AUS DEM HERZEN DER REVOLTE

Fotos: Ute Löhning

Wenn wir über das Radio Plaza de la Dignidad und seine Entwicklung als Medium von unten sprechen wollen, müssen wir bei der Bewegung breiter Teile der Gesellschaft anfangen, die sich im Oktober 2019 gegen die kapitalistische Herrschaft erhoben hat. Die vergangenen zwei Jahre über hat Chile diese Bewegung in all ihren Facetten erlebt.

Als Teil dieser Bewegung hat das Radio seine eigene Entwicklung durchlaufen. Dabei haben wir immer wieder abgewogen, was unsere gemeinsamen politischen und strategischen Ansichten sind. Die Redaktionslinie des Radios lässt sich heute als Summe der unterschiedlichen politisch-revolutionären Projekte verstehen, als Kollektiv gesellschaftlicher Kämpfer*innen, die in diesem Raum einen Kanal gefunden haben, über den sie ihre Vorstellungen einer neuen Gesellschaft ausdrücken können.

Um den Versuch einer Definition des Radios Plaza de la Dignidad zu wagen, müssen wir zunächst betonen, dass das Radio kein Kommunikationsmedium im traditionellen Sinne ist. Denn wir erkennen unsere Parteilichkeit und Subjektivität gegenüber des Kapitalismus und seiner kolonialen Institutionen an und machen sie transparent. Unser Ziel ist es, revolutionäre Teile der Gesellschaft zu unterstützen. Das tun wir, indem wir den Menschen im Rahmen unserer Möglichkeiten erklären, warum wir vom Kapitalismus wegkommen und eine neue Gesellschaft aufbauen müssen. Eine Gesellschaft, die ihre Wurzeln im Kommunitarismus, in der Brüderlichkeit, der Solidarität und dem harmonischen Nebeneinander von Menschen unterschiedlicher Herkünfte hat. Eine respektvolle Gesellschaft in Verbindung mit der Natur, in der wir die Wissenssammlungen unserer indigenen Völker nutzen und das Buen Vivir ermöglichen.

Wie viele Projekte der letzten Jahre hat das Radio Plaza de la Dignidad seinen Ursprung im Oktober 2019. Damals beschlossen zwei Menschen, aus dem sechsten Stock eines Hochhauses Musik in Richtung der Plaza de la Dignidad zu spielen. Die Musik sollte den Kampf auf der Straße beleben. Wir wollen eine der Stimmen für die prekärsten, radikalen und antiinstitutionellen Bereiche der Gesellschaft und Bewegung sein. Mit Debatten, Weisungen und theoretischen Vorschlägen wollen wir gemeinsam mit Basisorganisationen und -aktivist*innen dazu beitragen, dass die prekarisierten Teile dieser Gesellschaft sich selbst zum politischen Objekt machen.

Zur Definition unserer Arbeit gehört auch das, was der Historiker Gabriel Salazar im September 2020 zu uns in einem Interview gesagt hat: „Ich bin dankbar für die Einladung, an diesen Debatten teilnehmen zu dürfen, die ihr vorantreibt, aufnehmt und weiterverbreitet und gegenüber der Bewegung einordnet. Für mich ist es eine Ehre, Teil einer Gruppe zu sein, die vom sechsten Stock mit Blick auf die Plaza de la Dignidad aus wusste, sich an der Bewegung zu beteiligen: Das zu nehmen, was von dort kommt und es den Menschen vor Ort zurückzugeben – all das, was dort gedacht, diskutiert und zur Bewegung beigetragen wird.“

Vielleicht ist das auch eine der Erfahrungen, die uns am meisten erfreut hat: Die Möglichkeit, Impulse aufzunehmen und sie in Radiosendungen, audiovisuellen Produktionen, Live-Schalten, Aufrufen, Interviews, Diskussionsrunden, Konzerten und Dokumentationen der Kämpfe auf der Straße und in den Vierteln zurückzugeben. Wir könnten auch sagen: Die Menschen versorgen uns. Und wir versuchen, sie zu unterstützen.

Im Jahr 2019 haben wir im sechsten Stock eines Bürogebäudes an der Plaza de la Dignidad zwei Lautsprecher aufgestellt. Wir wollten die Mobilisierungen gegen die Repression mit der historischen Musik der sozialen Bewegungen untermalen. Dazu spielten wir auch neue Stücke von Bands, die schon vor und während der Revolte die Anliegen der Protestierenden unterstützt hatten – wir nennen das die Kulturelle Revolte.

