren, dass ich aufgrund meiner Geschlechter-identität nicht diskriminiert werden darf, dass mir keine Rechte verwehrt werden dürfen?
Aufgrund dieser schlimmen Erfahrungen tut es uns weh, dass der Feminismus so lange braucht, um klarzukriegen, ob Travestis nun Feministinnen sein können oder nicht, ob sie bei den Frauentreffen dabei sein können oder nicht. Es tut uns weh, dass viele emanzipatorische Bewegungen nicht den Anstand haben, die Türen nicht vor uns zu verschließen. Die Travesti-Bewegung in Argentinien bringt das Konzept ,Trans’ als politische Möglichkeit vor, wo alle hineinpassen, die aus dem obligatorischen Heterosexismus entflohen sind. Für mich ist ,Trans‘ ganz klar die Möglichkeit einer politischen Identität. Wie andere sagen würden rechts, links, demokratisch, republikanisch oder wie auch immer. All diese Politik ist alt und abgelaufen und hat ihr Scheitern in der Realität gezeigt.

Ihr sucht nach einer „anderen Art Weiblichkeit“. Wie soll die aussehen?
Wir gehen in einem radikalen Sinn in Richtung Weiblichkeit. Aber eine Weiblichkeit, die sich mächtig anfühlt und die sich nicht gemäß dem vorherrschenden Paradigma konstruieren muss. Nicht diese frauliche Weiblichkeit, hübsch sein zu müssen. Oder hässlich, dick, tätowiert zu sein, um intelligent sein zu können. Wir sind, wie wir sind. Jede will sein, wie sie sein will und in diesem Sein-Wollen, gebe ich dem Männlichen keinen Deut Macht. Ich bin mit Penis geboren und mit dem Bewusstsein erzogen worden, dass mein Phallus meine Macht bedeutet. Die Situation der Unmacht entsteht nicht dadurch, mich der Identifikation mit dem Maskulinen verweigert zu haben. Ich streite nicht ab, dass es Gewalt gibt, aber ich akzeptiere es nicht, abgewertet zu werden. Es gibt immer noch Frauen, die das zulassen.
Wir ertragen die Gewalt, aber trotzdem sind wir uns unseres Wertes absolut bewusst. Deswegen werden wir nicht unsere Träume und unsere Wünsche zurückstellen. Wir verhandeln nichts. Wir sind in der Welt und wir gehen nach vorne. Die männliche und weibliche Welt will uns auf die Straße setzen, uns umbringen, uns angreifen, uns Entwicklungsmöglichkeiten nehmen – ok. Das ist euer Ding. Ich bin das, was ich in dieser völlig gescheiterten und gewalttätigen Welt sein kann, die von Männern und Frauen in ihrem dichotomen heterosexistischen Paradigma geschaffen wurde. Diese Welt hat nichts mit Menschlichkeit im tieferen Sinne zu tun.
Diese andere Weiblichkeit, die wir suchen, wäre eine wirklich starke Weiblichkeit. Mit der Kraft des absoluten Wissens, das sein zu können, was wir sein wollen, ohne das Männliche zu imitieren. Das wäre, eine menschliche Margaret Thatcher zu sein, eine menschliche Condoleeza Rice, Merkel und CFK (Cristina Fernández de Kirchner) – welche politische Person auch immer. Und dabei absolut kohärent mit dem, was wir sind.

Was ist euer Gegenentwurf für hegemoniale Identitäten und Beziehungen?
So etwas wie das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Erst als die Kinder in ihrer Unbedarftheit sagen, dass der Kaiser nichts anhat, merken plötzlich alle, dass sie von den Schneidern belogen worden sind. Sehr intelligent übrigens. Unser Gegenentwurf will die Gewalt sichtbar machen, die in dieser Welt Schritt für Schritt produziert wird.
Es wird überall gemordet, aktiv, indem mit Kriegsmaschinerie losgezogen wird, oder passiv, indem in Rindfleisch für wenige investiert wird, statt in Nahrungsmittel für alle. Wir erlauben, dass Kinder verhungern, dass es Sextourismus gibt und Vertreter der UNO und Militärs verschiedener Länder unsere Kinder prostituieren, wir erlauben Gewalt in Häusern, Schulen, Medien. Wir erlauben, dass die Gewalt sich in jedem Augenblick produziert und reproduziert. Wir ignorieren, dass es unser Ziel in der Welt ist, uns, Subjekte und Gesellschaften mit Vertrauen zu reproduzieren. Diese sollten frei von Gewalt, Armut und Demütigung sein. Das ist das, was das heterosexuelle, kapitalistische und patriarchale System produziert, mit dem wir alle so beschäftigt sind.

Was sind deine Vorstellungen von einer utopischen Gesellschaft?
Ich würde mir so wünschen, dass die Kinder, die in diese Welt kommen, in eine Welt kommen, in der alle Unterschiede in einer Umarmung aufgenommen werden können. Die Differenz zu radikalisieren und in dieser Differenz zu verstehen, dass die juristische, soziale, politische und wirtschaftliche Gleichheit radikal und intrinsisch notwendig ist. Da können wir eine Utopie erschaffen, in der wir eine Politik der Menschlichkeit im tieferen Sinne schaffen. Wo niemand seinen Körper, seine sexuellen Praktiken oder seine Formen, Beziehungen zu führen, ins Spiel bringen muss. In der wir uns einfach auf wirklich demokratische Weise neu erfinden.

ATTACKEN IM INTERNET

Mit Luchadoras, Kämpferinnen, sind nicht nur Sie und die anderen Mitwirkenden der Plattform gemeint, sondern auch all diejenigen, deren Geschichte Sie erzählen. Wie kam es dazu?
Luchadoras sind für uns all die Frauen, die Tag für Tag für ihre Rechte kämpfen und Widerstand leisten. Damit sind nicht nur Aktivistinnen oder Menschenrechtsverteidigerinnen gemeint, sondern all die, die den Binarismus der Geschlechter sprengen und Frauen ein würdevolles Leben ermöglichen wollen. Die Idee entstand aus dem Wunsch unserer Mitstreiterin Lulú Barrera, von denjenigen Frauen zu erzählen, die in ihren jeweiligen Gemeinden unglaubliche Änderungen hervorgerufen haben, die aber in den mexikanischen Massenmedien nicht repräsentiert wurden. Die Webseite entstand mit dem Ziel, ein Archiv dieser Geschichten aufzubauen.

Wie gehen Sie dabei konkret vor?
Die Sektionen der Webseite orientieren sich an den Ideen der feministischen Bewegungen in Lateinamerika. Im Bereich „Vivas nos queremos“ („Wir wollen uns lebendig“) finden sich Beiträge zu Feminiziden. Wir möchten dabei jedoch nicht die Opferperspektive oder die des Schmerzes einnehmen, sondern die Geschichten aus dem Leben heraus erzählen und sie in Ehren halten. Mich interessiert zudem besonders das Thema Sport. Wir haben beispielsweise die Geschichte von Daniela Velasco aufgegriffen, einer Athletin und paralympischen Medaillenträgerin, um diese aus einer nicht paternalistischen Perspektive zu erzählen, die ihre Stärken und Fähigkeiten hervorhebt. Die Firma Nike hat uns schließlich zu einem Forum eingeladen, auf dem unser Video gezeigt wurde. Sie kannten die Geschichte Danielas zuvor nicht und haben daraufhin entschieden, sie bei den paralympischen Spielen in Japan 2020 zu unterstützen. Für uns ist es toll, dass unsere Arbeit einen solchen Einfluss haben kann.

