Recherchen auf heißem Pflaster

Indigene Frauen vor und hinter der Kamera Die freischaffende Videoproduzentin Ana Matzir bei der Arbeit (Fotos: Andreas Boueke)

Ein Demonstrationszug läuft über die Haupteinkaufsstraße des alten Zentrums von Guatemala-Stadt. Es geht vorbei an renovierungsbedürftigen Wohnhäusern, kolonialen Kirchengebäuden, farbenfrohen Läden und modern ausgestatteten Bankfilialen, vor deren Eingangstüren bewaffnetes Sicherheitspersonal Wache schiebt. Die meisten Demonstrierenden sind Frauen. Sie protestieren gegen die Gewalt, der viele von ihnen immer wieder ausgesetzt sind. In einer Gruppe mit dem Namen „Plattform Gerechtigkeit“ laufen zwei Dutzend Frauen in schwarzen T-Shirts mit aufgedruckten Bildern gelber Sonnenblumen. Eine hält ein Schild hoch. Es trägt die Aufschrift: „Ich lebe in einem Land des Femizids“. Die guatemaltekische Menschenrechtsorganisation GAM geht davon aus, dass im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre im Land rund 13.000 Frauen und Mädchen ermordet wurden.

„Ich lebe im Land des Feminizids“ Demo in Guatemala-Stadt

Guatemaltekische Kameramänner, deren Jacken die Logos kleiner Produktionsfirmen tragen, filmen den Protest. Eine europäische Fotografin stellt sich auf eine Parkbank, um den Blickwinkel ihrer Kamera auf den Demonstrationszug zu verbessern. Indigene Reporterinnen nutzen ihre Smartphones, um Fotos zu machen und Interviews aufzunehmen. In der Menge taucht mal hier, mal da der braune Hut und die farbenfrohe Tracht der Gemeindereporterin Angela Cuc auf. Die junge Frau recherchiert für eine Reportage über die Lebensrealität von Frauen aus Mayagemeinschaften in Guatemala. „In einem Land wie diesem ist es sehr schwierig sicherzustellen, dass die Rechte einer Frau respektiert werden“, sagt sie und wischt einige Schweißtropfen von ihrer Brille. „Uns steht ein Staat gegenüber, der vom Machismo geprägt ist. Seine Strukturen sind frauenfeindlich und patriarchal. Wer versucht, in den großen Medien Berichte über die ausgegrenzten Teile der Bevölkerung unterzubringen, hat es schwer.“

Angela Cuc stammt aus der Mayagemeinschaft der Kaqchikel. Sie schreibt für verschiedene alternative Publikationen in Guatemala und ist Korrespondentin eines indigenen Radioprogramms aus der ecuadorianischen Hauptstadt Quito. Im hinteren Teil des Protestzugs trifft sie auf einige Mitglieder der interreligiösen Vereinigung CENTINELAS. Die dort Protestierenden tragen ein Banner, auf dem geschrieben steht: „Das Gesicht der Kriminalisierung ist weiblich, das der Tapferkeit auch.“

Die Medienmacht ist in Guatemala extrem zentralisiert

Die Pressesprecherin der Vereinigung, Mayra Rodriguez, ist gerne bereit zu einem Interview: „Die Kriminalisierung nimmt zu und immer häufiger trifft sie mutige Frauen. Sie kämpfen gegen ein System, das von korrupten Machenschaften und persönlichen Interessen manipuliert wird. Wir verlangen Gerechtigkeit für alle Frauen, die verfolgt werden, weil sie ihre Rechte einfordern. Die ständige Bedrohung erzeugt ein Klima des Terrors.“

In einer Rangliste der Pressefreiheit der Organisation Reporter ohne Grenzen für das Jahr 2022 steht Guatemala zwischen 180 Staaten im unteren Drittel. Die Vereinigung CENTINELAS bemüht sich seit Jahren darum, Gläubige verschiedener Religionen im Engagement gegen Zensur und Korruption zusammenzuführen. Vor allem katholische und evangelische Christ*innen machen mit, aber auch jüdische, muslimische, buddhistische Gläubige und Anhänger*innen der Mayareligion. Gemeinsam fordern sie ein Ende der Gewalt und mehr Transparenz in Wirtschaft und Politik, erklärt Rodriguez: „In Guatemala leidet die Hälfte der Kinder an chronischer Unterernährung. Das muss sich ändern. Einige Frauen werden verfolgt, weil sie über Korruption schreiben und für Verbesserungen kämpfen. Sie tun das mit einer Haltung der Würde. Das macht sie zu Vorbildern für uns alle.“

Angela Cuc freut sich über die Anerkennung ihrer Arbeit. Sie hofft, dass solche Unterstützung dazu beiträgt, sie und ihre Kolleginnen in Guatemala vor Übergriffen zu schützen. Denn in Lateinamerika gilt nur das Nachbarland Mexiko als noch gefährlicher für Journalist*innen. „Wer in Guatemala journalistisch arbeitet, hat sich schon immer auf Konfrontationskurs zur Regierung begeben. Wer die Interessen der Politiker durchkreuzt, bekommt Probleme. Wenn du darüber berichtest, wie die Frauen der indigenen Völker ihr Land und ihre Körper verteidigen, wirst du von der Regierung als interner Staatsfeind angesehen.“

Dabei gab es einmal eine Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung in Guatemala: Als im Dezember 1996 der Bürgerkrieg offiziell zu Ende ging, erlebte die Gesellschaft Fortschritte in ihrer demokratischen Entwicklung. Die Pressefreiheit wurde einige Jahre lang von den meisten staatlichen Institutionen respektiert. Viele Menschen gewöhnten sich daran, die Regierung weitgehend ohne Angst kritisieren zu können.

Eine Opposition zum Medienmonopol

Doch zwei Jahrzehnte später überwiegen die Rückschläge. Heute werden wieder viele Menschenrechtsaktivist*innen, kritische Reporter*innen, aber auch unabhängige Richter*innen und Mitarbeiter*innen kirchlicher Menschenrechtsorganisationen eingeschüchtert und bedroht. Es kommt zu Anschlägen und Morden. Staatsanwält*innen, die Fälle von Korruption aufdecken, werden mit fadenscheinigen Vorwürfen diskreditiert. Im Jahr 2022 wurden mehr als 300 Angestellte des Justizsystems inhaftiert. Die Atmosphäre der Angst treibt Oppositionelle ins Exil. Mayra Rodriguez macht sich vor allem Sorgen um mittellose Frauen, die es wagen, Korruption und Rassismus öffentlich anzuklagen. Ihnen fällt es besonders schwer, sich im Labyrinth der Willkür des Justizsystem gegen frauenfeindliche Verleumdungen zu verteidigen. „Wir verlangen, dass die Kriminalisierung der indigenen Gemeindereporterinnen aufhört. Die korrupten Politiker haben es auf diejenigen Personen abgesehen, die ihnen im Weg stehen. Für sie stören die Berichte der Frauen wie Steine im Schuh.“

Durch diese Worte fühlt sich Angela Cuc in ihrer journalistischen Arbeit bestätigt. In ihren Texten ergreift sie immer wieder Partei für die Frauen der Mayabevölkerung, die seit Jahrhunderten zu den am stärksten ausgegrenzten und diskriminierten Gruppen des amerikanischen Kontinents zählen. In den Fernsehkanälen Guatemalas wird nur sehr selten über diese Missstände berichtet. Es gibt drei Sender, die im ganzen Land über Antenne empfangen werden können. Die abendlichen Nachrichten dieser Sender sind die wichtigsten Informationsquellen, auf die ein Großteil der verarmten Bevölkerung Zugriff hat. Doch alle drei Sender sind im Besitz eines einzigen Mannes, des mexikanischen Medienmoguls Ángel Gonzales. Zudem besitzt er zahlreiche Kinos und die Frequenzen mehrerer Radiostationen. Sein Einfluss auf die Kultur und Politik des Landes ist enorm und er zeigt wenig Skrupel bei der Wahl der Mittel, mit denen er seine Medienmacht verteidigt.

