„Ich werde niemals aufhören zu suchen“

“Wir wollen sie lebend!” Blanca Luz Nava Vélez kämpft für Aufklärung. (Foto: Privat)

Wo stehen Sie auf der Suche nach Gerechtigkeit für Ihren vor zehn Jahren verschwundenen Sohn heute?
Es macht mich sehr wütend und erfordert sehr viel Tapferkeit, zu sehen, wie wir betrogen wurden. Bald sind es zehn Jahre und wir haben immer noch keine Antworten. Der Präsident hat uns persönlich versprochen, dass er uns bei der Aufklärung hilft und dass die Untersuchungen gute Fortschritte machen. Das war auch der Fall, bis wir dann beim Militär angelangten. Dort kam der Prozess ins Stocken, da ging es plötzlich nicht mehr weiter. Bis heute haben wir keine wissenschaftlich belegte Erklärung, was mit unseren Kindern passiert ist. Sie sagen, dass sie tot sind, dass sie nicht mehr existieren, aber sie geben uns dafür keine Beweise. Wenn es stimmt, dass sie getötet wurden, sollen sie es uns beweisen, uns ihre Überreste geben. Es sind zehn Jahre des Leidens, der Wut, der Tapferkeit, des Weiterkämpfens.
Zu sehen, dass du so viel gemacht und versucht hast und immer noch keine Antworten erhälst, ist schwer und tut weh. Es ist nicht nur mein Leiden, sondern auch das meiner anderen Kinder. Auch sie leiden. Sie sind alleine, weil ich so viel unterwegs bin, um nach Jorge zu suchen und Antworten zu fordern. Für uns ist es einfach nur schmerzhaft, zehn Jahre voller Schmerzen und Leid.

Haben Sie das Gefühl, Fortschritte gemacht zu haben?
Eigentlich haben wir überhaupt nichts erreicht. Es ist genau wie am ersten Tag. Wir haben keine Antworten, keine Klarheit, was mit ihnen geschehen ist. Wir haben absolut gar nichts.
Man kann sich nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, das eigene Kind so zu verlieren. Ich sehe ein Foto von ihm, ich sehe seine Gitarre, ich sehe seine Sachen, sein Bett, in dem er geschlafen hat, und ich denke: Mein Gott, wird mein Sohn nie wieder zurückkommen? Wird es einfach so bleiben, als wäre er für immer verschwunden? Als wäre er einfach von der Welt verschwunden. Das tut mir weh. Ich komme nach Hause, sehe sein Foto und denke: „Mein Sohn, wo bist du? Gib mir ein Zeichen, bitte gib mir irgendetwas.“

Wie war Ihr Sohn, bevor er verschwand?
Er war ein guter Junge. Ich sage das nicht nur, weil ich seine Mutter bin, nein, er war es wirklich. Er rauchte nie, er trank kein Bier. Er kam nur mit seiner Gitarre nach Hause und spielte für uns im Hof. Dort setzte er sich hin und sang. Das vermissen wir jede Nacht. Wir denken an ihn, wir gehen nach draußen, wo wir saßen, um ihm zuzuhören, und er ist nicht da. Nichts ist da. Dort sang er seine Lieder, die er lernte, während er Gitarre spielte, denn er hat sich das Gitarre spielen selbst beigebracht. Nur übers Internet, er hatte keinen Lehrer.
Er wollte Arzt werden, aber wie das nun mal vor allem auf dem Land so ist, hat man kaum Möglichkeiten, viel Geld zu verdienen, um für die Ausbildung zu zahlen. Also ging er auf die Escuela Normal (staatliche Schule, die Pädagog*innen ausbildet; Anm. d. Red.), um Lehrer zu werden. Dann verschwand er.

Warum suchen Sie nach so vielen Jahren immer noch weiter?
Ich werde weiterhin nach ihm suchen, solange Gott mir das Leben schenkt und soweit meine Kräfte es mir erlauben. Auch Krankheiten und all das spielen langsam eine Rolle. Aber solange ich in der Lage bin, nach meinem Sohn zu suchen, werde ich das tun. Ich habe geschworen niemals damit aufzuhören. Eine Mutter würde niemals aufhören, nach ihrem Kind zu suchen, weil die eigenen Kinder das Wertvollste sind, was man auf dieser Welt hat. Das muss dir klar sein: Eine Mutter würde ihr Leben für ihr Kind geben. Wenn es so sein sollte, dann gebe ich mein Leben für meinen Sohn, aber sie sollen ihn mir zurückbringen.


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Die Tragödie um La Gorgona

Paradies in Not Der Küstenwachenkomplex auf der Pazifikinsel La Gorgona soll um ein Radarsystem und Landungsbrücken erweitert werden
(Foto: travail via wikimedia commons (CC BY-SA 3.0 Deed))

28 Kilometer westlich der kolumbianischen Pazifikküste liegt die Insel Gorgona. Ihren mythologischen Namen, der auf die drei Schlangen­monster anspielt, zu denen der berühmte Seefahrerschrecken Medusa zählte, verdankt sie der Vielzahl von Schlangen, die sie bevölkern. Mit einer Fläche von nur 26 Quadratkilometern war Gorgona bereits Standort eines Gefängnisses, eines Nationalparks und ist heute die Basis eines Küstenwachenpostens, der ein von den Vereinigten Staaten finanziertes und installiertes Radarsystem beschützen soll. Das von der Regierung Juan Manuel Santos´ begonnene Projekt wird von der Regierung Petro fortgeführt.

Gorgona hat einen einzigartigen ökologischen Wert, nicht nur für Kolumbien, sondern für die gesamte Region. Manuel Rodríguez Becerra, Professor an der Universidad de los Andes, der die Gründung des kolumbianischen Umweltministeriums vorangetrieben hat, bezeichnet Gorgona als „ein Juwel des Nationalparksystems und der Inseln der Welt“ mit einer besonders hohen biologischen Vielfalt, und einer Vielzahl an Fisch-, Amphibien-, Reptilien- und Blumenarten. Darüber hinaus beherbergt die Insel eines der größten Korallenriffe im kolumbianischen Pazifik.

Ihre Lage an der Westküste Kolumbiens macht Gorgona zu einem wichtigen Durchgangsort für Meerestiere wie Buckelwale. Während der Saison zwischen Juni und Oktober/November können diese Wale zusammen mit ihren Kälbern gesichtet werden. Die Walbeobachtung in dem Gebiet ist zudem zu einer wichtigen Einnahmequelle für die Einwohner*innen der Küstenstadt Guapi und ihrer umliegenden Ortschaften geworden. Die Gemeinden an der Pazifikküste, die das Militärprojekt ablehnen, haben – wie sie es in einem Rundbrief vom 14. Februar ausdrücken – auf diese Weise „in einer harmonischen Beziehung zu Gorgona gelebt und das einzigartige Ökosystem, das Teil unseres kollektiven und ethnischen Territoriums ist, respektiert und geschützt“.

Die biologische Vielfalt der Insel ist immer widerstandsfähig gegenüber politischen Ereignissen und Entscheidungen wie etwa der Einrichtung des Hochsicherheitsgefängnisses im Jahr 1960 gewesen. Beschwerden über die ständigen Misshandlungen und unmenschlichen Bedingungen, unter denen die Gefangenen auf der Insel festgehalten wurden, sowie die Anerkennung der umweltpolitischen Bedeutung der Insel führten 1983 zur Schließung des Gefäng­nisses. Die Künstlerin und Aktivistin Cecilia Castillo aus der Stadt Ibagué hatte dafür jahrelang unermüdlich gekämpft. Bei einem Besuch war sie Zeugin der Bedingungen in dem Gefängnis geworden, ein Erlebnis, das sie dazu veranlasste, eine Kampagne für seine Schließung zu initiieren. Castillo war in den darauffolgenden Jahren entscheidend am Protest gegen das Gefängnis und für die Umwandlung der Insel in einen Nationalen Naturpark beteiligt.

Für die US-Regierung ist die Insel vor allem wegen ihrer Lage inmitten der Drogenhandelsroute nach Norden interessant. Die US-Initiative für die Installation des Radarsystems ist Teil der von der Leiterin des US-Südkommandos, Laura Richardson, vorgeschlagenen Strategie, den US-Einfluss in der Region zu verstärken.

Das Projekt wurde bereits während der Regierung von Juan Manuel Santos (2010 bis 2018) begonnen. Der Vorschlag, der der Nationalen Umweltbehörde (ANLA) vorgelegt wurde, sah unter anderem einen 50 Meter hohen Turm für ein Radar, den Bau einer Küstenwachstation und einen 163 Meter langen Kai vor.

Der Bau sollte durch ein Budget von 12 Millionen Dollar aus den Vereinigten Staaten finanziert werden. Eine Umweltgenehmigung wurde am 31. Dezember 2015 erteilt, nur 29 Tage nachdem das Projekt vorgeschlagen worden war – eine auffällig kurze Zeit, um die notwendigen Studien zur Einschätzung der tatsächlichen sozio-ökologischen Auswirkungen des Projekts durchzuführen. Die Auswirkungen, die der Bau des Kais auf die Reise der Wale haben würde, oder die Risiken, die mit der Installation von Benzintanks nahe der Insel verbunden sind, wurden nicht berücksichtigt. Nach Erteilung der Genehmigung wurde dann schnell mit der Umsetzung des Projektes begonnen.

Die Zivilgesellschaft hat der Durchsetzung des US-Projektes auf der Insel jedoch nicht tatenlos zugesehen. Aus Gemeindeverbänden der Ortschaften an der Pazifikküste und aus akademischen und Umweltgruppen sind Organisationen wie das Komitee Salvemos Gorgona („Lasst uns Gorgona retten“) hervorgegangen, die sich von Anfang an gegen die Versuche der verschiedenen Regierungen gewehrt haben, das Projekt zu verwirklichen. Die Organisation betont, wie wichtig es ist, sowohl die biologische Vielfalt der Insel als auch die Souveränität über das Territorium zu schützen.

Mit den Wahlen im Jahr 2022 und dem Amtsantritt von Gustavo Petro als Präsidenten ging die Erwartung einher, dass die selbsternannte „Regierung des Wandels“ das Projekt stoppen würde. Nachdem Salvemos Gorgona verschiedene Forderungen vorgetragen hatte und eine öffentliche Anhörung im Kongress, den die Abgeordnete Jennifer Pedraza initiierte und an der auch die Umweltministerin Susanna Muhammad teilnahm, stattgefunden hatte, wurde das Projekt vorübergehend ausgesetzt. Trotzdem versuchte die Regierung weiterhin, die Gemeinden von den angeblichen Vorteilen des Projekts zu überzeugen, indem sie in der Region Bürgerforen durchführte, an denen auch die Vizepräsidentin Francia Márquez teilnahm.

Bei einem Besuch der Regierung in Guapi, inmitten von Bannern, die die Absage des Projektes forderten und von Ausrufen, der Präsident möge sich zu dem Thema positionieren, beschloss dieser, die Gemeinden zu ignorieren und die Veranstaltung zu beenden. Die Entscheidung war bereits getroffen worden.

US-Militärpräsenz in Kolumbien verfestigt sich auch unter Petro

Am 12. Februar 2024 gab die Regierung auf einer Pressekonferenz in Anwesenheit von Umweltministerin Muhammad und Verteidi­gungs­­­­­minister Iván Velásquez bekannt, dass sie mit dem Bau des Projekts in Gorgona beginnen werde. Sowohl die Minister*innen als auch der Präsident haben sich darum bemüht, das Ganze als ein Projekt für Forschung und Tourismusförderung zu rahmen.

Es wurde versichert, dass die Bauarbeiten nicht während der Walbeobachtungssaison stattfinden und unter großer Rücksicht auf die Umwelt durchgeführt werden würden. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies wirklich so umgesetzt wird, ist allerdings gering. Außerdem blieben die Pläne für das Radar und die militärischen Elemente der Küstenwachstation unverändert, wie der Kommandeur der Küstenwache, Javier Bermudez, erklärte. Bezüglich der US-Finanzierung des Projektes gab Verteidigungsminister Velásquez bekannt, dass das Geld nach Gesprächen mit der US-Botschaft nun nicht für die Küstenwache oder das Radar, sondern für ein geplantes Forschungszentrum verwendet werden würde. Andrés Pachón, Sprecher von Salvemos Gorgona, hält diese Ankündigung für irreführend, da „die Umweltlizenz, alle durchgeführten Beratungsstudien und die früheren Umweltverträglichkeitsstudien bereits mit US-Geldern bezahlt worden sind“. Außerdem wurde nicht nur das Radar schon 2019 gekauf. Die bestehende Baulizenz sieht auch keine der von der Regierung erwähnten wissenschaftlichen Konstruktionen vor, sondern nur militärische Einrichtungen. Die US-Militärpräsenz in Kolumbien hat sich während der aktuellen Regierungsperiode entgegen allen Erwartungen weiter verfestigt. Die US-Generälin Laura Richardson hat das Land regelmäßig besucht und hochrangige Treffen mit Militärchefs, Präsident Petro und Vizepräsidentin Márquez abgehalten. Diese wurden von Ankündigungen, etwa über Pläne zur Militarisierung des Amazonasschutzes und der grundsätzlichen Stärkung der militärischen Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern begleitet.

Die Fortführung von geostrategischen Interessensprojekten der USA wie auf Gorgona und des alten „Kriegs gegen die Drogen“ hat Richardson selbst zu der Bemerkung veranlasst, die Beziehungen zwischen den Ländern „könnten nicht besser sein“. Trotz mangelndem Interesse in der Regierung setzen die Organisationen ihre Protestaktionen gegen das Projekt fort.

Neben nationalen Aufrufen zur Mobilisierung zur Verteidigung der Insel und der Souveränität gründete sich die Bancada en Defensa de Gorgona („Fraktion zur Verteidigung von Gorgona“) mit mehr als 15 Abgeordneten verschiedener Parteien, die versuchen wird, die Debatte auf die legislative Ebene zu bringen. Die Basisorganisation und Mobilisierung ist das Einzige, was La Gorgona vor dem Schwert des Perseus retten kann.


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Neun Jahre ohne Aufklärung

“Lebend habt ihr sie genommen – lebend wollen wir sie zurück!” Demo von Angehörigen (Foto: Marijan Schreckeis)

„Sie sind nicht verschwunden, sie wurden uns genommen.” Davon zeigt sich Cristina Bautista in Alpoyecancingo, einem Náhuatl-Dorf in den rauen Bergen des Bundesstaates Guerrero, überzeugt. Bautista ist alleinerziehende Mutter in einer der ärmsten und gewaltvollsten Gegenden Mexikos. Seit neun Jahren ist sie zudem im Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit für die „verschwundenen“ Studenten von Ayotzinapa aktiv. Regelmäßig nimmt sie beschwerliche Wege auf sich, um sich an der Organisation von Protesten zu beteiligen. Cristina ist die Mutter von Benjamín Bautista. Ihr ältester Sohn ist einer der 43 Studierenden, die seit Ende September 2014 als verschwunden gelten.

In der Nacht vom 26. auf den 27. September 2014 waren 43 Normalistas, Lehramtsstudenten der Escuela Normal Rural de Ayotzinapa, in gekaperten Reisebussen auf dem Weg nach Mexiko-Stadt. Dort wollten sie an einer Demonstration in Gedenken an das „Massaker von Tlatelolco“, das der Staat 1968 an der Studierendenbewegung verübt hatte, teilnehmen. In der Stadt Iguala stoppten schwerbewaffnete Polizisten die Busse und griffen deren Insassen an. Drei Studenten und drei Unbeteiligte starben noch in derselben Nacht – getötet von sogenannten Sicherheitskräften, wohl auch mit illegal erworbenen Waffen aus deutscher Produktion.

Sechs Normalistas überlebten den Angriff, 43 gelten seither als verschwunden. Es wird davon ausgegangen, dass sie von staatlichen Einsatzkräften verschleppt und später an die kriminelle Gruppe Guerreros Unidos übergeben wurden. Auch soll das Militär zugegen und über die Vorgänge informiert gewesen sein. Der genaue Tathergang und die Motive sind jedoch nach wie vor unklar. Mehrere Zeug*innen wurden im Zuge der Ermittlungen ermordet, Aussagen nachweislich durch Folter erzwungen. Einst ermittelnde Beamte befinden sich mittlerweile selbst in Haft oder auf der Flucht. Der damalige Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam sitzt seit 2022 wegen Manipulation der Ermittlungen, Folter und Beteiligung an der Entführung im Gefängnis. Der damalige Leiter der im Fall ermittelnden Kriminalpolizei, Tomás Zerón, befindet sich auf der Flucht. Ihm wird vorgeworfen, Beweise gefälscht und Zeug*innenaussagen durch Folter erzwungen zu haben.

Laut der kurz nach der Tat von den Ermittlungsbehörden als „historische Wahrheit” präsentierten Version gerieten die Studierenden in eine Auseinandersetzung zwischen kriminellen Gruppen und wurden dabei getötet. Auch korrupte Polizeieinheiten seien beteiligt gewesen. Anschließend seien die Leichen der Studenten verbrannt worden. Ziel dieser Darstellung war es, die Ereignisse als lokales Problem darzustellen und die Ermittlungen abzuwürgen, bevor sie weitergehende staatliche Verstrickungen ans Licht bringen konnten.

Anders als es in der vorherrschenden Berichterstattung erscheint, handelt es sich beim „Fall Ayotzinapa“ nicht nur um einen Kriminalfall. Der Bundesstaat Guerrero, in dem Ayotzinapa liegt, ist einer der ärmsten und gewaltvollsten in Mexiko. Die Ursprünge der Gewalt liegen unter anderem in dem sogenannten Guerra Sucia (Schmutzigen Krieg). Ungefähr von 1960 bis 1990 versuchte der Staat mit terroristischen Mitteln, die soziale Basis oppositioneller Bewegungen zu zerstören. Zur Zielscheibe wurde die arme und oft indigene Bevölkerung. Mit der Eskalation des sogenannten Drogenkrieges kam ab 2006 ein weiterer Aspekt hinzu.

Im Rahmen des schmutzigen Krieges gerieten auch die Escuelas Normales Rurales ins Visier des Staates. Ihr Ursprung liegt im postrevolutionären Mexiko der 1920er Jahre. Ihr Ziel ist die „Bildung der Massen“, was auch an sozialistischen Idealen orientiert ist. Die Studierenden der Internate kommen aus marginalisierten Verhältnissen und sind oft indigen. Nach ihrer Ausbildung kehren sie in ihre Ursprungsgemeinden zurück.

„Sie sind nicht verschwunden, sie wurden uns genommen.”

Nach dem „Verschwinden“ der Studenten von Ayotzinapa kam es in ganz Mexiko zu großen Mobilisierungen. In Guerrero wurden 28 Regierungsgebäude besetzt und Straßen blockiert. In der Hauptstadt Chilpancingo ging der Regierungspalast in Flammen auf, Demonstrierende drangen in Militäreinrichtungen ein. In Mexiko-Stadt kam es zu Massendemonstrationen und der Errichtung von teils mehrmonatigen Protestcamps und Straßenblockaden. Mit dem Amtsantritt von Präsident Andrés Manuel López Obrador 2018 verbanden Angehörige und Aktivist*innen zunächst Hoffnungen. Im Wahlkampf hatte er versprochen, sich für schonungslose Aufklärung und ein Ende der Straflosigkeit für Polizei und Militär einzusetzen.

Tatsächlich wurden die Ermittlungen zunächst wieder aufgenommen. Die Wahrheitskommission der Regierung (COVAJ) formierte sich neu und die Bedingungen für die Arbeit der international besetzten unabhängigen Expert*innengruppe (GIEI, Grupo Interdisciplinario de Expertos Independientes) der Interamerikanischen Menschenrechtskommission wurden verbessert. Sie sprechen mittlerweile von einem „Staatsverbrechen“, an dem Gemeindepolizei, Bundesstaatspolizei, Bundespolizei, Ministerialpolizei, Armee und Marine beteiligt gewesen seien.