In Mexiko haben große Teile der Bevölkerung noch immer keinen Zugang zu Internettechnologien. Inwiefern haben diese die feministischen Bewegungen dennoch beeinflusst?
Globale Bewegungen wie „Me too“ haben uns an den Hashtag „Mi primer acoso“ („meine erste Belästigung“. s. LN 513) in Mexiko und die darauffolgenden landesweiten Demonstrationen erinnert. Die Auswirkungen dieses Hashtags waren unglaublich, Frauen begannen auf Twitter ihre Geschichten zu teilen und ohne diesen wären viele von ihnen vielleicht nicht sicher gewesen, dass das, was der Onkel, der Cousin oder der beste Freund getan hatte Gewalt war – und nicht in Ordnung. Die Geschichten der anderen haben uns die Kraft gegeben, um über die eigenen Missbrauchserfahrungen zu sprechen. Die Analyse des Hashtags sagt Schlimmes über unsere Gesellschaft aus. Die meisten Vergehen wurden im Familien- und Bekanntenkreis begangen, und in den meisten Fällen waren die Betroffenen im Kindesalter oder Jugendliche. Dementsprechend war die Demonstration zwei Tage später die größte an der ich jemals teilgenommen habe. Hunderte von Missbrauchsfällen wurden so öffentlich gemacht. Natürlich längst nicht alle, unter anderem weil nicht alle Menschen in Mexiko Zugang zu Twitter haben. Es gibt jedoch Initiativen. Zum Beispiel hat eine Gemeinde in Oaxaca, die bisher vom Telefonnetz ausgeschlossen war, ihr eigenes Netz aufgebaut.

Der Hashtag „Mi primer acoso“ hat jedoch nicht nur gezeigt, dass das Internet sich für die Vernetzung von Frauen eignet, sondern wieder einmal auch, dass es keineswegs ein gewaltfreier Ort ist. Wie unterscheidet sich Gewalt im Netz von anderer Gewalt?
Richtig, bei „Mi primer acoso“ gab es unter jedem Tweet Beleidigungen und Drohungen. Das war für uns jedoch nichts Neues, denn Gewalt im Netz folgt den selben Mechanismen wie jede andere Gewalt. Online und offline sind als Kontinua und keineswegs als getrennte Sphären zu betrachten. Strukturelle Gewalt gegen Frauen und Körper, die nicht in die Norm passen, findet sich im Internet genau so wie in der „realen“ Welt. Im Netz wie im Alltagsleben werden wir sexualisiert, unsere Körper attackiert. Das Netz ist also nur ein Spiegel der Gesellschaft. Der größte Unterschied ist, dass sich die Aggressoren unter dem Schirm der Anonymität schützen. Für uns hat das oft zur Folge, dass wir diese Technologien meiden, die Plattformen verlassen und User blockieren. Das löst allerdings das Problem nicht. Blockierst du einen Aggressor, sprießen hundert neue aus dem Boden. Dies führt manchmal dazu, dass wir die Kontrolle über die Technologien verlieren, da es so viele Kanäle gibt, auf denen du angegriffen werden kannst. Die „Machitrolls“, wie wir sie nennen, sind gut organisiert. Und die Auswirkungen solcher Online-Attacken sind sowohl psychisch als auch physisch spürbar.

Wie können wir uns gegen solche virtuellen Angriffe schützen?
Füttere den Troll nicht. Davon lebt er. Er ernährt sich von deiner Wut, die ihn wachsen lässt. Anstatt zu antworten, sollten wir damit beginnen, die Aggression per Screenshot zu dokumentieren und uns für die Dokumentation ein System zu überlegen. Den Vorfall immer bei der Plattform melden und eine Reaktion ihrerseits fordern. Wir füttern die sozialen Netzwerke mit Informationen und sie machen Millionen mit uns, dafür müssen sie Verantwortung übernehmen. Schließlich ist es wichtig, dass wir miteinander über die Vorfälle sprechen. Sehr offensichtlich aber ebenso grundlegend ist es, sich lange und alphanumerische Passwörter zu überlegen und diese ständig zu wechseln. Kurzum: Prävention, nicht reagieren, dokumentieren, melden und teilen. So wie wir lernen, uns im Alltag zu verteidigen, lernen wir das auch im Netz. Wir werden uns immer klarer darüber, was Gewalt ist und wie wir damit umgehen können. Die selben Strategien wenden viele Organisationen, Aktivist*innen und Journalist*innen übrigens gegen Spionageangriffe seitens des Staates an!

Wie reagieren die staatlichen Autoritäten in Mexiko auf Gewalt im Netz?
Unsere staatlichen Organismen sind absolut ineffizient. Der Staat hat beispielsweise begonnen, Sexting (das Senden von Nachrichten mit erotischen Inhalten, Anm. d. Red.) unter Strafe zu stellen. Er erkennt dabei aber nicht, dass das Sexting an sich nicht das Problem ist, sondern die Gewalt, die beispielsweise durch die ohne Einwilligung erfolgte Verbreitung des Materials ausgeübt wird. Deswegen liegt es an den zivilen Organisationen dafür zu sorgen, dass jedes Mädchen und jede junge Frau – die größte Zielgruppe für Gewalt im Netz – über das nötige Wissen verfügt, sich im virtuellen Raum verteidigen zu können. Das Problem wird nicht verschwinden, aber wenn wir weiterhin über die Gewalt sprechen, uns austauschen und organisieren, Strategien teilen, werden wir immer besser wissen, wie wir auf Angriffe im Netz reagieren können.

Wie funktioniert die Kooperation zwischen feministischen Organisationen und solchen, die für digitale Rechte eintreten?
Die feministische Szene und die digitale Szene sind in Mexiko sehr gut vernetzt. Diesen Januar haben wir gemeinsam mit anderen Organisationen, die seit vielen Jahren Gewalt dokumentieren, einen Bericht über Gewalt gegen Frauen im Netz präsentiert. Vor allem in Mexiko-Stadt gibt es ein großes und dichtes Netz aus Organisationen die für digitale Rechte eintreten. Und sie kooperieren an vielen Orten eng mit der feministischen Szene, zum Beispiel in der Koalition „Internet es nuestra“ („Internet gehört uns“).

Und alle diese Organisationen lassen sich trotz der verschiedenen Schwerpunkte und Perspektiven aufeinander ein?
Den Luchadoras wird oft gesagt: „Ihr streitet euch ja nie mit irgendwem.“ Uns ist klar, dass es nicht einen einzigen Feminismus gibt. Es gibt nicht nur den, der normalerweise in den Medien repräsentiert wird. Es gibt viele Formen von Feminismus und alle sind wertvoll. Uns geht es eben darum, möglichst alle Kämpfe sichtbar zu machen. Unser aller Ziel ist es doch, diese Welt für Mädchen, Frauen und alle anderen Geschlechter lebenswerter zu machen. Zusammen sind wir stärker und unser Wirken hat größeren Einfluss. Auch bei den Luchadoras gibt es verschiedene Sichtweisen, aber unser gemeinsames Ziel ist es, sexistische Beiträge in den digitalen Medien zu reduzieren und zu sehen, wie Frauen sich letztere zu eigen machen, um ihre Geschichten zu erzählen. Wir müssen Dialoge fördern, denn Fakt ist, dass wir tagtäglich umgebracht werden. Jede von uns kann eine Feministin sein.

