“Weg mit UN-Soldaten und Cholera” Protest gegen die damalige UN-Intervention im Jahr 2010 (Foto: Ansel/mediahacker via Flickr , CC BY-NC-SA 2.0)
An eindringlichen Beschreibungen der desaströsen Lage fehlte es nicht: Der haitianische Außenminister Jean Victor Généus begründete vor dem UN-Sicherheitsrat in New York, warum die haitianische Regierung eine UN-Militärintervention für geboten halte. Er überbringe den „Hilfeschrei eines ganzen Volkes“. „Die Haitianer leben nicht, sie überleben“, sagte der Minister. Diese Sicht ist durchaus verbreitet, auch Faimy Loiseau, Leiterin der SOS-Kinderdörfer in Haiti, schätzt die Lage ähnlich ein, allerdings ohne eine Militärintervention zu fordern. „Im Moment leben wir nicht. Banden haben faktisch die Macht in Haiti übernommen. Jedes Mal, wenn wir aus dem Haus gehen, beten wir, dass wir nicht entführt werden“, sagt Loiseau.
UN-Generalsekretär António Guterres sieht die UN durchaus in der Pflicht und bezeichnete die Lage in Haiti als „absoluten Albtraum“. Dem Wunsch der haitianischen Regierung, dem die USA und Guterres offen gegenüberstanden, militärisch einzugreifen, folgte der Sicherheitsrat jedoch nicht. Die von den USA eingebrachte Resolution zur Entsendung einer schnellen Eingreiftruppe wurde zurückgewiesen, weil Russland und China sich dagegen stellten. Stattdessen beschloss der Sicherheitsrat am 21. Oktober Sanktionen gegen die Banden in Haiti. Die Sanktionen seien eine Botschaft an die Banden, „dass die Freunde Haitis nicht tatenlos zusehen werden, wie ihr dem haitianischen Volk Schaden zufügt“, sagte die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Linda Thomas-Greenfield.
Der UN-Sicherheitsrat forderte ein einjähriges Reiseverbot für in Bandenaktivitäten verwickelte Menschen sowie ein Einfuhrverbot von Waffen und Munition in den Karibikstaat. Die Sanktionen richten sich nicht nur gegen bewaffnete Mitglieder auf der Straße, sondern auch gegen diejenigen, die Banden „unterstützen, sponsern und finanzieren“, sagte der mexikanische UN-Gesandte Juan Ramón de la Fuente. Zudem verlangte das UN-Gremium ein „sofortiges Ende von Gewalt, kriminellen Aktivitäten und Menschenrechtsverletzungen” in Haiti, einschließlich Entführungen, sexueller Gewalt, Menschenhandel und der Rekrutierung von Kindern durch Banden. Dass der Appell bei den Banden auf fruchtbaren Boden fällt, ist nicht zu erwarten.
„Die Haitianer leben nicht, sie überleben“
Vorgesehen ist auch ein einjähriges Einfrieren aller wirtschaftlichen Ressourcen, die direkt oder indirekt Jimmy Chérizier gehören oder von ihm kontrolliert werden. Chérizier war einmal Mitglied einer Spezialeinheit der haitianischen Polizei. Inzwischen ist er Anführer der G9 Fanmi e Alye, einer Vereinigung von neun Gangs. Die G9 kontrolliert mittlerweile große Teile der Hauptstadt Port-au-Prince, von der inzwischen zwei Drittel unter der Herrschaft von Banden stehen sollen, die sich gegenseitig bekriegen. Zivilist*innen geraten dabei immer wieder zwischen die Fronten. „Die Banden gehen äußerst brutal gegen die Bevölkerung vor. Sie vergewaltigen und sie töten. Sie erpressen Geld, verbreiten Angst und Leid und stürzen Haiti ins Chaos“, schildert Faimy Loiseau die Lage.