Schon bald stellte sich der große Erfolg dieser kleinen und spontanen Initiative ein: Die Protestierenden begannen, die Musik aus den Fenstern einzufordern. Oft riefen die Leute schon, wenn wir die Lautsprecher auch nur etwas zu spät herausstellten. Wenn dann eine weibliche Stimme die Übertragung eröffnete, war die Begeisterung groß. „Achtung, Achtung, Menschen aus Chile, wir übertragen Radio Plaza de la Dignidad!“, hieß es dann. Mit diesen Worten wollten wir auch die Besetzungen von Radiostationen während der Diktatur würdigen und wiederbeleben.

Ging es anfangs nur darum, während der Demos Musik zu spielen, führte die Entwicklung der Revolte bald dazu, dass wir unsere Arbeitsweise verändert haben. Wir erstellten ein Konto, mit dem wir 24 Stunden am Tag revolutionäre Musik online auf die Handys streamen konnten. Seitdem haben sich unzählige bekannte Künstler*innen bei uns gemeldet, die mit uns zusammenarbeiten oder ihre Songs auf die Playlists für die Streams setzen wollten. Auch jetzt, nach über zwei Jahren, bekommen wir noch solche Anfragen. Deswegen produzieren wir bis heute neue Programme. Irgendwann entstand dann auch eine Facebook-Seite, die viel Zuspruch erhielt: Jetzt haben wir mehr als 92.000 Follower, viele Beiträge werden über eine Million Mal gesehen.

Die Revolte ist überall präsent Straßenkunst im Zentrum von Santiago de Chile

Je bekannter unsere Arbeit wurde, desto stärker stiegen auch die Erwartungen. Deshalb stellten Freund*innen von uns ein Team von Reporter*innen zusammen, die Live-Übertragungen von den Demos organisierten. Diese und andere Gruppen spielten eine fundamentale Rolle beim Sichtbarmachen der Kämpfe auf den Straßen. Teilweise hat ihre Arbeit sogar bewirkt, dass die Sicherheitskräfte den Demonstrierenden weniger aggressiv begegneten, weil sie sich beobachtet fühlten. Die Reporter*innen dieser Basismedien sind heute zusammen mit Menschenrechtsorganisationen und den Brigaden von Sanitäter*innen Elemente der Revolte, die man nicht wegdenken kann. Es vergeht kein Protesttag, an dem man sie nicht auf den Straßen sieht – sowohl um den Protestierenden Mut zu machen als auch um die Repression des neoliberalen Staates anzuprangern.

Mit der steigenden Sichtbarkeit in der Revolte gab es immer mehr Menschen, die sich am Radio beteiligen wollten und wir bekamen unzählige Anfragen von Künstler*innen, die an den Freitagen von den Fenstern aus für die Proteste singen wollten. Die Umsetzung dieser Projekte bedeutete für uns vor allem eine Herausforderung in Sachen Technik und Infrastruktur, denn sonst hätte man die Künstler*innen unten auf der Straße gar nicht gehört. Wir stellten also ein Team von Tontechniker*innen zusammen und kauften neues Equipment. Unter den vielen Künstler*innen, die dort gespielt haben, sind Anita Tijoux, Santiago Rebelde, Evelyn Cornejo und La Bersuit Vergarabat. Ihre Konzerte haben auch dazu geführt, dass zahlreiche nationale und internationale Medien über uns berichteten, zum Beispiel der Rolling Stone, El Mundo aus Spanien oder die argentinische La Nación.

Was ursprünglich als einfache Idee zur Unterstützung der Proteste entstanden war, hat sich inzwischen zu einem viel größeren Projekt entwickelt. Das bedeutet, dass nicht nur mehr Arbeit und Hingabe nötig ist, sondern auch mehr Koordinationsarbeit, um die unterschiedlichen Arbeitsbereiche aufeinander abzustimmen. So entstanden weitere Initiativen. Wir erstellten audiovisuelle Produktionen wie El Vaso de Leche, ein Konzert für die Gefangenen der Revolte, eines gegen das Freihandelsabkommen TPP-11 und eines, bei dem Poesie aus der Revolte rezitiert wurde.

Die so entstandenen Programme übertragen wir wöchentlich aus unseren Räumen, die wir inzwischen in ein Studio umgewandelt haben, über Facebook. Dazu gehört das Programm Cancha Revuelta, das über verschiedene nicht-kommerzielle Fußballprojekte berichtet. Oder El Cancionero de la Revuelta, mit dem wir Live-Konzerte von Bands und Künstler*innen übertragen. Eines unserer wichtigsten Projekte im Rahmen der Kulturellen Revolte war zweifellos die Produktion der „Vinyl der Revolte“. Das war nicht einfach, aber dafür gibt es jetzt eine Platte mit den wichtigsten Songs der sozialen Bewegungen dieser Zeit.