Angela Cuc weiß, dass eine plurale und diverse Berichterstattung in Guatemala ein sehr weit entferntes Ziel ist: „Wir Maya werden bis heute als der Feind angesehen. Viele Leute können nicht akzeptieren, dass wir indigenen Frauen Widerstand leisten. Deshalb wollen sie verhindern, dass wir ein Mikrofon in die Hand nehmen und uns an der Berichterstattung beteiligen.“

Die meisten Kolleginnen von Angela Cuc sind noch jung, aber viele hatten schon Konflikte mit der Polizei. Der einen wurde die Fotoausrüstung konfisziert, die andere wurde festgenommen und verhört, manche wurden geschlagen. Angela Cuc selbst musste mehrere Nächte in einer Zelle verbringen, bis ein Richter sie freisprach – nicht aus Respekt für ihre journalistische Arbeit, sondern weil es keinerlei Beweise gab für den Vorwurf, sie sei Mitglied einer terroristischen Vereinigung. „Die Angst ist eine ständige Begleiterin dieser Arbeit. Auf den Schutz der Polizei können wir nicht zählen. Stattdessen misshandeln sie uns, selbst wenn du dich als Journalistin ausweisen kannst.“

Als der Demonstrationszug den zentralen Platz der Hauptstadt erreicht, führt eine Gruppe Mädchen vor der Kathedrale der Erzdiözese von Guatemala-Stadt einen Tanz auf. In dem Gebäude dahinter sitzt die Sozialwissenschaftlerin Gloria Gonzales an einem Schreibtisch aus Metall. Sie berät die guatemaltekische Bischofskonferenz in Fällen von Landkonflikten und bei der Ausarbeitung von Projekten zur ländlichen Entwicklung. „In letzter Zeit beobachten wir eine neue Dynamik. Früher waren die Anführer der Kämpfe indigener Gemeinden meist männliche catequistas (religiöse Autoritäten Anm. d. Red.). Aber jetzt geht es immer häufiger um die Bewahrung der Schöpfung und die Verteidigung der natürlichen Ressourcen. Häufig stehen Frauen an der Spitze des Widerstands. Mag sein, dass ihre Identifikation mit Mutter Natur besonders ausgeprägt ist.“

Gloria Gonzales hält es auch für eine wichtige Aufgabe der Kirche, diese Frauen zu unterstützen. Viele werden verfolgt, weil sie sich für den Schutz der Natur einsetzen. „In diesem Land leben wir alle in Gefahr. Aber das Risiko der Anführerinnen sozialer und Umweltbewegungen ist besonders groß. Einige mussten das Land verlassen. Andere sind geblieben und ertragen die ständige Bedrohung. Manche sind im Gefängnis.“

„Wer die Interessen der Politiker durchkreuzt, bekommt Probleme“

Ab und zu beschäftigt das Menschenrechtszentrum der Diözese auch indigene Reporterinnen, die aus abgelegenen Gemeinden berichten. Die Jurastudentin Ana Matzir arbeitet als freischaffende Videoproduzentin: „Ich bemühe mich, immer auch Mitglieder der verarmten Dorfgemeinden zu Wort kommen zu lassen und ihre Entwicklungsprozesse zu stärken. Manchmal geht es darum, Aufmerksamkeit für politische Gefangene zu schaffen. In letzter Zeit habe ich über den Widerstand einiger Gemeinden gegen Bergbauprojekte recherchiert.“

Auf solche kritischen Berichte über große Wirtschaftsprojekte wartet man in den Nachrichtensendungen der monopolisierten Fernsehkanäle Guatemalas vergeblich. Die meisten Redaktionen achten darauf, den Interessen der politisch und wirtschaftlich Mächtigen nicht zu schaden. Ana Matzir versteht ihre unabhängige journalistische Arbeit als Opposition zu diesem Medienmonopol. Sie will die Aufmerksamkeit auf Entwicklungen lenken, die von der Gesellschaft weitgehend ignoriert werden.
Gefährlich wird es besonders dann, wenn solche Berichterstattung auf Umweltzerstörung aufmerksam macht und sich gegen die Interessen finanzstarker Unternehmen richtet. Gloria Gonzales weiß, dass sich junge Reporterinnen wie Angela Cuc und Ana Matzir oft in Gefahr bringen: „Sie begeben sich ins Auge des Hurrikans. Dort sind sie nicht nur deshalb besonders gefährdet, weil sie Frauen sind, sondern auch, weil sie einem Mayavolk angehören. Ihre Stimmen sind wichtig. Sie können viele andere Menschen informieren und mobilisieren. Deshalb bemühen wir uns, ihnen mehr Gehör zu verschaffen.“

Eine der bekanntesten Stimmen der Mayabevölkerung Guatemalas ist die von Rosalina Tuyuc, eine Ikone der indigenen Bewegung Lateinamerikas. Ihr Mann und ihr Vater wurden während des guatemaltekischen Bürgerkriegs von der Armee ermordet. Daraufhin hat sie CONAVIGUA gegründet, die Vereinigung der Kriegswitwen Guatemalas. Später wurde sie zur Vizepräsidentin des guatemaltekischen Parlaments gewählt. Heute beobachtet sie mit Sorge, wie die Regierung und die großen Medienunternehmen immer mehr Räume alternativer Berichterstattung schließen: „Dadurch wird unser Justizsystem auf die Probe gestellt: Eigentlich sollen die Gerichte sicherstellen, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Das bezieht sich auch auf die Presse. Es ist nicht gut, wenn nur die Mächtigen die Möglichkeit haben, ihre Meinung öffentlich zu machen.“

Die erfahrene Aktivistin weiß, dass es für Angehörige der Mayabevölkerung immer gefährlicher wird, sich Gehör zu verschaffen. Umso mehr freut sich Rosalina Tuyuc, wenn sie von jungen, indigenen Frauen wie Ana Matzir um ein Interview gebeten wird: „Die Frauen der Maya haben eine sehr wichtige Rolle übernommen. Sie begleiten die Kämpfe ihrer Völker und verteidigen das Recht auf freie Meinungsäußerung. Einige Reporterinnen werden kriminalisiert und bedroht. Doch trotz der Repression berichten sie weiter aus verschiedenen Regionen des Landes.“

Kamera und Mikrofon sind Werkzeuge des Journalismus, keine Waffen. Sie können nicht töten. In Guatemala sind sie zu wichtigen Bestandteilen des gewaltfreien Kampfes indigener Frauen um die Anerkennung ihrer Rechte geworden.

DIE BEWEGUNG DER FRAUEN

(Foto: Robert Swoboda)

MARCELA TURATI ist unabhängige Journalistin und beschäftigt sich seit langem intensiv mit Gewalterfahrungen und deren Auswirkungen auf Einzelne und die mexikanische Gesellschaft. Sie ist Mitgründerin des Netzwerkes Periodistas de a Pie (Journalisten auf den Beinen), einer Organisation welche die Qualitätsverbesserung des Journalismus in Mexiko zum Ziel hat. Für ihre Arbeit wurde sie mit mehreren internationalen Preisen ausgezeichnet. Auf der Internetseite www.adondevanlosdesaparecidos.org gibt es eine interaktive Karte zu Fundorten von Verschwundenen, welche Frau Turati auf der Konferenz vorstellte.


Seit über einem Jahrzehnt berichten Sie über das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen in Mexiko, dabei betonen Sie die besondere Rolle von Frauen bei der Suche nach ihren Angehörigen. Was sind Ihre Erfahrungen als Journalistin?
Als ich im Jahr 2008 anfing mich mit der Gewalt in Mexiko zu beschäftigen, fiel mir auf, dass es immer Frauen waren, die sich organisierten, die auf die Straße gingen für die Ermordeten und heute auch für die 40.180 Verschwundenen. Wir Journalistinnen sind heute ebenfalls organisiert. Die Männer sind eingeladen, machen aber nicht mit oder sind in traditionellen Organisationen engagiert. In den neuen Kollektiven sind vor allem Frauen. Wir arbeiten zusammen mit Anthropologinnen, Psychologinnen, Anwältinnen und begleiten die Kollektive von Müttern auf der Suche nach ihren Angehörigen, wenn sie demonstrieren, Veranstaltungen organisieren oder wenn sie versuchen Gesetze zu ändern und die UNO oder den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen. Überall sind es Frauen. Für mich war das sehr beeindruckend, ich war bis dahin überhaupt keine Feministin.

Warum nehmen die Männer nicht teil?
Es gibt Männer. Als sich die Bewegung das erste Mal zeigte, war an der Spitze ein Mann, der Dichter Javier Sicilia (im Jahr 2011, Anm. d. Red.). Er hat einige weibliche Attribute. Es gibt auch ein paar Ausnahmen, aber die Frauen sind beständig da und organisieren sich.
Doch wir stellen uns die gleiche Frage. Was ich oft gehört und gesehen habe, ist, dass der Mann sich um die wirtschaftlichen Angelegenheiten kümmert, damit die teure Suche nach Verschwundenen finanziert werden kann. Er geht zur Arbeit und unterstützt sie damit. Für viele Frauen ist die Suche selbst zur Arbeit geworden. Ein anderer Zusammenhang ist der, dass Männer insgesamt häufiger Opfer von gewaltsamem Verschwindenlassen und Morden sind. Eine Mutter kann einem Auftragsmörder gegenüber treten oder um Erlaubnis bitten ein Gebiet zu betreten ohne derartiges zu provozieren. Mit der Anwesenheit eines Mannes stellt sich dagegen die Frage, wer die Kontrolle hat. Bei den regelmäßigen Treffen der Bewegungen gibt es eine sehr weibliche Dynamik, es wird auch geweint, dieser Teil fällt den Männern sehr schwer. Auf die ein oder andere Art nehmen sie also teil, aber nicht bei der regelmäßigen kollektiven Organisierung.