Die Expert*innenkommission hat sechs Ermittlungsberichte vorgelegt, laut denen die Studierenden von Ayotzinapa bereits seit Jahren vom Militär und dem Nachrichtendienst überwacht worden waren. Es seien sogar zwei Spitzel in das Internat eingeschleust worden, von denen einer selbst Opfer der Tat wurde. Die militärischen Befehlshaber seien in Echtzeit über das Geschehen informiert gewesen. Agenten des militärischen Nachrichtendienstes verfolgten die Studenten ab dem Zeitpunkt, als sie in Iguala ankamen. Mehrere Militärpatrouillen wurden zu den Orten entsandt, an denen die Studenten angegriffen wurden. Auch direkte Kontakte zwischen Polizei und der mutmaßlich verantwortlichen kriminellen Gruppe sind erwiesen. Das Militär hörte die Telefone von Mitgliedern der Guerreros Unidos und der Präventivpolizei von Iguala ab. Auch wurde ein Gespräch zwischen dem Anführer der kriminellen Bande und einem Polizisten aufgezeichnet, in dem erwähnt wird, dass 17 Studenten zu einem Grab außerhalb der Stadt gebracht werden sollen.

Auf Grundlage der Ermittlungsergebnisse wurden im vergangenen Jahr 83 Haftbefehle ausgestellt, unter anderem gegen hochrangige Mitglieder in Militär, Polizei, Politik und Justiz. So wird dem damaligen Brigadekommandeur und späteren General José Rodríguez Pérez vorgeworfen, die Hinrichtung von mindestens sechs Normalistas befohlen zu haben. Sein Vorgesetzter und späterer Stabschef der Nationalen Verteidigung, General Alejandro Saavedra Hernández, soll genau über das Geschehen informiert gewesen sein.

Trotzdem behindert insbesondere das Militär die Untersuchungen weiter. 16 der gegen Militärs gerichteten Haftbefehle wurden zwischenzeitlich wieder annulliert. Im Mai wurde der damalige Bürgermeister von Iguala, José Luis Abarca, dessen Familie über enge Verbindungen zum organisierten Verbrechen verfügen soll, zunächst verurteilt, kurz darauf jedoch von einer höheren Instanz wieder freigesprochen.

Das Vertrauen der Angehörigen der 43 Studenten in die Regierung von López Obrador hat sich mittlerweile in Frust und Enttäuschung gewandelt. „Sie stehen auf der Seite des Militärs, aber sie sollten auf der Seite der Opfer stehen”, so die Einschätzung nach einem Treffen mit dem Präsidenten während der Protesttage im September. Der hatte zuvor die Armee verteidigt und Unterstützer*innen und Menschenrechtsorganisationen unterstellt, im Bund mit internationalen Organisationen seiner Regierung schaden zu wollen und vom Leid der Opfer finanziell zu profitieren.

Ende Juli hatte die unabhängige Expert*innenkommission, die sich das Vertrauen der Angehörigen erarbeitet hat, ihre Arbeit unverrichteter Dinge abgebrochen, da die Verweigerungshaltung der Armee eine konsequente Aufklärung verunmögliche. Zudem übte sie heftige Kritik an der Regierung, die sich weigere, die Armee dazu zu bewegen, der Untersuchungskommission Zugriff auf nötige Informationen zu verschaffen und Dokumente herauszugeben. Nach dem Aus der Kommission erklärten Angehörige: „Die Regierung muss sich entscheiden, auf welcher Seite sie steht: auf Seiten der Lügen der Armee oder auf der Seite der Familien und der Wahrheit.“

„Wir sind hier, weil die Militärs für das Verschwinden der Jugendlichen verantwortlich sind.“

Angesichts der Blockadehaltung der Regierung setzen die Angehörigen mittlerweile vor allem auf den Druck der Straße. Im September reisten Normalistas aller 16 Schulen des Landes nach Mexiko-Stadt, um gemeinsam mit den Angehörigen und Vertreter*innen sozialer Bewegungen eine lückenlose Aufklärung des Falls zu fordern. Auch in anderen Städten des Landes wurde demonstriert. In den Tagen zuvor war es zu Auseinandersetzungen in Chilpancingo gekommen.

In der Hauptstadt besetzten die Protestierenden symbolträchtig die Zufahrt zur Militärbasis Nr. 1 und Errichteten ein Protestcamp. „Wir sind hier, weil sie für das Verschwinden der Jugendlichen verantwortlich sind. Sie haben Zeugenaussagen manipuliert und uns angelogen. Wir wollen die Wahrheit wissen. Wir werden weiterhin unsere Stimme erheben, damit die Regierung reagiert“, erklärte Melitón Ortega, Onkel von Mauricio Ortega Valerio, einem der vermissten Studenten.

Zum Höhepunkt der Proteste demonstrierten am Abend des 26. September, des neunten Jahrestages der Gewalttat, mehrere tausend Menschen mit einer kraftvollen Demonstration in Mexiko-Stadt. Am von Aktivist*innen errichteten „Antimonument +43“ las Cristina Bautista die Namen aller „verschwundenen“ Studenten von Ayotzinapa sowie der drei Studenten vor, die an dem Tag von Einsatzkräften in Iguala getötet worden waren. Zum Abschluss enthüllte sie eine Gedenktafel, auf der die Notwendigkeit von Wahrheit und Gerechtigkeit betont wird. Ans Aufgeben denkt Bautista auch neun Jahre nach dem Verbrechen nicht: „Lebend haben sie sie uns genommen, lebend wollen wir sie zurück!”


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// ABGEMEIERTE SICHERHEIT

Von der deutschsprachigen Öffentlichkeit kaum bemerkt, haben die Leaks des Hackerkollektivs Guacamaya im Laufe des vergangenen Monats mehrere lateinamerikanische Länder erschüttert. Zu den sechs Terabyte geleakten Daten gehören unter anderem sensible Militärinformationen aus Mexiko, Chile, El Salvador, Peru und Kolumbien. Sie geben Aufschluss über operative und nachrichtendienstliche Militäraktivitäten der vergangenen zehn Jahre. Das Guacamaya-Kollektiv behauptet, die Sicherheitslücke habe ganze elf Monate lang existiert.

Politiker*innen wie der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) haben den Hack als Risiko für die nationale Sicherheit bezeichnet. Doch die Leaks zeigen: Dieses Sicherheitsrisiko ist nicht akut, sondern vielmehr strukturell. Während die Entschlüsselung der Dokumente noch läuft, sehen Kritiker*innen bereits jetzt bestätigt, was sie schon lange vermuten – nämlich weit verbreitete Militärspionage gegen vermeintliche innere Feind*innen.

So interessierte sich der Nachrichtendienst des chilenischen Militärs (DINE) brennend für die Privatgespräche einiger Ex-Militärs, die Korruption im Apparat denunziert hatten. Das mexikanische Militär, das auch in das Verschwinden der 43 Studenten in Ayotzinapa verwickelt ist (siehe Seite 21), beobachtete unter anderem die Sängerin Mon Laferte – wohl wegen ihrer feministischen Liedtexte. Auch die Europareise der zapatistischen Delegation im vergangenen Jahr wurde untersucht, wie Dokumente der mexikanischen Botschaft in der Schweiz zeigen. Sogar die LN haben es mit einem Post zum Tren Maya, dem Infrastrukturprojekt mit Unterstützung der Deutschen Bahn, in den Bericht geschafft.

In den Militärapparaten lebt das Feindbild des Kalten Krieges weiter. In Chile wurde der militärische Sicherheitsdienst maßgeblich von der Pinochet-Diktatur geprägt. Der interne bewaffnete Konflikt in Peru trimmte das Militär ebenso darauf, gegen alles Linke rabiat vorzugehen. Menschenrechtsaktivist*innen, die vermitteln wollten, wurden zum Feind erklärt. Heute steht in militärischen Berichten, dass Amnesty International und andere NGOs die Bevölkerung gegen den Bergbau indoktrinieren und linke Parteien werden verdächtigt, Fassade der Guerilla Leuchtender Pfad zu sein.

Die schiere Zahl der zivilgesellschaftlichen Organisationen und Parteien, die heute Gegenstand von Militärspionage sind, steht in Chile und Peru sinkenden Militärausgaben gegenüber. Dagegen nehmen die für Verteidigung zur Verfügung gestellten Mittel in Mexiko stetig zu. Die Leaks enthüllten nun, dass sogar die Gründung einer eigenen Tourismusagentur inklusive Fluglinie und Hotelkette vorgesehen ist – für die Altersversorgung der Streitkräfte, so AMLO. Mexikos Militär scheint in den vergangenen Jahren in alles außer die eigene Cybersicherheit investiert zu haben – eine billige Software im Verteidigungsministerium war nun scheinbar Einfallstor für das Hackerkollektiv. Das Beispiel zeigt, dass mehr Geld für Militär und Sicherheitsbehörden kein Garant für mehr Sicherheit ist. Und die Leaks beweisen: Wenn die finanzielle Aufstockung der Streitkräfte nicht an zivile Kontrollmechanismen gebunden wird, werden kalte Krieger*innen fortan noch besser ausgestattet vermeintliche Staatsfeind*innen zu beobachten.

Auch in Deutschland standen letztere lange links. Nun soll zwar der Verfassungsschutz reformiert und Soldaten des KSK der Rechtsextremismus wegtherapiert werden. Doch der verharmlosende Umgang mit rechten Strukturen in deutschen Sicherheitsbehörden zeigt ebenso wie die Guacamaya Leaks, dass Geheimdienste weniger zum Schutz der Demokratie agieren, sondern politische Gegner*innen überwachen und am Ausbau des eigenen Einflusses arbeiten. Wenn die Bundeswehr jetzt mit 100 Milliarden Euro Sondervermögen aufgestockt wird, um „den sicherheitspolitischen Herausforderungen gewachsen zu sein“, stellen sich also für die gesellschaftliche Linke wichtige Fragen. Etwa, wie viel von den 20,8 Millionen Euro für „Führungsfähigkeit und Digitalisierung“ für neue Überwachungstechnik ausgegeben wird. Und, wer dann zum Ziel dieser Überwachung wird. Es bleibt zu hoffen und dafür zu sorgen, dass diese Fragen nicht erst mit dem nächsten Leak beantwortet werden.


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SCHONUNGSLOS SUBTIL

Azor aus Argentinien Sektion Berlinale Encounters (Foto: Berlinale)

„Glauben Sie, Sie sind hier in Roland Garros?“, begrüßt der Schweizer Geschäftsmann Lombier zu Beginn von Azor den Privatbankier Yvan van der Wiel (Fabrizio Rongione) in Buenos Aires. Sollte dieser sich Illusionen hingegeben haben, was ihn in Argentinien im Jahre 1980 erwartet, sind diese spätestens nach der Frage seines Landsmanns passé. Mit der entspannt-versnobbten Atmosphäre des Pariser Tennisturniers Roland Garros hat die argentinische High Society trotz des luxuriösen Ambientes nicht viel gemeinsam. Denn auch in dem Metier, in dem er seit Jahrzehnten erfolgreich tätig ist, kann sich niemand mehr den Machenschaften und der Gewalt der in Argentinien herrschenden Militärjunta entziehen. In dieses Spiel wird Van der Wiel, der millionenschwere Spross einer Dynastie von Privatbankiers, nun unvermittelt geworfen, weil ein gewisser Keys, der bisherige örtliche Vertreter seiner Bank, wie vom Erdboden verschluckt ist. Verschwunden? Oder geflohen? Niemand weiß oder sagt etwas Genaues, obwohl sein Name in der argentinischen Oberschicht ein Begriff zu sein scheint. Vorsichtig abwägend versucht Van der Wiel nun, Keys‘ Luxuskunden weiter an die Bank zu binden. Dabei muss er sich schnell in der äußerst unsicheren politischen Gemengelage zurechtfinden. Denn jeder Fauxpas kann auch für ihn tödliche Konsequenzen haben.

Es ist kein Geheimnis, dass Schweizer Privatbanken jahrelang eine tragende Rolle bei der Finanzierung und Geldwäsche für die argentinische Militärjunta gespielt haben. Doch während viele filmische Verarbeitungen der Diktatur die Unterdrückung und das Leid der Zivilbevölkerung thematisieren, lief ihre Finanzierung durch Schweizer Bankiers bislang filmisch so geräuschlos und diskret ab wie in der Realität. Mit Andreas Fontanas Film Azor ändert sich das nun. Der Protagonist trifft bei seiner Besuchstour durch den goldenen Käfig auf Jäger und Gejagte: Eine Elite, die – changierend zwischen Skrupellosigkeit und Angst – an nichts anderes denkt als ihre Besitztümer zu wahren oder zu vergrößern. Dabei sind einige mittlerweile selbst schon im Visier der Junta. So gibt es auch bei den politisch weniger konformen Superreichen schon die ersten Verschwundenen. Weil die Konkurrenz droht, wichtige Kunden auszuspannen, steht Van der Wiel bald vor der Entscheidung, ob er für seine Geschäftsinteressen auch die letzten Skrupel aufgeben soll.

Andreas Fontanas Langfilmdebüt Azor ist ein beeindruckender Einblick in die Welt der Superreichen und ihrer Bankiers während der dunkelsten Jahre Argentiniens. Eine falsche Bemerkung, ein falscher Kontakt, und wichtige Türen schließen sich für immer. Der Zynismus und die korrumpierte Moral der Militärs bricht sich in den oberflächlichen Gesprächen ebenso Bahn wie die Bereitschaft der Banken, über immer größere Ungeheuerlichkeiten hinwegzusehen. Azor steht in der codierten Sprache der Bankiers für die Fähigkeit, zum richtigen Zeitpunkt nichts zu sagen. Diese Fähigkeit lässt Fontana seine Figuren im Laufe des Films perfektionieren, so dass der Aufenthalt der Schweizer Delegation sich zunehmend zu einer Reise ins Herz der Militärdiktatur entpuppt. Ständige Begleiter*innen Van der Wiels sind dabei seine so weltgewandte wie abgebrühte Ehefrau Inés (Stéfanie Cléau) und vor allem das Phantom des verschollenen Keys. Dessen Geheimnisse entfalten eine Sogwirkung, der sich Van der Wiel irgendwann nicht mehr entziehen kann. Referenzen zu Francis Ford Coppolas Vietnam-Epos Apocalypse Now sind oftmals so überdeutlich, dass sie als gewolltes Augenzwinkern verstanden werden sollten. Doch der mit einem durchweg großartigen Schauspielensemble besetzte Film ist für sich selbst gesehen ein kleines Meisterwerk, so dass er dieser Querverweise gar nicht nötig hätte. Azor ist ein bislang fehlendes, glänzendes Mosaiksteinchen in der filmischen Aufarbeitung der argentinischen Militärdiktatur. So subtil und gleichzeitig schonungslos wie Fontana haben nur wenige die Abgründe hinter deren polierter Fassade aufgezeigt.


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DIE GRÜNE GEFAHR

Mexikanisches Militär Seit den 1970er Jahren übernimmt das Militär polizeiliche Aufgaben (Foto: Eneas De Troya Flickr (CC BY 2.0)

„Los verdes”, die Grünen, wie die Soldaten aufgrund ihrer Uniformfarbe genannt werden, regieren in Mexiko seit der Revolution vor einhundert Jahren mit. Sie stellten eine Reihe von Präsidenten und bis heute ist der Verteidigungsminister ein General im Dienst. Auch mit der Regierung von Andrés Manuel López Obrador (AMLO) haben sich die Streitkräfte gut arrangiert. In den gut zwei Jahren seiner Amtsführung seit dem 1. Dezember 2018 hat López Obrador von der relativ neuen Partei Morena (Movimiento de Regeneración Nacional) den Einfluss der Militärs sogar noch gestärkt, trotz anderslautenden Wahlversprechen. Linke Bewegungen und auch kritische Parteigänger*innen von AMLO sind bestürzt, dass ihr Hoffnungsträger für eine grundlegende Veränderung des Regierungsstils genauso wie seine Vorgänger auf eine starke Allianz mit den Streit­kräften setzt.

Überraschend ist dies nicht. Bereits vor seiner ersten und seiner zweiten Kandidatur zum Präsidenten 2006 und 2012 äußerte López Obrador gegenüber US-amerikanischen Diplomat*innen: „Er wolle dem Militär mehr Macht und Autorität in Operationen zur Drogenbekämpfung geben, weil es von allen mexikanischen Behörden am wenigsten korrupt und am effektivsten sei. Er wies jedoch darauf hin, dass dies eine Verfassungs­änderung erfordern würde, war aber stark davon überzeugt, dass er das hinbekommen könne”, wie es in einer 2011 bei Wikileaks veröffentlichten Diplomatenpost heißt.

López Obrador schuf die durch Korruptionsfälle und Repressionen diskreditierte föderale Polizeieinheit ab

De facto übernimmt das Militär in Mexiko seit den 1970er Jahren polizeiliche Aufgaben, verfolgt Drogen- und Waffendelikte und übt sich in Aufstandsbekämpfung. Eine besonders blutige Rolle nahmen Heer und Marine im gescheiterten „Krieg gegen die Drogenkartelle” ein, den der rechtsgerichtete Präsident Felipe Calderón 2006 initiierte. Die dabei ausgelöste Spirale der Gewalt mit Hunderttausenden von Opfern dauert bis heute an. Auch dass föderale Polizeikräfte zur Wahrung der „inneren Sicherheit” herangezogen werden, insbesondere wenn lokale Polizeien und Gouverneure überfordert sind, ist ebenfalls nicht neu. Bei der Gründung der Policía Federal Preventiva (PFP) 1999 wurde kritisiert, dass diese größtenteils militärisch ausgebildet und deren Kommandeure Militärs „im Ruhestand” waren. López Obrador schuf die durch Korruptionsfälle und Repressionen gegen soziale Bewegungen diskreditierte föderale Polizeieinheit ab, doch ein Großteil der Truppe wurde in die neue Nationalgarde integriert.

Die Militarisierung unter der vermeintlich linken Regierung von López Obrador hat drei Schwerpunkte: Die neu gegründete Nationalgarde, welche die zivilen Polizeieinheiten unterstützen soll, ein Präsidialdekret, das dem Militär Aufgaben der inneren Sicherheit überträgt, sowie die zunehmende Kontrolle der Uniformierten über strategische Großprojekte. Die Nationalgarde (Guardia Nacional) wurde im März 2019 gegen den Widerstand einer großen Koalition von zivilgesellschaftlichen Organisationen ins Leben gerufen. Der dünne zivile Anstrich dieser neuen föderalen Polizeieinheit, welche die Policía Federal ersetzte, blätterte bald ab: General Luis Rodríguez Bucio wurde zu ihrem Kommandanten ernannt, das Militär suspendierte ihn der Form halber vom Dienst. Doch schon der ihm direkt unterstellte Brigadier Inocente Prado López ist gleichzeitig aktiver Kommandant der Militärpolizei. Und auch die aktuell 98.000 Nationalgardist*innen wurden größtenteils direkt aus den Reihen des Militärs rekrutiert.

Kaum formiert, machte der erste Großeinsatz der Guardia Nacional schlechte Schlagzeilen: Auf Druck der US-Regierung unter Präsident Donald Trump wurden sie der Migrationsbehörde zur Seite gestellt und verstärkten die Repression gegen die migrantischen Karawanen an Mexikos Südgrenze. Eine widerwärtige Szene für ein Land, das von Migrant*innen in den USA über Wasser gehalten wird, und für einen Präsidenten AMLO, der Migrant*innen die Wahrung ihrer Rechte versprach. Mitte Januar, am Ende der Ära Trump, wiederholen sich diese Bilder: Hunderte Nationalgarde-„Polizisten” mit Schildern und Körperpanzer bilden am Flussufer des Río Suchiate eine (un-)menschliche Mauer für die Gringos (siehe S. 14).

