Neun Jahre ohne Aufklärung

“Lebend habt ihr sie genommen – lebend wollen wir sie zurück!” Demo von Angehörigen (Foto: Marijan Schreckeis)

„Sie sind nicht verschwunden, sie wurden uns genommen.” Davon zeigt sich Cristina Bautista in Alpoyecancingo, einem Náhuatl-Dorf in den rauen Bergen des Bundesstaates Guerrero, überzeugt. Bautista ist alleinerziehende Mutter in einer der ärmsten und gewaltvollsten Gegenden Mexikos. Seit neun Jahren ist sie zudem im Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit für die „verschwundenen“ Studenten von Ayotzinapa aktiv. Regelmäßig nimmt sie beschwerliche Wege auf sich, um sich an der Organisation von Protesten zu beteiligen. Cristina ist die Mutter von Benjamín Bautista. Ihr ältester Sohn ist einer der 43 Studierenden, die seit Ende September 2014 als verschwunden gelten.

In der Nacht vom 26. auf den 27. September 2014 waren 43 Normalistas, Lehramtsstudenten der Escuela Normal Rural de Ayotzinapa, in gekaperten Reisebussen auf dem Weg nach Mexiko-Stadt. Dort wollten sie an einer Demonstration in Gedenken an das „Massaker von Tlatelolco“, das der Staat 1968 an der Studierendenbewegung verübt hatte, teilnehmen. In der Stadt Iguala stoppten schwerbewaffnete Polizisten die Busse und griffen deren Insassen an. Drei Studenten und drei Unbeteiligte starben noch in derselben Nacht – getötet von sogenannten Sicherheitskräften, wohl auch mit illegal erworbenen Waffen aus deutscher Produktion.

Sechs Normalistas überlebten den Angriff, 43 gelten seither als verschwunden. Es wird davon ausgegangen, dass sie von staatlichen Einsatzkräften verschleppt und später an die kriminelle Gruppe Guerreros Unidos übergeben wurden. Auch soll das Militär zugegen und über die Vorgänge informiert gewesen sein. Der genaue Tathergang und die Motive sind jedoch nach wie vor unklar. Mehrere Zeug*innen wurden im Zuge der Ermittlungen ermordet, Aussagen nachweislich durch Folter erzwungen. Einst ermittelnde Beamte befinden sich mittlerweile selbst in Haft oder auf der Flucht. Der damalige Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam sitzt seit 2022 wegen Manipulation der Ermittlungen, Folter und Beteiligung an der Entführung im Gefängnis. Der damalige Leiter der im Fall ermittelnden Kriminalpolizei, Tomás Zerón, befindet sich auf der Flucht. Ihm wird vorgeworfen, Beweise gefälscht und Zeug*innenaussagen durch Folter erzwungen zu haben.

Laut der kurz nach der Tat von den Ermittlungsbehörden als „historische Wahrheit” präsentierten Version gerieten die Studierenden in eine Auseinandersetzung zwischen kriminellen Gruppen und wurden dabei getötet. Auch korrupte Polizeieinheiten seien beteiligt gewesen. Anschließend seien die Leichen der Studenten verbrannt worden. Ziel dieser Darstellung war es, die Ereignisse als lokales Problem darzustellen und die Ermittlungen abzuwürgen, bevor sie weitergehende staatliche Verstrickungen ans Licht bringen konnten.

Anders als es in der vorherrschenden Berichterstattung erscheint, handelt es sich beim „Fall Ayotzinapa“ nicht nur um einen Kriminalfall. Der Bundesstaat Guerrero, in dem Ayotzinapa liegt, ist einer der ärmsten und gewaltvollsten in Mexiko. Die Ursprünge der Gewalt liegen unter anderem in dem sogenannten Guerra Sucia (Schmutzigen Krieg). Ungefähr von 1960 bis 1990 versuchte der Staat mit terroristischen Mitteln, die soziale Basis oppositioneller Bewegungen zu zerstören. Zur Zielscheibe wurde die arme und oft indigene Bevölkerung. Mit der Eskalation des sogenannten Drogenkrieges kam ab 2006 ein weiterer Aspekt hinzu.