Seit mehr als einem Jahr kämpfen Banden brutal um die Kontrolle über Teile der Hauptstadt. Insgesamt gibt es in Haiti nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration 113.000 Binnenvertriebene, 17.000 von ihnen bereits seit dem heftigen Erdbeben von August 2021. Nach wie vor ist der Mord an Staatspräsident Jovenel Moïse vom Juli 2021 in seiner Residenz ungeklärt. Ende Oktober wurde mit dem 52-jährigen Éric Jean-Baptiste ein ehemaliger Präsidentschaftskandidat von Gunmen auf offener Straße erschossen. Es ist allseits bekannt, dass Regierung, Teile der Opposition und Mitglieder des Privatsektors die Banden seit Jahren finanzieren und mit ihnen gemeinsame Interessen verfolgen. Immer wieder werden offene Rechnungen mit Gewalt beglichen. Chériziers G9 blockierte bis Anfang November den Zugang zum größten Treibstofflager des Landes. Die G9 werde den Treibstoff erst freigeben, wenn Premier Henry die Preiserhöhung zurücknimmt. Solange er den Preis auf der vom Internationalen Währungsfonds verlangten Höhe ließe, werde dies nicht geschehen.
Ariel Henry, Chef einer nicht durch Wahlen legitimierten Interimsregierung, hatte am 11. September die Treibstoffsubventionen kassiert. Mit ihnen wurden bis dahin die Kosten im öffentlichen Transport und im Warentransport für die Unternehmen gesenkt, um niedrigere Preise zu ermöglichen und die Bevölkerung zu entlasten. Seit Mitte 2022 fehlen dafür die finanziellen Mittel. Nach dem Ende der Subventionen verdoppelten sich die Preise auf einen Schlag. Unruhen im ganzen Land noch am selben Tag waren die Folge, am 12. September begann die G9 mit der Blockade des Lagers, in dem sich 70 Prozent der Treibstoffe Haitis befinden. Infolgedessen konnten Krankenhäuser nur eingeschränkt arbeiten und Schulen wurden geschlossen, weil Kleinbusse die Beförderung einstellten und Krankenhäuser die Stromversorgung über Dieselgeneratoren drosseln mussten.
Die Banden gehen äußerst brutal gegen die Bevölkerung vor
Die haitianischen Behörden haben am 4. November bekannt gegeben, dass sie die Kontrolle über das Treibstofflager wiedererlangt haben. Vermittelt hat das der haitianische Politiker Dr. Harrison Ernest, der sich sowohl mit Chérizier als auch mit Ariel Henry traf. „Ich habe mit Barbeque (Spitzname von Chérizier, Anm. d. Red.) gesprochen und ihm und seinen Leuten gesagt, sie sollen das Terminal verlassen, weil die Kinder wieder zur Schule gehen müssen. Und wir haben die Regierung aufgefordert, ihren Teil dazu beizutragen, dass es Treibstoff gibt und dass der Treibstoff die Kunden erreicht“, sagte Ernest gegenüber CNN. Die Regierung bestreitet allerdings, dass er in ihrem Auftrag verhandelt hätte: „Wir handeln nicht mit Banden und wir verhandeln nicht mit Banden, wir wollen, dass die Schulen so schnell wie möglich wieder öffnen und die wirtschaftlichen Aktivitäten wiederbelebt werden. Der Premierminister hat sich mit Ernest getroffen, aber sie haben in unserem Namen keine Verhandlungen mit Banden geführt“, sagte der Sonderberater Jean Junior Joseph. Wie auch immer, unterm Strich bestätigte der Sprecher der haitianischen Nationalpolizei Gary Desrosiers, dass das Varreux-Terminal nun unter Polizeikontrolle steht.