Kaum formiert, machte der erste Großeinsatz der Guardia Nacional schlechte Schlagzeilen

In der Verfassungsreform als zivile Unterstützung für Aufgaben der inneren Sicherheit definiert, ist die Nationalgarde trotz ihrer militärischen Herkunft an relativ strikte Auflagen gebunden und soll insbesondere zivilen Behörden zuarbeiten. In ihrer kurzen Geschichte hat sie sich bisher kaum durch blutige Einsätze charakterisiert. Ganz im Sinne von López Obradors Wahlkampfslogans „Nie wieder Repression” und „Umarmungen, keine Schüsse” waren die Nationalgardisten häufiger Prügelknaben in konfliktiven Situationen, denn Ausübende des Gewaltmonopols. Gerieten Konflikte außer Kontrolle, kam oft der Befehl zum Rückzug, um größere Schäden zu verhindern. Dass dies auch die falsche Entscheidung sein kann, zeigt das Beispiel von San Mateo del Mar. Das indigene Fischerdorf in Oaxaca forderte im Juni 2020 die Nationalgarde an, weil die dortige Bürger*innenversammlung von bewaffneten Schergen des Bürgermeisters angegriffen wurde. Als die Situation trotz der Anwesenheit der Nationalgarde eskalierte, zog diese ab, was die Gemeinde als Verrat interpretierte. In den darauffolgenden Stunden wurden 17 Gemeindemitglieder ermordet.

Trotz der Einführung der Nationalgarde sind bisher kaum qualitative Veränderungen in der Kriminalitätsstatistik des Landes wahrzunehmen, höchstens eine Stabilisierung der Mordrate auf hohem Niveau. Durch eine Hintertür in der Verfassungsreform zur inneren Sicherheit versucht die Regierung deshalb, auch dem direkten Einsatz der Militärs volle Legalität zu verschaffen. Am 11. Mai 2020, mitten in der ersten Covid-Welle, aktivierte López Obrador die Klausel, dass der Präsident die regulären Streitkräfte während fünf Jahren für die innere Sicherheit mobilisieren kann, wenn dies auch als „außerordentlicher, komplementärer” und der Nationalgarde untergeordneter Dienst beschönigt wurde. Der „linken” Morena-Regierung scheint somit zu gelingen, was deren Vorgänger nicht wagten: die vollständige Legalisierung der Militarisierung. Zwar haben Gerichte zwei Einsprachen von Nichtregierungsorganisationen gegen diese präsidiale Vollmacht stattgegeben, bisher jedoch ohne Einfluss auf die Realität im Lande.

Bei der Aufwertung der militärischen Macht bleiben zivile Kontrolle und Sanktionsmöglichkeiten auf der Strecke

Der militärische Komplex, dieser Staat im postrevolutionären Staate, erhält von der Regierung der „Vierten Transformation” unter López Obrador nicht nur die lange ersehnte legale Grundlage für den Einsatz in der inneren Sicherheit, sondern auch eine ganze Reihe von weiteren Aufgaben. Die Uniformierten bauen unter anderem vier Flughäfen und die Gebäude der staatlichen Sozialbank, erhielten die Verwaltungskontrolle über alle Güterhäfen und sollen nun auch große Abschnitte des touristischen Megaprojekts „Tren Maya” verwalten.

Dass bei dieser Aufwertung der militärischen Macht zivile Kontrolle oder gar Sanktionsmöglichkeiten weiterhin auf der Strecke bleiben, zeigt die fehlende Aufarbeitung gravierender Menschenrechtsverletzungen durch Angehörige der Streitkräfte. Für die Familienangehörigen der Verschwundenen des „Schmutzigen Krieges” gegen die Guerilla in den 1970er Jahren oder für die Eltern der Studierenden von Ayotzinapa bleibt das Militär ein hermetisch abgeriegelter Block. Im Fall der am 26. September 2014 verschwundenen 43 Lehramtsstudenten von Ayotzinapa wurde im November 2020 mit José Martínez Crespo zwar der erste ranghohe Militär wegen gewaltsamen Verschwindenlassens und organisierter Kriminalität verhaftet. Und bei der Sitzung der Familien der Verschwundenen mit dem Präsidenten Mitte Januar 2021 über den Stand der Ermittlungen war erstmals auch Verteidigungsminister General Luis Cresencio Sandoval anwesend. Doch die Familien kritisieren, dass die Streitkräfte die Informationen über die Nacht des Angriffs auf die Studierenden nur „scheibchenweise” bekanntgeben und keineswegs aktiv an der Aufklärung des Falls mitarbeiten. Der Teufelskreis der Straflosigkeit der Militärs wird auch im emblematischsten Fall der jüngeren Geschichte nur sehr schwierig zu durchbrechen sein.


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AUSNAHMEZUSTAND DER PERVERSION

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Ausnahmezustand in Villa Nueva Das weckt traurige Erinnerungen (Foto: Carlos Sebastian)

Am 14. Januar dieses Jahres trat Alejandro Giammattei seine Amtszeit als Guatemalas neuer Präsident an. Der rechte Kandidat der Partei Vamos hatte im August 2019 die Präsidentschaftswahlen gewonnen – allerdings nur mit knapp einem Viertel der Stimmen aller Wahlberechtigten (siehe LN 543/544). Bereits zwei Tage nach seinem Amtsantritt, am 16. Januar, erklärte er in zwölf Gemeinden des Landes den präventiven Ausnahmezustand bis zum 11. Februar. Bemerkenswert ist, dass nur vier davon zu den Gemeinden mit dem höchsten Unsicherheitsfaktor gehören, laut dem 2019 vorgelegten Index über Kommunale Prioritäten. In einem offiziellen Video kündigte Giammattei diese Maßnahmen als Teil seines Kampfes gegen die Unsicherheit an, die sich im ganzen Land ausbreite. Ihm zufolge bestehe das Ziel „darin, Verbrechen zu verhindern, aber vor allem die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten.” Im gleichen Video fordert der Präsident die guatemaltekische Bevölkerung auf, Kriminelle und Delinquenten anzuzeigen. Damit will er das Vertrauen und die Unterstützung der Bevölkerung durch populistische Maßnahmen gewinnen, die an einen sensiblen Aspekt der guatemaltekischen Realität rühren, nämlich die Unsicherheit auf den Straßen.

In der Geschichte Guatemalas hat der Gebrauch des Ausnahmezustands Tradition. Der guatemaltekische Jurist und Politologe Miguel Ángel Reyes Illescas stellt fest: „Die kommunalen Ausnahmezustände erinnern an Präsident General Arana in den frühen siebziger Jahren, der während seiner ganzen Amtszeit mit dem Ausnahmezustand in der gesamten Republik regierte und die Politik der Aufstandsbekämpfung einleitete, der Präzedenzfall für Aktionen der verbrannten Erde und Völkermord.”

Ausnahmezustände sind zum bevorzugten Instrument des Staates geworden

Ausnahmezustände müssen nicht vom Kongress genehmigt werden und erlauben es der Exekutive, Maßnahmen zur Militarisierung öffentlicher Dienstleistungen zu ergreifen, Streiks zu verhindern und das Recht auf Versammlungsfreiheit und freie Meinungsäußerung für 15 Tage einzuschränken. Wie es scheint, sind sie zum bevorzugten Instrument des Staates geworden, um bei Sicherheitsfragen, aber auch bei Konflikten zwischen nationalen und transnationalen Unternehmen und Gemeinschaften mit der Zivilgesellschaft zu intervenieren. Dies geschieht zum Beispiel in San Juan Sacatepéquez, wo seit 2005 ein ungelöster Konflikt zwischen der Kaqchikel-Gemeinde und dem Unternehmen Cementos Progreso herrscht. Obwohl sich 99 Prozent der Einwohner*innen bei einer Befragung der dortigen Gemeinde 2007 gegen den Bergbau ausgesprochen haben, fördert Cementos Progreso weiterhin natürliche Ressourcen – mit Unterstützung der Regierung. Mehr als zwanzig Menschen sind in diesem Zusammenhang getötet worden. In diesen Fällen offenbaren die militärischen Interventionen Absichten anderer Art: Anstatt der Bevölkerung Sicherheit zu garantieren, werden sie zur Einschüchterung eingesetzt. Laut dem guatemaltekischen Kollektiv Festivales Solidarios sind diese „Morde wie der an Schwester Berta Cáceres, Betty Cariño, Macarena Valdez und vielen Verteidigern des Lebens ein Beweis dafür, wie sich Regierungen, Militär und Paramilitärs an der Macht gehalten haben.”

Schon Jimmy Morales, Giammatteis Vorgänger, hatte die Remilitarisierung des Landes vorangetrieben, indem er die Armee in zivile Funktionen wie Katastrophenhilfe und innere Sicherheit einbezog. Ein Beispiel dafür ist der von ihm 2016 im ganzen Land verhängte Ausnahmezustand wegen der Auswirkungen der Regenzeit, die allerdings gar keine Katastrophe von nationaler Tragweite verursacht hatte. Dieses Vorgehen löste in der Bevölkerung viel Kritik aus, denn das Fehlen einer logischen Erklärung zeigte den Machtmissbrauch des Präsidenten und seiner Minister. Bei einer anderen Gelegenheit umgab Morales sich mit Militärs, um anzukündigen, dass er den Vertrag mit der Internationalen Kommission gegen Korruption und Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) nicht verlängern werde.

„Das Militär hat nie aufgehört, direkten Einfluss auf Staat, insbesondere auf Exekutive zu nehmen.“

Der derzeitige Präsident Giammattei setzt die Berufung von Militärs in die wichtigsten öffentlichen Ämter und Sicherheitsorgane fort. So ernannte er beispielsweise den pensionierten General Edgar Leonel Godoy Samayoa zum Innenminister. Godoy Samayoa gehörte dem illegalen Sicherheitsapparat La Cofradía an, der in den 1980er Jahren begann, Zoll und Schmuggel, Steuerbetrug sowie den Transfer von Drogen, Waffen und Migrant*innen zu kontrollieren. In diesem Zusammenhang bekräftigt der Politologe Reyes Illescas, dass „das Militär nie aufgehört hat, direkten Einfluss auf den Staat und insbesondere auf die Exekutive zu nehmen. Teilweise, weil die Gesetze es so regeln, einschließlich der Verfassung der Republik”. Der von der aktuellen Regierung vorgelegte Nationale Plan für Innovation und Entwicklung (PLANID) für 2020 bis 2024 bezieht sich auf Artikel 244 der Verfassung, um die Erweiterung der Ressourcen und Handlungsspielräume der Armee zu rechtfertigen. In diesem Artikel heißt es, dass „die guatemaltekische Armee eine Institution zur Wahrung der Unabhängigkeit ist, der Souveränität und Ehre Guatemalas, der Integrität des Territoriums sowie des inneren und äußeren Friedens und der Sicherheit”. Präsident Giammattei nutzt diese Rechtslage jedoch nicht nur, um die Präsenz der Armee im öffentlichen Raum zu rechtfertigen und zu verewigen, sondern geht noch darüber hinaus.

Das Militär ist wieder stark Schon der vorherige Präsident, Jimmy Morales, umgab sich mit der Armee (Foto: Carlos Sebastian)

Außerdem stellte Giammattei Ende Januar drei Gesetzesinitiativen zur Reform von Sicherheitsbereichen vor, die wegen ihrer Doppeldeutigkeit und des politischen Drucks darauf, ihre Verabschiedung zu beschleunigen, Anlass zur Sorge geben. Die Gesetzesvorlage 5694 sieht die Auflösung des Sekretariats für Sicherheitsangelegenheiten (SAAS) vor, das nach dem Friedensabkommen als Ersatz für den präsidialen Generalstab geschaffen wurde. Die SAAS ist eine zivile Einrichtung, die für die Sicherheit des Präsidenten zuständig ist, im Gegensatz zum Generalstab, der eine militärische Einrichtung war. Giammattei verstößt gegen das Friedensabkommen, indem er die Schaffung einer präsidialen Leibwache vorschlägt, die wieder der Armee unterstehen soll.

Ein weiterer Gesetzentwurf mit der Kennziffer 5693 zielt auf Artikel 24 des Strafgesetzbuches ab und versucht, die Definition „legitime Verteidigung” zu erweitern. Sicherheitselemente und Bürger*innen, die Waffen zur Selbstverteidigung oder zur Verteidigung einer anderen Person benutzen, könnten so von der strafrechtlichen Verantwortung ausgenommen werden. Nach Angaben der Generaldirektion für Waffen und Munition (Digecam) wurden im Jahr 2019 durchschnittlich 116 Waffen pro Tag registriert. Angesichts dieses Panoramas könnte der Entwurf Straffreiheit für diejenigen begünstigen, die Verbrechen mit Schusswaffen begehen, anstatt die Sicherheitsgarantien zu verbessern.

Die Gesetzesinitiative 5692 schließlich zielt auf eine Reform des Dekrets 17-73 und des Artikels 391 des Strafgesetzbuches ab, wodurch Terrorismus als die Absicht der Störung der sozialen und öffentlichen Ordnung definiert wird. Die offizielle Rhetorik versichert, dass die Änderung auf die Bekämpfung von Banden ausgerichtet ist. Die Initiative jedoch erwähnt diese gar nicht, sondern typisiert jede „Gruppe oder Person, die den sozialen Frieden oder die öffentliche Ordnung verletzt” als Terrorist*innen. Daraus ergibt sich die Sorge, dass sie gegen Menschenrechts-, Gemeinde- und Gebietsrechtsverteidiger*innen eingesetzt werden könnte. Allgemein nimmt die Feindseligkeit ihnen gegenüber sichtbar zu.

Während der Corona-Epidemie kommt es zu Entscheidungen hinter verschlossenen Türen

Die Taktik der Regierung, der Armee und der wirtschaftlichen Eliten lässt die Wunden der Vergangenheit wieder aufbrechen. Für Raúl Molina, Mitbegründer und Vizepräsident des Netzwerks für Frieden und Entwicklung in Guatemala steht fest: „Die Streitkräfte, die sich nicht wesentlich verändert haben, befinden sich weiterhin im Krieg gegen die Teile der guatemaltekischen Gesellschaft, die Menschenrechte, Wahrheit, historisches Gedächtnis und Gerechtigkeit fordern, die sie als Kommunisten oder Linke bezeichnen. Die Unterdrückung ist nicht mehr so massiv, aber die Gewalttaten gehen weiter, vor allem in den ländlichen Gebieten. Es ist klar, dass das Ziel darin besteht, das politische, soziale und wirtschaftliche Leben durch Angst zu beherrschen. Machtmissbrauch und Gewalttaten, wie sie während der von Jimmy Morales erklärten Ausnahmezustände im Nordosten des Landes begangen wurden und das militärische Spektakel, als Giammattei die präventiven Ausnahmezustände erklärte, versuchen in der bäuerlichen und Arbeiterbevölkerung Angst zu schüren. Sie erinnern an die Politik des Völkermords und der verbrannten Erde, die die Streitkräfte während des internen bewaffneten Konflikts angewendet haben”.

Für aktive Teile der Gesellschaft endet die Bedrohung damit nicht, denn vor kurzem wurde der als NRO-Gesetz bekannte Gesetzentwurf mittels eines Tricks verabschiedet. In einer seiner Bestimmungen ist festgelegt: „Es dürfen keine Spenden oder externe Mittel für Aktivitäten verwendet werden, welche die öffentliche Ordnung auf nationalem Territorium stören.” Andernfalls „wird sie sofort aufgelöst und deren Führung zur Verantwortung gezogen”. Der Begriff „öffentliches Ärgernis” ist wieder einmal mehrdeutig, es ist das gleiche Muster zu beobachten wie bei anderen aktuellen Gesetzesinitiativen.

Die zweideutigen Gesetzestexte öffnen autoritären Regierungen und dem Eindringen des Militärs in die Innenpolitik Tür und Tor, da sie die freie Auslegung der Behörden erlauben. „Wenn wir zum Beispiel demonstrieren, um Verbesserungen in den Heimen mit staatlicher Kinderbetreuung zu fordern, könnte der Präsident in Erwägung ziehen, dass wir die öffentliche Ordnung stören und das würde bedeuten, dass wir aufgelöst werden”, erklärt Paula Barrios, Koordinatorin der Organisation Frauen verändern die Welt, gegenüber der Online-Zeitung Nómada. Das Gesetz wurde dank des vom Verfassungsgericht gewährten vorläufigen Schutzes ausgesetzt. Giammattei versuchte, wie Jimmy Morales im Fall der CICIG, sich dem Urteil des Gerichtshofs zu widersetzen, musste sich aber dem Druck nationaler und internationaler Organisationen beugen. Widerstrebend kündigte er an, dass sein Regierungsteam eine neue Initiative mit einigen Änderungen vorlegen werde.

Paradoxerweise scheint die Regierung die Zivilgesellschaft für feindlich erklärt zu haben. Interessant ist, dass der Plan der Regierung die Absichten der derzeitigen Administration nicht verbirgt. Er ist voller Hinweise bezüglich der Verteidigung von Unternehmen und Privateigentum und definiert als „Quelle der Kriminalität” ausdrücklich „soziale Konflikte in Spannungsfeldern wie Bergbau, Wasserkraft und landwirtschaftliche Gebiete.” Im Gegensatz zum Wesen einer demokratischen Regierung verbirgt die von Alejandro Giammattei nicht, dass sie sich hauptsächlich um die Interessen der Eliten kümmert. Nur so erklären sich die ständigen Angriffe auf die demokratischen Institutionen in den letzten Jahren.

Hinzu kommt aktuell, dass der zur Bekämpfung der Epidemie von COVID-19 ausgerufene Katastrophenfall nun dazu genutzt wird, wichtige Entscheidungen hinter verschlossenen Türen zu treffen. So geschehen im Fall der Wahl der amtierenden und stellvertretenden Richter des Obersten Wahlgerichtshofes (TSE), die eine entscheidende Rolle bei der Regelung und Überwachung des Verhaltens der politischen Parteien, ihrer Finanzierung und ihrer Aktivitäten spielen. Wie die Zeitung Nómada hervorhebt, „ist das Erreichen eines gefälligen TSE eines der Hauptinteressen undurchsichtiger Parteien.” Anstatt einen Zustand der Prävention anzustreben, scheint sich die neue Regierung Guatemalas in einem anhaltenden Zustand der Perversion zu begeben.


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DER INGENIEUR DES CHAOS UNTER DRUCK

8. März Demo in Recife gegen Gewalt gegen Frauen und Bolsonaros Regierung (Foto: Maria Nilo)

Es waren schwere Schläge, die Brasiliens rechtsextremer Präsident Jair Bolsonaro in den vergangenen Tagen einstecken musste. Seit nunmehr zwei Wochen stehen Brasilianer*innen auf ihren Balkonen und an den Fenstern, schlagen mit Kochlöffeln auf Töpfe und Pfannen und rufen lautstark: Fora Bolsonaro! („Weg mit Bolsonaro!“).

Besonders schmerzhaft muss für den Rechtspopulisten sein, dass es vor allem die reicheren Viertel der großen Städte sind, die sich an den panelaços (panela ist ein Kochtopf) beteiligen. Waren es doch diese Stadtviertel, in denen seit 2015 gegen die damalige Präsidentin Dilma Rousseff protestiert und bei den Wahlen 2018 mehrheitlich Bolsonaro gewählt wurde. Wenn sich die Eliten abwenden, war dies bisher in Brasilien immer ein untrügliches Zeichen, dass eine Regierung an ihr Ende gelangt war.

Gouverneur*innen in offener Konfrontation mit Bolsonaro

Eigentlich müsste der Politiker des Typs „Ingenieur des Chaos“, in der Pandemie ganz in seinem Element sein. Und er tut auch sein Möglichstes, um die Krise zu potenzieren. Bis heute spielt er die Gefahr des Corona-Virus herunter.

„Wenn ich mich mit dem Virus infiziere, bekomme ich nur eine kleine Grippe (gripezinha) oder eine leichte Erkältung (resfriadinho), denn ich habe eine Geschichte als Athlet“, wiederholte er noch am 26. März, als Brasilien schon 2.500 nachgewiesene Fälle und 60 Tote zu beklagen hatte. Wochenlang kopierte er Trumps Aussagen, jeweils einen Tag später. Die letzte Kehrtwende Trumps, in der dieser vor Corona warnt und die Vorsichtsmaßnahmen bis Ende April verlängerte, hat Bolsonaro allerdings nicht vollzogen.