Im Rahmen des schmutzigen Krieges gerieten auch die Escuelas Normales Rurales ins Visier des Staates. Ihr Ursprung liegt im postrevolutionären Mexiko der 1920er Jahre. Ihr Ziel ist die „Bildung der Massen“, was auch an sozialistischen Idealen orientiert ist. Die Studierenden der Internate kommen aus marginalisierten Verhältnissen und sind oft indigen. Nach ihrer Ausbildung kehren sie in ihre Ursprungsgemeinden zurück.

„Sie sind nicht verschwunden, sie wurden uns genommen.”

Nach dem „Verschwinden“ der Studenten von Ayotzinapa kam es in ganz Mexiko zu großen Mobilisierungen. In Guerrero wurden 28 Regierungsgebäude besetzt und Straßen blockiert. In der Hauptstadt Chilpancingo ging der Regierungspalast in Flammen auf, Demonstrierende drangen in Militäreinrichtungen ein. In Mexiko-Stadt kam es zu Massendemonstrationen und der Errichtung von teils mehrmonatigen Protestcamps und Straßenblockaden. Mit dem Amtsantritt von Präsident Andrés Manuel López Obrador 2018 verbanden Angehörige und Aktivist*innen zunächst Hoffnungen. Im Wahlkampf hatte er versprochen, sich für schonungslose Aufklärung und ein Ende der Straflosigkeit für Polizei und Militär einzusetzen.

Tatsächlich wurden die Ermittlungen zunächst wieder aufgenommen. Die Wahrheitskommission der Regierung (COVAJ) formierte sich neu und die Bedingungen für die Arbeit der international besetzten unabhängigen Expert*innengruppe (GIEI, Grupo Interdisciplinario de Expertos Independientes) der Interamerikanischen Menschenrechtskommission wurden verbessert. Sie sprechen mittlerweile von einem „Staatsverbrechen“, an dem Gemeindepolizei, Bundesstaatspolizei, Bundespolizei, Ministerialpolizei, Armee und Marine beteiligt gewesen seien.

Die Expert*innenkommission hat sechs Ermittlungsberichte vorgelegt, laut denen die Studierenden von Ayotzinapa bereits seit Jahren vom Militär und dem Nachrichtendienst überwacht worden waren. Es seien sogar zwei Spitzel in das Internat eingeschleust worden, von denen einer selbst Opfer der Tat wurde. Die militärischen Befehlshaber seien in Echtzeit über das Geschehen informiert gewesen. Agenten des militärischen Nachrichtendienstes verfolgten die Studenten ab dem Zeitpunkt, als sie in Iguala ankamen. Mehrere Militärpatrouillen wurden zu den Orten entsandt, an denen die Studenten angegriffen wurden. Auch direkte Kontakte zwischen Polizei und der mutmaßlich verantwortlichen kriminellen Gruppe sind erwiesen. Das Militär hörte die Telefone von Mitgliedern der Guerreros Unidos und der Präventivpolizei von Iguala ab. Auch wurde ein Gespräch zwischen dem Anführer der kriminellen Bande und einem Polizisten aufgezeichnet, in dem erwähnt wird, dass 17 Studenten zu einem Grab außerhalb der Stadt gebracht werden sollen.

Auf Grundlage der Ermittlungsergebnisse wurden im vergangenen Jahr 83 Haftbefehle ausgestellt, unter anderem gegen hochrangige Mitglieder in Militär, Polizei, Politik und Justiz. So wird dem damaligen Brigadekommandeur und späteren General José Rodríguez Pérez vorgeworfen, die Hinrichtung von mindestens sechs Normalistas befohlen zu haben. Sein Vorgesetzter und späterer Stabschef der Nationalen Verteidigung, General Alejandro Saavedra Hernández, soll genau über das Geschehen informiert gewesen sein.

Trotzdem behindert insbesondere das Militär die Untersuchungen weiter. 16 der gegen Militärs gerichteten Haftbefehle wurden zwischenzeitlich wieder annulliert. Im Mai wurde der damalige Bürgermeister von Iguala, José Luis Abarca, dessen Familie über enge Verbindungen zum organisierten Verbrechen verfügen soll, zunächst verurteilt, kurz darauf jedoch von einer höheren Instanz wieder freigesprochen.