Und die Männer?
Können natürlich auch Feministen sein. Jedes Lebewesen, das an die Gleichheit der Rechte glaubt, kann Feminist sein. Es ist wichtig, dass die Männer uns in unserem Kampf begleiten. Eine Form, dies zu tun, ist zu schweigen, uns zuzuhören und Solidarität zu zeigen, ohne sich in den Vordergrund zu drängeln. Dies passiert in Mexiko auch in linken Kreisen ziemlich häufig. Die gesamte Geschichte wurde von Männern erzählt, nun sind sie mit Zuhören dran. Sie sollten unsere Geschichten nicht in Frage stellen, kein Mansplaining betreiben, nicht die Protagonisten unseres Kampfes sein wollen und sich auch verletzlich zeigen können. Das impliziert auch, dass sie die von ihnen selbst ausgeübte Gewalt hinterfragen. Sie müssen herausfinden, wie es in einer Gesellschaft, die sie tagtäglich zum Macho-Dasein auffordert, möglich sein kann, diese Realität zu dekonstruieren. Unsere Aufgabe ist es wiederum, sie auf diesem Weg zu begleiten. Und das kann durchaus ein liebevoller, gewaltfreier Prozess sein. Denn uns ist klar, dass dieser Weg auch für sie schwierig sein kann.

Im März kommen Sie zur Ausstellung „Wir sind vernetzt“ nach Berlin. Was erwarten Sie sich vom Austausch mit deutschen Aktivistinnen?
Wir haben viel von den feministischen Bewegungen in anderen Teilen der Welt gelernt und mich interessiert besonders, inwiefern sich die Gewalt im Netz in Deutschland von der in Mexiko unterscheidet und welche Strategien und Organisationsformen existieren. Welche Selbstverteidigungsmethoden kennen sie? Wie können wir uns die Technologien noch besser zu eigen machen? Zudem werde ich einen Workshop mit Jugendlichen durchführen. Ich möchte ihre Kontexte und ihre Perspektiven auf Widerstand kennenlernen. Denn auch wenn uns das nicht immer so bewusst ist, besonders nicht im Jugendalter: auf irgendeine Art und Weise leisten wir immer Widerstand.

 

KEINE ZEIT ZUM TRAUERN

Am 24. November wurde das abschließende Gutachten der Autopsie des gewaltsam verschwundenen Aktivisten Santiago Maldonado veröffentlicht. Seine Leiche war nach monatelanger Suche am 17. Oktober im Fluss Chubut gefunden worden. Das nun veröffentlichte Gutachten besagt, dass sein Tod durch Ertrinken hervorgerufen wurde, begleitet von Unterkühlung. Mit drei verschiedenen Methoden wurde berechnet, wie lange sich die Leiche vor dem Fund bereits im Wasser befunden hatte. Der Aktivist war am 1. August bei einer Protestaktion um Landrechte der Mapuche in der Provinz Chubut verschwunden und blieb 78 Tage vermisst. Je nach Methode wird davon ausgegangen, dass der tote Körper zwischen 53 und 73 Tagen im Wasser gewesen sein muss. Die Berechnung der Dauer ist wichtig, um herauszufinden, was vor seinem Tod passiert sein könnte. Denn trotz abgeschlossener Autopsie sind die Umstände seines Todes immer noch ungeklärt und es gibt keine Informationen darüber, was in den mindestens fünf Tagen geschehen ist, die zwischen seinem Verschwinden und seinem Tod liegen. Nach Abschluss der rechtsmedizinischen Untersuchung fordern die Familienangehörigen von Santiago Maldonado weiterhin eine unparteiische, unabhängige und umfassende Untersuchung, um ihren Forderungen nach Wahrheit und Gerechtigkeit für Santiago einen Schritt näher zu kommen. Der zuständige Richter Gustavo Lleral hatte zuvor eine unabhängige Untersuchungskommission abgelehnt. In den nächsten Wochen sollen neue Beweise aufgenommen werden.

Während der öffentlichen Trauerfeier für Maldonado in der Kleinstadt 25 de Mayo in der Provinz Buenos Aires verbreitete sich die Nachricht von einem weiteren Todesopfer im Kontext des gleichen Konflikts um die Besetzung von Mapuche-Gebieten im Süden Argentiniens. Der 22-jährige Rafael Nahuel wurde von Sicherheitskräften der Spezialeinheit „Albatros“ der argentinischen Marine während der Räumung einer Besetzung in der Nähe des Mascardi-Sees bei Bariloche von hinten erschossen. Nahuel war kein bekannter Aktivist, aber hatte sich ähnlich wie Maldonado mit den Protesten solidarisiert und war zur Unterstützung seiner Familie in die Gemeinde Lafken Winkul Mapu gereist. Der Mord fand im Rahmen einer mehrtägigen Operation staatlicher Sicherheitskräfte statt, bei der drei Tage zuvor bereits vier Frauen und fünf Kinder festgenommen worden waren. Am 25. November gab es neben dem Mordopfer zwei weitere Festnahmen von Aktivisten, die, nachdem sie vier Stunden an den bereits verstorbenen Nahuel angekettet waren, in Isolationshaft gesteckt wurden. Fausto Jones Huala und Lautaro González wurden am 27. November wieder freigelassen. Sonia Ivanoff, Mapuche-Anwältin und Vizepräsidentin der Vereinigung von Anwält*innen für indigenes Recht in Argentinien, sprach angesichts des erneuten Mordes von einer „Jagd auf Mapuche“, die von der Regierung als „Gefahr“ dargestellt würden. Im ganzen Land von Tucumán bis Bariloche gingen Menschen auf die Straße, um gegen den Mord von Rafael Nahuel und die Kriminalisierung der Mapuche zu demonstrieren.

Die Sicherheitskräfte und die argentinische Regierung erklärten wiederholt, dass der Mord an Rafael Nahuel eine Reaktion auf Beschuss durch die Besetzer*innen gewesen sei, konnten aber – genau wie im Fall von Santiago Maldonado – bisher außer selbst gefertigten Berichten keine Belege für diese These vorlegen. Aktivist*innen hingegen bestreiten diese Angaben und in Untersuchungen konnten keine Spuren von Schusswaffengebrauch an den Händen der Festgenommenen festgestellt werden. Auch der erste Autopsiebericht bestätigt, dass Nahuel von hinten erschossen wurde. An der Besetzung beteiligte Aktivist*innen wiederholen immer wieder, dass sie unbewaffnet gewesen seien. „Wir hatten Steine und Stöcke. Was hätten wir damit machen können? Eine Kugel tötet!“, so ein anonymer Sprecher der Gemeinde in der Zeitschrift Cítrica.

Schrei nach Gerechtigkeit für Rafael und Santiago (Foto: Voijf – lavaca.org)

Sicherheitsministerin Patricia Bullrich und Justizminister Germán Garavano reagierten mit einer Pressekonferenz, in der sie zu verstehen gaben, dass es Konsequenzen habe, wenn Personen gegen das Gesetz verstoßen würden. Der offene Zynismus mit dem Bullrich hier argumentiert ist mehr als nur grotesk: Im Landkonflikt wird systematisch und andauernd gegen internationale Konventionen und Gesetze auf Provinz- und Landesebene verstoßen. Die Version der Sicherheitskräfte sei die „Wahrheit“, und Beweise für das, was Sicherheitskräfte in einem Einsatz mit richterlichem Befehl machten, müssten nicht erbracht werden. Die Argentinier müssten lernen, dass Gewalt keine Lösung sei, so Bullrich. Gewalt geht allerdings vor allem von staatlicher Seite aus.

