„Der größte Erfolg wäre, sie zu finden“

Was ist der Hintergrund Ihres Besuches in Deutschland, bei dem Sie unter anderem mit verschiedenen politischen Vertreter*innen sprechen werden?

Seit einiger Zeit drängt die Stiftung darauf, eine Sonderkommission einzusetzen. Der Grund ist: Wir haben gesehen, dass in allen Fällen, die wir vertreten, eine historische Straffreiheit besteht. In Mexiko liegt diese Straffreiheit bei mehr als 95 Prozent. Gerechtigkeit zu erlangen, ist für jemanden aus einer Familie mit Migrationshintergrund sehr schwierig. Daher ist es äußerst wichtig, diese Fälle zu untersuchen, zu erfahren, was passiert ist und den Opfern Antworten zu geben. Das soll die Sonderkommission unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen gemeinsam mit der mexikanischen Generalstaatsanwaltschaft leisten. Diese technische Unterstützung hat die mexikanische Generalstaatsanwaltschaft schon in einigen Fällen akzeptiert, in denen es um verschwundene Migrant*innen ging – auch im Fall der fünf Massaker, die wir vertreten.

Dass ich Deutschland besuche, liegt an der Rolle, die das Land für Mexiko spielt: Deutschland hat Mexiko in verschiedenen Bereichen technische Unterstützung angeboten. Der Hintergrund: Von deutscher Regierungsseite aus wird ein besonderer forensischer Mechanismus vorangetrieben. Der ermöglicht, die mehr als 56.000 nicht identifizierten Überreste von Menschen zu identifizieren, die wir in Mexiko haben.

Was erhoffen Sie sich konkret von Deutschland?

Da Deutschland uns diese Unterstützung angeboten hat, wäre es sehr wichtig, dass sie diesen Vorschlag der Sonderkommission politisch offen unterstützen. Denn dieser Vorstoß ist für Mexiko notwendig. Und wir wissen auch, dass mehrere Regionen in Lateinamerika mit ähnlich schweren Problemen kämpfen. Wir müssen anfangen, Gerechtigkeit über Ländergrenzen hinaus zu denken. Das wäre eine andere Gerechtigkeit als die, die Menschen erleben, die sich hier niederlassen.

Für uns in Mexiko ist dieses Thema grundlegend. Aber es lässt sich auch auf andere Regionen der Welt übertragen. Wir wissen zum Beispiel, was im Mittelmeer mit Migrant*innen passiert, die sterben und nicht identifiziert werden. Was wir wollen ist: Mechanismen vorantreiben, die uns helfen zu verstehen, wie die transnationale Kriminalität – und damit auch der Menschenhandel – funktioniert. Zudem wollen wir herausfinden, wie die Staaten funktionieren, die oft mit diesen kriminellen Netzwerken zusammenarbeiten.

Wie steht es unter der Regierung von Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) aktuell um die Sicherheitslage von Menschen und Organisationen, die gegen dieses Verschwindenlassen in Mexiko kämpfen?

Die Sicherheitslage hat sich nicht verbessert unter der Regierung von Andrés Manuel López Obrador. Seine Regierung hat entschieden, eine Strategie fortzusetzen, die Organisationen der Zivilgesellschaft als gescheitert ansehen: die Armee gegen die organisierte Kriminalität auf die Straße zu schicken. Es gibt keinen historischen Beweis dafür, dass das in Mexiko jemals Erfolg gehabt hätte. AMLO setzt auf Militarisierung, statt eine richtige zivile Polizei aufzubauen, die auf dieses Problem reagieren kann. Zudem wird die Generalstaatsanwaltschaft völlig vergessen. Zusammengefasst: Weder die Gewalt ist zurückgegangen, noch haben die Fälle von Straffreiheit abgenommen.

Anzeige bei der Staatsanwaltschaft zu erstatten, ist für Familien nach wie vor sehr schwierig. Sie werden dort auch schlecht behandelt. Die Staatsanwaltschaften sind zu einem Ort von Korruption und organisiertem Verbrechen geworden. Das wirkt sich auf die Gesellschaft aus. In der bisherigen Amtszeit der jetzigen Regierung sind über 30.000 Menschen verschwunden. Wenn die Ursachen der Gewalt nicht bekämpft werden, wenn die Korruption in den Institutionen nicht bekämpft wird, wenn die Rechtsprechung sich nicht verbessert und wenn es keine Zivilpolizei gibt, dann werden wir in Mexiko weiterhin Gewalt erleben.

In den Medien liest man viel darüber, dass Aktivist*Innen und Suchende bedroht, verfolgt und getötet werden und verschwinden. Hatte Ihre Organisation schon mit solchen Aggressionen zu tun? Warum ist es für Angehörige so gefährlich, in Mexiko nach verschwundenen Familienmitgliedern zu suchen?

Ja, wir begleiten suchende Familien, die in sehr gefährlichen Gebieten leben oder dorthin gehen, wo es unsicher ist oder wo organisierte Verbrechen passieren, etwa in Guanajuato. Es ist unangenehm, wenn organisiertes Verbrechen involviert ist. Aber es ist auch unangenehm, wenn der Staat involviert ist. Die Suchenden haben Angst und gehen mit der Suche ein Risiko ein. Der größte Teil der Verschwundenen sind Männer. Doch es sind Mütter, Töchter und Schwestern, die nach ihnen suchen und sich deshalb in solche Gebiete begeben. Die ganze Thematik der Gerechtigkeit und des Suchens prägt Frauen. Nicht nur in Mexiko ist das so, sondern auch in Mittelamerika.