„ICH BIN ÜBERZEUGT, DAS RICHTIGE ZU TUN“

Die kritische Journalistin Carmen Aristegui im Interview (Foto: Tobias Lambert)

Mexiko gehört für Journalist*innen seit Jahren zu den gefährlichsten Ländern der Welt, wie ist aktuell der Stand der Pressefreiheit?
In bestimmten Regionen des Landes herrscht ein extremes Gewaltniveau. Seit die Regierung Felipe Calderón vor zehn Jahren den sogenannten Krieg gegen Drogen ausgerufen und den Kampf gegen das organisierte Verbrechen militarisiert hat, sind zehntausende Menschen verschwunden und getötet worden. Und diese Fälle sind praktisch alle straflos geblieben. Diese Gewalt hat auch Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit. In manchen Regionen reicht es aus, eine bestimmte Meldung zu veröffentlichen, um ermordet zu werden. Es sind Regionen, in denen Politik und organisiertes Verbrechen miteinander verbündet sind und unabhängiger Journalismus nicht möglich ist.

2012 wurde das Gesetz zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen verabschiedet. Warum greift es nicht?
Es ist so, wie mit vielen Gesetzen in Mexiko. Nicht zuletzt durch Urteile des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte hat es eine Reihe progressiver Reformen gegeben, doch die große Herausforderung ist die Umsetzung. Es ist schizophren: Wir haben fortschrittliche Gesetze, doch die Gerichte verhalten sich, als wären wir noch immer im vergangenen Jahrhundert. Oder sie haben nicht die nötige Unabhängigkeit für eine Rechtsprechung, die sich an Menschenrechten orientiert.

Sie wurden vor zwei Jahren von MVS-Radio unter einem Vorwand entlassen, nachdem zwei ihrer Mitarbeiter*innen sich mit dem Logo ihrer Sendung an der Enthüllungsplattform Mexicoleaks beteiligt hatten. Was steckte tatsächlich dahinter?
Es macht überhaupt keinen Sinn, dass ein privates Medienunternehmen das Programm abschafft, das die meisten Zuhörer*innen hat, also auch das meiste Geld bringt. Es sei denn, es mischt sich jemand von oben ein. Wir hatten zuvor recherchiert, dass der amtierende Präsident in einem Luxusviertel von Mexiko-Stadt ein Anwesen im Wert von über sieben Millionen US-Dollar besitzt. Wie er soviel Geld aufbringen konnte, ist aber aus seinen Einkünften nicht zu erklären. Die Immobilie war auf den Namen eines befreundeten Unternehmers eingetragen, der von der Zentralregierung und der Regierung des Bundesstaates Mexiko Aufträge erhalten hatte, als Peña Nieto dort Gouverneur war. In einem wirklich demokratischen Land hätte ein solcher Skandal ein Amtsenthebungsverfahren oder zumindest eine unabhängige Untersuchung nach sich gezogen, um die möglichen Interessenskonflikte zu ermitteln. Stattdessen wurde jedoch unser Rechercheteam angefeindet und nach sechs Jahren im Radiosender auf üble Art und Weise entlassen.

Wie ging es mit den Anschuldigungen gegen Peña Nieto anschließend weiter?
Unsere Recherchen konnte niemand widerlegen und der Präsident hat sich für den Skandal sogar öffentlich entschuldigt. Aber trotzdem gehen die Gerichte weiter gegen mich und mein Team vor. Neben Morden, Einschüchterungen und Entlassungen nutzen die Mächtigen auch die Justiz, um kritischen Journalismus zu verhindern. Gegen mich liegen eine Reihe von Anzeigen vor und mittlerweile gab es ein erstes Urteil. Es ging um ein Vorwort, das ich für ein Buch geschrieben habe, in dem es um den Fall von Peña Nietos Anwesen geht. Der zuständige Richter hat mich verurteilt und mir allen Ernstes vorgeworfen, „einen exzessiven Gebrauch der Pressefreiheit“ gemacht zu haben. Doch das ist nicht alles. Ende letzten Jahres sind fünf Personen in unsere Redaktionsräume eingebrochen. Es ging allein darum, uns einzuschüchtern, denn gestohlen wurde kaum etwas.
Welche Auswirkungen hat diese Situation auf Ihr persönliches Leben? Fühlen Sie sich bedroht?
Ich bin überzeugt, das Richtige zu tun, und glaube, dass wir unsere journalistische Arbeit unabhängig, mit Haltung und Freude ausüben müssen. Diese Motivation wiegt schwerer als die Sorge um die körperliche Unversehrtheit. Der größte Schutz, den wir haben, ist die Aufmerksamkeit des Publikums, dass die Leute sich dafür interessieren, was wir machen.