Stattdessen überholte er sein Idol mit der Forderung, Brasilien müsse so bald wie möglich zur Normalität zurückkehren. „Das Virus ist hier, wird von uns angegangen und in Kürze wieder verschwinden. Unser Leben muss weitergehen. Die Arbeitsplätze müssen erhalten bleiben,” sagte er am 24. März.

Am 27. März verbreitete das staatliche Sekretariat für Kommunikation (Secom) ein Video unter dem Hashtag #obrasilnaopodeparar („Brasilien kann nicht stillstehen”) auf Instagram. Die Posts wurden von Flávio Bolsonaro, Senator und Sohn des Präsidenten, auf Facebook und von politischen Weggefährten Bolsonaros auf WhatsApp geteilt.

Als auf Antrag der Bundesstaatsanwaltschaft des Ministerio Público Kampagnen in offiziellen Accounts der brasilianischen Bundesregierung, die sich gegen die Kontaktbeschränkung richten und „nicht auf das Genaueste auf wissenschaftlichen Fakten basieren”, gerichtlich verboten wurden, warf die Regierung die üblichen Nebelkerzen: Es habe sich ja gar nicht um eine offizielle Kampagne gehandelt. Dennoch eine herbe Niederlage für Bolsonaro, der seinen Wahlsieg vor allem gut orchestrierten Fake-Botschaften in den sozialen Medien verdankt.

Doch es kam noch dicker: Twitter, Facebook und Instagram löschten unabhängig voneinander Posts Bolsonaros. „Es werden solche Botschaften gelöscht, die den Informationen der Gesundheitsbehörden zu der Pandemie widersprechen und das Risiko einer Weiterverbreitung des Virus erhöhen könnten“.

Es scheint, als ob Medien, Justiz und Politik, die Jair Bolsonaro als Kandidaten und Präsidenten auch noch die absurdesten Aussagen wie Honig von den Lippen gesaugt haben, angesichts der realen Gefahr der Pandemie langsam aufwachen und feststellen: Dieser Kaiser trägt wirklich keine Kleider.

Wirtschaft am Rande des Kollapses

Ein inzwischen gelöschtes Video auf Twitter zeigte den Präsidenten am 29. März ohne Mundschutz und Sicherheitsabstand beim Besuch eines Marktes in Ceilândia in der Schar seiner Anhänger*innen – eine offene Machtdemonstration gegen die Corona-Maßnahmen der Gouverneur*innen und der bisherige Höhepunkt eines andauernden Konflikts mit ehemaligen politischen Weggefährt*innen.

Die Gouverneur*innen von 24 Bundesstaaten (einschließlich des Bundesdistrikts, zu dem Ceilândia gehört) gingen seit dem 13. März in offene Konfrontation mit Bolsonaro und dessen bewusster Ignoranz der Gefahren durch Corona: Sie schlossen Läden, Betriebe, Schulen und Universitäten – und die Bevölkerung folgt den Anweisungen in den Bundesstaaten.

„Militärintervention jetzt!” Bolsonaro-Anhänger in São Paulo auf einer der Demonstrationen gegen das Parlament und den Obersten Gerichtshof am 15. März (Foto: Niklas Franzen)

Am Wochenende waren bei bestem Wetter die Strände in Rio de Janeiro und Bahia nahezu leer, die Innenstädte der Großstädte wie ausgestorben, die meisten Geschäfte auch in den Vororten geschlossen. Einzig die Bundesstaaten Mato Grosso, Rondônia und Santa Catarina, fest in der Hand politischer Vasallen Bolsonaros, folgen dem Präsidenten.

Angesichts der Masse an rebellierenden Gouverneur*innen tobte Bolsonaro und erließ Präsidialdekrete, die die Maßnahmen in den Bundesstaaten wieder außer Kraft setzen sollten. Es könne nicht sein, dass die Landesregierungen ein „Konzept der verbrannten Erde“ durchzögen, kritisierte er, nachdem der Gouverneur des Bundesstaates São Paulo, João Doria, einstiger Verbündeter und heute ärgster politischer Feind Bolsonaros, eine weitgehende Ausgangsbeschränkung für die mehr als 40 Millionen Einwohner*innen verhängt hatte.

„Die Risikogruppe sind Personen über 60 Jahre. Wozu also Schulen schließen?“, blaffte Bolsonaro und forderte die sofortige Öffnung der Schulen. Doch auch in diesem Fall musste er eine juristische Niederlage einstecken. Die Obersten Richter*innen folgten seiner Argumentation nicht und hoben die Dekrete wieder auf. Leicht durchschaubar ist dabei, dass er in Zukunft, wenn Millionen von Brasilianer*innen ihren Job verloren haben, sagen kann, er habe ja davor gewarnt und versucht, die falschen Maßnahmen zu verhindern.

Brasiliens Wirtschaft stand schon vor der Corona-Krise am Rande des Kollaps. Die Landeswährung Real ist weiter im freien Fall, erstmals in der Geschichte des Landes müssen für einen US-Dollar mehr als fünf Reais gezahlt werden. Und dennoch bewirkte diese Währungsabwertung so gut wie keine spürbare Exportnachfrage bei Industriegütern, obwohl durch den im Tauschwert sinkenden Real Brasiliens Industrieproduktion doch eigentlich wettbewerbsfähiger werden sollte.

Auch ausländische Investor*innen fassen Brasilien, so als sei es ein heißes Eisen, nicht mehr an und zogen im Gesamtjahr 2019 netto 44,5 Milliarden Reais von Brasiliens größter Börse Bovespa in São Paulo ab. In den ersten zwei Monaten dieses Jahres (also bereits bevor Brasilien langsam klar wurde, welche Auswirkungen das Coronavirus auf das Land haben könnte), waren es bereits 44,8 Milliarden Reais (derzeit umgerechnet acht Milliarden Euro). Solche Zahlen treiben selbst die kapitalbesitzenden Schichten auf die Balkone und Terrassen, der Kochlöffel kreist nun auch über der Teflon-Pfanne.

Drei Wege zur Entmachtung Bolsonaros

Was aber schlägt Bolsonaro in der Corona-Krise vor? „Werden durch den Virus ein paar sterben? Ja, klar, die werden sterben“, sagte er im Fernsehinterview. „Wenn es da wen falsch erwischt, dann ist das eben so. Sorry.“ Da es Bolsonaro nicht um Menschen, sondern um seine Wahlklientel aus der Wirtschaft geht, ließ er sein Kabinett ein entsprechendes Präsidialdekret erarbeiten.

Angesichts der Corona-Krise sollten Firmen ihre Angestellten für bis zu vier Monate einfach außer Dienst stellen können – ohne Lohnfortzahlung, ohne Abfindung, ohne staatliche Maßnahmen. Nach einem massiven öffentlichen Proteststurm – Tenor „Entweder wir sterben am Virus oder am Hunger“ – mussten Bolsonaro und Wirtschaftsminister Paulo Guedes das Dekret noch am gleichen Tag wieder zurückziehen.

Sie erklärten, der Erlass sei vom Wirtschaftsministerium erarbeitet und „schlecht redigiert“ worden. Eine Woche später reagierte die Regierung auf den Druck angesichts der massiven Notlage, in der sich Millionen von Brasilianer*innen von einem Tag auf den anderen befinden, und schlägt vor, jeder bedürftigen Familien 200 Reais (35 Euro) monatlich zur Verfügung zu stellen. Der Kongress befand dies jedoch für nicht ausreichend. Das Abgeordnetenhaus und der Senat in Brasília erhöhten den Betrag auf 600 Reais beziehungsweise 1.200 Reais für Familien und Alleinerziehende.

Nach den Niederlagen in den sozialen Medien, gegenüber der Justiz und Gouverneur*innen nun also auch eine Niederlage im Kongress. So wundert es nicht, dass Spekulationen über das baldige Ende Bolsonaros zunehmen. Das Online-Medium Congresso em Foco geht davon aus, dass Bolsonaro schneller als gedacht aus dem Amt gedrängt werden könnte und sieht dafür drei Wege. Entweder werde er über eine notwendige (oder vorgeschobene) medizinische Behandlung von der Machtzentrale entfernt. Der Gerüchte und Mutmaßungen über seinen Gesundheitszustand gibt es viele: Krebs, Corona oder Spätfolgen des Messer-Attentats auf ihn im Wahlkampf 2018. Oder als zweite Variante: Das Parlament grenze Bolsonaro zunehmend aus und werde so zum Schalthebel der politischen Handlungszentrale.

Letztere Variante findet angesichts der sich zuspitzende Lage der Corona-Krise vor allem bei den Gouverneur*innen der einzelnen Bundesstaaten zunehmend Anhänger*innen. Sie wollen die Autorität mehr auf die Länder und somit weg von Brasília verlagern, was de facto bereits geschieht.

Eine dritte Möglichkeit zur Entmachtung Bolsonaros wäre ein Amtsenthebungsverfahren. Dem Kongress liegen dazu mittlerweile achtzehn Anträge auf Amtsenthebung vor, alle aus dem linken oder sozialdemokratischen Spektrum.

Ein Präsident im verbalen Putschmodus

Bislang weigert sich Parlamentspräsident Rodrigo Maia von der rechten Partei DEM, einen der Anträge auf die Tagesordnung des Parlaments zu setzen. Es gäbe dafür „bisher“ kein Motiv, äußerte er sich dazu in der vergangenen Woche. Die Tageszeitung Valor Econômico veröffentlichte vor wenigen Tagen einen Artikel zu einer vierten Variante à la Boris Jelzin: Bolsonaro werde einen Rücktritt akzeptieren, wenn ihm und seinen Söhnen Amnestie zugesichert werde.

Vorerst schüttelt Bolsonaro aber weiter eifrig die Hände seiner fanatischen Anhänger*innen, umarmt und herzt sie und ruft zum Sturm auf Kongress und zur Auflösung des Obersten Gerichtshofs auf. Er versucht, seine Klientel treu zu bedienen und erklärte in der vergangenen Woche unter anderem Gottesdienste zu lebenswichtigen Dienstleistungen. Auch dieses Dekret wurde von der Justiz umgehend annulliert.

Der Präsident ist im verbalen Putschmodus, doch mittlerweile steht er politisch mit dem Rücken zur Wand, auch wenn die Unterstützung durch seine Anhänger*innen immer noch vergleichsweise hoch ist. Während nur noch 36 Prozent der Bevölkerung seine Regierung für gut erachten, so halten immerhin 56 Prozent derjenigen, die ihn 2018 gewählt hatten, Bolsonaros (Nicht-)Politik in Bezug auf Corona für gut. Auch erschreckend große Anteile der Militärpolizei und des Militärs halten ihrem Hauptmann die Treue.

Gleichzeitig steigen die Zahlen der Verbreitung des Corona-Virus auf 4.661 Infizierte und 165 Tote (Stand 30. März). Dabei dürfte die Dunkelziffer deutlich höher liegen, denn auch in Brasilien wird kaum getestet. Angesichts des katastrophalen Umgangs des Präsidenten mit der Pandemie wird zunehmend klarer, dass eine Regierung aus rechtsradikalen Populisten, evangelikalen Eiferern und martialischen Militärs soeben dabei ist, Brasilien vollends gegen die Wand fahren zu lassen.

„Ihre Regierung ist vorbei“- diese Worte musste sich Jair Bolsonaro in aller Öffentlichkeit anhören. Ein Video der Szene machte bereits Mitte März Furore in den sozialen Netzwerken in Brasilien. Bolsonaro stand vor seinem Regierungspalast und tat so, als würde er den Satz nicht verstehen. Aus einer Gruppe vor dem Gebäude sprach ein Migrant aus Haiti diese gleichsam prophetischen Worte, die sich immer deutlicher als Möglichkeit abzeichnen, auch wenn das Danach nicht unbedingt besser sein wird.

Ein auf Bolsonaro nachrückender General Hamilton Mourão, der derzeit meist mephistophelisch in sich hinein grinsende Vizepräsident in Brasília, böte wenig gute Aussichten. Am 31. März, dem Tag des Militärputsches von 1964, sagte er, vor 56 Jahren habe das Militär in die Politik eingreifen müssen, „um die Unordnung, Subversion und Korruption zu bekämpfen“.


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PIÑERA RÜSTET AUF


(Foto: Germán Andrés Rojo Arce)

„Nie wieder“, zitierte Präsident Sebastián Piñera am Internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember den ehemaligen Präsidenten Patricio Aylwin nach Diktaturende 1990: „Nie wieder Angriffe auf die menschliche Würde, nie wieder Hass und Gewalt unter Chilenen!“. Diese mahnenden Worte müssten auch 30 Jahre später präsent sein, so Piñera vor versammelter Presse. Derweil ergab sich auf der durch die Demonstrierenden performativ umbenannten Plaza de la Dignidad (Platz der Würde, ehemals Plaza Italia), dem zentralen Versammlungsort der Proteste, ein völlig anderes Bild: Carabineros schossen mit Tränengaskartuschen auf die Köpfe der Protestierenden und verletzten dabei mindestens zwei Menschen lebensgefährlich, darunter ein 15-jähriges Mädchen.

Mindestens 350 Menschen wurden am Auge verletzt

Seit dem Beginn der Proteste Mitte Oktober sind die Menschenrechtsverletzungen durch Militär und Polizei allgegenwärtig. Dass es sich dabei um ein systematisches Vorgehen handelt, bescheinigen diverse Menschenrechtsorganisationen: „Die Absicht der chilenischen Sicherheitskräfte ist klar: diejenigen zu verletzen, die demonstrieren, um Proteste zu verhindern, bis hin zur Anwendung von Folter und sexueller Gewalt gegen Demonstranten“, sagte Erika Guevara Rosas von Amnesty International auf einer Pressekonferenz. Auch die UN-Beobachtungskommission sowie Human Rights Watch konstatieren in ihren Berichten schwere Menschenrechtsverletzungen, einschließlich schwerwiegender Misshandlungen wie brutale Schläge, sexueller Missbrauch und einzelne Fälle von Scheinhinrichtungen, sowie einen wahllosen und unsachgemäßen Einsatz von Anti-Riot-Waffen in unzähligen Fällen. General Enrique Bassaletti, Oberkommandierender der Carabineros des östlichen Abschnitts der Hauptstadtregion, rechtfertigte dies mit einer historisch aufschlussreichen Diagnose: „Die chilenische Gesellschaft ist an Krebs erkrankt. Und während einer Chemotherapie werden gute und schlechte Zellen getötet.“ Dieses Statement erinnert an Ex-Diktator Pinochet, der seinerzeit davon sprach, das „marxistische Krebsgeschwür“ auszurotten.

Die politische Elite versucht die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verteidigen

Im Zuge dieser „staatlich angeordneten Chemotherapie“ wurden mindestens 350 Menschen durch gezielte Schüsse mit sogenannten Gummigeschossen, die laut einer Studie der Universität Chile vor allem Mineralien und Schwermetalle wie Blei enthalten, am Auge verletzt. Mehr als 20 von ihnen haben ein oder beide Augen verloren. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission berichtet Anfang Dezember von 26 Toten (mindestens fünf durch Schüsse der Sicherheitskräfte), mehr als 20.000 Festnahmen und mindestens 11.000 Verletzten. Dennoch betont Piñera in seinen Fernsehansprachen und bei internationalen Auftritten immer wieder, dass das Vorgehen der Sicherheitskräfte allein dem Kampf gegen Gewalt und Zerstörung diene und bei der Wiederherstellung von Recht und Ordnung selbstverständlich die Menschenrechte sowie alle entsprechenden Protokolle respektiert würden. Das allerdings scheint sogar die chilenische Staatsanwaltschaft anders zu sehen: Sie ermittelt wegen Menschenrechtsverletzungen in 2.670 Fällen.

nstatt auf die legitimen Forderungen der Bürger*innen nach tiefgreifenden Veränderungen zu reagieren, versucht die politische Elite des Landes, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verteidigen, die die Mehrheit der Bevölkerung heute eindeutig ablehnt. Dafür scheinen viele Mittel recht: Zuletzt häuften sich Berichte von Hautausschlägen und Verätzungen nach dem Kontakt mit Wasser aus den Wasserwerfern. Dies wird vom Berufsverband der Ärzt*innen, dem Colegio Médico, auf Chemikalien im Wasser zurückgeführt. Die Mediziner*innen berichten außerdem vom Einsatz verbotener Gase. Demnach versprühen spezielle Fahrzeuge der Polizei ein grünes Gas, das Leberfunktionsstörungen verursacht und ein gelbes Gas, das zu 27 Prozent aus Arsen besteht und tödlich sein kann. Im Einsatz sind zudem Bomben aus gemahlenen Glassplittern, die eine Wundheilung verhindern und spezielle Granaten, die Demonstrierende beeinträchtigen sollen, indem sie sie blenden und das Gehör schädigen.

Die Regierung räumt Verfehlungen einzelner Polizist*innen ein, will von systematischen Verbrechen jedoch nichts wissen. Stattdessen lobt Piñera den mutigen Einsatz der Carabineros, wann immer sich eine Gelegenheit bietet, erhöhte ihr Gehalt und verlieh ihnen Orden. Außerdem stockte er das Polizeikontingent um fast 5.000 zusätzliche Polizist*innen auf, die er aus Pensionären und Auszubildenden rekrutierte. Zudem kündigte er ein Gesetz an, mit dem das Militär in Zukunft „für den Schutz kritischer Infrastruktur“ eingesetzt werden kann, ohne dass dafür die Verhängung eines Ausnahmezustandes notwendig ist. Im Klartext bedeutet dies, dass das Militär in Zukunft nahezu beliebig gegen die sozialen Proteste eingesetzt werden kann.

(Foto: Germán Andrés Rojo Arce)

Der Diskurs von Sicherheit, Ordnung und Wahrung der Menschenrechte wird auf den Straßen täglich ad absurdum geführt. Aber auch auf legislativer Ebene wird deutlich, welchen Kurs die Regierung – und ein Großteil der parlamentarischen Opposition – wirklich eingeschlagen haben. Es wurden bereits mehre Gesetzesinitiativen eingebracht, die ganz eindeutig darauf zielen, den Repressionsapparat auszubauen – und die von Rechts wie Links Unterstützung erfahren haben. So zum Beispiel das „Anti-Plünderungs-Gesetz“. Mit Plünderungen hat dieses allerdings wenig zu tun, vielmehr geht es um die Kriminalisierung bestimmter Protestformen. Vorgesehen sind etwa Haftstrafen zwischen 541 Tagen und fünf Jahren für das Werfen von Steinen und anderen Objekten, für das Aufstellen von Barrikaden oder für die „Unterbrechung bestimmter strategischer Dienstleistungen“, wie Transport, Elektrizität, Kommunikation oder medizinische Versorgung. Streiks, zum Beispiel im Gesundheitswesen, könnten demnach als Verbrechen betrachtet und mit entsprechenden Haftstrafen belegt werden. Ebenso wie das Besetzen von Metro-Stationen – wie Mitte Oktober, als die Schüler*innen gegen die Fahrpreiserhöhung protestierten und damit die Großproteste im ganzen Land erst auslösten – oder landwirtschaftlichen Flächen, was sich gegen die Mapuche richtet. Für solche kollektiven Aktionen von Gruppen „von zwei oder mehr Personen“, sieht der Gesetzentwurf automatisch die Höchststraße von fünf Jahren für die Teilnehmenden vor, sofern diese Gruppe die strafbare Handlung „wiederholt begeht und es sich nicht um eine illegale Vereinigung handelt“.

Das Interesse an der Beibehaltung des Status Quo ist parteiübergreifend groß. 127 Abgeordnete votierten für das „Anti-Plünderungs-Gesetz“, 13 enthielten sich und nur sieben stimmten dagegen. Auch die linken Abgeordneten des Parteienbündnisses Frente Amplio, Gabriel Boric und Giorgio Jackson, votierten bei der Abstimmung im Abgeordnetenhaus für das Gesetz. Nach massiver Kritik räumten sie ein, dass dies ein Fehler gewesen sei: Sie hätten gehofft, dadurch größeren Einfluss auf den endgültigen Gesetzestext zu gewinnen.