Wie schaut die mexikanische Gesellschaft auf die Frauenkollektive, welche nach ihren Angehörigen suchen?
Teil der Gewalt ist eine Stigmatisierung. Ob Mord oder Verschwindenlassen, ob Journalist oder wer auch immer, wenn sie dich umbringen oder dich verschwinden lassen, dann weil du etwas gemacht hast. Das ist es, was die Menschen glauben wollen und was die Regierung unterstützt: Die Bösen morden nur untereinander, also macht euch keine Sorgen.
Klar begann man zu sehen, dass es so nicht ist. Bei vielen Opfern ist das „Warum?“ ungeklärt. Und es gibt keine Justiz, die diese Frage stellt. Die Straflosigkeit in Mexiko liegt bei 98 Prozent, die Verbrechen werden von niemandem aufgeklärt. Deshalb hat das Narrativ auch lange funktioniert, bis heute. Obwohl es so viele Verschwundene gibt und es sehr wahrscheinlich ist, dass du jemanden davon kennst. Die Menschen beginnen zu sehen, dass das jedem passieren kann. Sie können dich verschwinden lassen für das Tragen eines Tattoos, weil sie denken du bist in einem Kartell. Das kann passieren, wenn jemand in einer anderen Region unterwegs ist, zum Beispiel in Sinaloa aber aus Michoacán stammt und dann angenommen wird, dass derjenige vom dortigen Kartell ist. Oder wenn eine Gruppe von Männern, Migranten oder Touristen mit einem gemieteten Truck unterwegs ist, die dann verdächtigt wird, zu einem verfeindeten Kartell zu gehören. Das haben wir sehr viel erlebt, bei Studenten oder Bauern und anderen. Es gibt also viele Möglichkeiten, dass etwas passiert. Jeder kann verschwinden.
Ich sehe, dass es Menschen gibt die darauf reagieren. Und ich würde gerne sagen, dass die mexikanische Gesellschaft sich dessen bewusst ist. Aber ich glaube es nicht. Es scheint eine gefährliche Normalisierung einzutreten. Wir erleben ständig diese Momente des Horrors und mir scheint, die Menschen sind jedes Mal etwas mehr daran gewöhnt: ‘Das passiert nun mal in Mexiko, es ist außer Kontrolle’. Ich sehe die Solidarität nicht, dass Menschen die Mütter auf der Suche nach ihren Verschwundenen unterstützen, mit ihnen auf die Straße gehen.

Im Jahr 2011 gab es die große Bewegung mit Javier Sicilia.
Das hat viel Aufmerksamkeit erregt. Als die Menschen das erste Mal im Fernsehen davon erfuhren und sahen, dass Präsident Calderón sich mit der Bewegung traf, wurde ihnen bewusst dass es überhaupt Verschwundene gibt. Mit Ayotzinapa (43 im Jahr 2014 verschwundene Student*innen, Anm. d. Red.) wurden sie wieder daran erinnert, weil die Bewegung sehr stark war. Es scheint mir aber, dass dies nicht zu den Prioritäten der Leute gehört.
Ähnlich ist es mit den ermordeten Journalisten. Diejenigen, die sich der Rolle des Journalismus bewusst sind, sorgen sich. Die Mehrheit ist jedoch weder solidarisch noch denkt sie darüber nach, es wird zur Normalität.

Welche Maßnahmen ergreifen Journalist*innen um sich zu schützen?
Das kommt darauf an, in welcher Region du arbeitest und was du recherchierst. Einige Dinge haben sich geändert, zum Beispiel wie wir an die Informationen der Polizei kommen. Früher sind wir zum Tatort gefahren, haben uns einfach Notizen gemacht und mit der Polizei gesprochen. In den Regionen wo es heute gefährlich ist, geht niemand mehr allein zum Tatort. Es gibt ein Netzwerk von Beobachtern, die darauf achten, dass alle zusammen rein und wieder raus gehen. Manchmal kann die Nachricht nicht veröffentlicht werden, weil Anrufer ihnen das sagen oder die Journalisten das so einschätzen. Für manche Zonen erstellen wir Sicherheitsprotokolle, eins ist dafür da, sich in regelmäßigen Zeitabständen zu melden, bleibt der Anruf aus, wird nach der Person gesucht. Es gibt vieles. Wir informieren uns über die neuesten Apps und so weiter.

Gibt es Hilfe von der Regierung und hat die neue Regierung von López Obrador etwas geändert?
Ich denke es ist noch zu früh dazu etwas zu sagen. Seit Obrador Präsident ist, ist die Zahl der ermordeten Journalisten exponentiell gestiegen. Es gibt zwei verschiedene Register, eins sagt es wären 17, das andere 9 ermordete Journalisten. Das hängt von der Methode der Erhebung ab, wir haben darüber eine interne Diskussion. Manche sagen, es sollten nur die gezählt werden, die wegen ihrer Arbeit umgebracht werden.
Die Regierung sagt, sie würde sich um die Presse kümmern, aber wir sehen verschiedene Dinge, die uns Sorgen machen. Zum Beispiel hält Obrador jeden Morgen eine Pressekonferenz ab und alle paar Tage spricht er dabei von der Presse als dem Feind. Er spricht von einigen bestimmten Medien, aber er verspottet sie. Wenn sie eine Frage stellen, sagt er, sie würden lügen. Er leugnet die Informationen, die ihm nicht passen, streitet sich mit den Journalisten, die er nicht mag oder droht ihnen. Es ist sehr schlecht in einem Land, in dem so viele Journalisten umgebracht werden, den Präsidenten dabei im Fernsehen zu sehen, wie er sie beschimpft. Das ist wie eine Einladung für andere Politiker, uns zu beschimpfen. Obrador mochte die Presse noch nie, vor allem die, die er konservativ nennt, betrachtet er als Feinde. Er erkennt die Arbeit der Medien nicht an und fühlt sich angegriffen. Obrador befasst sich mehr mit Baseball als mit dem Schutz von Jounalisten.

Sie schreiben viel über jegliche Art von Gewalt, welche Form der Sprache benutzen Sie?
Manchmal fehlen mir die Worte. Die Perioden der Gewalt wiederholen sich immer wieder. Ich versuche die Sprache der Narcos nicht zu kopieren, das wäre sehr einfach und ist verbreitet unter Journalisten. Wenn die Mafia zum Beispiel einen Platz in der Stadt besetzt, wird das in deren Ausdrücken wiedergegeben, die das verharmlosen oder legal aussehen lassen. Wenn jemand verschwunden gelassen wird, wird stattdessen gesagt, die Mafia habe ihn ‘hochgenommen’. Das nimmt den Taten das Gewicht. Auch die Regierung verwendet bestimmte Begriffe in dem Zusammenhang, wie ‘kollaterale Opfer’ für im Kreuzfeuer erschossene Menschen. Wir diskutieren auch darüber, ob wir das Wort ‘Kartell’ benutzen oder nicht, denn das ist eine Konstruktion der Regierung. Was ist mit den organisierten kriminellen Banden, die sich nicht unter diesen Begriff fassen lassen?
Eine lange Zeit habe ich Zeugenaussagen aufgeschrieben, um zu erzählen was passiert ist, welche Auswirkungen die Gewalt auf die Familie und die Gemeinde hat, was die Täter und Opfer denken. Heute bin ich damit beschäftigt Daten aus Statistiken auszuwerten und sie mit den Regionen in Verbindung zu bringen. Das hilft mir Zusammenhänge zu verstehen und über die Einzelfälle hinaus zu gehen. So habe ich für meine Berichterstattung verschiedene Untersuchungsmethoden angewendet.

 

DIE MACHT DER MAFIA

Er war einer der Bekanntesten und einer der Mutigsten. „Einer, der uns vom Territorium El Chapos aus gelehrt hat, wie man über die Drogenmafia berichtet“, schrieb die Reporterin Marcela Turati auf ihrer Facebook-Seite über ihren Kollegen Javier Valdez. Kurz zuvor war der Redakteur der Wochenzeitung Riodoce in seiner Heimatstadt Culiacán im nordmexikanischen Bundesstaat Sinaloa erschossen worden. Wie kein anderer hatte er über die Geschäfte des „Sinaloa-Kartells“ berichtet, dessen Chef Joaquín „El Chapo“ Guzmán in den USA im Gefängnis sitzt. Wenige Stunden später starb Héctor Jonathan Rodríguez Cordova. Unbekannte feuerten auf den Journalisten, der im Bundesstaat Jalisco tätig war. Dort, wo das Kartell „Jalisco Nueva Generación“ das Sagen hat.

Die beiden Morde vom 15. Mai stellten den traurigen Höhepunkt einer Serie von Angriffen dar, die Mexiko in den ersten Monaten des Jahres erlebte. Innerhalb von acht Wochen wurden sieben Medienschaffende ermordet und weitere entführt oder überfallen. So raubten etwa 100 Wegelagerer eine Gruppe von sieben Reportern aus, die im südlichen Bundesstaat Guerrero in der von der kriminellen „Familia Michoacana“ kontrollierten Region Tierra Caliente recherchierten.

Vor allem der Tod des preisgekrönten Journalisten Valdez rief eine Welle des Protests hervor. In vielen Städten gingen Pressevertreter*innen auf die Straße, auch in Chile und Spanien fanden Aktionen statt. 186 internationale Korrespondent*innen, die in Mexiko tätig sind, forderten von der Regierung, die Pressefreiheit zu garantieren und die Täter*innen zur Rechenschaft zu ziehen. Vertreter*innen der UNO sowie der Interamerikanischen Menschenrechtskommission beantragten einen offiziellen Besuch. Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel, der gerade in Mexiko zu Gast war, sprach mit der kritischen Moderatorin Carmen Aristeguí und stellte Hilfe für die Angehörigen in Aussicht.