Das Vertrauen der Angehörigen der 43 Studenten in die Regierung von López Obrador hat sich mittlerweile in Frust und Enttäuschung gewandelt. „Sie stehen auf der Seite des Militärs, aber sie sollten auf der Seite der Opfer stehen”, so die Einschätzung nach einem Treffen mit dem Präsidenten während der Protesttage im September. Der hatte zuvor die Armee verteidigt und Unterstützer*innen und Menschenrechtsorganisationen unterstellt, im Bund mit internationalen Organisationen seiner Regierung schaden zu wollen und vom Leid der Opfer finanziell zu profitieren.

Ende Juli hatte die unabhängige Expert*innenkommission, die sich das Vertrauen der Angehörigen erarbeitet hat, ihre Arbeit unverrichteter Dinge abgebrochen, da die Verweigerungshaltung der Armee eine konsequente Aufklärung verunmögliche. Zudem übte sie heftige Kritik an der Regierung, die sich weigere, die Armee dazu zu bewegen, der Untersuchungskommission Zugriff auf nötige Informationen zu verschaffen und Dokumente herauszugeben. Nach dem Aus der Kommission erklärten Angehörige: „Die Regierung muss sich entscheiden, auf welcher Seite sie steht: auf Seiten der Lügen der Armee oder auf der Seite der Familien und der Wahrheit.“

„Wir sind hier, weil die Militärs für das Verschwinden der Jugendlichen verantwortlich sind.“

Angesichts der Blockadehaltung der Regierung setzen die Angehörigen mittlerweile vor allem auf den Druck der Straße. Im September reisten Normalistas aller 16 Schulen des Landes nach Mexiko-Stadt, um gemeinsam mit den Angehörigen und Vertreter*innen sozialer Bewegungen eine lückenlose Aufklärung des Falls zu fordern. Auch in anderen Städten des Landes wurde demonstriert. In den Tagen zuvor war es zu Auseinandersetzungen in Chilpancingo gekommen.

In der Hauptstadt besetzten die Protestierenden symbolträchtig die Zufahrt zur Militärbasis Nr. 1 und Errichteten ein Protestcamp. „Wir sind hier, weil sie für das Verschwinden der Jugendlichen verantwortlich sind. Sie haben Zeugenaussagen manipuliert und uns angelogen. Wir wollen die Wahrheit wissen. Wir werden weiterhin unsere Stimme erheben, damit die Regierung reagiert“, erklärte Melitón Ortega, Onkel von Mauricio Ortega Valerio, einem der vermissten Studenten.

Zum Höhepunkt der Proteste demonstrierten am Abend des 26. September, des neunten Jahrestages der Gewalttat, mehrere tausend Menschen mit einer kraftvollen Demonstration in Mexiko-Stadt. Am von Aktivist*innen errichteten „Antimonument +43“ las Cristina Bautista die Namen aller „verschwundenen“ Studenten von Ayotzinapa sowie der drei Studenten vor, die an dem Tag von Einsatzkräften in Iguala getötet worden waren. Zum Abschluss enthüllte sie eine Gedenktafel, auf der die Notwendigkeit von Wahrheit und Gerechtigkeit betont wird. Ans Aufgeben denkt Bautista auch neun Jahre nach dem Verbrechen nicht: „Lebend haben sie sie uns genommen, lebend wollen wir sie zurück!”

WO IST SANTIAGO MALDONADO?

In der argentinischen Verfassung sind indigene Rechte verankert. Anspruch und Wirklichkeit klaffen jedoch weit auseinander: Das Recht der indigenen Bevölkerungen auf Schutz ihrer Territorien wird häufig mit Füßen getreten. Im Süden des Landes schwelt seit Jahren ein Konflikt mit den Mapuche, zu denen sich etwa 100.000 Menschen in Argentinien zugehörig fühlen. Bereits seit ihrer Vertreibung und Dezimierung in der Kolonialzeit fordern die Mapuche ihre Gebiete zurück. Doch erst als in den neunziger Jahren große Ländereien in Patagonien an private Investor*innen verkauft wurden und mit Öl- und Gasbohrungen unter den Regierungen der Kirchners (2003-2015) fortgeschritten wurde, brachen die Konflikte zwischen Mapuche und argentinischem Staat offen aus. Die derzeitige Regierung von Mauricio Macri versucht, die Mapuche als Terrorist*innen und Gefahr für die innere Sicherheit darzustellen. Sie hat sogar nachweislich den argentinischen Geheimdienst mit der Aufgabe betraut, Delikte zu erfinden, die die Indigenen hinter Gitter bringen.