Die zunehmende Militarisierung Patagoniens durch die Gendarmerie zeigt die angespannte Stimmung in einem Konflikt, der unter dem argentinischen Regierungsbündnis Cambiemos noch zusätzlich an Brisanz gewinnt. Präsident Macris Regierung, die nach nur zwei Jahren Amtszeit schon zur autoritärsten Regierung der letzten 30 Jahre in Argentinien geworden ist, hat die Entscheidung getroffen, die Interessen großer Unternehmen bis aufs Äußerste zu verteidigen. Denn es sind seine eigenen.

Unterstützung erhoffen sich die argentinischen Behörden mittlerweile auch von chilenischer Seite. Der argentinische Staatsanwalt José Gerez traf sich am 4. Dezember mit Amtsvertretern aus der chilenischen Provinz Araucanía, wo die Behörden schon jahrelange Erfahrung mit der Militarisierung und Repression gegen Mapuche-Aktivist*innen haben, um Informationen und Strategien auszutauschen. Die argentinische Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Besetzungen und andere Aktionen der Mapuche in Argentinien nur mit logistischer Unterstützung von Gruppen aus Chile haben stattfinden können. Das Treffen der Staatsanwälte verlief vorerst ergebnislos, allerdings erklärten beide Seiten, dass sie in Zukunft zusammenarbeiten würden.

„Bei dem Boden, den die Mapuche unter den Füßen haben, sind Millionen Dollar im Spiel“, erklärt die Mapuche-Aktivistin Moira Millán das starke Interesse in der Region in Anbetracht der Rohstoffe in Patagonien. „Aber es geht auch um eine ideologische Konfrontation. Es sind zwei konzeptuell verschiedene Welten, für die eine Welt ist das Privateigentum heilig, für die andere das Leben.“ Dass diese Logik anderen Teilen der Gesellschaft bewusst werden könnte, die dann die Ideen der Mapuche als Alternative erkennen könnten, um die Geschichte zu ändern, mache der Regierung Angst und daher konstruiere sie die Mapuche als inneren Feind der Demokratie. Millán spricht von einem „Zirkus der Demokratie“. Vielleicht ganz treffend, denn der zuständige Richter, der den Fall Nahuel untersuchen soll, ist Gustavo Villanueva, der auch den Befehl zur Räumung gegeben hat, die zu Nahuels Tod geführt hat. Villanueva zeigt sich auch verantwortlich für die Verhaftung eines anderen Mapuche-Aktivisten.

 

“AUFBEGEHREN GEGEN DAS SYSTEM”

Was hat Sie dazu bewegt, den schwierigen Weg der Gründung einer freien Schule zu gehen – in einer ländlichen Gemeinde mit nur 4.000 Einwohner*innen?
Ich arbeitete an einer staatlichen Sekundarschule in Erandique, im Regierungsbezirk Lempira. Nach dem Putsch 2009 hat sich die Situation an der Schule grundlegend geändert. Der Schuldirektor, Mitglied der Nationalen Partei, führte die Schule sehr autoritär. Mit der Regierungspartei im Rücken fühlte er sich bestärkt, Posten nach Parteizugehörigkeit zu besetzen. Ich selbst verlor dadurch meine Position.
Zudem verbreitete er eine Atmosphäre der Angst, er schrie uns Lehrkräfte an, erniedrigte und beleidigte uns – teilweise auch vor den Schülern. Kritische Äußerungen wurden weder von Lehrkräften noch von Schülern geduldet. Kritische Jugendliche wurden sofort als schlecht erzogen dargestellt, als frustrierte junge Menschen. Einige Schüler bekamen gravierende psychische Probleme und niemand auf Leitungsebene interessierte sich dafür.
In dieser Situation begannen einige Kollegen und ich von einer anderen Art von Schule zu träumen. Wir trafen uns und überlegten, wie wir uns die ideale Schule vorstellen und welche Art von Bildung und Erziehung wir für die Schüler am liebsten hätten. Aber erstmal war alles nur ein Traum.

Wie wurde dieser Traum Realität?
Wir erzählten unseren Freunden, anderen Lehrkräften im Dorf und den Leuten von der katholischen Kirche von der Situation und unserer Idee einer freien Schule und einer anderen Art von Bildung. Eine freie Schule in Honduras zu gründen bedeutet ein langwieriges Zulassungsverfahren durch verschiedene Instanzen oder eine hohe Ablösesumme, falls man eine bereits bestehende Privatschule übernehmen möchte. Aufgrund der politischen Situation und des Konfliktes an der alten Schule war uns klar, dass wir keine Zulassung bekommen würden. Geld hatten wir auch nicht¸ aber wir hatten Glück: Eine Person, die vor einigen Jahren eine Privatschule in Erandique gegründet hatte, diese aber schließen musste, übertrug uns die Zulassung kostenlos. Und plötzlich ging alles sehr schnell.

Die Schule funktioniert nun schon im dritten Jahr. Wie haben Sie das erreicht?
Wir haben einen gemeinnützigen Verein gegründet. Die Schule finanziert sich über Gebühren von Eltern, die etwas zahlen können. Andere Eltern unterstützen uns mit handwerklichen Arbeiten in den Schulräumen. Es gibt auch Eltern, die für Kinder aus ärmeren Verhältnissen zahlen. Wenn Eltern die Gebühr einmal nicht aufbringen können, dann behalten wir deren Kinder natürlich trotzdem. Wir haben derzeit über 70 Schüler, in der Mehrheit Kinder alleinerziehender Mütter. Wir unterrichten alle Jahrgänge von der Vorschule bis zum Abitur.
Im Kollegium sind wir sechs, die nur an dieser Schule arbeiten. Wir erhalten Unterstützung von Lehrkräften, die woanders ihr Geld verdienen und bei uns ein paar Stunden unterrichten. Es gibt auch Lehrkräfte, die bei uns unterrichten, weil sie wegen der politischen Situation an staatlichen Schulen keine Anstellung erhalten. Es herrscht an vielen Schulen der Druck, die regierende Nationale Partei zu unterstützen.
Ich habe von meiner festen Stelle an der staatlichen Schule eine Freistellung für zwei Jahre. Es ist eine Umgewöhnung. Vorher hatte ich ein regelmäßiges Gehalt, auch während der Ferien. Jetzt werde ich nur während der Schulmonate bezahlt.

Was zeichnet die Bildung an Ihrer Schule besonders aus?
Damit Kinder und Jugendliche lernen können, muss eine vertrauensvolle und angenehme Atmosphäre geschaffen werden. Deshalb haben wir mit einfachen Dingen begonnen, wie einer farbenfrohen Raumgestaltung und Bepflanzung des Innenhofes. Wir fördern eine Kultur des Dialogs und setzen uns für Konflikttransformation ein. Auf unsere Umgebung, die von Gewalt, Drogenhandel und Repression geprägt ist, haben wir nur bedingt Einfluss, aber ich als Lehrkraft muss mit den Erfahrungen und Emotionen meiner Schüler*innen verantwortungsvoll umgehen. Wir bieten Kindern und Jugendlichen einen sicheren Raum und eine Gemeinschaft.
Für uns ist es wichtig, dass unsere Schüler und deren Eltern verstehen, dass Bildung nicht bedeutet, zu zeigen, wer der oder die Beste ist. Uns geht es vor allem darum, die Freude am Lernen zu wecken.