Angesichts des politischen Drucks berief Präsident Enrique Peña Nieto zwei Tage nach den Morden eine Sondersitzung seines Kabinetts mit Gouverneuren mehrerer Bundesstaaten ein. Es sei der Tag gewesen, an dem der Staatschef festgestellte, dass in Mexiko Journalist*innen getötet werden, merkte Marcela Turati zynisch an. Erstmals trauerte Peña Nieto öffentlich um einen ermordeten Medienschaffenden, obwohl mindestens 35 gewaltsam starben, seit er 2012 sein Amt übernommen hat. Seit 2000 sind es nach Angaben der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) 126 ermordete Journalist*innen. Laut Reporter ohne Grenzen ist Mexiko damit nach Syrien das Land mit den meisten getöteten Medienschaffenden. Praktisch keines der Verbrechen wurde aufgeklärt.

Die Straflosigkeit sei fehlender Schulung, mangelnder Infrastruktur und der Gleichgültigkeit der Behörden geschuldet.

Die Straflosigkeit sei fehlender Schulung, mangelnder Infrastruktur und der Gleichgültigkeit der Behörden geschuldet, erklärte der CNDH-Präsident Luis Raúl González Pérez und sprach von schweren Versäumnissen. Journalist*innen würden diffamiert, Beweise nicht gesichert, Ermittlungen verschleppt. Bereits 2012 hat die Regierung deshalb eine Sonderstaatsanwaltschaft für Delikte gegen die Pressefreiheit ins Leben gerufen, seit demselben Jahr existiert auch ein Gesetz, das Mechanismen zum Schutz von Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen vorsieht.

Beiden Einrichtungen versprach Peña Nieto nach der Sondersitzung mehr Unterstützung. Ob aber tatsächlich eine Abkehr von der staatlichen Ignoranz gegenüber den Angriffen stattfindet, muss sich erst noch zeigen. In den vergangenen Jahren mussten die Sonderstaatsanwält*innen mit weniger Mitteln auskommen. Ihr Budget wurde trotz der Zunahme an Überfällen von 2014 auf 2016 um die Hälfte gekürzt. Die Konsequenz: Bei 743 Vorermittlungen gab es drei Verurteilungen. „Sie führen politische Diskurse mit uns, obwohl es eigentlich darum geht, die Straflosigkeit zu beenden“, resümiert Edgar Cortez vom Mexikanischen Institut für Menschenrechte und Demokratie.

Auch die Schutzmechanismen sind umstritten. Nottelefone, Kameras und hohe Zäune sollen für mehr Sicherheit sorgen, doch häufig, so kritisieren die Betroffenen, käme die konkrete Hilfe dann viel zu spät. Vor allem aber will kaum ein*e Reporter*in die angebotene Polizeibegleitung wahrnehmen. Nicht nur, weil nach Angaben der Organisation Artículo 19 die Hälfte aller Angriffe auf Journalist*innen von Sicherheitskräften ausgeht. Wer mit einem Polizisten oder einer Polizistin unterwegs ist, wird kaum einen Interviewpartner oder -partnerin finden, der oder die mit ihm oder ihr spricht. Zu groß ist das Misstrauen, da viele Sicherheitskräfte mit den Banden der organisierten Kriminalität zusammenarbeiten.


Die Hoffnung, dass die Regierung die zunehmende Gewalt gegen Medienschaffende in den Griff bekommt, ist gering.

Die Hoffnung, dass die Regierung die zunehmende Gewalt gegen Medienschaffende in den Griff bekommt, ist gering. Deshalb haben sich nach dem Mord an Valdez Journalist*innen in verschiedenen Gruppen zusammengetan und wollen über eigene Maßnahmen beraten. Die einen planen für Ende Juni große Foren und Diskussionsveranstaltungen, andere – politisch sehr unterschiedlich ausgerichtete Medien – verkündeten in einer gemeinsamen Großanzeige: „Es reicht.“ Rogelio Hernández Lopez von der Union der Journalisten ist optimistisch: „Wenn wir alles umsetzen und uns für gemeinsame Aktionen zusammenschließen, können wir diesem unglückseligen Zyklus, der uns alle und Mexiko so verletzt, etwas entgegensetzen.“

Doch der Feind erscheint übermächtig: Ob das Sinaloa-Kartell, die Nueva Generación Jalisco oder die Familia Michoacana, alle Banden der organisierten Kriminalität arbeiten mit Polizei, Staatsanwaltschaft, Bürgermeisterämtern und auch Gouverneur*innen zusammen. Ihre Kontrolle ist fast total. In Sinaloa, Guerrero, Michoacán und vielen anderen Bundesstaaten können Journalist*innen deshalb nicht frei berichten. Die Macht kommt dort aus den Gewehrläufen, ein Auftragskiller ist angesichts der Armut für wenige Pesos zu haben, und kaum ein*e Richter*in würde sich trauen, eine*n Mörder*in zu verurteilen. Wer sich nicht an die Regeln der Mafia hält, muss mit dem Schlimmsten rechnen. Die Tageszeitung El Norte de Juárez aus dem nordmexikanischen Bundesstaat Chihuahua hat daraus eine deprimierende Konsequenz gezogen: Nachdem deren Korrespondentin Miroslava Breach ermordet worden war, stellte das Blatt am 2. April sein Erscheinen ein. „Es gibt keine Garantien und keine Sicherheit für einen kritischen und ausgewogenen Journalismus“, erklärte der Eigentümer von El Norte, Oscar A. Cantú Murguía, auf der Titelseite der letzten Ausgabe.

Javier Valdez wollte sich dem Terror nicht fügen. „Wenn man mit dem Tod dafür bestraft wird, über diese Hölle zu berichten, dann sollen sie uns eben alle ermorden“, schrieb er nach der Ermordung Breachs, die wie er auch für die linke Tageszeitung La Jornada tätig war. Über die Risiken machte er sich keine Illusionen. Es gebe immer jemanden im Apparat, der für die Kriminellen arbeite und so mancher Mafiaboss werde nur vorgeblich von der Regierung verfolgt, sagte er in einem Gespräch, das nach seinem Tod in der Wochenzeitung Proceso erschien. Darin verdeutlicht er die Macht der Mafia, die sich als Machtstruktur in der Bevölkerung etabliert habe. „Sie ist die Polizei: effektiv, aktiv, omnipräsent. Sie bestraft, tötet und foltert Vergewaltiger, Angreifer und auch einfach Leute, die ohne ihre Erlaubnis agieren.“ Es war das letzte Interview, das Javier Valdez gegeben hat.

„KEIN FOTO IST ÜBERFLÜSSIG!“

Die Angehörigen “Wie fotografiert man jemanden, der verschwunden ist?” (Fotos: Emmanuel Guillén Lozano)

 

Als die 43 Studenten in Iguala verschwanden, waren Sie selbst noch Student in Mexiko-Stadt. Was hat Sie bewegt, in den Bundesstaat Guerrero zu reisen und den Fall zu dokumentieren?
Der Fall der Studierenden aus Ayotzinapa war so etwas wie der Wendepunkt, der dem Thema der Verschwundenen in Mexiko eine neue Relevanz gab. Mir war sofort klar, dass ich etwas tun musste, um den Fall zu dokumentieren. Ich beendete mein Studium genau zwei Monate nach dem Angriff in Iguala, kaufte mir von meinen Ersparnissen eine Kamera und reiste sofort nach Guerrero. Als ich in Iguala ankam, stellte ich jedoch fest, dass die verschwundenen Studenten der Normal Rural bei weitem nicht die einzigen waren, die in der Region vermisst werden. Als der Fall Ayotzinapa bekannt wurde, löste dies eine ganze Welle von Vermisstenanzeigen aus. Die Familien dieser weiteren Verschwundenen gründeten eine Gruppe, die sich „Die anderen Verschwundenen aus Iguala“ nennt. Gemeinsam mit den Angehörigen der vermissten Studenten organisierten sie sich, um sich selbst auf die Suche nach den Verschwundenen zu machen. Ich habe einige dieser Nachforschungen begleitet und fotografiert.

Wie liefen diese Nachforschungen ab?

Im Wesentlichen gingen die Menschen gemeinsam in die Berge, zu Orten, von denen „jemand“ ihnen gesagt hatte, dass dort ein Massengrab sein könnte. Mit nichts als Schaufeln und Hacken machten sie sich auf den Weg. Außerdem hatten sie lange, dünne Metallstäbe und Hämmer dabei, deren Sinn ich nicht sofort verstand. Dann sah ich, dass sie diese Stäbe in die Erde hämmerten, wieder herauszogen und an der Spitze rochen. Wenn die Spitze schlecht roch, fingen sie an zu graben – denn das war ein Hinweis auf verwesende Leichen. Dieser erste Geruchstest war sehr oft positiv. In den allermeisten Fällen tauchten auch schon nach kurzem Graben erste menschliche Reste, Kleidung oder Knochen, auf.

Wie war es für Sie als junger Fotograf, die Menschen bei ihrer Suche zu begleiten?

Für mich war das der erste Kontakt überhaupt mit dem Thema der Verschwundenen. Gleichzeitig waren sie der wohl emotional schwerste Teil meiner Arbeit. Die schiere Verzweiflung der Menschen, die die Reste eines geliebten Angehörigen erkennen, kann man gar nicht beschreiben. In den ersten Monaten fand die Gruppe der Angehörigen, der zeitweise bis zu 500 Familien angehörten, rund um Iguala über 70 Massengräber. Was sie nicht fanden, waren die Überreste der verschwundenen Studenten aus Ayotzinapa.