Selbst wenn es zu einer Entspannung auf dem Treibstoffmarkt kommen sollte, bleiben Haiti jede Menge andere Probleme. Die Blockade hatte die Lage für die Bevölkerung weiter verschärft. Der Mangel an Gütern und Ressourcen, etwa Trinkwasser, nahm zu. Laut dem Welternährungsprogramm der UN leiden rund 1,3 Millionen Menschen akut Hunger und 4,5 Millionen Menschen haben derzeit nicht genug zu essen − rund 40 Prozent der Bevölkerung.
Was Haiti braucht, ist ein Systemwechsel
Einen positiven Nebeneffekt haben die stark gestiegenen Lebensmittelpreise: In der Not bauen die Haitianer*innen wieder mehr Nahrungsmittel selbst an, da sich der Verkauf von Überschüssen wieder lohnt, da die übermächtige Konkurrenz durch Billigimporte mangels Importkapazität des Landes nachgelassen hat. Dieser Nebeneffekt reicht allerdings noch bei Weitem nicht aus, um zu einer Entspannung der Lage beizutragen.
Zu allem Überfluss ist nach drei Jahren die Cholera nach Haiti zurückgekehrt. Seit den ersten Meldungen vom 2. Oktober hat die UNO bereits bis Anfang November 37 Todesfälle registriert.
Wegen der anhaltenden Krise fordern viele Haitianer*innen seit Langem den Rücktritt von Premierminister Henry. Dessen Regierung amtiert als Interimsregierung, nachdem er aufgrund der zunehmenden politischen Instabilität eine ursprünglich für November 2021 geplante Wahl auf unbestimmte Zeit verschoben hatte. Ausgerechnet Chérizier macht sich zum Fürsprecher für Neuwahlen und stellte seinen „Übergangsplan zur Wiederherstellung der Ordnung in Haiti“ vor. Dazu gehört unter anderem, dass ein „Rat der Weisen“ eingerichtet wird, dem ein Vertreter aus jedem der zehn Départements Haitis angehört. Dieser Rat soll, von einem Interimspräsidenten geführt, bis zu Präsidentschaftswahlen im Februar 2024 regieren. Auch eine Polizeireform und eine Stärkung des Militärs schwebt Chérizier vor und selbstverständlich eine Amnestie und die Aufhebung der Haftbefehle gegen ihn und seine Kompagnons. Das ist so wenig in Sicht wie ein seit Jahren von Nichtregierungsorganisationen geforderter gesellschaftlicher Pakt zur Modernisierung zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Damit soll allen Haitianer*innen der Zugang zu öffentlichen Gütern, freien Wahlen, und Sicherheit gewährleistet werden. Es bleibt bis auf Weiteres eine Utopie, die indes der sogenannten Core Group, in der unter anderem die Vereinten Nationen, die USA, Kanada, Frankreich und auch Deutschland vertreten sind, als Richtschnur dienen könnte – weit sinnvoller als Militärinterventionen, die in Haiti nichts zum Besseren bewegt haben. „Wir hatten bereits 1915, 1994 und 2004 ausländische Interventionen, und heute sind wir wieder in der gleichen Situation. Jedes Mal, wenn es eine Intervention gibt, bleibt das gleiche System bestehen“, sagte Louis-Henri Mars, Direktor der Nichtregierungorganisation Lakou Lapè (Hof des Friedens), gegenüber dem Guardian rund um die Diskussion im Sicherheitsrat. Was Haiti braucht, ist ein Systemwechsel, bei der die Zivilgesellschaft stärker beteiligt und mit mehr Einflussmöglichkeiten und Macht ausgestattet werden muss. Derzeit teilen sich die haitianische Politikelite und das organisierte Verbrechen, mit dem ein Teil der Elite eng verzahnt ist, die Macht zu Lasten der Bevölkerung. Auf tatkräftige Unterstützung für ihre Forderungen durch die Core Group wartet die haitianische Zivilgesellschaft seit Jahren vergeblich und fragt sich mit zunehmender Verzweiflung warum. Flaggen der russischen Föderation und Chinas bei Protestdemonstrationen sollten der Core Group zu denken geben.