Die primera línea, ausgestattet mit Helmen, Gasmasken, Steinen und bunten Schildern, hält die Polizei auf Abstand zu den großen Demonstrationen

Ebenfalls im Gesetzgebungsverfahren befindet sich das „Anti-Vermummungs-Gesetz“. Darin vorgesehen sind sofortige Festnahmen und 541 Tage bis drei Jahre Haft für Personen, die bei „Störung der öffentlichen Ordnung“ ihr Gesicht verbergen. Der Senat, in dem die Mitte-Links-Parteien der Opposition die Mehrheit haben, stimmte Ende November für den Gesetzesvorschlag. In großen Teilen der Protestbewegung genießen die encapuchados, die Vermummten, hingegen viel Anerkennung und Unterstützung. Die primera línea – der erste Block – besteht aus meist jungen Menschen aller sozialer Schichten, die ausgestattet mit Helmen, Gasmasken, Steinen und bunten Schildern in die Auseinandersetzung mit der Polizei gehen. Für sie und viele Demonstrant*innen ist das kein Verbrechen, sondern vielmehr eine Aufgabe: Die Polizei möglichst auf Abstand zu den großen Demonstrationen zu halten, damit diese vor Repression geschützt sind und überhaupt stattfinden können.

Der mittlerweile entlassene Innenminister Andrés Chadwick wurde Mitte Dezember wegen Menschenrechtsverbrechen zur Verantwortung gezogen. Der Kongress stimmte der Verfassungsbeschwerde zu, die die Opposition gegen Chadwick eingelegt hatte. Er darf nun fünf Jahre lang kein politisches Amt mehr bekleiden. Die Verfassungsbeschwerde gegen Präsident Piñera wurde vom Abgeordnetenhaus hingegen mit knapper Mehrheit abgelehnt. Klar ist jedoch, dass Piñera kaum noch Rückhalt in der Bevölkerung genießt. Die Zustimmungswerte liegen laut der Umfrage Pulso Ciudadano derzeit bei 4,6 Prozent. Sein Rücktritt ist eine zentrale Forderung der Protestbewegung, doch es sieht nicht so aus, als würde er ihr nachkommen. Stattdessen klammert er sich an die Macht – mit Repression gegen seine Gegner*innen, Symbolpolitik, Geschenken an sein Klientel, z.B. an Unternehmen, die durch die Proteste wirtschaftliche Einbußen erfahren haben, und seinem wahrscheinlich cleversten Schachzug: dem Abkommen mit der Opposition zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung.

Das Abkommen zur Bildung eines Verfassungskonvents könnte ein trojanisches Pferd sein

Mitte November einigte sich die Regierung mit den Oppositionsparteien – mit Ausnahme der Kommunistischen Partei und einiger kleiner linker Parteien – auf die Bildung eines Verfassungskonvents. Eine neue Verfassung gehört zu den Hauptforderungen der Protestbewegung, denn die aktuell gültige Magna Charta stammt aus Diktaturzeiten und ist das Fundament des neoliberalen Modells, dessen Auswirkungen die maßgeblichen Gründe für den Protest sind. Laut dem Abkommen soll die Bevölkerung bei einem positiven Ausgang einer für April geplanten Volksabstimmung im Oktober einen Verfassungskonvent wählen, der innerhalb maximal eines Jahres eine neue Verfassung erarbeiten soll.


(Foto: Diego Reyes Vielma)

Was zunächst von vielen als Erfolg der Protestbewegung interpretiert wurde, könnte sich als trojanisches Pferd entpuppen. Denn das zwischen den etablierten Parteien hinter verschlossenen Türen ausgehandelte Abkommen birgt einige Risiken. In dem Plebiszit im April soll darüber entschieden werden, wie der Verfassungskonvent zusammengesetzt sein soll: entweder zu 100 Prozent aus gewählten Delegierten oder zu 50 Prozent aus Abgeordneten im Amt. Nur die erste Option entspräche dem Charakter einer verfassungsgebenden Versammlung, wie sie die Bevölkerung fordert. Offenbar erhoffen sich die Parteien jedoch, das Ruder noch herumdrehen zu können. Sollte der Verfassungskonvent am Ende tatsächlich zur Hälfte aus amtierenden Politiker*innen bestehen, ist die Abkehr vom aktuellen System unwahrscheinlich – daran haben die Parteien kein Interesse, denn sie gehören zum kleinen Teil der chilenischen Gesellschaft, der davon profitiert. Selbst bei 100 Prozent gewählten Delegierten werden vermutlich Parteipolitiker*innen die Versammlung dominieren, denn das Wahlrecht erschwert die Teilnahme unabhängiger Kandidat*innen. Eine Dominanz von Parteipolitiker*innen könnte jegliche Veränderung im Keim ersticken, denn das Abkommen legt fest, dass alle Artikel der neuen Verfassung von einer Zweidrittelmehrheit im Verfassungskonvent angenommen werden müssen – damit haben sich die Parteien de facto ein Vetorecht eingeräumt.

Im Abkommen über den Prozess zu einer neuen Verfassung ist weder Geschlechterparität vorgesehen, noch die Beteiligung der indigenen Völker

Doch das Abkommen hat noch weitere Defizite, vor allem in Fragen der Repräsentation. Es ist weder eine Geschlechterparität vorgesehen, noch die Beteiligung der indigenen Völker. Dabei sind sowohl die feministische Bewegung, als auch die Mapuche-Bewegung zentrale Akteure der Proteste. Die Mapuche-Flagge ist auf den Demonstrationen mindestens so präsent wie die chilenische, und viele Chilen*innen solidarisieren sich mit den Forderungen nach Land und verfassungsmäßiger Anerkennung als Volk. Damit sich dies auch in der neuen Verfassung niederschlägt, fordert die Mapuche-Bewegung eine anteilige Repräsentation in der verfassungsgebenden Versammlung. Davon ist in dem Abkommen keine Rede. „Die große Mehrheit der politischen Klasse will nicht, dass unsere Völker Teil der neuen Verfassung sind. Für Gerechtigkeit und Repräsentation brauchen wir aber einen plurinationalen Staat, der auch unsere territorialen Rechte garantiert“, so Teresa Boroa, Repräsentantin der Mapuche-Gemeinde in Boyeco, gegenüber LN. Die Mapuche-Gemeinden im Süden des Landes kämpfen seit vielen Jahren um Land und Anerkennung und kritisieren ebenso lange die sozialen und ökologischen Auswirkungen des neoliberalen Wirtschaftssystems. Die Mehrheit der chilenischen Bevölkerung erfährt seit einigen Wochen, was es bedeutet, gegen das herrschende System zu protestieren – in den Mapuche-Gemeinden war Polizeigewalt und juristische Verfolgung immer präsent.
Auch die feministische Bewegung hat in den letzten Wochen eindrückliche Bilder produziert, die in den sozialen Medien um die Welt gingen. Tausende Frauen nahmen gemeinsam an den Performances des Kollektivs LasTesis teil, die auf die patriarchale Gewalt durch den Staat aufmerksam machen. Die Performance „Un violador en tu camino“ (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) wird seitdem von Frauen in verschiedensten Ländern adaptiert, unter anderem in der Türkei, Kolumbien, den USA, Kenia, Spanien, Deutschland, Frankreich und Mexiko. In Chile fügen sich die Feminist*innen ebenso in die Proteste ein wie Mapuche und Umweltaktivist*innen. „Der Feminismus schließt sich diesen Forderungen vollständig an“, sagte Paula von LasTesis im Interview mit LN. „Es ist ein Irrtum, die Forderungen nach höheren Renten, einem öffentlichen Bildungs- und Gesundheitssystem davon zu trennen. Der Feminismus fordert einen Wandel eben dieser Bereiche der Reproduktion des täglichen Lebens“, so die Aktivistin.

Dass es bei den Protesten um einen grundsätzlichen Wandel der chilenischen Gesellschaft geht, will die Regierung nicht akzeptieren. Auf die sozialen Forderungen antwortet sie und das Parlament mit Symbolpolitik, z.B. mit minimalen Erhöhungen von Mindestlohn und -rente, Einmalzahlungen an einkommensschwache Haushalte, oder der Senkung der Bezüge für die Abgeordneten. „Die Regierung versucht die Proteste auf materielle Themen zu reduzieren und weigert sich zu verstehen, dass die Menschen in den Versammlungen und Räten nicht nur über Gehälter sprechen, sondern auch über die Umwelt und die Entprivatisierung der Wasserversorgung. Sie sprechen von Parität, sie sprechen von Feminismus, sie sprechen von indigenen Völkern, von Pluralität“, meint auch Lucio Cuenca, Vorsitzender der Lateinamerikanischen Beobachtungsstelle für Umweltkonflikte (OLCA) gegenüber LN.

Am 15. Dezember sollen von fast allen Kommunen Befragungen zur neuen Verfassung durchgeführt werden. Anders als bei dem in Hinterzimmern ausgehandelten Abkommen, ist eine breite Beteiligung über die lokalen Bürger*innenkomitees geplant, die sich im Zuge der Proteste landesweit gebildet haben. Dort sollen auch Fragen zu den strittigen Punkten, wie der Beteiligung von Indigenen und Unabhängigen, gestellt werden. Die Ergebnisse lagen zum Redaktionsschluss noch nicht vor. Inwiefern diese vom Verfassungskonvent überhaupt in irgendeiner Weise berücksichtigt werden, ist jedoch noch völlig unklar.

Die Präsidentschaft von Piñera endet erst im März 2022. Bis zum Verfassungs-Plebiszit im April wird es also darauf ankommen, die Proteste und Forderungen aufrecht zu erhalten. In den letzten zwei Monaten ist das der chilenischen Bevölkerung gelungen – trotz der Versuche der Regierung, die Bewegung durch massive Repression und Symbolpolitik zu schwächen. Ob Chile 2021 eine Verfassung erhält, die mit der Ungleichheit und schlechten Lebensbedingungen für die Mehrheit der Bevölkerung aufräumt, bleibt indes unsicher. Vor allem, weil unklar ist, zu welchen Maßnahmen die Regierung noch bereit sein wird, wenn es darum geht, die Proteste mit Gewalt zu zerschlagen. Das aktuelle Gebaren der Sicherheitskräfte und die geplanten Repressionsgesetze verheißen diesbezüglich nichts Gutes.


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WENN DER STAAT MORDET

Falsch abgebogen Viele Soldat*innen folgen dem Rechtskurs des Präsidenten (Foto: Celine Massa, flickr.com CC BY-NC 2.0)

Ángela Gaitán Pérez war erst zwölf Jahre alt, als sie Ende Juli durch den FARC-Dissidenten-Anführer alias Gildardo Cucho zwangsrekrutiert wurde und zwei Monate später in einem Luftangriff auf ein FARC-Lager starb. Sie war die Jüngste der geschätzten acht bis achtzehn Minderjährigen zwischen 12 und 17 Jahren, die in der Nähe der Ortschaft Aguas Claras II, einem Vorort von San Vicente del Caguán im Verwaltungsbezirk Caquetá, unter dem Bombenhagel der kolumbianischen Armee starben.

„Minister, Sie haben verschwiegen, dass Kinder bombardiert wurden.“

In der Operation vom 30. August 2019, die laut einem Kommuniqué der kolumbianischen Armee „legitim, legal und im Einklang mit dem Völkerrecht stand“, wurde ‚Gildardo Cucho‘ ermordet. Einen Tag zuvor war ‚Cucho‘ neben dem FARC-Anführer Iván Márquez in einem Video zu sehen gewesen, in welchem die Wiederbewaffnung der FARC verkündet wurde. Die Regierung feierte zunächst den erfolgreichen Militärschlag gegen die wiederbewaffneten FARC-Kämpfer*innen und gab der Öffentlichkeit lediglich preis, dass bei dem Luftangriff „14 Straftäter starben“. So behauptete es der damalige Verteidigungsminister Guillermo Botero.

Erst am 5. November, als der Senator Roy Barreras der Partei Cambio Radical (CR) dem Senat die gerichtsmedizinische Untersuchung des Militäreinsatzes offenlegte, wurde das Ausmaß des in Kauf genommenen Schadens offensichtlich.

„Minister, Sie haben Kolumbien verschwiegen, dass an dem Tag sieben und vielleicht vier weitere Kinder bombardiert wurden. Denn die Beweise der Gerichtsmedizin zeigen, dass vier weitere Körper so zerschmettert waren, dass man nur feststellen konnte, dass sie jünger als 20 Jahre alt waren“, so der Senator der Partei Partido Social de Unidad Nacional (Partido de la U) am 6. November in der Senatssitzung über den Misstrauensantrag gegen Guillermo Botero. Noch bevor über den Antrag abgestimmt werden konnte, kündigte der Verteidigungsminister seinen Rücktritt an. Er wurde von Außenminister Carlos Holmes Trujillo ersetzt – ebenfalls ein Hardliner.

Zwei Monate nach der Bombardierung in Caquetá besuchte der unabhängige Nachrichtensender Noticias Uno den Ort des Geschehens und fand dort unter anderem eine Bombe, die nicht explodiert war. Neben dem 15 Meter breiten Einschlag wurden weitere Körperteile gefunden. Gegenüber Noticias Uno berichtete die Gemeinde, dass zehn weitere Kinder verschwunden seien. Augenzeug*innen berichteten zudem, dass einige Kinder, die den Angriff überlebten, von der Armee verfolgt und anschließend getötet wurden.

„Wovon sprichst du Alter?“

„Wovon sprichst du Alter?“, antwortete der Präsident Iván Duque auf die Bitte eines Journalisten sich zu den Bombardierungen zu positionieren. Zwar behauptete Duque, die Frage des Journalisten von der Zeitung El Heraldo nicht gehört zu haben, doch die Ignoranz des Präsidenten hat die Proteste im Land erneut befeuert. Dass sich in dem Lager Kinder aufhielten, hätte die Armee wissen müssen. Es wurde schlicht ignoriert. Herner Carreño, der Vertreter der Nachbargemeinde Puerto Rico, hatte Monate vor der Bombardierung öffentlich gewarnt, dass in der Gegend einige Kinder zwangsrekrutiert wurden. Kurz darauf erhielt Carreño die ersten Morddrohungen.

Entscheidend für die Aufklärung dieser und anderer Militäroperationen im Jahr 2019 ist die Frage, was der damalige Verteidigungsminister darüber erfahren hat – und wann. „Denn dies geht über die politische Verantwortung hinaus, die nach einem Rücktritt gelöst ist, hier geht es um strafrechtliche Haftung“, sagt José Emiliano Vivanco, Leiter der Lateinamerikaabteilung von Human Rights Watch im Interview mit der Radiosender RCN. „Ich glaube, dass die militärische Führung Rechenschaft ablegen muss, insbesondere der Heeresführer Nicacio Martínez Espinel“, so Vivanco.

„Es geht um strafrechtliche Haftung“

Entscheidend für die Rückkehr des Verteidigungsministeriums der Regierung Duque zu einer kriegerischen Politik war die kontroverse Beförderung von neun hochrangigen Generälen. Gegen diese wird zurzeit wegen der Ermordung von Zivilist*innen ermittelt, darunter gegen den jetzigen Befehlshaber der Armee Nicacio Martínez, unter dessen Befehl zwischen den Jahren 2000 und 2010 75 unschuldige Zivilist*innen ermordet worden waren.Vor diesem Hintergrund wirken die jüngsten Morde der kolumbianischen Armee unter Nicacio Martínez kaum überraschend. In einem in der New York Times

veröffentlichten Enthüllungsartikel sprach der Journalist Nicholas Casey mit hochrangigen Militärs, die von einem Treffen Anfang 2019 berichteten, bei dem sie dazu aufgefordert wurden, die Anzahl von Morden und Verhaftungen zu erhöhen – koste es, was es wolle. Das Dokument, das die Offiziere nach dem Treffen unterzeichnen mussten, legt allen Offizieren nahe „Operationen auch mit einer Glaubwürdigkeit und Genauigkeit von 60 bis 70 Prozent durchzuführen“ und im Zweifel zu schießen. Das führt unweigerlich zu Menschenrechtsverletzungen, wie die Bombardierung in Caquetá zeigt. Zwar kündigte General Martínez an, den Befehl über die Verdoppelung der Angriffe zurückzuziehen, doch laut einem Bericht vom September 2019 über die Erfolge der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, stiegen die militärischen Auseinandersetzungen mit illegalen Gruppen um 82 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Nach der Veröffentlichung des Artikels in der New York Times wurde zudem bekannt, dass Militärangehörige unter Druck gesetzt wurden, um die Personen zu identifizieren, welche die Informationen an den Journalisten weitergegeben hatten. Die Mobiltelefone von Verdächtigen wurden abgehört, sie und ihre Familienangehörigen mit dem Tod bedroht. Innerhalb der staatlichen Kräfte soll eine Gruppe mit dem Titel „Operation Silencio“ gegründet worden sein, um die Kolleg*innen einzuschüchtern und zu verhindern, dass sie weitere Anzeigen melden. Nicholas Casey musste nach einer Welle von Morddrohungen Kolumbien verlassen.

Dass sich die Geschichte der Morde an Zivilist*innen wiederholen würde, hatte bereits der Regierungsplan von Präsident Iván Duque angekündigt. Darin wurde die sogenannte „Politik der demokratischen Sicherheit“ wieder zum Vorzeigeprojekt der Regierung gemacht. So wird die kriegerische Politik bezeichnet, die der Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez (2002-2010) etablierte und die darauf abzielte eine Atmosphäre öffentlicher Sicherheit zu schaffen um ausländische Investitionen anzulocken.

Die Ermordungen von Zivilist*innen durch die Armee häufen sich

Als falsos positivos (falsche Positive) wurden damals die Morde an Zivilist*innen bekannt, welche die staatlichen Streitkräfte ausführten um militärische Erfolge im Kampf gegen die Guerrillerxs präsentieren zu können. Mehr als 5.000 Bauern und Bäuerinnen, obdachlose und behinderte Menschen wurden im ersten Jahrzehnt des neuen Millenniums entführt, umgebracht und nach der Ermordung in Stiefel und Tarnkleidung gekleidet. Aufgrund eines perfiden Bonussystems wurden jene Soldat*innen mit Beförderungen, Urlaub oder Geld belohnt, die am meisten tote Guerrillerxs vorweisen konnten.

So geschehen am 22. April 2019, als der ehemalige FARC-Kämpfer Dimar Torres durch einen Soldaten in der Ortschaft Carrizal im Verwaltungsbezirk Nord-Santander an der Grenze zu Venezuela ermordet wurde. Dimar Torres war 39 Jahre alt und lebte seit drei Jahren als líder comunal (Führungspersönlichkeit der Gemeinde) und Bauer in Carrizal. Am Tag seines Todes fuhr er Motorrad, wobei er von einem Soldaten angehalten wurde. Ein Junge lief vorbei und begrüßte Dimar, der blass und verängstigt wirkte. Der Junge war die letzte Person der Gemeinde, die Dimar Torres lebend sah. Vier Mal wurde auf ihn geschossen. Als Soldat*innen sein Grab gruben, wurden sie von Ortansässigen überrascht und weggetrieben, da sie bereits das Schlimmste befürchteten als sie die Schüsse gehört hatten. Sie fanden den toten Dimar auf dem Bauch liegend, mit den Hosen auf Kniehöhe und dem Motorrad auf dem Leib. Zwischen Tränen und Schreien errichteten die Einwohner*innen ein Zelt und standen zehn Stunden Wache bis die Polizei eintraf.