Auch das lof (“Gemeinde” auf Mapudungún) Cushamen gehört zum Konfliktgebiet, da es auf dem 900.000 Hektar umfassenden Grundstück des italienischen Kleiderherstellers und Multimillionärs Luciano Benetton liegt. Nach dem Staat und den Provinzen besitzt Benetton am meisten Land in Argentinien. Mehrmals versuchte die Polizei bereits gewaltsam das lof zu räumen. Ihr lonko (“Anführer”), Facundo Jones Huala, sitzt seit Ende Juni im Gefängnis.

Am 1. August griff die Polizei bei einer Straßenblockade für die Freilassung Hualas erneut hart durch. Laut der Aussage von Zeug*innen ging die Polizei mit Schusswaffen gegen die Mapuche vor und brannte deren Zelte nieder. Auch Santiago Maldonado war vor Ort. Maldonado ist selbst kein Mapuche, solidarisiert sich aber mit ihren Forderungen und war zu diesem Zweck in die Gemeinde gereist. Nach dem Angriff der Polizei floh er mit den anderen Aktivist*innen in Richtung eines Flusses. Da er jedoch nicht schwimmen kann, kehrte er auf halbem Weg wieder um. Maldonado versteckte sich in einem Busch, wo die Polizei ihn aufspürte. Die Polizeibeamt*innen verprügelten den jungen Mann, zerrten ihn in ihr Polizeiauto und verschwanden. Laut der Mapuche leitete Pablo Noceti, die rechte Hand von Innenministerin Patricia Bullrich und Vorsitzender des Kabinetts des Ministeriums für innere Sicherheit, die Operation. Dies konnte später durch Fotos und Filmaufnahmen belegt werden.

Nach dem Verschwinden von Santiago Maldonado machten zahlreiche Gerüchte die Runde. Zuerst äußerte die Regierung Zweifel daran, dass er zum Tatzeitpunkt überhaupt am Ort des Geschehens war. Bald fanden Ermittler*innen jedoch in dem Gebüsch, wo sich der Aktivist laut Zeugenaussagen versteckt gehalten hatte, seine Mütze und Blutspuren. Die Auswertung der DNA ist noch nicht abgeschlossen. Regierungsnahe Medien verbreiteten die Aussagen von Personen, die Maldonado gesehen oder sogar im Auto mitgenommen haben wollten. Tatsächlich handelte es sich jedoch nicht um den Verschwundenen. Innenministerin Bullrich ließ verlauten, dass die Familie Maldonado nicht ausreichend mit der Justiz kooperiere, weshalb die Ermittlungen nur schleppend vorankämen.

Die Regierung kommt zunehmend in Erklärungsnöte.

Die Regierung kommt zunehmend in Erklärungsnöte. Dafür sorgt auch eine Liste der unterlassenen oder verspätet eingeleiteten Maßnahmen durch die Verantwortlichen. Denn inzwischen gibt es Informationen darüber, dass auf dem Grundstück Benettons, nahe Cushamen, ein Posten der Militärpolizei stationiert ist. Von dort aus koordiniert die Polizei Aktionen gegen die Mapuche. Doch trotz der Aussagen einiger Zeug*innen, Maldonado sei dorthin verschleppt worden, ordnete der verantwortliche Richter bislang keine Durchsuchung an. Ebenso wenig wurden die Telefonate von Pablo Noceti mit der Polizei ausgewertet. Die Begründung: Es läge kein Verdacht gegen Noceti vor. Menschenrechtsorganisationen sind überzeugt, dass die Ministerin selbst ein Vorankommen bei der Suche nach Maldonado verhindere. Sie fordern ebenso wie viele andere Argentinier*innen ihren Rücktritt.