 

Sie begleiteten nicht nur die Suche nach Massengräbern in Iguala, sondern besuchten auch die Angehörigen der Vermissten in Ayotzinapa. Worauf konzentrierten Sie sich bei Ihrer Arbeit?

Nachdem ich die Menschen in Iguala für einige Monate begleitet hatte, fuhr ich im Juni 2015 nach Ayotzinapa. Ich besuchte die Schule, an der die verschwundenen Lehramtsanwärter studiert hatten, begleitete ihre Familien und fotografierte in einigen ihrer Wohnhäuser. Außerdem dokumentierte ich den sozialen und politischen Kontext rund um die Bewegung der Angehörigen: Demonstrationen, gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Polizisten, verschiedene Blockaden von Menschen, die keine politische Propaganda in ihren Dörfern wollten. Ich fotografierte auch einige bewaffnete Blockaden der Drogenkartelle. Ich brauchte lange, um einen Zugang zu dem Thema zu finden – denn wie fotografiert man jemanden, der verschwunden ist? Mein Fokus lag daher darauf, das Gefühl der Leere zu dokumentieren und zu vermitteln, das diese Studenten hinterlassen haben.

Warum entschieden Sie sich zu genau diesem Zeitpunkt, Ihre Arbeit von Iguala nach Ayotzinapa zu verlagern?

Der Juni 2015 war aus meiner Sicht ein entscheidender Moment, denn zu diesem Zeitpunkt sollten in Ayotzinapa die ersten Wahlen nach dem Verschwinden der Studenten stattfinden. Die lokale Bevölkerung war so wütend, dass sie die Wahlen verhindern wollten – was ihnen im Endeffekt auch gelang. Das war für mich ein Schlüsselmoment, in dem deutlich wurde, wie unzufrieden die Menschen mit der gesamten politischen Klasse in Mexiko sind. Denn Ayotzinapa war der erste Fall, der anschaulich beweisen konnte, wie weit die mexikanische Regierung und die Drogenkartelle miteinander verflochten sind. Vorher war den meisten Mexikanern klar, dass es diese Verbindungen gibt – aber in Ayotzinapa konnte man sie das erste Mal beweisen. Nach Ayotzinapa begann ein großer Teil der mexikanischen Gesellschaft, sich Fragen zu stellen: Wie viele Bürgermeister tolerieren den Drogenhandel, wie viele Gouverneure arbeiten mit den Kartellen direkt zusammen? Im Verlauf der Untersuchungen wurde zudem deutlich, dass die mexikanische Regierung von oberster Stelle aus versuchte, die Wahrheit im Falle der verschwundenen Studenten zu verschleiern.

Was ist bis jetzt darüber bekannt, was in dieser Nacht in Iguala geschah?

Viele Theorien sagen, dass die Studenten angegriffen wurden, weil sie von einer als rebellisch bekannten Schule kamen und eine bestimmte Ideologie oder politische Gesinnung repräsentieren. Diese Theorien lassen sich genauso wenig belegen wie die offizielle Version der Regierung, wonach der Bürgermeister von Iguala die Busse angreifen ließ, weil er die Unterbrechung einer Rede seiner Ehefrau befürchtete (siehe LN 507/508).

Was ist aus Ihrer Sicht tatsächlich passiert?

Entgegen dieser Darstellungen deuten alle tiefgründigen, unabhängigen Untersuchungen in eine andere Richtung: Die bekannte Investigativjournalistin Anabel Hernández etwa hat Ende letzten Jahres ein Buch herausgegeben, in dem sie die Ergebnisse ihrer zwei Jahre dauernden Befragungen vorstellt. Sie sprach mit unzähligen Menschen, sowohl mit Nachbarn des Tatortes in Iguala als auch mit Polizisten, Militärangehörigen und Mitgliedern des Drogenkartells Guerreros Unidos, die in dieser Nacht anwesend waren. Nach der Auswertung aller Gespräche kommt sie zu dem Schluss, dass zwei der fünf Busse, in denen die Studenten reisten, offenbar mit Heroin im Wert von über zwei Millionen US-Dollar beladen waren.

Also waren vermutlich nicht die Studierenden, sondern die Busse Ziel des Angriffs?

Genau. Der Angriff erfolgte dieser Version nach nicht auf die Studenten, sondern eher auf die zwei Busse, die das Heroin transportierten. Die Lehramtsanwärter waren also eher zufälliges Opfer eines missglückten Drogentransportes. Diese Version erklärt auch, warum nur jene Studenten verschwanden, die in den spezifischen zwei Fahrzeugen reisten. Die anderen drei Busse wurden nicht angegriffen. Auch andere Untersuchungen wie die der Unabhängigen Interdisziplinarischen Expertenkommission (GIEI) deuten in dieselbe Richtung wie die Schlussfolgerungen von Anabel Hernández.

Wie genau lief der Angriff laut dieser Version der Geschichte ab?

Hernández beschreibt, dass die Studenten die Busse von einer Busgesellschaft ausliehen, ohne von den versteckten Drogen zu wissen. Auch von Seiten der Drogenkartelle scheint diese Entwicklung nicht geplant gewesen zu sein. So rief offenbar der Boss des Drogenkartells Guerreros Unidos direkt bei der örtlichen Militärbasis in Iguala an und beauftragte die Soldaten damit, sein Heroin zurückzuholen. Das muss man sich erstmal vorstellen: Ein Drogenboss befielt dem Militär, Busse wegen einer Ladung Drogen anzugreifen! Die Militäroffiziere reagierten und starteten eine gemeinsame Operation mit der lokalen und der Bundespolizei, um die Drogenladung zurückzubekommen. Sie hielten die Busse an und begannen damit, die Fracht zu entladen. Laut Hernández wurden sie dabei jedoch von den Studenten beobachtet – und das war dann vermutlich der Grund für ihr Verschwinden. Diese Version wird auch dadurch belegt, dass bestimmte Videos der Überwachungskameras in den Händen der Generalstaatsanwaltschaft auf mysteriöse Weise verschwanden – und zwar die Bilder aus genau dem Bereich, in dem die Drogen umgeladen worden sein sollen.

Sie haben bereits erwähnt, dass die mexikanische Regierung offenbar systematisch versucht, die Ereignisse zu vertuschen und die Untersuchungen zu behindern. Gab es weitere Ereignisse, die diese Versuche belegen?

Es gibt Hinweise, dass die Regierungsstellen selbst vermeintliche Beweismittel platzierten, um die Regierungsversion der Geschehnisse zu bestätigen. Ein besonders gravierender Fall betrifft die Untersuchung an der Müllhalde von Cocula. Dort fanden die Gutachter der Regierung Plastiktüten mit Knochen. Österreichische Gerichtsmediziner konnten einen dieser Knochen dem verschwundenen Studenten Alexander Mora zuordnen.

 

…was das offizielle Ermittlungsergebnis bestätigen würde, wonach die Studenten auf dieser Müllhalde lebendig verbrannt wurden. Sie zweifeln an diesem Fund?

Ein Kollege von mir veröffentlichte parallel ein Video, das er einen Tag vor der Entdeckung der Knochen in Cucula gedreht hatte. Dort sieht man, wie dieselben Gutachter, die am folgenden Tag die Tüten mit den Knochen finden, identische Tüten auf der Müllhalde deponieren. Der Verdacht liegt also nahe, dass sie die Tüten zuvor selbst dort platziert haben. Nun stellt sich jedoch die Frage: Wenn die Gutachter Knochen deponieren und einer dieser Knochen von einem der verschwundenen Studenten stammt – wie sind sie an diesen Knochen gekommen? Das würde bedeuten, dass die Gutachter direkten Zugang zu dem Leichnam von Alexander Mora gehabt haben müssen. Das würde auch bedeuten, dass sie mehr wissen, als sie offiziell sagen.

Sie haben die Familienangehörigen der verschwundenen Studenten über einen langen Zeitraum begleitet. Wie haben diese auf die verzögerten Ermittlungen und die widersprüchlichen Ergebnisse reagiert?

Die vermissten Studenten stammen alle aus sehr armen Familien. Das heißt, den Familien ging es vorher schon schlecht – und dann verschwinden auch noch ihre Söhne. Einige der Verschwundenen waren Brüder. Also betrauern manche Eltern nicht nur einen, sondern gleich mehrere ihrer Söhne. Ihre Situation ist grausam. Und obwohl die Regierung massiv versucht hat, die Untersuchungen zu behindern, haben diese Familien nicht aufgegeben und sich nicht korrumpieren lassen – und das obwohl ihnen von staatlicher Stelle mehrfach Schweigegeld angeboten wurde. Bis heute sind sie sehr aktiv, sie demonstrieren mindestens einmal im Monat in Mexiko-Stadt. Einige der Eltern sind durch die USA gereist, um auf den Fall aufmerksam zu machen. Andere haben vor dem UN-Komitee gegen gewaltsames Verschwindenlassen (CED) in Genf gesprochen. Doch das Frustrierende ist, dass sie trotz all ihrer Mühen keine Chance gegen die Mechanismen des Staates haben. Solange Enrique Peña Nieto an der Regierung bleibt, wird dieser Fall wohl nie aufgeklärt werden.