Gegenüber den Medien behauptete der mittlerweile zurückgetretene Verteidigungsminister Botero, dass Dimar versucht hatte, dem Soldaten die Waffe zu entreißen und diese dabei abgefeuert wurde. Die Untersuchungen der Staatsanwaltschaft weisen jedoch darauf hin, dass der Mord an Dimar vom Oberstleutnant Jorge Armado Pérez Amézquita in Auftrag gegeben und in einer WhatsApp-Gruppe geplant worden war. „Der Typ muss nicht verhaftet werden, er muss ermordet werden“, schrieb der Oberst in der Gruppe, so geht es aus einer Kopie des Chatverlaufs hervor, der der Staatsanwaltschaft und der Zeitschrift Semana vorliegt. Demnach wollten sich die Soldat*innen wegen des Todes eines Kameraden durch eine Landmine rächen. Dimar Torres sollte der nationalen Befreiungsarmee (ELN), die in der Gegend aktiv ist, als im Kampf gefallener Guerillero präsentiert werden. Später bekannte sich der Soldat, der die Schüsse abfeuert hatte, zu dem Mord und wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt. Doch die FARC-Partei fordert, dass auch gegen den Befehlshaber ermittelt wird.

Denn die Ermordungen von Zivilist*innen durch die Armee häufen sich. Am Morgen des 18. Oktober 2019 hörten einige Einwohner*innen der Ortschaft Media Naranja im Gemeindebezirk Corinto des südlichen Verwaltungsbezirks Cauca einen Hubschrauber und Schüsse. Die indigene Schutzorganisation Guardia Indígena fand den leblosen Körper von Flower Trompeta in der Nähe der Finca seiner Großmutter mit einem Schuss im Hinterkopf und Anzeichen von Folter. Die Verletzungen wiesen nicht auf Kampfhandlungen, sondern auf eine gezielte Ermordung hin. Laut der Guardia Indígena sprach ein Militärangehöriger, der neben dem Toten stand, mit zwei weiteren in zivil gekleideten Personen. Letztere beschwerten sich: „Wo ist das Paket? Sie hätten den Körper schnell verschwinden lassen müssen. Jetzt wird uns die Gemeinde Probleme bereiten.“


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ES IST NOCH NICHT VORBEI

La marcha más grande de Chile Zur größten Demo Chiles kamen auf Santiagos Plaza Italia 1,5 Millionen Menschen zusammen (Fotos: Diego Reyes Vielma)

Wieder einmal waren es die Schüler*innen, die den Unmut der Gesellschaft auf die Straße brachten. Doch dieses Mal ging es nicht um die seit Jahren unerfüllte Forderung nach kostenloser Bildung, sondern um die jüngste Erhöhung der U-Bahn-Fahrpreise um 30 Pesos (umgerechnet etwa vier Cent). Die Schüler*innen nahmen diese zum Anlass, in organisierten Aktionen über die Drehkreuze zu springen, andere Fahrgäste zum Mitmachen zu animieren und U-Bahn-Stationen in der ganzen Stadt zu besetzen. „Evadir, no pagar – otra forma de luchar“ hallte es aus den Stationen: „Umgehen, nicht bezahlen – eine andere Art zu kämpfen.“
Die Regierung reagierte mit Repression, schickte die Polizei und ließ Schüler*innen verhaften. Angesichts der brutalen Gewalt, mit der die Polizei dabei vorging, schlossen sich viele Fahrgäste den Protesten an. Das U-Bahn-­­­­­Unternehmen schloss daraufhin nach und nach alle Stationen in der Stadt und legte damit den öffentlichen Nahverkehr lahm. Doch die Wut der Menschen, die nun irgendwo in der 6-Millionen-Metropole gestrandet waren, richtete sich nicht gegen die Schüler*innen. Überall durchbrachen Menschenmassen stattdessen die Absperrungen an den Eingängen der U-Bahn-Stationen und beteiligten sich an den Besetzungen. Am 18. Oktober eskalierte die Situation, 25 U-Bahn-Stationen gingen in Flammen auf. Auch an anderen Orten der Stadt formierten sich Proteste, Barrikaden wurden errichtet, Busse und Gebäude in Brand gesetzt, Supermärkte geplündert – nicht immer von den Protestierenden, wie sich herausstellte. Diverse Videos zeigen, wie Polizist*innen Brände legen, oder Plasmafernseher in Polizeiautos laden. Die Staatsanwaltschaft bestätigte erst kürzlich, dass viele der Feuer in U-Bahn-Stationen in für die Protestierenden unzugänglichen Bereichen ausgebrochen waren, was die Vermutung stärkt, dass sie absichtlich gelegt wurden, um die Proteste zu diffamieren.

Es sind nicht 30 Pesos, es sind 30 Jahre

Es mag verwunderlich klingen, dass eine Erhöhung um vier Cent eine dermaßen breite Protestbewegung in Gang setzt, doch für einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung ist die Grenze des Ertragbaren damit endgültig überschritten. Etwa ein Viertel der chilenischen Erwerbstätigen verdient nicht mehr als den monatlichen Mindestlohn von umgerechnet etwa 360 Euro für eine 45-Stunden-Woche. Diese Menschen müssen schon jetzt ganze 20 Prozent ihres Einkommens für Transportkosten aufwenden. Zwei Drittel der Erwerbstätigen verdient weniger als umgerechnet 600 Euro monatlich, auch da machen vier Cent pro Fahrt einen realen Unterschied. Doch es geht um mehr: „Es sind nicht 30 Pesos, es sind 30 Jahre“, wird die demonstrierende Bevölkerung nicht müde zu betonen.
30 Jahre sind vergangen seit dem Ende der Militärdiktatur von Augusto Pinochet. 30 Jahre, in denen es keine demokratisch gewählte Regierung, ob links oder rechts, vermochte, am von Pinochet installierten neoliberalen System zu rütteln. Nun haben die meisten Chilen*innen genug. Genug von einer Gesellschaft, in der das reichste Prozent über 30 Prozent des Vermögens verfügt, während die Hälfte der Bevölkerung gerade einmal zwei Prozent unter sich aufteilt. Genug von einem Bildungssystem, in dem Studieren für die meisten Verschuldung bedeutet. Genug von einem Gesundheitssystem, in dem sich nur Reiche eine gute Behandlung leisten können. Genug von einem Rentensystem, das Menschen nach Jahrzehnten harter Arbeit mit 200 Euro dastehen lässt, die nicht einmal für Medikamente reichen. Und genug von einer politischen Elite, die auf die Forderungen nach Reformen immer nur mit kosmetischen Veränderungen reagiert, weil sie zum obersten Prozent gehört, das von dieser Ausbeutung profitiert.

Chile Despertó Chile ist aufgewacht – und wie. Die Auseinandersetzungen mit der Polizei sind teils heftig

Auch dieses Mal reagierte der rechtskonservative Präsident Sebastián Piñera statt mit substanziellen Zugeständnissen mit Diffamierung und Gewalt. Am 19. Oktober verkündete er den Ausnahmezustand, verhängte eine nächtliche Ausgangsperre und schickte das Militär auf die Straßen – Zustände wie zuletzt während der Militärdiktatur. Bei Menschen, die diese Zeit miterlebt haben, weckten die Bilder von Soldat*innen und Panzern im Zentrum Santiagos dunkle Erinnerungen. Dennoch wurden die Proteste im Laufe der folgenden Tage immer größer und breiteten sich wie ein Lauffeuer über das ganze Land aus. Als die Regierung ankündigte, die Fahrpreiserhöhung zurückzunehmen, war es für solche Angebote bereits zu spät.
Piñera verkündete, man befinde sich „im Krieg gegen einen mächtigen, unerbittlichen Feind, der nichts und niemanden respektiert und bereit ist, Gewalt und Kriminalität ohne Grenzen anzuwenden.“ Militär und Polizei verstanden das offenbar als Aufforderung. Videos im Netz zeigen die Brutalität, mit der sie während des Ausnahmezustandes im ganzen Land versuchten, die Proteste zu zerschlagen: Wahllos um sich schießende, prügelnde und folternde Soldat*innen und Polizist*innen, illegale Festnahmen von Anführer*innen der Studieren­den­bewegung, der exzessive Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern gegen friedliche Demos.

Mehrere Tote durch Militär und Polizei


Mindestens 150 Personen haben durch Gummigeschosse ein Auge verloren. Das Fazit des Nationalen Menschenrechtsinstituts (INDH) nach drei Wochen: 1.915 in Krankenhäusern behandelte Verletzte, 5.565 Festnahmen, 171 Anzeigen wegen Folter, 52 wegen sexualisierter Gewalt, fünf wegen Mordes. Insgesamt sind im Zuge der Proteste mindestens 23 Menschen ums Leben gekommen. Die Regierung bestätigte mindestens fünf durch Soldat*innen ode Polizist*innen getötete Personen, zwei weitere Menschen starben in Polizeigewahrsam. Von den meisten anderen Todes­opfern heißt es von offizieller Seite, sie wären bei Bränden im Zuge von Supermarktplünderungen ums Leben gekommen, mindestens eine der Leichen wies jedoch Schuss­verletzungen auf.

Die Regierung verbreitet Verschwörungstheorien

In den ersten Tagen der Proteste konzentrierte sich die Regierung darauf, die Proteste als kriminelle und von Venezuela orchestrierte Aktionen zu diffamieren. Die Hauptziele der anfänglichen Proteste, so Innenminister Andrés Chadwick, Cousin des Präsidenten und Pinochet-Anhänger der ersten Stunde, sei es gewesen, „zuerst unseren Nahverkehr zu zerstören und dann der Nahrungsmittelversorgung zu schaden.“ Die Bevölkerung ließ sich von solchen Verschwörungstheorien jedoch nicht beeindrucken – die Bilder von der plündernden und brandstiftenden Polizei sowie der brutalen Gewalt gegen friedliche Proteste hatten sich längst verbreitet. Auf den Vorwurf, für Tote und Menschenrechtsverletzungen verantwortlich zu sein, reagierte Chadwick mit Zurückweisung: „Ich habe keinerlei politische Verantwortung für diese Situation“, sagte er gegenüber dem Fernsehkanal Mega.
Wer die Proteste in den ersten Tagen medial verfolgen wollte, merkte schnell, dass auch das chilenische Mediensystem Teil des neoliberalen Apparats ist, gegen den die Menschen protestieren. Die großen Fernsehsender Chilevisión, Mega und Canal 13 berichteten vor allem über die gewalttätige Seite der Proteste – brennende U-Bahn-Stationen, Plünderungen und angebliche Schlangen vor den Supermärkten. Über die Großdemonstrationen im ganzen Land berichteten sie, wenn überhaupt, nur mit deutlicher Zeitverzögerung. Keine große Über­raschung, denn die Berichterstattung wird zu weiten Teilen von einigen Medienkonzernen im Besitz superreicher Familien kontrolliert – genau jener superreicher Familien, gegen die derzeit protestiert wird. Der TV-Sender Canal 13 etwa gehört zu 100 Prozent dem Milliardär Andrónico Luksic, dessen Familie mit Forst- und Kupferunternehmen sowie Bankgeschäften ihr Geld gemacht hat. Die Tageszeitung La Tercera gehört dem Unternehmer Álvaro Saieh, viertreichster Chilene, Investmentbanker und von der Chicagoer Schule beeinflusster Wirtschaftswissenschaftler („Chicago Boy“). Und an dem TV-Sender Chilevisión, heute Teil von Time Warner, war Präsident Piñera – selbst Multimilliardär – bis zu seinem ersten Amtsantritt 2010 höchstpersönlich beteiligt. Auch der staatliche Fernsehsender TVN schloss sich der tendenziösen Berichterstattung an.

         Schlachtefeld Santiago Überall in der Stadt brennende Barrikaden…

Doch auch internationale Journalist*innen konnten ihrer Berichterstattung über die Proteste nicht ungehindert nachgehen. Verschiedene Medien berichteten von Polizeigewalt, Festnahmen und Schüssen auf Medienvertreter*innen. Die New York Times veröffentlichte jüngst ein Video, in dem zu sehen ist, wie ein Soldat einem Fotografen ins Bein schießt. Das argentinische Onlinemedium ANRed berichtete von drei Journalisten, die noch am Flughafen von chilenischen Sicherheitsbehörden aufgehalten und ohne rechtliche Begründung mehrere Stunden eingesperrt worden waren. La Izquierda Diario berichtet von zwei Journalistinnen, die sich vor Polizeibeamten in Arica ausziehen mussten. Das INDH hat in diesem Fall inzwischen Klage wegen Folter eingereicht.
Organisationen wie Reporter ohne Grenzen beobachten die Entwicklung mit Sorge. Umso wichtiger waren in den letzten Wochen die sozialen Medien, über welche sich Fotos und vor allem Videos von den Demonstrationen sekundenschnell und international verbreiteten. Auch die Gewalt von Polizei und Militär wurde auf Facebook und Twitter deutlich – anders als in den meisten nationalen und internationalen Medien. Die Tagesschau berichtete in Deutschland zwar von den Protesten, übernahm aber die Bilder und den Diskurs vom Vandalismus und ließ gleichzeitig unerwähnt, dass das Militär bereits Menschen erschossen hatte – obwohl dies bereits von der chilenischen Regierung bestätigt war. Die Echtheit vieler Videos im Netz ist schwer zu verifizieren, in ihrer Gesamtheit und eingeordnet in die sonstige Berichterstattung, geben sie doch ein recht eindeutiges Bild der Geschehnisse ab. Zahlreiche Videos dokumentieren die Gewalt der Carabineros und Militärs – etwa wie ein scheinbar lebloser Körper aus einem fahrenden Polizeitransporter geworfen wird, oder wie Militärs mit vorgehaltener Waffe nackte Menschen Kniebeugen machen lassen.
Doch auch die schöne Seite des Protests wird in den sozialen Medien sichtbar: Etwa die „Marcha más grande de Chile“, Chiles größte Demonstration aller Zeiten mit sechs Millionen Protestierenden im ganzen Land. Oder die nachbarschaftlichen cacerolazos während der Ausgangsperre: überall schallt am Abend das gemeinsame Schlagen von Töpfen und Pfannen aus den Häusern und Apartments der Städte. Das Teatro Municipal beschallte das nächtliche Santiago aus Protest gegen die Ausgangsperre und die Gewalt mit „El derecho de vivir en paz“ von Victor Jara. Das Lied hat sich mittlerweile zu einer Hymne der Proteste entwickelt, Videos zeigen den ergreifenden Moment, als es auf einer Demo von hunderttausenden Menschen gesungen wird.

¡Renuncia Piñera! – Piñera, tritt zurück!

Den Ausnahmezustand hat die Regierung nach neun Tagen aufgehoben. Mittlerweile sieht sie sich gezwungen, Zugeständnisse zu machen. Piñera kündigte eine „Neue Sozialagenda“ an und ersetzte Innenminister Chadwick sowie sieben weitere Kabinettsmitglieder. Doch weder diese Maßnahme noch die angekündigte Erhöhung des Mindestlohns von 360 auf 420 Euro, die Anhebung der Mindestrente von 130 auf 160 Euro, oder die Verbilligung von Medikamenten, konnten die Proteste stoppen. Das gleiche gilt für die Senkung der Abgeordnetenbezüge und eine Steuererhöhung für Monatseinkommen über 10.000 Euro.
Die Themen und Akteure der Proteste sind vielfältig, eine*n Anführer*in gibt es nicht – doch die beiden Hauptforderungen sind klar: Der Rücktritt Piñeras und eine neue Verfassung. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CADEM von Anfang November lag der Rückhalt für Piñera bei historisch schlechten 13 Prozent.
Derweil sprachen sich 87 Prozent der Befragten für eine neue Magna Charta aus – denn in der aktuell gültigen Verfassung aus Diktaturzeiten ist das neoliberale System festgeschrieben. 30 Jahre nach Diktaturende soll den Kontinuitäten aus dieser Zeit ein Ende gesetzt werden – wirtschaftlich und politisch-personell. Denn viele Mitglieder des regierenden rechten Parteienbündnisses Chile Vamos waren zum Teil schon damals, und sind es noch heute, Pinochet-Anhänger*innen. Die Abgeordnete Camila Flores von der Partei Nationale Erneuerung (RN) bekannte öffentlich, stolz darauf zu sein, pinochetista zu sein. Von der Regierung hieß es daraufhin lediglich, dies würde die Diversität des Bündnisses widerspiegeln.

…Wasserwerfer und Tränengasschwaden
Die Oppositionsparteien haben eine Verfassungsbeschwerde gegen Piñera eingelegt und fordern seinen Rücktritt. Doch auch an die Opposition hegen viele keine großen Erwartungen, insgesamt ist das Ansehen der politischen Elite schlecht. Der gemäßigten Linken hängen, wie auch der Rechten, Korruptionsskandale der letzten Jahre nach, außerdem stellte sie seit Diktaturende fast alle Regierungen und wird daher für die aktuelle Situation ebenso verantwortlich gemacht, wie das aktuell regierende rechte Lager. Und das vor wenigen Jahren als Hoffnungsträger gestartete und mit einer großen Parlamentsfraktion ausgestattete linke Parteienbündnis Frente Amplio hat durch interne Meinungsverschiedenheiten in der öffentlichen Wahrnehmung mittlerweile an Veränderungskraft eingebüßt. Dennoch sind es vor allem Abgeordnete des Frente Amplio und der Kommunistischen Partei, zum Teil ehemalige Anführer­*innen der Studierendenbewegung, wie Camila Vallejos und Gabriel Boric, die sich schnell mit den Protesten solidarisierten. Zumindest von der Regierung werden sie offenbar als parlamentarischer Arm der Bewegung betrachtet, den es zu bekämpfen gilt._ Eine Gruppe von Abgeordneten der rechten Regierungs­parteien hat deshalb nun gegen zwölf von ihnen Verfassungsbeschwerde eingereicht und versucht so, sie ihres Mandats zu entheben – mit der Begründung, die Abgeordneten hätten zur Unruhe und kriminellen Aktionen angestiftet.

Der verfassungs-gebende Prozess hat schon begonnen

Überall im Land nehmen die Menschen das Heft nun selber in die Hand und diskutieren in selbstorganisierten Räten die aktuellen Missstände und mögliche Wege hin zu einer neuen Verfassung. Favorisiert wird dabei der Weg über eine verfassungsgebende Versammlung. Rechtlich ist die Sache jedoch nicht so einfach. Verfassungsrechtler*innen sehen den nächsten Schritt in einem Plebiszit, der darüber entscheidet, ob eine solche verfassungsgebende Versammlung einberufen wird. Allerdings bräuchte es vorher eine Verfassungsänderung, um den Entscheid verbindlich zu machen. Abgeordnete der Opposition kündigten an, diesen Prozess in Gang setzen zu wollen. Wenn ein solches Plebiszit stattfindet und die Bevölkerung mehrheitlich für eine verfassungsgebende Versammlung votiert, muss jedoch weiterhin geklärt werden, wie diese ausgestaltet wird, um eine möglichst breite Beteiligung der Bevölkerung zu ermöglichen.
Bis jetzt zieht Piñera weder einen Rücktritt noch eine verfassunggebende Versammlung in Betracht. Unter dem Druck der Proteste akzeptiert die Regierung zwar nun das Ziel einer neuen Verfassung, ausarbeiten sollen sie aber Parlamentarier*innen nach einer Erfassung von Beschlüssen der Bürger*innenversammlungen. Die Bevölkerung soll nur am Ende in einem Plebiszit über die Annahme entscheiden dürfen.
Die Absage des für Chile prestigeträchtigen internationalen Klimagipfels COP25 sowie des Gipfels der Asiatisch-Pazifischen Wirtschafts­gemeinschaft APEC zeigt, dass die Regierung offenbar nicht mit einem schnellen Ende der Proteste rechnet und im Gegenteil fürchtete, ihm auch noch internationale Aufmerksamkeit zu verschaffen. Zu Recht, denn auch Anfang November versammelten sich wieder Hunderttausende auf den Plätzen und forderten „Renuncia Piñera“ („Tritt zurück, Piñera“) und „Asamblea Constituyente ya!“(„Verfassungsgebende Versammlung jetzt!“). Nichts macht den Anschein, als würde sich die protestierende Bevölkerung mit weniger zufrieden geben. Sollte sie es schaffen, könnten die Proteste gegen die Fahrpreiserhöhungen der Anfang vom Ende der neoliberalen Ära in Chile gewesen sein.