Welche Botschaft geht von Ihrer Entlassung für andere Journalist*innen aus?
Ich hatte dank der öffentlichen Wahrnehmung meiner Person und meiner Popularität einen sehr guten Vertrag ausgehandelt, der mir die alleinige inhaltliche Verantwortung für meine Sendung zugestand. Dieser Vertrag sicherte mir und meinem Team die notwendige Unabhängigkeit zu, die wir für unsere Arbeit brauchten. Dass ein Medienunternehmen solch einen Vertrag im Falle einer bekannten, etablierten Journalistin einfach brechen kann, sendet in einem Land, in dem viele Journalisten prekär arbeiten, ein furchtbares Signal aus. Denn wenn selbst ich einfach so entlassen werden kann, kann es jeden treffen. Doch auch wenn die Behinderung meiner Arbeit schlimm ist, ist sie nichts im Vergleich zu den Bedrohungen, denen viele meiner Kollegen ausgesetzt sind.

Ihre Entlassung hat nicht zuletzt ein Schlaglicht auf den staatlichen Einfluss auf den Journalismus in Mexiko geworfen. War der Sender wegen des Bezugs öffentlicher Werbeeinnahmen erpressbar?
Viele Medien hängen von staatlichen Werbemitteln ab. Es ist ein Werkzeug der Regierung, um Medienunternehmen je nach ihrer inhaltlichen Ausrichtung zu belohnen oder zu bestrafen. Und das Geld wird diskret und ohne Transparenz verteilt. Wenn nun einzelne Medien ohne staatliche Zuwendungen nicht überleben können, ist klar, dass sie genau das berichten, was die Regierung wünscht. Peña Nieto hat bei seinem Amtsantritt angekündigt, diese Art der Zuwendungen zu regulieren. Bisher ist allerdings nichts passiert und letztlich haben weder die Regierung noch die großen Medienunternehmen ein Interesse daran. Aber der Präsident hat damit ein zentrales Thema angesprochen, da er vielfach dafür kritisiert worden ist, die Wahlen mit Hilfe einer unfassbaren Medienkampagne gewonnen zu haben. Er galt international als „Kandidat des Fernsehens“ und brachte die PRI nach zwölf Jahren zurück an die Macht.

Welche Rolle spielen alternative Medien in der öffentlichen Debatte in Mexiko?
Das hängt davon ab, was man als öffentliche Debatte bezeichnet. Alles deutet darauf hin, dass diese heute nicht mehr im traditionellen Fernsehen mit seiner einseitigen Kommunikation, sondern vor allem im Internet stattfindet. Die Zuschauerzahlen und Einnahmen des mexikanischen Fernsehduopols aus Televisa und TV Azteca gehen deutlich zurück. Ich glaube, das liegt daran, dass die Zuschauer*innen ins Internet abwandern, wo jeder eine Information veröffentlichen und damit eine Wirkung erzielen kann. Das bringt natürlich auch Gefahren mit sich, man denke nur an die Fake News, wie man heute sagt. Wir Journalist*innen müssen die Rolle der Journalist*innen für uns beanspruchen und zwar ebenso in den Zeitungen oder im Radio wie im Internet, wo die Qualitätsstandards genauso hoch sein müssen, wie in jedem anderen Medium. Erst, wenn du Informationen überprüft hast und die Verantwortung dafür übernimmst, bist du Journalist*in.

Seit Anfang des Jahres produzieren Sie Ihre neue Morgensendung selbst und streamen sie im Internet. Wie finanziert sich das Programm?
Bisher ausschließlich über die Werbeeinnahmen, die wir über die Klicks von Youtube beziehungsweise Google erhalten. Das funktioniert, weil wir im Moment eine feste Zuschauer- und Zuhörerschaft haben, die einen hohen Traffic generiert. Aufgrund des Volumens ist es uns möglich, eine Redaktion und die technischen Geräte zu bezahlen, um live als Radio- und Fernsehprogramm zu senden. Wir hoffen, dass das Publikum uns treu bleibt, denn nur so können wir auf Dauer weitermachen. Das heißt aber nicht, dass ich für die Zukunft ausschließe, auch andere Finanzierungsquellen zu nutzen, sofern sie transparent sind und unsere journalistische Unabhängigkeit garantiert ist.

 

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