Wie gehen die Familien im Alltag mit dem Fehlen ihrer Söhne um?

Sie sind verzweifelt. Alle Familien, die ich besucht habe, haben direkt am Eingang ihres Hauses einen Altar mit dem Bild ihres verschwundenen Sohnes. Der Altar ist das Erste, was sie sehen, wenn sie das Haus betreten. Er ist das Letzte, was sie sehen, wenn sie das Haus verlassen. Er ist die einzige Möglichkeit, ihre Söhne auf irgendeine Art lebendig zu halten. Sie sagen, das Schlimmste für sie sei, dass sie keinen Ort haben, an dem sie trauern können. Keinen Ort, um Blumen abzulegen. Die andauerende Ungewissheit quält sie jeden Tag.

Wie sehen Sie Ihre Rolle als Fotograf bei der Dokumentation von Fällen wie jenem in Ayotzinapa?

Ich glaube, wenn etwas passiert wie der Fall der verschwundenen Studenten aus Ayotzinapa und wir die Möglichkeit haben, die Ereignisse zu dokumentieren, dann sollten wir das aus allen uns zur Verfügung stehenden Perspektiven tun. Kein Foto ist überflüssig, kein Video zu viel. Meine Aufgabe als Fotograf besteht darin, die Ereignisse zu dokumentieren und sie bekannt zu machen. Denn ich glaube, nur wenn solche Fälle auch außerhalb Mexikos diskutiert werden, kann Druck auf die mexikanische Regierung aufgebaut werden. Die Proteste der eigenen Bevölkerung interessieren Enrique Peña Nieto nicht. Auch deswegen arbeite ich viel mit internationalen Medien zusammen – nicht nur, weil die Bezahlung in Mexiko so schlecht ist [lacht]. Zeitungen wie die New York Times drucken meistens die Fotografien, die weiße, männliche, US-amerikanische Fotografen im Ausland aufgenommen haben. Dabei kann eine andere Perspektive ein völlig neues Bild auf die Situation werfen.

 

„ICH BIN ÜBERZEUGT, DAS RICHTIGE ZU TUN“

Die kritische Journalistin Carmen Aristegui im Interview (Foto: Tobias Lambert)

Mexiko gehört für Journalist*innen seit Jahren zu den gefährlichsten Ländern der Welt, wie ist aktuell der Stand der Pressefreiheit?
In bestimmten Regionen des Landes herrscht ein extremes Gewaltniveau. Seit die Regierung Felipe Calderón vor zehn Jahren den sogenannten Krieg gegen Drogen ausgerufen und den Kampf gegen das organisierte Verbrechen militarisiert hat, sind zehntausende Menschen verschwunden und getötet worden. Und diese Fälle sind praktisch alle straflos geblieben. Diese Gewalt hat auch Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit. In manchen Regionen reicht es aus, eine bestimmte Meldung zu veröffentlichen, um ermordet zu werden. Es sind Regionen, in denen Politik und organisiertes Verbrechen miteinander verbündet sind und unabhängiger Journalismus nicht möglich ist.

2012 wurde das Gesetz zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen verabschiedet. Warum greift es nicht?
Es ist so, wie mit vielen Gesetzen in Mexiko. Nicht zuletzt durch Urteile des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte hat es eine Reihe progressiver Reformen gegeben, doch die große Herausforderung ist die Umsetzung. Es ist schizophren: Wir haben fortschrittliche Gesetze, doch die Gerichte verhalten sich, als wären wir noch immer im vergangenen Jahrhundert. Oder sie haben nicht die nötige Unabhängigkeit für eine Rechtsprechung, die sich an Menschenrechten orientiert.

Sie wurden vor zwei Jahren von MVS-Radio unter einem Vorwand entlassen, nachdem zwei ihrer Mitarbeiter*innen sich mit dem Logo ihrer Sendung an der Enthüllungsplattform Mexicoleaks beteiligt hatten. Was steckte tatsächlich dahinter?
Es macht überhaupt keinen Sinn, dass ein privates Medienunternehmen das Programm abschafft, das die meisten Zuhörer*innen hat, also auch das meiste Geld bringt. Es sei denn, es mischt sich jemand von oben ein. Wir hatten zuvor recherchiert, dass der amtierende Präsident in einem Luxusviertel von Mexiko-Stadt ein Anwesen im Wert von über sieben Millionen US-Dollar besitzt. Wie er soviel Geld aufbringen konnte, ist aber aus seinen Einkünften nicht zu erklären. Die Immobilie war auf den Namen eines befreundeten Unternehmers eingetragen, der von der Zentralregierung und der Regierung des Bundesstaates Mexiko Aufträge erhalten hatte, als Peña Nieto dort Gouverneur war. In einem wirklich demokratischen Land hätte ein solcher Skandal ein Amtsenthebungsverfahren oder zumindest eine unabhängige Untersuchung nach sich gezogen, um die möglichen Interessenskonflikte zu ermitteln. Stattdessen wurde jedoch unser Rechercheteam angefeindet und nach sechs Jahren im Radiosender auf üble Art und Weise entlassen.

Wie ging es mit den Anschuldigungen gegen Peña Nieto anschließend weiter?
Unsere Recherchen konnte niemand widerlegen und der Präsident hat sich für den Skandal sogar öffentlich entschuldigt. Aber trotzdem gehen die Gerichte weiter gegen mich und mein Team vor. Neben Morden, Einschüchterungen und Entlassungen nutzen die Mächtigen auch die Justiz, um kritischen Journalismus zu verhindern. Gegen mich liegen eine Reihe von Anzeigen vor und mittlerweile gab es ein erstes Urteil. Es ging um ein Vorwort, das ich für ein Buch geschrieben habe, in dem es um den Fall von Peña Nietos Anwesen geht. Der zuständige Richter hat mich verurteilt und mir allen Ernstes vorgeworfen, „einen exzessiven Gebrauch der Pressefreiheit“ gemacht zu haben. Doch das ist nicht alles. Ende letzten Jahres sind fünf Personen in unsere Redaktionsräume eingebrochen. Es ging allein darum, uns einzuschüchtern, denn gestohlen wurde kaum etwas.
Welche Auswirkungen hat diese Situation auf Ihr persönliches Leben? Fühlen Sie sich bedroht?
Ich bin überzeugt, das Richtige zu tun, und glaube, dass wir unsere journalistische Arbeit unabhängig, mit Haltung und Freude ausüben müssen. Diese Motivation wiegt schwerer als die Sorge um die körperliche Unversehrtheit. Der größte Schutz, den wir haben, ist die Aufmerksamkeit des Publikums, dass die Leute sich dafür interessieren, was wir machen.

Welche Botschaft geht von Ihrer Entlassung für andere Journalist*innen aus?
Ich hatte dank der öffentlichen Wahrnehmung meiner Person und meiner Popularität einen sehr guten Vertrag ausgehandelt, der mir die alleinige inhaltliche Verantwortung für meine Sendung zugestand. Dieser Vertrag sicherte mir und meinem Team die notwendige Unabhängigkeit zu, die wir für unsere Arbeit brauchten. Dass ein Medienunternehmen solch einen Vertrag im Falle einer bekannten, etablierten Journalistin einfach brechen kann, sendet in einem Land, in dem viele Journalisten prekär arbeiten, ein furchtbares Signal aus. Denn wenn selbst ich einfach so entlassen werden kann, kann es jeden treffen. Doch auch wenn die Behinderung meiner Arbeit schlimm ist, ist sie nichts im Vergleich zu den Bedrohungen, denen viele meiner Kollegen ausgesetzt sind.

Ihre Entlassung hat nicht zuletzt ein Schlaglicht auf den staatlichen Einfluss auf den Journalismus in Mexiko geworfen. War der Sender wegen des Bezugs öffentlicher Werbeeinnahmen erpressbar?
Viele Medien hängen von staatlichen Werbemitteln ab. Es ist ein Werkzeug der Regierung, um Medienunternehmen je nach ihrer inhaltlichen Ausrichtung zu belohnen oder zu bestrafen. Und das Geld wird diskret und ohne Transparenz verteilt. Wenn nun einzelne Medien ohne staatliche Zuwendungen nicht überleben können, ist klar, dass sie genau das berichten, was die Regierung wünscht. Peña Nieto hat bei seinem Amtsantritt angekündigt, diese Art der Zuwendungen zu regulieren. Bisher ist allerdings nichts passiert und letztlich haben weder die Regierung noch die großen Medienunternehmen ein Interesse daran. Aber der Präsident hat damit ein zentrales Thema angesprochen, da er vielfach dafür kritisiert worden ist, die Wahlen mit Hilfe einer unfassbaren Medienkampagne gewonnen zu haben. Er galt international als „Kandidat des Fernsehens“ und brachte die PRI nach zwölf Jahren zurück an die Macht.