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VOM „DRECKSLOCH“ ZUM „SICHEREN DRITTSTAAT“

Botschaft am Grenzzaun von Tijuana „Kein Hindernis kann uns daran hindern, unsere Träume zu erreichen; wir sind Mexikaner und nicht aufzuhalten“ (Foto: Wolf-Dieter Vogel)

Während des mexikanischen Herbstes der Migration vergangenen Jahres standen nicht etwa die Gewalt der organisierten Kriminalität, nicht die von extraktivistischen Projekten ausgelösten Vertreibungen, nicht die von einer strukturellen Armut gebeutelte Bevölkerung im Fokus der Öffentlichkeit. Stattdessen hat der zur Angst konvertierte Rassismus und die mediale und politische Scharfmacherei in den USA die Debatte bestimmt. Weil sich in sogenannten Karawanen von Migrant*innen (Caravanes Migrantes) tausende Menschen aus Zentralamerika gemeinsam auf den Weg gen Norden machten, gab sich der US-amerikanische Präsident Trump aggressiv, drohte und schickte das Militär an die Südgrenze des Landes. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen teilte mit, dass am 19. und 20. Oktober vergangenen Jahres 7.233 Personen aus Guatemala, Honduras und El Salvador registriert wurden, die nach der mexikanischen Grenzbrücke Rodolfo Robles über den Fluss Suchiate eine Regierungsstelle für die Erstversorgung von Migrant*innen aufsuchten. Ein Großteil von ihnen begab sich anschließend auf den Weg durch Mexiko. Es fehlten noch immer tausend Kilometer zur US-Grenze. Trump kündigte an, 5.200 weitere Soldaten an die Grenze zu schicken – zusätzlich zu den bereits stationierten 2.092. Die Größe der ersten, von den Medien so breit rezipierten Karawane ließ sich zu diesem Zeitpunkt auf ungefähr 3.500 Menschen schätzen. Darunter 2.300 Kinder.
Fast zeitgleich kam eine zweite Karawane an die guatemaltekisch-mexikanische Grenze, knapp 2.000 Menschen aus Honduras. Auch aus El Salvador hatten sich mindestens 200 Personen auf den Weg Richtung Mexiko gemacht. Der offizielle Grenzübergang bei Tecún Umán wurde, wie zu erwarten war, auf mexikanischer Seite gesperrt . Die Bundespolizei schoss, obwohl sie es verneinte, mit Gummigeschossen auf die Verzweifelten. Henry Adalid Días Reyes wurde unterhalb des rechten Auges getroffen und starb.
Zwischen Guatemala und Mexiko verläuft der Grenzfluss Suchiate. Viele Migrant*innen versuchen immer wieder den Weg über den Fluss. Was dann passierte ist nur schwer an Maßnahmen der Verachtung für diese Menschen zu übertrumpfen. Die mexikanische Bundespolizei entsandte einen Helikopter, der mit den Rotorblättern die Menschen am Durchschwimmen hinderte. Kaltblütig wurde in Kauf genommen, dass hierbei Menschen, darunter viele Kinder, hätten ertrinken können.

Administrativer Irrsinn

Fast 2.500 Kilometer nördlich, an der Grenze zu den USA, wurde die mexikanische Polizei am Grenzübergang von Tijuana von den Migrant*innen der ersten Karawane ausgetrickst. Sie sprangen über Mauern und durchliefen einen Kanal, abseits des normalen Grenzübergangs. Auf ihren Versuch, die Grenze illegal zu überqueren, wurde mit Gummigeschossen und Tränengas seitens der US-Border Patrol geantwortet. Trump sagte zwei Wochen zuvor, während einer Pressekonferenz: „Wenn sie Steine auf uns werfen, wird unser Militär zurückschlagen. Wir werden die Steine als Waffe betrachten.“ Er zeigte damit, dass auf den rhetorischen Wahnsinn auch menschenfeindliche Akte folgen.
Mexikanische Behörden behaupteten zwar, es gäbe keine Verletzten, was allerdings die USA-Korrespondentin für TeleSur, Alina Duarte, auf ihrer Facebook-Seite dementierte: „Babies und Kinder, die wegen des Tränengases weinten. Frauen, die von den Gummigeschossen verletzt wurden. Mexikanische Bundespolizisten, die auf die Migrant*innen einschlugen. Vor allem aber sah ich Leute, die, wissend dass sie sterben könnten, weiterhin die Grenze zu überqueren versuchten.” Wenn die Not und die Verzweiflung der Antrieb sind, dann schreckt auch die militärisch stärkste Nation der Welt nicht ab.
Während sich die Augen der Welt damals auf die US-mexikanische Grenze konzentrierten, war mit Blick auf die mexikanische Südgrenze ersichtlich, dass sich dort auch zukünftig die Kristallisationspunkte einer verschobenen US-Grenzpolitik und dem Exodus aus Mittelamerika etablieren würden. Denn der Exodus würde weitergehen. Das verdeutlichten schon damals nicht nur die zwei, drei, vier Karawanen, die inzwischen kleiner wurden. Vielmehr zeigt es sich an der Menge der Menschen, die bisher medial und politisch meist unbemerkt fliehen. Von Januar bis September 2018 haben mexikanische Behörden 41.759 Menschen aus Honduras aufgegriffen; zusätzlich zu 9.503 aus El Salvador und 36.708 aus Guatemala. Abgeschoben wurden über 78.000. Und es ist noch lange nicht vorbei. Das ist auch der US-Regierung bewusst. Folglich vollzog sie einen schärferen Kurs in ihrem Migrationsregime und handelte mit Guatemala im Juli, El Salvador Mitte September und Honduras Ende September dieses Jahres Abkommen über eine sogenannte sichere Drittstaaten-Regelung aus. In allen drei Ländern wird zur Zeit heftige Kritik an der neuen Regierungsvereinbarung geübt, die zwar zwischen den Ländern bereits vertraglich festgehalten worden ist, von den gesetzgebenden Instanzen aber noch angenommen werden muss.
Das Konzept des sicheren Drittstaates sagt aus, dass, wenn eine Person ihr Heimatland verlässt, um in einem anderen Land Asyl zu beantragen, sich dieses zweite Land dem widersetzen und die Person stattdessen an einen dritten Staat weiter leiten kann, der als sicher verstanden wird. Zur Folge haben könnte dies, dass eine Honduranerin, die in den USA einen Asylantrag stellen will, an Guatemala oder El Salvador verwiesen wird, die als „sicher“ gelten. An sich grenzt die Regelung an einen administrativen Irrsinn, da aus allen drei „sicheren Drittstaaten“ die Menschen zuhauf fliehen. Gleichzeitig sind die Migrationspolitiken der letzten Jahrzehnte keineswegs dafür bekannt, zugunsten der fliehenden Menschen erarbeitet worden zu sein, sondern um die eigene restriktive Immigrationspolitik zu verschärfen. Nicht verwunderlich also, dass sich Donald Trump nun mit scheinheiliger Wertschätzung an seinen salvadorianischen Amtskollegen wendet.

Über 10.000 Soldat*innen sichern Mexikos Südgrenze

Diejenigen, die sich von der Regelung nicht abschrecken lassen und sich dennoch auf den Weg machen, treffen an der Grenze zwischen Guatemala und Mexiko seit Juni 2019 auf eine militarisierte Zone. Über 10.000 Soldat*innen hat Präsident Andrés Manuel López Obrador in den Süden seines Landes geschickt – und zollte damit seinem nördlichen Nachbarn Tribut, damit er nicht, wie zuvor angedroht, höhere Zöllen auf mexikanische Produkte erhob.
Sollte es dennoch Mittelamerikaner*innen geben, die all die tödlichen Strapazen der Reise überwinden und vor den Toren der USA stehen, dann warten an der über 3000 km langen Grenze, laut Trump, an die 27.000 Militärs, die López Obrador geschickt habe. Nicht umsonst frohlockte Scharfmacher Trump Ende Oktober und gab vor einigen Journalist*innen bekannt, was allen klar war: „Ich benutze Mexiko, um unsere Grenze zu sichern.“ Nebst der militärischen Drohung wartet seit Jahresanfang auch eine neue administrative Hürde auf die Schutzsuchenden. Die Verordnung (Migrant Protection Protocol) dient dazu, dass Personen, die aus Mexiko in die USA einreisen wollen und über keine ausreichenden Dokumente verfügen, in Mexiko auf die Bearbeitung ihres Antrags warten müssen. Der Theorie nach, so das US-Department for Homeland-Security, „wird Mexiko ihnen einen angemessenen humanitären Schutz während ihres Wartens gewähren.“ Diese Zusicherung sind die elektronischen Bytes nicht wert, mit denen sie auf der Internetseite zu lesen sind, bedenkt man die Gewalt- und vor allem Mordrate in den zwei mexikanischen Grenzstädten Tijuana und Ciudad Juárez.
Der Ausbau des Migrationsregimes zahlt sich für die Trumpsche Politik aus. Verhaftete der US-Grenzschutz noch 144.000 Menschen im Mai, waren es 82.000 im Juli und später im August nur noch 64.000, erklärte das Weiße Haus im September dieses Jahres. Dies geht zeitgleich einher mit einer höheren Zahl der Abschiebungen auf mexikanischer Seite. Bereits im Juli 2017 lag die Zahl der Abschiebungen an der Südgrenze Mexikos bei 700 pro Tag.
Wirkte in den vergangenen Jahren das Land Mexiko wie eine Mauer, aufgrund der Gefahren, denen sich die Migrant*innen zu stellen hatten, hat es sich unter dem vermeintlich linken Präsidenten López Obrador in den erweiterten US-Grenzschutz verwandelt.

 


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LEBEN MIT DEM TODESURTEIL

Bild: verdadabierta.com
„Ich werde nicht aufhören, zu lachen und ich werde nicht aufhören, zu kämpfen!“ Entschlossen, aber mit Bitterkeit in der Stimme sagt Marta López Guisao diese Worte und man kann sich plötzlich vorstellen, wie es diese 49-jährige Kolumbianerin geschafft hat, noch immer am Leben zu sein – obwohl Paramilitärs schon fünfmal versucht haben, sie umzubringen, obwohl sie seit 2002 als „militärisches Ziel“ gilt, in Kolumbien ein Todesurteil. Sie sitzt am Tisch in einem schmucklosen Raum, das wettergegerbte Gesicht, die leicht angegrauten halblangen Haare, das blaue Kleid – alles an ihr strahlt Würde und Entschlossenheit aus. Eine Kämpferin. Der Ort bleibt namenlos, denn ihr Todesurteil ist noch immer gültig.
1991 vertrieben Paramilitärs die Familie von Marta López zum ersten Mal, aus Apartadó in der nordkolumbianischen Region Urabá, Teil der Provinz Antioquia. Ihre Mutter war bei der linken Partei Unión Patriótica aktiv, Marta López engagierte sich im Nachbarschaftskomittee und brachte Kindern aus armen Familien Lesen und Schreiben bei. So wurde aus Marta López la profesora, die Lehrerin. Urabá war eine der am stärksten umkämpften Regionen im kolumbianischen bewaffneten Konflikt und das zivilgesellschaftliche und basisdemokratische Engagement der Unión Patriótica war vielen Unternehmer*innen, Großgrundbesitzer*innen und Politiker*innen ein Dorn im Auge. Sie organisierten paramilitärische Banden und das basisdemokratische Experiment endete in einem Blutbad. Wie viele andere Familien floh die Familie López Guisao in die Hauptstadt der Provinz Antioquia, nach Medellín, zweitgrößte Stadt Kolumbiens.
„Wir kamen nach Medellín wie alle Vertriebenen, ohne zu wissen, wo wir leben und wie wir überleben sollen“, erzählt López. In jenen Jahren siedelten sich tausende Binnenvertriebene in den neu entstehenden Stadtvierteln an den Hängen von Medellín an. Viele der Vertriebenen organisierten sich, bildeten Komitees und gründeten schließlich ohne staatliche Hilfe ein eigenes Viertel: Olaya Herrera, knapp oberhalb der Comuna 13, einem marginalisiertes Viertel im Westen der Stadt. Marta López, ihre Schwestern und ihre Mutter halfen mit, das Viertel Olaya Herrera aus dem Nichts aufzubauen. Hilfe vom Staat gab es keine, denn das Viertel war, wie so viele, illegal. Weder Stadtverwaltung noch Polizei ließen sich blicken. Deshalb organisierten sich die Siedler*innen in Nachbarschaftskomitees und planten ihren eigenen Stadtteil: Wo werden die Straßen gezogen, wo kommen die Häuser hin? Noch heute schwärmt López davon, wie sie mit den neuen Nachbar*innen alles gemeinsam organisiert und aufgebaut haben: Die kleinen Häuser aus Holz, Treppen, Wasserleitungen, ein Gesundheitszentrum, Spielplätze. „Alles war sehr gut organisiert“, erinnert sich Marta. „Heute haben wir gemeinsam am Haus von Juan gebaut, morgen am Haus von Pedro; und wenn der ganze Block fertig war, konnte man einziehen.“ Marta López baute natürlich auch die Schule mit auf und arbeitete wieder als Lehrerin; ihre jüngste Schwester Alicia wurde Leiterin des Gesundheitskomitees.

„Aber weil wir sehr stark politisch organisiert waren, war klar, dass wir nicht einfach gehen“

Heute leben in den 23 Stadtvierteln der Comuna 13 etwa 130.000 Menschen. Ende der 1990er Jahre dominierten Milizen der FARC, der ELN und der CAP (Comandos Armados del Pueblo) viele dieser Viertel. Wie an vielen anderen Orten auch, versuchte die kolumbianische Armee, solche Guerillas mit paramilitärischen Gruppen gewaltsam zu vertreiben. Die meisten anderen Viertel von Medellín wurden damals bereits den immer stärker werdenden paramilitärischen Gruppen Bloque Cacique Nutibara (BCN) und Bloque Metro kontrolliert und zunehmend gab es Versuche, auch die Comuna 13 und die angrenzenden Viertel unter ihre Kontrolle zu bringen. In ihrem Viertel sei zwar die Kriminalität gering und der Umgang miteinander solidarisch gewesen, betont López. Doch in vielen anderen Vierteln der Stadt nahmen Morde, Entführungen und Schutzgelderpressungen zu.
Stadtverwaltung und Regierung verkündeten, die Milizen zu vertreiben und so für „Sicherheit“ sorgen zu wollen. Marta López erzählt die Geschichte anders: Für den Bau eines Tunnels sollten Teile der erst vor wenigen Jahren errichteten Stadtteile wie Olaya Herrera zerstört werden. „Aber weil wir sehr stark politisch organisiert waren, war klar, dass wir nicht einfach gehen“, erzählt López und setzt hinzu: „Wenn eine Gemeinde politisch stark ist und selbst für ihre Rechte sorgt, weil der Staat es nicht macht – dann macht das dem Staat, den Behörden und der Bourgeoisie Angst. Sie fürchteten, es würde einen Aufstand geben.“

  Militärübung in Olaya Herrera // Foto: Flickr, George Donnelly, Attribution 2.0 Generic (CC BY 2.0)

Paramilitärs konnten nun ungehindert Stützpunkte ober- und unterhalb der Comuna 13 aufbauen. Gleichzeitig errichteten Polizei und Armee nun immer häufiger Straßensperren oder drangen in die Comuna 13 und angrenzende Viertel ein. Am frühen Morgen des 27. Februar 2002 wurden an einer solchen Straßensperre vier Jugendliche und ein Taxifahrer erschossen. Die Armee behauptete, die Jugendlichen seien Guerillakämpfer*innen gewesen und legte als angeblichen Beweis ein Gewehr neben die Leichen. Anwohner*innen hatten jedoch nur einzelne Schüsse gehört, keinen Schusswechsel. Eine Hinrichtung. Marta López kannte die Jugendlichen gut; es waren ihre Schüler*innen, 14 bis 16 Jahre alt. „Die Jugendlichen wollten gegen fünf Uhr morgens zum Markt, denn es war der Geburtstag eines der Mädchen. Aber die Armee hatte eine Straßensperre errichtet und das Taxi mit den Jugendlichen gestoppt. Sie haben sie aus dem Wagen geholt, durchsucht – und schrecklich zugerichtet.“ López arbeitete an dem Morgen schon in der Schule, erzählt sie, als ein Kind weinend angelaufen kam und von dem Vorfall berichtete. Lòpez fuhr sofort zum Krankenhaus und traf dort die Eltern. Dann nahm sie der Arzt beiseite. López erzählt folgenden Dialog: „Der Arzt sagte, ‘Frau Lehrerin, kann ich Ihnen etwas anvertrauen?’ Ich: ‘Was ist passiert?’ Er sagt: ‘Was sollen diese Kinder nur angerichtet haben, dass sie auf diese Weise ermordet worden sind?’ Die Opfer wurden missbraucht und verstümmelt.“ López Stimme versagt, als sie sich daran erinnert.
Am 21. Mai 2002 startet die „Operation Mariscal“, der erste großangelegte Militäreinsatz in Kolumbien im innerstädtischen Raum. Noch vor Tagesanbruch dringen etwa 1.000 Polizisten und Soldaten in mehrere Stadtviertel der Comuna 13 ein, begleitet von Panzern, Maschinengewehren, Hubschraubern – und einem großen Medienaufgebot. Über zwölf Stunden lang schießen die Uniformierten auf alles, was sich bewegt.
Die Bilanz: Neun Tote, erschossen von Sicherheitskräften, drei davon minderjährig. 55 Menschen werden verhaftet. Dann wird die „Operation Marisca“ schließlich abgebrochen: Die Bevölkerung geht unter Lebensgefahr mit weißen Tüchern auf die Straßen, um die Verletzten zu bergen und ein Ende des stundenlangen Beschusses zu verlangen. Auch die mediale Berichterstattung setzt den Staat offenbar unter Druck. Die Paramilitärs vom BCN, die oberhalb des Gebietes auf Ihren Einsatz warteten, können vorerst nicht in die Viertel eindringen.
Doch nur drei Tage nach der „Operation Mariscal“ kommen die Soldaten erneut. Diesmal mit maskierten Männern und Uniformen ohne Abzeichen. Die Maskierten zeigen auf Häuser, die daraufhin von den Soldaten durchsucht wurden. Fotos, Ausweise und Unterlagen werden beschlagnahmt. Viele werden festgenommen, darunter auch Gemeindefunktionär*innen oder ganz normale Bewohner*innen. „Auch Alicia ist dabei“, berichtet López, „meine Schwester, die die Krankenstation leitet. Sie kamen mit Vermummten und Alicia wurde festgenommen, weil der Vermummte auf sie zeigte. Er sagte: Sie ist die Leiterin der Krankenstation, die die Verletzten versorgt. Vor den Augen ihres dreijährigen Sohnes wird sie verhaftet und geschlagen”.
In den folgenden Monaten werden die Bewohner*innen eingeschüchtert und leben im Kreuzfeuer der bewaffneten Gruppen. Ein Belagerungszustand. Die Armee errichtet Straßensperren und übergibt junge Männer an die Paramilitärs. Oft verschwinden diese Männer daraufhin spurlos; andere werden von den Paramilitärs angeworben oder gezwungen, Wohnorte von angeblichen Guerilleros zu verraten.
Am 16. Oktober 2002 beginnt die dreitägige Operation Orión. Zwei Monate zuvor hat Álvaro Uribe Vélez sein Präsidentenamt angetreten. Er hat die Wahl unter anderem mit dem Versprechen gewonnen, mit „harter Hand“ gegen die Guerilla vorzugehen. Die Operation Orión ist eine Art Generalprobe für seine „Politik der Demokratischen Sicherheit“.Comuna 13 // Foto: Flickr, Nigel Burgher, Attribution 2.0 Generic (CC BY 2.0)

Diesmal dringen 1.500 Soldaten und Polizisten in die Comuna 13 ein, begleitet von Luftwaffe, Geheimdienst und Paramilitärs. Marta López ist in der Schule, als der Angriff beginnt. Stundenlang liegt sie mit den Kindern auf dem Boden und sucht Schutz vor den Querschlägern. Auch aus den Hubschraubern heraus werde geschossen, „als ob wir Ratten wären“. Im Verlauf der Operation werden nach Zählung der Corporación Jurídica Libertad 88 Menschen erschossen, davon 71 von Paramilitärs und 17 von Sicherheitskräften. Weitere 92 Menschen verschwinden spurlos.
Es ist der Beginn einer militärischen und paramilitärischen Belagerung, die sich bis Anfang Dezember 2002 hinzieht. Denn auch nach dem Ende der Operation werden Gemeindeaktivist*innen gezielt verfolgt. Dutzende Menschen werden verschleppt und tauchen nie wieder auf. Auch nach Marta López wird gesucht. „Die Lehrkräfte waren wie immer um halb sieben in der Schule, um die Kinder zu empfangen, als eine bewaffnete Gruppe ankam, die sich nicht auswies“, erzählt Marta. „Sie kamen mit einem Vermummten und fragten nach mir: ‘Wo ist die Lehrerin Marta?’” Aber López ist an dem Tag nicht in der Schule. Das Kollegium hat zuvor beschlossen, dass es für sie zu gefährlich sei.