Währenddessen haben die Familie Maldonado und eine Reihe sozialer und politischer Organisationen eine Öffentlichkeitskampagne gestartet. “Lebend haben sie ihn mitgenommen, lebend wollen wir ihn zurück – JETZT” lautet das Motto, das jede Aktion begleitet. Das Gesicht des 28-Jährigen und die Frage nach seinem Verbleib haben inzwischen die Grenzen des Landes überschritten. Fotos machen die Runde, auf denen Persönlichkeiten wie Noam Chomsky oder die Fraktion von Podemos im spanischen Parlament Poster mit Maldonados Konterfei hochhalten. Hinzu kommen Solidaritätsaktionen vor der argentinischen Botschaft in unterschiedlichen Ländern – so auch in Berlin am 1. September. Auch Lieder, Gottesdienste und Nachtwachen sind Teil der Kampagne. “Es ist entscheidend, soviel Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen, um Druck auf die Verantwortlichen auszuüben. Nur so können wir hoffen, dass die Untersuchungen weitergehen, Santiago lebendig auftaucht und niemand ungestraft davonkommt, so wie es leider schon in anderen Fällen geschehen ist”, sagt Roberto Cipriano, Anwalt und Vorsitzender des Exekutivstabs der Gedächtniskommission der Provinz von Buenos Aires, der als Nebenkläger an dem Fall beteiligt ist.

Am 1. September, einen Monat nach dem Verschwinden Maldonados, fand in Buenos Aires eine Demonstration statt. Mehr als 250.000 Menschen versammelten sich auf der zentralen Plaza de Mayo. Am Ende der Demonstration lieferten sich Polizei und Demonstrant*innen Auseinandersetzungen. Mehr als 30 Personen wurden festgenommen. Zahlreiche Hinweise darauf, dass Polizeibeamte den Protestzug infiltriert und Gewalt provoziert hätten, sorgten für Empörung in der Bevölkerung. Die Festgenommenen mussten jedoch nach 48 Stunden freigelassen werden, da es keine Beweise gab und soziale Bewegungen starken Druck ausübten. Ein kleiner Erfolg für die Protestbewegung. Doch von Maldonado fehlt nach wie vor jede Spur…

„KEIN FOTO IST ÜBERFLÜSSIG!“

Die Angehörigen “Wie fotografiert man jemanden, der verschwunden ist?” (Fotos: Emmanuel Guillén Lozano)

 

Als die 43 Studenten in Iguala verschwanden, waren Sie selbst noch Student in Mexiko-Stadt. Was hat Sie bewegt, in den Bundesstaat Guerrero zu reisen und den Fall zu dokumentieren?
Der Fall der Studierenden aus Ayotzinapa war so etwas wie der Wendepunkt, der dem Thema der Verschwundenen in Mexiko eine neue Relevanz gab. Mir war sofort klar, dass ich etwas tun musste, um den Fall zu dokumentieren. Ich beendete mein Studium genau zwei Monate nach dem Angriff in Iguala, kaufte mir von meinen Ersparnissen eine Kamera und reiste sofort nach Guerrero. Als ich in Iguala ankam, stellte ich jedoch fest, dass die verschwundenen Studenten der Normal Rural bei weitem nicht die einzigen waren, die in der Region vermisst werden. Als der Fall Ayotzinapa bekannt wurde, löste dies eine ganze Welle von Vermisstenanzeigen aus. Die Familien dieser weiteren Verschwundenen gründeten eine Gruppe, die sich „Die anderen Verschwundenen aus Iguala“ nennt. Gemeinsam mit den Angehörigen der vermissten Studenten organisierten sie sich, um sich selbst auf die Suche nach den Verschwundenen zu machen. Ich habe einige dieser Nachforschungen begleitet und fotografiert.

Wie liefen diese Nachforschungen ab?