Welche Rolle spielen alternative Medien in der öffentlichen Debatte in Mexiko?
Das hängt davon ab, was man als öffentliche Debatte bezeichnet. Alles deutet darauf hin, dass diese heute nicht mehr im traditionellen Fernsehen mit seiner einseitigen Kommunikation, sondern vor allem im Internet stattfindet. Die Zuschauerzahlen und Einnahmen des mexikanischen Fernsehduopols aus Televisa und TV Azteca gehen deutlich zurück. Ich glaube, das liegt daran, dass die Zuschauer*innen ins Internet abwandern, wo jeder eine Information veröffentlichen und damit eine Wirkung erzielen kann. Das bringt natürlich auch Gefahren mit sich, man denke nur an die Fake News, wie man heute sagt. Wir Journalist*innen müssen die Rolle der Journalist*innen für uns beanspruchen und zwar ebenso in den Zeitungen oder im Radio wie im Internet, wo die Qualitätsstandards genauso hoch sein müssen, wie in jedem anderen Medium. Erst, wenn du Informationen überprüft hast und die Verantwortung dafür übernimmst, bist du Journalist*in.

Seit Anfang des Jahres produzieren Sie Ihre neue Morgensendung selbst und streamen sie im Internet. Wie finanziert sich das Programm?
Bisher ausschließlich über die Werbeeinnahmen, die wir über die Klicks von Youtube beziehungsweise Google erhalten. Das funktioniert, weil wir im Moment eine feste Zuschauer- und Zuhörerschaft haben, die einen hohen Traffic generiert. Aufgrund des Volumens ist es uns möglich, eine Redaktion und die technischen Geräte zu bezahlen, um live als Radio- und Fernsehprogramm zu senden. Wir hoffen, dass das Publikum uns treu bleibt, denn nur so können wir auf Dauer weitermachen. Das heißt aber nicht, dass ich für die Zukunft ausschließe, auch andere Finanzierungsquellen zu nutzen, sofern sie transparent sind und unsere journalistische Unabhängigkeit garantiert ist.

 

RECHERCHEN AUF HEISSEM PFLASTER

Foto: Andreas Boueke
Foto: Andreas Boueke

„Jeden Tag verschwinden Kinder, jeden Tag werden Frauen ermordet“, klagt die mexikanische Reporterin Yohali Reséndiz. Sie ist wütend. „Bei meinen Recherchen treffe ich immer wieder auf unsensible, brutale Männer. In diesem Land ist es noch immer alltäglich, dass Frauen erniedrigt und entwürdigt werden.“

Trotz Morddrohungen, trotz frauenfeindlicher Strukturen in den Medien, trotz ständiger Anfeindungen durch mächtige Gegner*innen aus Politik, Wirtschaft und verschiedenen Kreisen der Gesellschaft bezieht die 38-.jährige Journalistin eindeutig Stellung für die Opfer. Jahrelang hat sie zur besten Sendezeit im Fernsehen mit engagierter Berichterstattung für Aufmerksamkeit gesorgt. „In unserem Land leiden viele Menschen unter Korruption und Gewalt. Ich habe gelernt, dass der Journalismus ein Schlüssel sein kann, der Türen öffnet, um Ungerechtigkeiten zu bekämpfen. Aber er ist auch ein Schlüssel, der mir viele Probleme gemacht hat.“

Frauen haben einen schweren Stand in Mexikos Medienwelt. Yohali Reséndiz hat sich durchgesetzt mit Geschichten über alltägliche Gewalt. Ihr hartnäckiges Engagement wird auch von männlichen Kollegen anerkannt. „Sie ist eine Kriegerin“, meint der Kameramann Miguel Angel Andrade. „Es gibt viele Reporter, aber keiner ist wie sie. Sie wühlt sich hinein in die Nachricht. Sie verbindet die journalistische Arbeit mit der Unterstützung der Opfer. Für sie geht die Recherche so lange weiter, bis eine Lösung gefunden ist.“

Der Weg in eine erfolgreiche Journalismus-Karriere führt in Mexiko häufig über gute Beziehungen zu den mächtigen Entscheidungsträger*innen der Medienwelt. Für Yohali war das ein sehr langer Weg. Sie ist in einem ärmlichen Viertel im Süden von Mexiko-Stadt aufgewachsen, gleich neben dem Markt Benito Júarez. „Als meine Familie in diese Siedlung zog, wusste ich sofort, dass ich nicht mein Leben lang hier bleiben würde. Ich will die Siedlung nicht schlecht reden oder die Leute, die hier leben, aber schon als Kind wollte ich andere Orte kennen lernen.“

Wenn Yohali heute über den Markt Benito Júarez geht, trifft sie noch immer viele Freund*innen. Eine Marktfrau ist ihr dankbar, dass sie im Fernsehen über die Probleme der kleinen Leute berichtet. „Hier in der Siedlung haben wir oft kein Wasser. Die Politiker versprechen immer, sie würden uns mit Trinkwasser versorgen, aber dann passiert nichts. Es ist gut, dass Yohali unsere Verbündete ist. Ich weiß, dass sie unser Problem nicht lösen kann, aber sie kann dafür sorgen, dass darüber gesprochen wird.“

Als Kind war Yohali selbst Opfer von Gewalt und Armut. Auch deshalb kann sie heute nicht wegschauen, wenn Frauen oder Kinder misshandelt werden. „Als ich dreizehn Jahre alt war, beschloss meine Mutter, mit uns in die USA zu gehen. Wir hatten keine Dokumente und sind illegal eingereist. Es ist uns schlecht ergangen. Wir mussten in einer Art Rohr schlafen, außerhalb von Los Angeles. Das Ding war so kurz, dass ich mich nicht mal richtig ausstrecken konnte. Anfangs haben wir für einen chinesischen Textilfabrikanten gearbeitet, meine Mutter, meine beiden Schwestern und ich. Die Mittelamerikaner, die dort angestellt waren, haben uns gedemütigt. Sie sagten immer, dass sie auf ihrem Weg in die USA von Mexikanern geschlagen und bestohlen worden sind. Dafür mussten wir die Rechnung zahlen.“

Nach neun Monaten in den USA gingen Yohali, ihre Schwester und ihre Mutter zurück nach Mexiko, ohne einen einzigen gesparten Dollar. „Ich nahm mir vor, etwas aus meinem Leben zu machen. Nie wieder wollte ich eine solche Situation erleben. Niemand sollte mich je wieder verachten oder misshandeln.“ Fortan konzentrierte sich Yohali auf ihre Schulbildung: „Ich wusste, dass ich ohne Bildung ein Niemand bleiben würde. Deshalb habe ich mich an den Unterricht geklammert. Gerne wäre ich auf eine Privatschule gegangen, doch das Geld reichte nur für eine öffentliche Schule. Abends habe ich auf der Straße Käse verkauft und auf dem Markt Unterwäsche. So lernte ich das Leben der Leute kennen, die Ungerechtigkeiten, die sie ertragen müssen, weil sie kein Geld haben, keine Kontakte und keinen Anwalt.“

Heute berichtet Yohali von Opfern, deren Not hinter den Verbrechensstatistiken verborgen bleibt. Einer ihrer Fernsehbeiträge handelt von einem dreizehnjährigen Mädchen, das von einem Kongressabgeordneten misshandelt wurde. „Der Politiker hat sie vergewaltigt. Aufgrund meines Berichts verlor er sein Amt. Jetzt hat er keine politische Zukunft mehr.“ Yohali weiß, dass solche Fälle gefährlich werden können. „Er wird den Namen Yohali Reséndiz nicht vergessen. Wahrscheinlich denkt er: ‚Wegen dieser Reporterin habe ich meine Arbeit verloren. Wegen ihr bin ich kein Abgeordneter mehr, kein Ratspräsident‘.“

Ein paar hundert Meter von dem Markt Benito Júarez entfernt steht Yohalis Elternhaus. Dort leben heute zwei ihrer Schwestern und eine Nichte. „Meine Tante ist eine mutige Frau“, sagt das siebzehnjährige Mädchen. „Trotz der Situation im Land geht sie viele Risiken ein. In Mexiko gibt es keine wirkliche Meinungsfreiheit. Manchmal habe ich große Angst. Dann sage ich ihr: ‚Du musst auch an uns denken.‘ Aber sie möchte den Menschen helfen. Sie hat ein großes Herz.“

Seit dem Jahr 2000 wurden in Mexiko 89 Reporter*innen, Fotograf*innen und Korrespondent*innen ermordet, viele erschossen, andere erwürgt, gefoltert, zerstückelt und in Müllbeuteln weggeworfen. Angst liegt in der Luft. Journalist*innen wissen nicht, ob sie durch die Veröffentlichung ihrer Artikel in Gefahr geraten könnten. Früher galten die Drogenkartelle als die größte Gefahr für die Pressefreiheit in Mexiko. Heute ist bekannt, dass über die Hälfte der Angriffe auf Journalist*innen oder Presseeinrichtungen von Polizei und Militär durchgeführt werden. Der Jurist Victor Ruiz vom mexikanischen Journalist*innenverband meint: „Jedes dieser Verbrechen ist ein Angriff auf die Presse- und Redefreiheit. Die Journalisten sollen eingeschüchtert werden, damit sie nicht weiter über Themen schreiben, die einigen einflussreichen Leuten Probleme bereiten. Jeder Übergriff verstärkt die Atmosphäre der Angst. So erreichen die Aggressoren ihr Ziel, die Stimme der Journalisten zum Schweigen zu bringen. Die Presse wird stumm geschaltet.“