Gab es keine größeren Schwierigkeiten nach der Schulgründung?
Wir standen und stehen verschiedenen Herausforderungen gegenüber: Uns gegen Verleumdung zu wehren, gute Lehrkräfte zu finden, die offen für Freire-Pädagogik sind, und natürlich die finanzielle Situation.
In den ersten Monaten unserer Arbeit mussten sowohl wir Lehrkräfte als auch die Schüler mit Verleumdungskampagnen gegen uns kämpfen. Der Direktor meiner früheren Schule zeigte uns wegen nicht genehmigten Schulbetriebes an. Es hat uns mehrere Monate gekostet, um die Anzeige aus dem Weg zu räumen. In der Gemeinde wurden unsere Schüler oft abwertend als „reiche Privatschüler“ bezeichnet. Damit umzugehen, ist für Kinder und Jugendliche aus armen Verhältnissen schwer.
Mit der Schulgründung haben wir nicht nur gegen den Direktor der einzigen Sekundarschule im Dorf rebelliert, sondern es war ein Aufbegehren gegen das System.

Was gibt Ihnen die Kraft weiterzumachen?
Ich stand vor der Entscheidung, die neue Schule zu gründen oder so weiter zu machen wie bisher. Die Situation an der staatlichen Schule hat mich krank gemacht. Jetzt fühle ich eine große Zufriedenheit bei der Arbeit und bin wieder gesund geworden. Durch die Freire-Pädagogik habe ich neue Wege in der Bildung kennen gelernt und bin vielen Menschen begegnet, die mir Mut gemacht haben. Und das Netzwerk ehemaliger Stipendiaten des „Procalidad“ – Kurses gibt mir Halt.
Die Möglichkeiten an unserer Schule, den Unterricht gemeinsam mit den Schülern zu gestalten, sind sehr schön. Natürlich gibt es staatliche Kontrollen, aber wir haben Freiheiten. Zum Beispiel begehen wir den 15. September, den Tag der Unabhängigkeit, nicht wie der Staat es wünscht – in Uniformen und mit einem militärischen Aufmarsch. Im letzten Jahr haben wir am Feiertag selbst nichts gemacht und einen Tag später gab es einen Umzug in der traditionellen Kleidung der Lenca. Die Idee kam von Schülern und zeigt uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

 

PARALLELE ERMITTLUNGEN

Als Berta Cáceres in der Nacht vom 2. auf den 3. März 2016 ermordet wurde, bestand sofort der Verdacht, dass das Energieunternehmen DESA (Desarrollos Energéticos) in die Tat verwickelt sein könnte. Die Morddrohungen gegen Berta Cáceres und die indigene Nichtregierungsorganisation COPINH waren im Laufe der Protestaktionen gegen den Bau des Staudamms Agua Zarca immer massiver geworden. Sicherheitskräfte der DESA gingen gewaltsam gegen die Protestierenden vor, drei Mitglieder von COPINH waren bereits ermordet worden.

Die Staatsanwaltschaft in Honduras ermittelte ebenfalls in diese Richtung und stellte acht Honduraner unter Mordanklage, darunter zwei Angestellte von DESA und einen Militär. Doch auch acht Monate nach der Tat gab es keine Hinweise, dass die Staatsanwaltschaft nicht nur gegen die direkten Täter, sondern auch gegen die Auftraggeber des Mordes ermittelte. Gleichzeitig wurde der Familie die Einsicht in Akten und gesicherte Beweismittel trotz Rechtsanspruchs als Nebenklägerin verweigert.

Im November 2016 nahm daher ein Team von fünf internationalen Anwält*innen aus den USA, Kolumbien und Guatemala, die das Vertrauen der Familie von Berta Cáceres besitzen, eigene Ermittlungen auf. Die internationale Expert*innenkommission GAIPE (Grupo Asesor Internacional de Personas Expertas) sichtete rund 40.000 WhatsApp-Nachrichten, Anrufe und Videos eines Telefons aus dem Büro der DESA sowie von zwei Telefonen der Angeklagten, interviewte mehr als 30 Beteiligte auf vier Reisen nach Honduras und erhielt Zugang zu Teilen der Beweisen der Staatsanwaltschaft. Die Expert*innen kamen zu dem Schluss: „Die vorhandenen Indizien beweisen eindeutig die Beteiligung von zahlreichen staatlichen Vertretern (Polizei, Militär, Beamte) sowie ranghohen Managern und Angestellten von DESA an der Planung, Durchführung und Vertuschung des Mordes.“ Ziel der Operation seien die Auflösung von COPINH und das Ende des Widerstandes gegen das Wasserkraftwerk Agua Zarca gewesen.

GAIPE dokumentierte außerdem zahlreiche Unregelmäßigkeiten bei der Untersuchung des Mordes und kritisierte die bis heute nicht erfolgte Weitergabe von Informationen an die Nebenklage, die im Gegensatz dazu an Teilhaber*innen und Direktoren von DESA weitergeleitet wurden. GAIPE konstatiert auch eine „vorsätzliche Fahrlässigkeit“ der Finanzpartner, darunter die holländische Entwicklungsbank FMO und Finnfund. Diese hätten vorab Kenntnis der Strategien von DESA erhalten, Studien von Menschenrechtler*innen und internationalen Berater*innen aber ignoriert. Angemessene Maßnahmen zum Schutz der Rechte der indigenen Gemeinden, die von dem Staudammbau betroffen sind, hätten sie nicht ergriffen. FMO und Finnfund wiesen öffentlich „jede Behauptung von Ungesetzlichkeit in unserer Beteiligung an irgendeinem Projekt“ zurück.
Die strafrechtlichen Ermittlungen sind weiterhin nicht abgeschlossen. Die Staatsanwaltschaft in Honduras bestätigte, dass die Auftraggeber des Mordes noch nicht identifiziert wurden. DESA reagierte nicht auf den Bericht von GAIPE, wies aber bisher jede Verantwortung für die Gewalt gegen COPINH und den Mord zurück. Der Bau des Staudamms ist seit Juli 2017 für unbestimmte Zeit ausgesetzt, nachdem sich Finnfund und FMO von dem Projekt zurückgezogen hatten.

 

“DIE REPRESSIVEN STRATEGIEN HABEN SICH VERÄNDERT”

Ist ein nachhaltiger und verantwortungsvoller Bergbau im großen Umfang überhaupt möglich?

Danilo Urrea: Einen nachhaltigen und verantwortungsvollen Bergbau gibt es nicht. Das einzige, wofür der Bergbau verantwortlich ist, ist die Vertreibung und die Kriminalisierung von Gegnern, die Verschmutzung von Luft und Wasser sowie daraus resultierende Atemwegs- und Magenerkrankungen. Alles andere ist eine Täuschung. Die Unternehmen haben ein Modell der sozialen Verantwortung konstruiert, das allerdings nur ihr korporatives Modell selbst fördert. Wenn ein Unternehmen etwa ein Heiligenfest sponsert oder Schulen baut – in denen den indigenen Kindern dann eingetrichtert wird, dass sie im Bergbau arbeiten sollen – oder eine Gesundheitsstation ohne Strom für die Geräte errichtet, dann will das Unternehmen eindeutig sein Image reinwaschen. Dadurch sollen einerseits Steuerzahlungen verringert werden, andererseits will sich das Unternehmen dadurch den Zugang in die Gebiete sichern.

Was passiert mit Menschen, die Megaprojekten in ihrer Region verhindern wollen?