Im Wesentlichen gingen die Menschen gemeinsam in die Berge, zu Orten, von denen „jemand“ ihnen gesagt hatte, dass dort ein Massengrab sein könnte. Mit nichts als Schaufeln und Hacken machten sie sich auf den Weg. Außerdem hatten sie lange, dünne Metallstäbe und Hämmer dabei, deren Sinn ich nicht sofort verstand. Dann sah ich, dass sie diese Stäbe in die Erde hämmerten, wieder herauszogen und an der Spitze rochen. Wenn die Spitze schlecht roch, fingen sie an zu graben – denn das war ein Hinweis auf verwesende Leichen. Dieser erste Geruchstest war sehr oft positiv. In den allermeisten Fällen tauchten auch schon nach kurzem Graben erste menschliche Reste, Kleidung oder Knochen, auf.

Wie war es für Sie als junger Fotograf, die Menschen bei ihrer Suche zu begleiten?

Für mich war das der erste Kontakt überhaupt mit dem Thema der Verschwundenen. Gleichzeitig waren sie der wohl emotional schwerste Teil meiner Arbeit. Die schiere Verzweiflung der Menschen, die die Reste eines geliebten Angehörigen erkennen, kann man gar nicht beschreiben. In den ersten Monaten fand die Gruppe der Angehörigen, der zeitweise bis zu 500 Familien angehörten, rund um Iguala über 70 Massengräber. Was sie nicht fanden, waren die Überreste der verschwundenen Studenten aus Ayotzinapa.

 

Sie begleiteten nicht nur die Suche nach Massengräbern in Iguala, sondern besuchten auch die Angehörigen der Vermissten in Ayotzinapa. Worauf konzentrierten Sie sich bei Ihrer Arbeit?

Nachdem ich die Menschen in Iguala für einige Monate begleitet hatte, fuhr ich im Juni 2015 nach Ayotzinapa. Ich besuchte die Schule, an der die verschwundenen Lehramtsanwärter studiert hatten, begleitete ihre Familien und fotografierte in einigen ihrer Wohnhäuser. Außerdem dokumentierte ich den sozialen und politischen Kontext rund um die Bewegung der Angehörigen: Demonstrationen, gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Polizisten, verschiedene Blockaden von Menschen, die keine politische Propaganda in ihren Dörfern wollten. Ich fotografierte auch einige bewaffnete Blockaden der Drogenkartelle. Ich brauchte lange, um einen Zugang zu dem Thema zu finden – denn wie fotografiert man jemanden, der verschwunden ist? Mein Fokus lag daher darauf, das Gefühl der Leere zu dokumentieren und zu vermitteln, das diese Studenten hinterlassen haben.

Warum entschieden Sie sich zu genau diesem Zeitpunkt, Ihre Arbeit von Iguala nach Ayotzinapa zu verlagern?

Der Juni 2015 war aus meiner Sicht ein entscheidender Moment, denn zu diesem Zeitpunkt sollten in Ayotzinapa die ersten Wahlen nach dem Verschwinden der Studenten stattfinden. Die lokale Bevölkerung war so wütend, dass sie die Wahlen verhindern wollten – was ihnen im Endeffekt auch gelang. Das war für mich ein Schlüsselmoment, in dem deutlich wurde, wie unzufrieden die Menschen mit der gesamten politischen Klasse in Mexiko sind. Denn Ayotzinapa war der erste Fall, der anschaulich beweisen konnte, wie weit die mexikanische Regierung und die Drogenkartelle miteinander verflochten sind. Vorher war den meisten Mexikanern klar, dass es diese Verbindungen gibt – aber in Ayotzinapa konnte man sie das erste Mal beweisen. Nach Ayotzinapa begann ein großer Teil der mexikanischen Gesellschaft, sich Fragen zu stellen: Wie viele Bürgermeister tolerieren den Drogenhandel, wie viele Gouverneure arbeiten mit den Kartellen direkt zusammen? Im Verlauf der Untersuchungen wurde zudem deutlich, dass die mexikanische Regierung von oberster Stelle aus versuchte, die Wahrheit im Falle der verschwundenen Studenten zu verschleiern.

Was ist bis jetzt darüber bekannt, was in dieser Nacht in Iguala geschah?

Viele Theorien sagen, dass die Studenten angegriffen wurden, weil sie von einer als rebellisch bekannten Schule kamen und eine bestimmte Ideologie oder politische Gesinnung repräsentieren. Diese Theorien lassen sich genauso wenig belegen wie die offizielle Version der Regierung, wonach der Bürgermeister von Iguala die Busse angreifen ließ, weil er die Unterbrechung einer Rede seiner Ehefrau befürchtete (siehe LN 507/508).