„Was haben wir verbrochen, dass sie uns verfolgen und ermorden?“

Auch eine weitere ihrer Schwestern wird gesucht. In den folgenden Monaten bleibt die Familie in Medellín, weil Alicia noch immer in Haft ist, muss aber immer wieder den Wohnort wechseln, wird immer wieder aufgespürt. „Uns war klar: Wenn sie uns schnappen, dann foltern sie und töten uns“, sagt López knapp. „Deshalb haben wir uns Zyankalikapseln besorgt. Wir waren bereit, uns umzubringen, damit sie uns nicht foltern können.“ Als Alicia nach einem Jahr Haft endlich freigesprochen wird, flieht die Familie, begleitet von der Menschenrechtsorganisation Peace Brigades nach Bogotá.
Heute ist die Comuna 13 ein Schwerpunkt des Drogenhandels und der Gewalt. Über 180 Mütter der Verschwundenen suchen noch immer nach ihren Kindern. Bis zu 300 Leichen könnten auf der Bauschuttdeponie La Escombrera in Sichtweite der Comuna 13 liegen. Das haben mehrere Paramilitärs ausgesagt, unter anderem der Chef des inzwischen aufgelösten BCN, Diego Murillo Bejarano alias Don Berna. Damit wäre La Escombrera eines der größten Massengräber Kolumbiens. Doch die Deponie ist noch immer in Betrieb, eine Ausgrabung wird bis heute verhndert.
López arbeitet an ihrem neuen Wohnort mit Bäuer*innen in Sur de Bolívar, später in Venezuela, schließlich mit afroindigenen Frauen im Chocó. Erst 15 Jahre später wagen sich Marta López und ihre Schwester Alicia wieder nach Medellín, um ihren noch dort lebenden Bruder zu besuchen. Doch nach wenigen Tagen, am Morgen des 2. März 2017, kommt ein Mordkommando in das Restaurant des Bruders und tötet Alicia mit einem Kopfschuss. Marta López ist noch heute fassungslos, ihre Stimme bricht und für einen Moment weicht jede Entschlossenheit der Trauer, die sie noch immer quält: „Diese Todesstrafe war 15 Jahre später immer noch gültig in dem Viertel, aus dem sie uns vertrieben haben, dort wo sie uns zum Tod verurteilt haben – dort wurde meine Schwester erschossen!“ Und schluchzend fügt sie hinzu: „Als sie meine Schwester erschossen haben, dachten sie, sie hätten mich erschossen, die Lehrerin.“
Ausnahmsweise hat es in diesem Fall zwei Festnahmen gegeben; einer der Täter wird im Februar 2019 für den Mord zu 40 Jahren Haft verurteilt. Das Urteil ist allerdings noch nicht rechtskräftig. Und offen geblieben ist die Frage: Wer hat den Befehl gegeben? Und warum?
López lebt nun an einem halbwegs sicheren Ort. Sie heilt ihren Schmerz mit Meditation und spirituellen Ritualen, die sie auch bei den Frauen in den Gemeinden anwendet, die ebenfalls unter dem Krieg leiden. Denn sie ist entschlossen, ihren Kampf nicht aufzugeben: „Ich werde den Kopf nicht senken. Ich werde weiter als Menschenrechtsverteidigerin und Führungsperson arbeiten.“
Zum Schluss erhebt sie nochmal die Stimme zu einer Anklage: „Warum bringen sie uns um? Weil wir anders denken? Weil wir etwas einfordern? Weil wir den Gemeinden beibringen, ihre Rechte einzufordern? Deshalb bringen sie uns um? Was haben wir verbrochen, dass sie uns verfolgen und ermorden?“


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„KINDER FÜHREN MILITÄRÜBUNGEN AUS“

Gegen die Militarisierung Protest der Zivilgesellschaft // Foto: Felipe Canova, Flickr

Wie hat sich die Situation seit dem Putsch vor zehn Jahren verändert?
Auf den Putsch folgten unter anderem die Militarisierung, die Unterdrückung der Bevölkerung und eine Verschärfung der vorher schon existierenden Probleme wie Armut, Ungleichheit und eine hohe Auslandsverschuldung. Heute ist Honduras eines der ärmsten Länder Lateinamerikas, Arm und Reich klaffen weit auseinander. Die Menschen migrieren zu Tausenden in Karawanen in Richtung USA, weil sie keine Möglichkeit finden, in Honduras zu überleben.
Der Staat hat seine sozialen und wirtschaftlichen Aufgaben vernachlässigt. Mit Blick auf die Kinder und Jugendlichen schätzt die Nationale Pädagogische Universität Honduras, dass mehr als 800.000 Jungen und Mädchen wegen fehlender schulischer Einrichtungen dem Schulsystem fernbleiben. Laut Schätzungen des Ministeriums für Arbeit werden täglich circa 475.000 Jungen und Mädchen wirtschaftlich ausgebeutet. Die Teenagerschwangerschaften sind dramatisch angestiegen: Laut Gesundheitsministerium sind 25 Prozent der Schwangerschaften jährlich von Minderjährigen. Gemäß einer Studie von Save the Children ist Honduras für Kinder und Jugendliche das gewalttätigste Land mit einer Mordrate von mehr als 30 Kindern pro 100.000 Einwohner.

Und was macht die Regierung?

José Guadelupe Ruelas // Foto: Honduras Delegation

Anstatt Antworten zu finden, entledigt sich der Staat seiner Verantwortung. Er konzessioniert Straßen, die Telekommunikation, den Energiesektor, Flüsse, Land und nimmt dadurch den Menschen ihre Räume. Dazu kommt das extraktivistische Wirtschaftsmodell. Honduras hat viele Konzessionen dem metallischen und nicht- metallischen Bergbau erteilt, der die Bevölkerung dazu zwingt, ihre ländlichen Gebiete zu verlassen. Außerdem wurden die Ölpalmplantagen erweitert, die sich auf den fruchtbarsten Böden befinden, gleichzeitig jedoch verringern sich die Anbauflächen von Grundnahrungsmitteln für die Bevölkerung. Es gibt keine integrale Strategie für eine Produktion der Grundnahrungsmittel, die auch einen Zugang zu Anbauflächen für Bauern und Bäuerinnen einschließt.

Inwiefern hat sich die Rolle des Militärs verändert und welche Folgen hat dies für Kinder und Jugendliche?
Honduras hat einen enormen Militarisierungsprozess durchlebt. Dieser beruht nicht nur auf der Sicherheitsstrategie, der Prozess reicht weit in das gesellschaftliche Leben. Es gab eine Militarisierung des öffentlichen Raumes. Per Dekret wurde die Militärpolizei gegründet, die in den Straßen patrouilliert, Anzeigen entgegennimmt und Haftbefehle gegen Zivilisten ausführt. Dazu kommt die Erhöhung des Verteidigungsbudgets, der Erlass des Tazón, einer Besteuerung der Bankgeschäfte, wobei 90 Prozent dieser Gelder in den Verteidigungshaushalt fließen. Im Jahr 1994, als es noch den verpflichtenden Militärdienst gab, gehörten ungefähr 9.000 Soldaten der Armee an. Heute, 25 Jahre nach Abschaffung des Militärdienstes, gibt es mehr als 15.000.
Die Militärpolizei bewacht öffentliche Instituti-onen, darunter auch circa 40 Prozent der Schulen. Besorgniserregend ist die Ausbildung von Tausenden Mädchen und Jungen aus armen Familien im Alter zwischen 7 bis 12 Jahren innerhalb des Programms Guardianes de la Patria („Bewacher des Vaterlandes“, Anm. der Red.). Die Kinder werden samstags von Soldaten in Themen wie Gehorsamkeit, Respekt und Werten aus Militärperspektive unterrichtet. Öffentlich bekannt wurde, dass den Kindern der Umgang mit Waffen gezeigt wird und sie Militärübungen ausführen.

Was zeichnet die Regierungen der letzten Jahre aus?
Das Regime hat an Legitimität verloren, es wird des Betruges bezichtigt und ist verfassungswidrig. Die honduranische Verfassung verbietet ausdrücklich die Wiederwahl eines Präsidenten. Im Jahr 2015 wurde ein Artikel durch die Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs gestrichen, was dem aktuellen Präsidenten Juan Orlan- do Hernández zur Wiederwahl verhalf. Die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2017 wurden von nationalen und internationalen Akteuren kritisiert und als Wahlbetrug deklariert. Bis heute hat es die Regierung nicht geschafft, die Rechtmäßigkeit dieser Wahl nachzuweisen.
Bezeichnend sind auch die uferlose Korruption und die Verbindungen zwischen dem Regime und der organisierten Kriminalität. Unternehmer, Politiker und Polizei haben mit dem Drogenhandel Allianzen gebildet. Viele wurden bereits in die USA ausgeliefert. Dem wegen Drogenhandels in New York inhaftierte Bruder des aktuellen Präsidenten wird vorgeworfen, tonnenweise Kokain durch Honduras geschmuggelt zu haben. Es gibt Korruptionsvorwürfe gegen die Familien des vorherigen und des aktuellen Präsidenten, gegen Abgeordnete des Parlaments und Funktionäre des Staates. Letztere haben mehr als 300 Millionen US-Dollar aus dem honduranischen Sozialversicherungssystems veruntreut. Statt einer integralen Sozialpolitik, die Gesundheit, Bildung und Sicherheit einschließt, wendet das Regime eine Art Philanthropie gegen die Armut an. Dem Fehlen von Lebensmitteln begegnet es mit dem Verteilen von „bolsas solidarios“ (Lebensmittelpakete, Anm. d. Red.).
Charakteristisch ist die Brutalität des Regimes gegen die landesweiten Proteste. Durch die „Reform“ der Strafgesetzgebung wurde das Recht zu protestieren unter Strafe gestellt. Es ist nicht mehr erlaubt, vor dem Parlament oder Präsidentenpalast zu demonstrieren, generell wurden gegen friedlich Protestierende Gerichtsverfahren eingeleitet. Seit dem Wahlbetrug von 2017 gibt es wieder politische Gefangene, Menschen im Exil und viele Tote.

Wie verhält sich die Bevölkerung?
Frauenkollektive, Indigene, Afroindigene, Organisationen von Bauern und Bäuerinnen, Gemeinden, die durch den Bergbau betroffen sind, haben sich organisiert, um gegen die Ressourcenausbeutung vorzugehen. Zu Tausenden gehen sie gegen die offensichtliche Korruption, gegen die extraktivistischen Projekte, Privatisierungen im Bildungs- und Gesundheitssystem auf die Straße.
Die sozialen Bewegungen haben mehrere Versuche unternommen, die verschiedenen Akteure landesweit zu vereinen und die bestehenden Differenzen untereinander abzubauen. In der breiten Opposition hat sich jedoch bis heute keine legitime Führung hervorgetan, die einen gemeinsamen Kampf vereinen könnte. Die Akteure haben alle eine Forderung: den Rücktritt des Regimes, Neuwahlen, die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung und die Beendigung des extraktivistischen Wirtschaftsmodells.

 


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ERNEUTES FIASKO

„Die Gegenwart heißt kämpfen” Präsident Nicolás Maduro will Chavez’ Erbe in die Zukunft retten ( Foto: John Mark Shorack)

 

Das Video schien es in sich zu haben: Am frühen Morgen des 30. April zeigte sich der venezolanische Oppositionsführer Juan Guaidó gemeinsam mit seinem eigentlich unter Hausarrest stehenden Mentor Leopoldo López und einer Reihe von Soldaten auf Twitter. Er behauptete, maßgebliche Teile des Militärs hinter sich zu haben und erweckte den Eindruck, bereits die Luftwaffenbasis La Carlota im Osten der venezolanischen Hauptstadt Caracas zu kontrollieren. Die Endphase der so genannten „Operación Libertad“ (Operation Freiheit) habe begonnen, um die „Usurpation“ des Präsidentenamtes durch Nicolás Maduro zu beenden. Das übrige Militär wurde von Guaidó dazu aufgerufen, überzulaufen; seine Anhänger*innen bat er, sich zum Luftwaffenstützpunkt zu begeben. López, den die Opposition bis dahin als den prominentesten politischen Gefangenen des Landes betrachtete, war in der Nacht anscheinend mit Hilfe seiner Bewacher*innen entkommen. Bis zu seiner Verhaftung im Februar 2014 koordinierte er die Oppositionspartei Voluntad Popular, der auch Guaidó angehört. Wegen seiner Rolle bei den gewalttätigen Straßenprotesten Anfang 2014 war López in einem umstrittenen Verfahren zu fast 14 Jahren Gefängnis verurteilt worden, die er seit Mitte 2017 im Hausarrest absaß.

Wahrscheinlicher ist, dass Guaidó ohne Hilfe von außen wohl nicht so schnell an die Macht kommen wird

Für ganz kurze Zeit wirkte es, als stehe der Sturz von Präsident Maduro dieses Mal tatsächlich bevor. Doch es dauerte nicht lange, bis der Bluff aufflog. In Wahrheit waren es nur wenige Dutzend einfache Soldaten, die sich auf der Stadtautobahn nahe der Militärbasis postiert hatten. Einige von ihnen zogen sich von dort später zurück und gaben an, von ihren Vorgesetzten aus der Kaserne beordert worden zu sein, ohne zu wissen, dass es sich um einen Einsatz unter der Leitung Guaidós handelte. Offenbar wollte der venezolanische Oppositionsführer mit den machtvoll inszenierten Bildern eine Kettenreaktion in Gang setzen, um den durch seine Selbstausrufung zum Interimspräsident am 23. Januar eskalierten Machtkampf zu entscheiden. Die Folgen wären unkalkulierbar gewesen: Hätten sich tatsächlich größere Truppenkontingente hinter Guaidó gestellt, andere jedoch weiterhin die Regierung gestützt, wären Tote wohl unvermeidlich gewesen. Die Aufrufe an den Rest des Militärs verhallten jedoch ungehört und auch Guaidós Anhänger*innen strömten nur in geringer Anzahl auf die Straße, wo es zu gewaltsamen Zusammenstößen mit Sicherheitskräften kam. Verteidigungsminister Vladimir Padrino stellte sich einmal mehr hinter Präsident Maduro und versicherte, im Militär sei landesweit alles ruhig. Maduro bekräftigte, sämtliche Kommandanten hätten ihm ihre „absolute Loyalität“ versichert. Vor dem Präsidentenpalast Miraflores im Westen von Caracas versammelten sich tausende Regierungsanhänger*innen, um Maduro gegen den von der Regierung als Putschversuch gewerteten Vorfall zu schützen.

Vertreter der US-amerikanischen Regierung unterstützten das Vorgehen Guaidós. Auch andere Regierungen, die sich im Machtkampf früh hinter Guaidó gestellt hatten, stärkten diesem den Rücken. Etwa der deutsche Außenminister Heiko Maas, der sich gerade auf einer viertägigen Lateinamerikareise befand, die ihn nach Brasilien, Kolumbien und Mexiko führte. John Bolton, der nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Donald Trump, drohte dem venezolanischen Verteidigungsminister und anderen Funktionären auf Twitter, dies sei die „letzte Chance“, die Seiten zu wechseln. US-Außenminister Mike Pompeo behauptete in einem Fernsehinterview, Maduro habe in einem bereits auf dem Rollfeld wartenden Flugzeug das Land in Richtung Kuba verlassen wollen, sei von der russischen Regierung jedoch davon abgehalten worden. Elliot Abrams, der US-Sondergesandte für Venezuela erklärte, Maduros Abgang sei ausgehandelt gewesen, die verantwortlichen venezolanischen Funktionäre hätten aber plötzlich ihre Mobiltelefone ausgeschaltet.

Jenseits der kreativ wirkenden US-Behauptungen und zahlreicher Gerüchte blieb weitgehend unklar, was tatsächlich hinter dem improvisiert und dilettantisch wirkenden Umsturzversuch steckt. Die Aktion fand genau einen Tag vor einer für den 1. Mai geplanten Großdemonstration statt, die Guaidó großspurig als die größte „in der Geschichte Venezuelas“ angekündigt hatte. An Spekulationen über seine Motive mangelt es nicht: Warum wartete Guaidó nicht bis zum 1. Mai? Wollte er einer möglicherweise geplanten Verhaftung zuvorkommen? Dachte er wirklich, dass die Militärführung mitziehen würde? Wollte er gar eine gewalttätige Reaktion der Maduro-Regierung provozieren, um eine US-Militärintervention zu rechtfertigen?  Fest steht, dass Guaidó nach 100 Tagen als selbsternannter Interimspräsident unbedingt die Aussicht auf einen Regierungswechsel aufrecht erhalten muss, damit sich die rechte Opposition nicht wieder intern zerstreitet. Doch der Tag endete damit, dass Guaidó untertauchte und Leopoldo López zunächst in der chilenischen Botschaft und anschließend in der Residenz des spanischen Botschafters Zuflucht suchte und fand.

Später am Abend veröffentlichte Guaidó dann ein weiteres Video, in dem er zur Teilnahme an der Großdemonstration am 1. Mai aufrief und versicherte, dass Maduro „nicht die Unterstützung der Streitkräfte“ habe. Dieser wiederum wendete sich in einer Fernsehansprache nach stundenlangem Schweigen an die Bevölkerung. Er warf den Strippenziehern des Putschversuches vor, ein „Massaker“ provozieren zu wollen und sagte, diese Aktionen könnten „nicht straffrei“ bleiben. Die Behauptung, er habe das Land verlassen wollen, wies Maduro im Beisein des Verteidigungsministers Padrino zurück.

Auch am 1. Mai kam es zu Ausschreitungen. Laut den oppositionellen Menschenrechtsorganisationen Provea und Foro Penal kamen an den beiden Tagen insgesamt 5 Menschen ums Leben, mindestens 130 wurden verletzt und 273 festgenommen. Insgesamt gingen offenbar weitaus weniger Menschen auf die Straße, als Guaidó gehofft hatte. Er kündigte an, den Druck aufrecht zu erhalten und mit einer Reihe „gestaffelter Streiks“ auf einen Generalstreik hinzuarbeiten. Leopoldo López, der mittlerweile per Haftbefehl gesucht wird, versicherte gegenüber der Presse, sich in seinem Hausarrest mit zahlreichen Militärs getroffen zu haben und prognostizierte weitere Erhebungen. Tatsächlich ist nicht ausgeschlossen, dass Teile des Militärs früher oder später doch noch die Seiten wechseln, zumal sich die ohnehin schon schwierige wirtschaftliche Lage durch die US-Sanktionen rasch zu einer humanitären Krise auswachsen könnte. Doch wahrscheinlicher ist, dass Guaidó ohne Hilfe von Außen wohl nicht so schnell an die Macht kommen wird. Da der Machtkampf festgefahren zu sein scheint, bleibt der einzig gangbare Ausweg ein Dialog. Doch auch die Rufe nach einer US-Militärintervention werden seit dem 1. Mai wieder lauter.

 


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