D.U.: In den letzten zehn Jahren haben sich die repressiven Strategien verändert – was nicht heißt, dass Menschen nicht mehr ermordet oder verhaftet werden. Neu ist, dass die Arbeit der Menschen delegitimiert und sie selbst stigmatisiert werden. Das hat zu einem großen Misstrauen bei der lokalen Bevölkerung geführt. Diese neue Form der Repression ist bisher sehr effektiv und das Ergebnis einer sehr guten Koordination zwischen den Medien und den sie finanzierenden Unternehmen.

Blanca Nubia Anaya: Als das Unternehmen [in Sogamoso; Anm. der Red.] begann, gewaltsam in das Gebiet vorzudringen, um den Staudamm zu bauen, wurden vier führende Persönlichkeiten ermordet. Bei diesen und in anderen Fällen wurde nach wie vor niemand zur Rechenschaft gezogen. Manche Gefährtinnen und Gefährten haben eine derartige Rufschädigung erlitten, dass es ihnen fast unmöglich geworden ist, das Vertrauen der anderen zurückzugewinnen.

Jonathan Ospina: In Cajamarca ist das Gleiche passiert, 2013 wurden zwei Menschen ermordet und 2014 ein weiterer. Den Ermittlungen zufolge soll es sich um isolierte Straftaten handeln, die nichts mit der führenden Rolle der Ermordeten beim Kampf um ihr Territorium zu tun haben. Allerdings zeigten sich bei diesen Ermittlungen auch Widersprüche. Außerdem erhielten die Bewegung und ihre Protagonisten vielfache Drohungen von Seiten paramilitärischer Gruppen oder unbekannter Personen. Das Unternehmen war früher in Skandale wegen Verbindungen zu paramilitärischen Gruppen in anderen Teilen der Welt verstrickt, in Ghana und Südafrika zum Beispiel. Es ist auffällig, dass die paramilitärische Gruppe Las Águilas Negras („Schwarze Adler“) bei ihren Drohungen die gleiche Sprache verwendet wie das Unternehmen: die berühmte Rede vom Fortschritt.

Sie sind Repräsentant*innen lokaler Widerstandsprozesse: In Cajamarca sprachen sich bei einem Referendum 97 Prozent der Beteiligten gegen die Goldmine La Colosa aus. Am Staudammprojekt Hidrosogamoso wurde festgehalten, der Widerstand der lokalen Gemeinde zwang Regierung und Unternehmen jedoch zu Verhandlungen mit der Bevölkerung. Wie hat sich diese Situation ergeben?

B.N.A.: Es war nicht einfach in Sogamoso. Wir protestierten und streikten sechs Monate lang in einem Park vor Ort. Zuletzt bot uns die Gewerkschaftszentrale CUT, vor allem für die Alten und Kinder unter uns, ein Dach und Schutz in ihrer Niederlassung an. Das Unternehmen bot uns 1.300 Millionen Pesos (etwa 37.000 Euro) an, damit wir den Protest beenden. Aber das war überhaupt keine Lösung. Wir sind mehr als 2.000 Familien und uns werden weder Grundstücke für die landwirtschaftliche Nutzung noch Wohnungen angeboten. Nach sechs Monaten brachen wir den Protest ab, weil wir nicht mehr konnten. Wir mobilisierten uns aber weiter und sprachen unsere Forderungen aus.

J.O.: Für diesen Fall wurden Unterstützernetzwerke von der lokalen über die nationale bis zur internationalen Ebene gebildet. Ganz besonders kam die „Mund-zu-Mund-Propaganda“ zum Einsatz und es entstanden Bürger-initiativen wie die Karnevalsmärsche. Hand-bücher, jede Art von informativem und didaktischem Material wurde erstellt, um die Auswirkungen des großangelegten Tagebaus zu erklären. Wir ließen uns von Rechtsanwälten beraten und wendeten jegliche juristischen Mittel an, damit Vertreter der Bürgergemeinde bei Sitzungen der lokalen Räte anwesend sein konnten.

Es wurde breit diskutiert, dass nach dem Rückzug der Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) Megaprojekte in die Gebiete Einzug halten könnten. Bedeutet das womöglich eine soziale und ökologische Katastrophe für diese Gebiete?

B.N.A.: Tatsächlich waren die Menschen in mehreren Ortschaften gegen den Rückzug der Guerilla. Sie haben Angst. Viele Einwohner haben Drohungen erhalten, bei denen es hieß, sobald die FARC weg seien, würden sie hingerichtet. Können Sie sich vorstellen, wie viele Menschen umgebracht werden, nur weil sie in einem ehemaligem Guerilla-Gebiet leben?

D.U.: Es ist wichtig, klarzustellen, dass wir einhundert Prozent hinter dem Abkommen stehen als Möglichkeit, den langen bewaffneten Konflikt zu beenden. Aber das heißt nicht, dass wir einverstanden wären mit dem, was dieser Frieden bedeuten soll. Die Gemeinden haben seit jeher Frieden konstruiert, allein durch die Art und Weise, wie sie die Gebiete bewohnen. Das geht in eine ganz andere Richtung als das korporative Modell der Regierung.

 

SCHWERE ZEITEN FÜR QUEERE KUNST

Fotos: Lanchonete.org

Die christliche Rechte in Brasilien befindet sich im Aufwind. Unlängst wurde eine Ausstellung in Porto Alegre nach Protesten abgesagt. Was ist genau passiert?
Es sollte eine Ausstellung mit den Werken von zahlreichen jungen und anerkannten queeren Künstler*innen stattfinden. Dagegen organisierten konservative Gruppen Proteste. Im Gegensatz zur Linken ist die Rechte in Brasilien sehr gut organisiert. Es ist ihnen gelungen, einige Werke mit Pädophilie und Zoophilie in Verbindung zu bringen. Das ist riesiger Schwachsinn! Die Werke, die vermeintlich Pädophilie rechtfertigen, stammen von Künstler*innen, die selbst darunter gelitten haben. Mit den Werken sollte thematisiert werden, dass auch viele junge LGBT Opfer von Pädophilie werden. Das große Problem für diese Menschen ist, dass Kindern eine sexuelle Orientierung zugeschrieben wird. Die Solidarisierung mit den Protesten war leider sehr groß. Es war zu hören: „Diese Schwuchteln machen degenerierte Kunst“. Das erinnert mich an die Rhetorik der Nazis.

Und daraufhin wurde die Ausstellung abgesagt?
Ja, sie hatten damit Erfolg. Am Ende hat die Santander-Bank, die Sponsor war, die Ausstellung abgesagt. Es war aber nicht einfach nur die Entscheidung einer privaten Bank – es geht viel weiter. Das war eine Rechtfertigung, um Menschen zu diskriminieren. Den Künstler*innen wurde ein Stempel aufgedrückt: Wenn man jetzt ihre Namen bei Google sucht, wird ihre Kunst mit Pädophilie in Verbindung gebracht. Das ist ungerecht und absurd!

Gibt es noch weitere Beispiele?
Ein Theaterstück, bei dem eine transsexuelle Schauspielerin Jesus spielt, wurde in verschiedenen SESCs (Kulturzentren, Anm. d. Red.) aufgeführt. Als es in der Stadt Jundiaí im Bundesstaat São Paulo gezeigt werden sollte, entschied ein Richter, dass das Stück eine Beleidigung des Christentums darstelle. Konsequenz: Es durfte nicht aufgeführt werden. Das war Zensur! In anderen Städten wurde das Stück zwar weiter gespielt und am Ende wurde das Urteil von einem anderen Richter aufgehoben. Trotzdem bleibt: Ein Theaterstück in Brasilien wurde zensiert. Das ist unglaublich. So etwas sollte eigentlich keinen Platz in einer Demokratie haben. In einem anderen Fall wurde ein Künstler aus Brasília während einer Performance brutal von Polizisten verhaftet, weil er nackt war.