Was ist aus Ihrer Sicht tatsächlich passiert?

Entgegen dieser Darstellungen deuten alle tiefgründigen, unabhängigen Untersuchungen in eine andere Richtung: Die bekannte Investigativjournalistin Anabel Hernández etwa hat Ende letzten Jahres ein Buch herausgegeben, in dem sie die Ergebnisse ihrer zwei Jahre dauernden Befragungen vorstellt. Sie sprach mit unzähligen Menschen, sowohl mit Nachbarn des Tatortes in Iguala als auch mit Polizisten, Militärangehörigen und Mitgliedern des Drogenkartells Guerreros Unidos, die in dieser Nacht anwesend waren. Nach der Auswertung aller Gespräche kommt sie zu dem Schluss, dass zwei der fünf Busse, in denen die Studenten reisten, offenbar mit Heroin im Wert von über zwei Millionen US-Dollar beladen waren.

Also waren vermutlich nicht die Studierenden, sondern die Busse Ziel des Angriffs?

Genau. Der Angriff erfolgte dieser Version nach nicht auf die Studenten, sondern eher auf die zwei Busse, die das Heroin transportierten. Die Lehramtsanwärter waren also eher zufälliges Opfer eines missglückten Drogentransportes. Diese Version erklärt auch, warum nur jene Studenten verschwanden, die in den spezifischen zwei Fahrzeugen reisten. Die anderen drei Busse wurden nicht angegriffen. Auch andere Untersuchungen wie die der Unabhängigen Interdisziplinarischen Expertenkommission (GIEI) deuten in dieselbe Richtung wie die Schlussfolgerungen von Anabel Hernández.

Wie genau lief der Angriff laut dieser Version der Geschichte ab?

Hernández beschreibt, dass die Studenten die Busse von einer Busgesellschaft ausliehen, ohne von den versteckten Drogen zu wissen. Auch von Seiten der Drogenkartelle scheint diese Entwicklung nicht geplant gewesen zu sein. So rief offenbar der Boss des Drogenkartells Guerreros Unidos direkt bei der örtlichen Militärbasis in Iguala an und beauftragte die Soldaten damit, sein Heroin zurückzuholen. Das muss man sich erstmal vorstellen: Ein Drogenboss befielt dem Militär, Busse wegen einer Ladung Drogen anzugreifen! Die Militäroffiziere reagierten und starteten eine gemeinsame Operation mit der lokalen und der Bundespolizei, um die Drogenladung zurückzubekommen. Sie hielten die Busse an und begannen damit, die Fracht zu entladen. Laut Hernández wurden sie dabei jedoch von den Studenten beobachtet – und das war dann vermutlich der Grund für ihr Verschwinden. Diese Version wird auch dadurch belegt, dass bestimmte Videos der Überwachungskameras in den Händen der Generalstaatsanwaltschaft auf mysteriöse Weise verschwanden – und zwar die Bilder aus genau dem Bereich, in dem die Drogen umgeladen worden sein sollen.

Sie haben bereits erwähnt, dass die mexikanische Regierung offenbar systematisch versucht, die Ereignisse zu vertuschen und die Untersuchungen zu behindern. Gab es weitere Ereignisse, die diese Versuche belegen?

Es gibt Hinweise, dass die Regierungsstellen selbst vermeintliche Beweismittel platzierten, um die Regierungsversion der Geschehnisse zu bestätigen. Ein besonders gravierender Fall betrifft die Untersuchung an der Müllhalde von Cocula. Dort fanden die Gutachter der Regierung Plastiktüten mit Knochen. Österreichische Gerichtsmediziner konnten einen dieser Knochen dem verschwundenen Studenten Alexander Mora zuordnen.

 

…was das offizielle Ermittlungsergebnis bestätigen würde, wonach die Studenten auf dieser Müllhalde lebendig verbrannt wurden. Sie zweifeln an diesem Fund?