Diesem Druck will sich Yohali Reséndiz nicht unterwerfen. „Ich versuche, meine Geschichten so zu erzählen, wie sie passiert sind. Doch während der Redaktionssitzung sagt plötzlich jemand von der Geschäftsführung: ‚Dieser Abschnitt muss raus.‘ Wenn der Artikel durch die Kürzung an Wert verlieren würde, antworte ich: ‚Unter diesen Umständen bekommst Du meine Geschichte nicht.‘ Dann kommt wieder die alte Leier, ich würde mich nicht unterordnen und keine Regeln einhalten. In diesem Geschäft musst du dich Tag für Tag gegen mächtige Männer durchsetzen.“

Yohali fühlt sich allein gelassen. „Wenn du bedroht wirst, interessiert sich dein Sender nicht dafür. Ich bekomme Videos von Vergewaltigungen zugeschickt, grässliches, sexistisches Zeug. Da werden Frauen gefoltert und getötet. Und dann schreiben sie: ‚Dasselbe wird mit dir geschehen, du Hurentochter.‘“

Von ihren Redaktionen bekommen bedrohte Reporter*innen meist nur wenig Unterstützung. Die Medienunternehmen sind von Werbeeinnahmen abhängig und einen großen Teil der Werbung zahlt der Staat. „Einmal habe ich über ein Regierungsmitglied berichtet und über einen Gouverneur“, erzählt Yohali. „Die beiden hatten einen Kindermörder beschützt. Nachdem mein Bericht ausgestrahlt worden war, rief der Gouverneur den Sender an und beschwerte sich über meine Arbeit. Daraufhin wurde mir der Sendeplatz weggenommen, obwohl ich die Wahrheit gesagt hatte. Es ging um das Schicksal eines Kindes, das von seinem Stiefvater ermordet worden war. Der zuständige Richter hatte zu Presseleuten gesagt, er würde den Täter laufen lassen, obwohl der das zweijährige Kind an den Füßen gegriffen und zweimal auf den Boden geschlagen hatte. Der kleine Schädel war zerborsten. Niemand hörte auf die Mutter. Der Richter schützte den Täter, weil seine Anwälte Freunde des Gouverneurs waren.“

Yohali verlor den Kampf. „Sie haben mir meine Nachrichtensendung weggenommen. Es gab Tage, an denen ich nicht aus dem Bett kam, weil ich dachte: ‚Was soll ich machen? Ich habe ja keine Kamera mehr. Wie soll ich jetzt meine Geschichten erzählen?‘ Aber dann habe ich mich mit den sozialen Netzwerken beschäftigt, Twitter und Facebook. Ich habe meinen eigenen Blog eröffnet. Er heißt periodismo a toda prueba‘“ Das bedeutet in etwa Journalismus ohne Bremse.

Die wachsende Unzufriedenheit mit den traditionellen Medien und die Verbreitung der Zugangsmöglichkeiten ins Internet haben in Mexiko dazu geführt, dass immer mehr alternative Informationskanäle entstehen. Wer solche Plattformen bedient, muss nicht nur lernen, mit Drohungen umzugehen, sondern läuft auch Gefahr, von den Behörden kriminalisiert zu werden. Yohali Reséndiz erwartet keine Hilfe vom Staat. „Vor drei Monaten haben die Drohungen gegen meine Familie begonnen, kurz nachdem ich über einen kleinen Jungen geschrieben hatte, der misshandelt worden war. Meine Recherchen haben zu der Verhaftung von vier Scheißkerlen geführt. Daraufhin haben sie persönliche Daten wie meine Kreditkartennummer und meine Adresse veröffentlicht und mir Fotos von meiner Wohnung geschickt. Sie wissen genau, wo ich wohne. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Bande von Päderasten.“

Eine der Organisationen, die sich darum bemühen, den Journalist*innen ein wenig Sicherheit zu bieten, ist der mexikanische Ableger von Artikel Neunzehn. Der Name bezieht sich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, deren neunzehnter Artikel die Meinungsfreiheit garantiert. Francisco Sandoval, Journalist und Mitarbeiter von Artikel Neunzehn, dokumentiert Drohungen gegen seine Kollegen und Kolleginnen. „Ich habe Yohali im vergangenen Jahr kennengelernt, nachdem ich schon länger ihren Blog in den sozialen Netzwerken verfolgt hatte. Zuerst erfuhr ich von den Problemen in ihrem Fernsehsender. Später begannen die systematischen Drohungen mit Fotografien und Videos von zerstückelten Frauenkörpern. Man wollte sie einschüchtern.“

Seit Yohali sich auf Themen wie Kinderpornografie und Misshandlungen von Minderjährigen eingelassen hat, konfrontiert sie manchmal sogar die Täter mit ihren Opfern. Francisco Sandoval hält das für sehr mutig, aber auch für ein bisschen verrückt: „Mexiko ist ein Land, in dem mehr als achtzig Journalisten ermordet wurden, ohne dass es einen Krieg gegeben hätte. Das ist eine alarmierende Situation, auch weil die Fälle nicht untersucht werden. Die Straflosigkeit liegt bei neunzig Prozent. Ein Beispiel ist der Fall des Mädchens von Laredo, einer Journalistin, die in den sozialen Netzwerken unter dem Namen ‚la nena de Laredo‘ berichtet hat. Sie wurde ermordet und gevierteilt. Ihr Kopf wurde abgetrennt. Neben den Leichenteilen lag ein Zettel mit den Worten: ‚Das ist dir passiert, weil du über Gewalt berichtet hast.‘ Diese Botschaft ist an alle Journalistinnen gerichtet, die so arbeiten wie ‚la nena de Laredo‘ oder Yohali Reséndiz.“

Mit ihrem alten, angerosteten Auto verbringt Yohali jeden Tag mehrere Stunden in dem Verkehrschaos der Straßen von Mexiko-Stadt. „Heute fahre ich in die Siedlung Santa Maria la Rivera, um eine Frau zu treffen, die es gewagt hat, den Vater ihres Sohnes anzuzeigen, weil er sich sexuell an dem Kleinen vergangen hat. Sie heißt Ester und wird seit drei Jahren von den zuständigen Behörden ignoriert. Deshalb hat sie mich angerufen. Wir werden uns in einem Therapiezentrum treffen, in dem sie und ihr Sohn Alejandro psychologische Unterstützung bekommen.“

Ester ist eine zurückhaltende Frau, schlank, geradezu zierlich. Aber ihr Charakter ist zäh und hartnäckig. Sie versucht alles, was in ihrer Macht steht, um ihren Sohn vor den Übergriffen des Vaters zu beschützen. „Ich war sehr besorgt über das sonderbare Verhalten meines damals vierjährigen Sohns. Zuerst ist mir aufgefallen, wie er sich immer wieder heftig die Genitalien rieb. Mein Instinkt als Mutter sagte mir, dass da was nicht stimmt. Aber ich wusste nicht, wie ich ihm helfen könnte.“

Auf der Suche nach einer Erklärung für das Verhalten ihres Sohns fand Ester Unterstützung in dem gemeinnützigen Therapiezentrum für Missbrauchsopfer ADIVAC. „Die Psychologen haben mir bestätigt, dass mein Sohn sexuell missbraucht wird. Sie rieten mir, meinen Mann nicht zu provozieren. Man weiß nie, wie diese Männer reagieren, wenn sie entdeckt werden. Ich sollte so tun, als sei nichts passiert. Das war ein Martyrium für mich. Ich hatte immer Angst, bis ich es endlich schaffte, zu Hause auszuziehen. Ich konnte doch nicht zulassen, dass dieser Mann meinen Sohn weiter misshandelt.“

Ester ging zur Staatsanwaltschaft, aber da drehte sich alles ums Geld. Weil sie nicht bezahlen konnte, wurde der Fall auf Eis gelegt. „Der Psychologe hat meinen Sohn nur einmal kurz angeschaut und dann geschrieben, er sei gesund, intelligent und unverletzt.“

Die wenigsten Beamt*innen in Mexikos Behörden machen für Frauen wie Ester einen Finger krumm. Deshalb mischt sich Yohali ein. „Du musst dem richtigen Beamten Geld geben, sonst interessiert sich niemand für dein Leid.“

Auf dem Weg zur nächsten U-Bahn-Station sitzen Ester und Alejandro auf der Rückbank von Yohalis Auto. Während eines Staus greift die Reporterin ihr Mobiltelefon und wählt die Nummer des DIF, der staatlichen Familienfürsorge. Sie erreicht einen Mitarbeiter der Chefetage. „Wenn es mir gelingt, mit dem Chef persönlich zu sprechen, bekomme ich sofort eine Antwort“, erklärt Yohali. „Was Ester drei Jahre lang vergeblich versucht hat, kann ich als Journalistin innerhalb von zehn Minuten erreichen.“ Und wirklich: Yohali bekommt einen Termin mit dem Chef. Sie ist zuversichtlich: „Vielleicht wird er sagen: ‚Rede mal mit dem zuständigen Beamten da drüben. Der soll das machen.‘ Und schon gibt es eine Lösung.“

Yohali Reséndiz hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Protagonist*innen ihrer Geschichten in ihrem Kampf um Gerechtigkeit zu unterstützen. Sie ist sich bewusst, wie gefährlich das ist. „Wenn ich sterben muss“, sagt sie „dann weiß ich zumindest, dass ich im Leben auf der richtigen Seite gestanden habe.“

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