Wie erklären Sie diesen massiven Rechtsruck?
Es gibt verschiedene Gründe. Die Bildung in Brasilien ist sehr schlecht. Keine Regierung nach dem Ende der Diktatur konnte daran etwas ändern – auch weil man kaum Fortschritte in ein oder zwei Amtszeiten erreichen kann. Auch mit dem Rohstoffboom gab es keine Verbesserungen. Zum anderen befindet sich der Katholizismus seit den neunziger Jahren im Rückgang und die evangelikalen Kirchen gewinnen immer mehr Einfluss. Die Kirche Igreja Universal do Reino de Deus besitzt den am drittmeist gesehenen Fernsehsender des Landes. Auch die anderen evangelikalen Kirchen haben großen Raum in den Medien. Die Sendezeit erkaufen sie sich mit dem Geld ihrer Anhänger*innen. Bei vielen Gottesdiensten können die Gläubigen ihren „Zehnten“ (Kirchensteuer, Anm. d. Red.) direkt mit der Kreditkarte bezahlen.

Warum sind die evangelikalen Kirchen so erfolgreich in Brasilien?
Weil diese Kirchen eine der wenigen Orte sind, wo die Armen und Allerärmsten ein Gemeinschaftsgefühl bekommen. Mehr noch: Sie erhalten dort psychologische Unterstützung. Für viele Brasilianer*innen wäre dies sonst undenkbar. In der öffentlichen Gesundheitsversorgung sind Therapien nicht eingeschlossen. Die evangelikalen Kirchen haben ein strenges moralisches Wertesystem. Das führt dazu, dass die Gläubigen anfangen zu denken, dass sie immer recht haben und die anderen auf jeden Fall falsch liegen. Auch hat sich bei diesen Menschen die Idee durchgesetzt, dass Künstler*innen nichts mit ihrer Realität zu tun haben und ihre Anliegen Wohlstandsprobleme seien. Das mag für die Künstler*innen von Globo (größter Fernsehsender und Medienmonopol, Anm. d. Red.) stimmen – aber für den Rest ist eher das Gegenteil der Fall.

Im vergangenen Jahr übernahm Michel Temer nach einem juristisch fragwürdigen Amtsenthebungsverfahren den Präsidentschaftsposten. Welche Rolle spielt seine Regierung in den aktuellen Debatten?
Auf den ersten Blick scheint die Regierung nichts damit zu tun zu haben. Temer hat sich zu keinem der Fälle öffentlich geäußert, die ich anfänglich erwähnt habe. Der Präsident arbeitet aber gerade mit Hochdruck daran, die Rechte abzubauen, die sich die Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten hart erkämpft hat. Viele Künstler*innen haben das scharf kritisiert. Die Menschen kümmern sich aber leider mehr um vermeintliche Pädophilie in Kunstwerken, als um eine Arbeitsrechtsreform oder einen erneuten Freispruch von Temer, der wegen mehrerer Verbrechen angeklagt ist. Die aktuellen Debatten schaffen also für die Regierung eine perfekte Nebelwand, um die verheerende Austeritätspolitik zu verschleiern.

Sie stammen aus São Paulo. Wie ist die Situation für LGBT in ihrer Heimatstadt?
Auf der einen Seite ist São Paulo als größtes Finanzzentrum Lateinamerikas sehr konservativ. Auf der anderen Seite hat es aber auch eine lange queere Geschichte. Der wirklich bewegende Film São Paulo em Hi-Fi zeigt die LGBT-Szene während der Militärdiktatur in den sechziger und siebziger Jahren. In dieser Zeit gab es herausragende Persönlichkeiten wie Celso Curi, der die erste Kolumne für LGBT in Brasilien geschrieben hat. Er gründete auch ein wichtiges Kulturzentrum. Das war der erste Ort für homosexuelle Paare und ist bis heute eine wichtige Referenz.

Was macht die Szene so besonders?
Ich bin viel gereist und was São Paulo wirklich besonders macht, ist die hohe Anzahl von homosexuellen Paaren in der Öffentlichkeit. Anfang der Nullerjahre haben wir angefangen, uns in Einkaufszentren und auf Plätzen zu treffen. Zum ersten Mal konnten wir uns öffentlich so zeigen, wie wir waren, und mit derjenigen Person zusammen sein, mit der wir wollten. Die unheimliche Dynamik der Stadt hat auch dazu geführt, dass LGBT mit viel Geld aus ganz Brasilien nach São Paulo kamen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Orte wie den Arouche-Platz, wo man einen halben Liter Schnaps für zwei oder drei Reais kaufen kann. Die Stadt spricht verschiedene sozioökonomische Bevölkerungsgruppen an.

Sie haben als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ausstellung Queer City – Geschichten aus São Paulo mitgearbeitet, die derzeit im Schwulen Museum in Berlin zu sehen ist. Glauben Sie, dass Kunst ein Mittel für politische Veränderungen sein kann?
Das will ich hoffen! Ich wünsche mir, dass das, was wir machen, Auswirkungen haben wird und unsere Kunst die Menschen in Brasilien und außerhalb zum Denken anregt. Auch für Deutschland und den Rest der Welt beginnt gerade eine schwierige Phase – deshalb will ich daran glauben.

NEIN HEIßT NEIN!

Während sich Frauen auf dem Podium im Studio I der Uferstudios Berlin angeregt über ein Frauentheaternetzwerk austauschen, das in elf lateinamerikanischen Ländern mit HIV-betroffenen Frauen arbeitet, kocht in der Küche die Suppe zum Abendessen für 100 angereiste Frauen aus verschiedenen Ländern. Auf Spanisch, Portugiesisch, Englisch und Deutsch werden von Unterstützer*innen die Redebeiträge flüsterübersetzt und vom Publikum in Vorschläge zu konkreten Interventionen umgewandelt.

Viel wird in diesen Tagen auf dem II. Internationalen Festival für Theater der Unterdrückten Frauen in Berlin diskutiert, aus verschiedenen Perspektiven und mit diversen Stimmen. Organisiert wurde das Festival im September 2017 unter dem Motto „Nein heißt Nein – Ending violence against woman“ von Ma(g)dalenas Berlin, einem transnationalen feministischen Kollektiv von Aktivistinnen, das ästhetische Debatten über Unterdrückungen anregen möchte, mit denen Frauen konfrontiert sind. Vor sieben Jahren startete das Kollektiv mit Aktionen, die das Schweigen über patriarchale Dynamiken brechen sollten – unter anderem durch Forumtheater in Frauenhäusern, Bildungsinsitutionen und im öffentlichen Raum.