Ein Kollege von mir veröffentlichte parallel ein Video, das er einen Tag vor der Entdeckung der Knochen in Cucula gedreht hatte. Dort sieht man, wie dieselben Gutachter, die am folgenden Tag die Tüten mit den Knochen finden, identische Tüten auf der Müllhalde deponieren. Der Verdacht liegt also nahe, dass sie die Tüten zuvor selbst dort platziert haben. Nun stellt sich jedoch die Frage: Wenn die Gutachter Knochen deponieren und einer dieser Knochen von einem der verschwundenen Studenten stammt – wie sind sie an diesen Knochen gekommen? Das würde bedeuten, dass die Gutachter direkten Zugang zu dem Leichnam von Alexander Mora gehabt haben müssen. Das würde auch bedeuten, dass sie mehr wissen, als sie offiziell sagen.

Sie haben die Familienangehörigen der verschwundenen Studenten über einen langen Zeitraum begleitet. Wie haben diese auf die verzögerten Ermittlungen und die widersprüchlichen Ergebnisse reagiert?

Die vermissten Studenten stammen alle aus sehr armen Familien. Das heißt, den Familien ging es vorher schon schlecht – und dann verschwinden auch noch ihre Söhne. Einige der Verschwundenen waren Brüder. Also betrauern manche Eltern nicht nur einen, sondern gleich mehrere ihrer Söhne. Ihre Situation ist grausam. Und obwohl die Regierung massiv versucht hat, die Untersuchungen zu behindern, haben diese Familien nicht aufgegeben und sich nicht korrumpieren lassen – und das obwohl ihnen von staatlicher Stelle mehrfach Schweigegeld angeboten wurde. Bis heute sind sie sehr aktiv, sie demonstrieren mindestens einmal im Monat in Mexiko-Stadt. Einige der Eltern sind durch die USA gereist, um auf den Fall aufmerksam zu machen. Andere haben vor dem UN-Komitee gegen gewaltsames Verschwindenlassen (CED) in Genf gesprochen. Doch das Frustrierende ist, dass sie trotz all ihrer Mühen keine Chance gegen die Mechanismen des Staates haben. Solange Enrique Peña Nieto an der Regierung bleibt, wird dieser Fall wohl nie aufgeklärt werden.

Wie gehen die Familien im Alltag mit dem Fehlen ihrer Söhne um?

Sie sind verzweifelt. Alle Familien, die ich besucht habe, haben direkt am Eingang ihres Hauses einen Altar mit dem Bild ihres verschwundenen Sohnes. Der Altar ist das Erste, was sie sehen, wenn sie das Haus betreten. Er ist das Letzte, was sie sehen, wenn sie das Haus verlassen. Er ist die einzige Möglichkeit, ihre Söhne auf irgendeine Art lebendig zu halten. Sie sagen, das Schlimmste für sie sei, dass sie keinen Ort haben, an dem sie trauern können. Keinen Ort, um Blumen abzulegen. Die andauerende Ungewissheit quält sie jeden Tag.

Wie sehen Sie Ihre Rolle als Fotograf bei der Dokumentation von Fällen wie jenem in Ayotzinapa?

Ich glaube, wenn etwas passiert wie der Fall der verschwundenen Studenten aus Ayotzinapa und wir die Möglichkeit haben, die Ereignisse zu dokumentieren, dann sollten wir das aus allen uns zur Verfügung stehenden Perspektiven tun. Kein Foto ist überflüssig, kein Video zu viel. Meine Aufgabe als Fotograf besteht darin, die Ereignisse zu dokumentieren und sie bekannt zu machen. Denn ich glaube, nur wenn solche Fälle auch außerhalb Mexikos diskutiert werden, kann Druck auf die mexikanische Regierung aufgebaut werden. Die Proteste der eigenen Bevölkerung interessieren Enrique Peña Nieto nicht. Auch deswegen arbeite ich viel mit internationalen Medien zusammen – nicht nur, weil die Bezahlung in Mexiko so schlecht ist [lacht]. Zeitungen wie die New York Times drucken meistens die Fotografien, die weiße, männliche, US-amerikanische Fotografen im Ausland aufgenommen haben. Dabei kann eine andere Perspektive ein völlig neues Bild auf die Situation werfen.

 

Newsletter abonnieren