Das internationale Netzwerk der Ma(g)dalenas nutzt das Forumtheater, die zentrale Methode des Theaters der Unterdrückten, das auf den brasilianischen Theatermacher Augusto Boal zurückgeht. Ziel des Forumtheaters ist die Transformation der Realität auf der Bühne, der Straße und im Alltag, sozusagen als Probelauf für die reale gewaltfreie Revolution. Es ist eine interaktive Form des Theaters, in dem das Publikum eine aktive Rolle einnimmt und auf der Bühne dargestellte Situationen der Unterdrückung, die oft geteilte Erfahrungen des Publikums widerspiegeln, selbst verändert. Das Aufzeigen, Durchdenken und Testen verschiedener Handlungs-möglichkeiten ermöglicht es, konkrete Handlungsoptionen für vergangene, aktuelle oder künftige Situationen zu proben. Es soll auch helfen, dem Gefühl der Machtlosigkeit entgegenzuwirken und ist daher ein empowerndes Werkzeug.

Im Jahr 2010 fanden die ersten „Laboratorien“ des transnationalen Netzwerks in Brasilien, Guinea Bissau, Mosambik und Indien statt. Unter der künstlerischen Leitung der Soziologin und Theatermacherin Bárbara Santos entstand im Jahr 2012 auch ein Ableger des Netzwerks in Berlin. Santos möchte auf Unterdrückungen von Personen, die sich als Frauen identifizieren, aufmerksam machen: „Wie können Frauen herausfinden, was es bedeutet, eine Frau in einer patriarchalen Gesellschaft zu sein? Was sind spezifische Fragen, die dieses Frausein mit sich bringt? Welche Nachteile gibt es und was braucht es für Alternativen?“ sind Fragen, mit denen sie sich im Forumtheater auseinandersetzt.

„Nein heißt Nein – No means No – No signífica No“ ist eines der legislativen Forumtheaterstücke des Festivals, inszeniert von Ma(g)-dalenas Berlin, das versucht, Antworten auf diese Fragen zu erarbeiten. Es herrscht kurze Stille, als das Licht ausgeht. Es werden viele verschiedene Szenarien dargestellt, in denen das Nein einer Frau von Freunden, Fremden oder den eigenen Partnern nicht gehört, ignoriert oder nicht respektiert wird. Die meisten können sich mit einem der Momente im Theaterstück identifizieren. Dann kommt die Frage: Wie können wir die eigenen Geschlechterkonstruktionen in der Gesellschaft de-mechanisieren? In der Diskussion werden verschiedene Vorschläge zu Interventionen gesammelt über die im Nachhinein mit der Unterstützung von Expert*innen abgestimmt wird, daher der Zusatz der Legislative.

“Wir atmen feministischen Kampf.“

Dieser und anderen Fragen wurde in „Laboratorien“ auf dem Festival nachgegangen und in eine Performance mit dem Titel „Nein heißt Nein” verwandelt, mit der die Teilnehmerinnen in einem Flashmob ihren Widerstand gegen eine Demonstration von Abtreibungsgegner*innen vor dem Brandenburger Tor zum Ausdruck brachten. Berlin ist als Stadt im Globalen Norden ein bedeutender Aktionsort für das Netzwerk, nachdem das erste Internationale Festival der Ma(g)dalenas im September 2015 in Argentinien realisiert wurde. Über die aktivistische Mobilität des Feminismus, die die Ma(g)dalenas symbolisch verbindet, bemerkt Alice Nunes, Ma(g)dalena aus Brasilien: „In Berlin zu sein, über die Ausbreitung unserer Bewegung und unseres Widerstands zu sprechen, aus der Theorie Praxis zu machen und selbstorganisierten intersektionalen Feminismus zu leben, lässt uns erkennen: Wir atmen feministischen Kampf.“

So ist die Diversität im Netzwerk hinsichtlich sozialer Klassen, Altersstufen und unterschiedlicher Kontexte die Basis für Austausch und intersektionale Praxis, und die Vermischung von Sprachen alltäglicher Bestandteil des Netzwerks, das in Lateinamerika am stärksten vertreten ist. Der Name „Ma(g)dalena” vereint daher das Spanische Magdalena und Portugiesische Madalena. Zwar sieht sich das Netzwerk mit finanziellen Herausforderungen und Visa-Komplikationen für gemeinsame Treffen konfrontiert, jedoch stärkt die Notwendigkeit und der Wunsch nach Kontinuität das Kollektiv. Bei dem viertägigen Berliner Festival waren Gruppen aus Brasilien, Guatemala, dem Baskenland und Spanien und Frauen aus der Ukraine, Guinea Bissau, Kolumbien, Argentinien und Polen anwesend. Gemeinsam mit dem Berliner Publikum erinnerten sie sich in einer begehbaren, interaktiven Ausstellung mit dem Titel „NosDuele56“ an die Mädchen, die am 8. März 2017 in Guatemala durch die Fahrlässigkeit der Regierung bei einem Brand in einem Waisenheim ums Leben kamen. Gemeinsam mit dem Anastácia-Kollektiv aus Rio de Janeiro wurden Karnevalslieder, in denen Vergewaltigung von schwarzen Frauen normalisiert thematisiert. Der Vorschlag zur Veränderung der immer noch andauernden Rhythmen der Kolonisation war, die Lieder mit neuen Texten zu versehen.

Die Wechselbeziehung zwischen Rassismus und Sexismus war auch Themenschwerpunkt der diesjährigen Veranstaltungen. Die Berliner Gruppe Kakalakas hinterfragte weiße Privilegien im Berliner Alltag und prangerte die strukturelle, kolonialistische Realität an, die in lateinamerikanischen TV-Soaps verbreitet wird. Anastácia Berlin thematisierte ihrem Forumtheaterstück „Schwarz, Black, Preta“ Rassismus, Homophobie und Diskriminierung gegenüber LBGTIQ und schwarzen Frauen am Arbeitsplatz und hinterfragte die Heteronormativität des westlichen Familienmodells. Luciana Talamonti, Ma(g)dalena Italia, war von der Performance der baskischen Gruppe Bihotzerre über die Tabuisierung von weiblicher Sexualität in verschiedenen Lebensabschnitten der Frau beeindruckt: „Es hat mich an Hexenverbrennung erinnert. Als sei es eine Gefahr, wenn eine Frau über ihren Körper Bescheid weiß. Das ist total aktuell!“

Ziel in all den verschiedenen Beiträgen des Festivals war es, praktischen, kollektiven Feminismus zu ermöglichen und transnationale Kollektivität zu leben. Dabei verbindet die unter-schiedlichen Frauen ihr politisches Anliegen. Sie sehen sich als Überlebende sexualisierter Gewalt, die lernen, „Nein“ zu sagen: „Wir wollen unsere Körper, Beziehungen und die Räume, die wir bewohnen, dekolonialisieren“, heißt es denn im ersten Ma(g)dalena-Manifest, das 2015 während dem I. Internationalen Ma(g)dalena Festival in Argentinien verfasst wurde.

Dieser politische Aktivismus und Feminismus, artikuliert in Theater und Kunst – oder Artivismus wie die Ma(g)dalenas sagen – hat in Berlin mehr als hundert Frauen mit revolutionärem Anspruch zusammengebracht. Frauen und Gruppen, die an „Laboratorien“ der Ma(g)dalenas teilnehmen, können Teil des Netzwerkes werden. Oder sie nehmen am nächsten Internationalen Festival teil, das auf dem afrikanischen Kontinent stattfinden soll. Auch als Reaktion auf die Ablehnung der Visa für die Einreise nach Deutschland für das Kollektiv Fuerza Magdalena Sahara aus Algerien. Zunächst aber kommen die Ma(g)dalenas wieder im Jahr 2018 beim V. Lateinamerikanischen Treffen des Theaters der Unterdrückten in Uruguay zusammen. Dort werden sie ihren „kreativen Widerstand“ gemeinsam fortführen.

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