Haben auch Sie persönlich Schwierigkeiten?

Gegen mich und zwei weitere Frauen ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft seit 2016 – wegen organisierter Kriminalität und Entführung. Mit mir beschuldigt werden die Journalistin Marcela Turati und Mercedes Doretti, Mitglied des argentinischen Teams für forensische Anthropologie. Die Generalanwaltschaft leitete diese illegale Untersuchung gegen uns ein und nutzte dazu das härteste Gesetz Mexikos: das Gesetz zur organisierten Kriminalität. Es ermöglichte ihnen, für mindestens anderthalb Jahre auf unsere Telefondaten zuzugreifen. Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Wir haben den Fall bei der Abteilung für interne Angelegenheiten der Generalstaatsanwaltschaft angezeigt und bei der Nationalen Menschenrechtskommission Beschwerde eingelegt. Es ist ein schwieriger Weg für uns. Das ist es für jedes Opfer, das in Mexiko vor Gericht steht.

Welchen Wert hat die Arbeit anderer ziviler Organisationen, Journalist*innen und Akademiker*innen, die bei Untersuchungen zu Verschwundenen ebenfalls eine Rolle spielen?

Glücklicherweise haben auch wissenschaftliche Einrichtungen begonnen, sich mit diesem Thema zu befassen. In einem Land, in dem mehr als 100.000 Menschen verschwunden sind, sollte die gesamte Gesellschaft einbezogen werden. Die Einrichtungen begleiten Ermittlungen gegen kriminelle Netzwerke. Sie helfen uns beim Dokumentieren und auch dabei, Statistiken zu verstehen und Berichte zu erstellen. Aber wir würden uns wünschen, dass sie noch stärker einbezogen werden. Es gibt noch viel zu tun. Es geht darum, die mexikanische Gesellschaft weiter zu sensibilisieren. Darum, dass wir solidarisch sind – auch dann, wenn wir selbst noch nicht betroffen sind. Denn andere Menschen sind betroffen.

Der Journalismus hat verbreitet, was passiert. Das war ausschlaggebend. Journalist*innen haben mit ihren Berichten die fehlenden Informationen und die fehlenden Untersuchungen der Regierung etwas kompensiert. Sie geben den Opfern eine Stimme. Das ist sehr wichtig. Zudem versuchen sie zu erklären, was genau passiert. Sie haben es geschafft, dieses Problem sehr menschlich zu betrachten. Etwa, indem sie die Geschichten von Müttern und Familien er- zählen. Oder indem sie von den Hindernissen berichten, die Familien bei der Suche nach den Verschwundenen überwinden müssen. Der Journalismus ist eine der mutigsten Stimmen, die wir in Mexiko haben.

Wie messen Sie den Erfolg Ihrer Arbeit in diesem schwierigen Umfeld?

Die Verschwundenen zu finden, wäre der größte Erfolg. Lebend. Oder, falls nicht, „zumindest ihre Überreste“, wie die Familien es sagen. Ein Erfolg wäre auch, wenn Menschen verurteilt würden für das, was in Mexiko geschehen ist. Wir messen den Erfolg vor allem an der Stärke der Familien. In dem täglichen Kampf, den sie austragen, obwohl sie so viele wirtschaftliche und andere Schwierigkeiten haben. Sie treten vereint auf: um die öffentliche Ordnung des Landes zu verändern, um die Verschwundenen zu finden, um neue Strategien für die Suche und die Gerechtigkeit zu entwickeln. Manche Situationen, die anfangs schmerzhaft sind, enden in gewisser Weise als Erfolg. Wenn es uns gelingt, einige Überreste zu identifizieren, macht uns das traurig, aber es macht uns auch glücklich. Denn es ist eine Antwort, zumindest für diese eine Familie. Sie kann dann mit diesem Kapitel abschließen, mit dieser offe- nen Folter. 2013 gelang es uns, die Generalstaatsanwaltschaft dazu zu bringen, eine Vereinbarung zu unterzeichnen, um die Überreste von drei Massakern an Migrant*innen zu identifizieren.

Wie ist Ihnen das gelungen?

Das schafften wir mit Hilfe des argentinischen Teams für forensische Anthropologie, elf Organisationen aus der Region und Familienkomitees. Das war für uns ein Erfolg. Denn damals war Mexiko noch dabei, sein gesamtes forensisches System umzustrukturieren. Es ist uns auch gelungen, die Regierung dazu zu bewegen, mexikanische Botschaften und Konsulate für Betroffene zu öffnen. Dort können Familien nun die Suche nach ihren Angehörigen beantragen und Anzeigen erstatten. Das ist wichtig. Denn Mexiko muss sich an die Opfer wenden. Die Opfer sollten nicht zusehen müssen, wie sie hierherkommen, um Anzeige zu erstatten. Letztes Jahr ist es uns gelungen, einen nationalen Suchmechanismus einzurichten. Er kann alle Informationen über vermisste Migrant*Innen aus Zentralamerika mit Informationen aus den Vereinigten Staaten und Mexiko zusammenführen. Damit versuchen wir dann, Suchmuster auf regionaler Ebene zu erkennen. Das machen wir gemeinsam mit der Nationalen Suchkommission, einem Runden Tisch für Migrant*innen.

Frau Delgadillo, warum ist es so wichtig, Informationen über diesen Kampf zu verbreiten, um die internationale Solidarität zu stärken?

Eine erste Botschaft ist: Menschen verschwinden zu lassen ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit – auch dann, wenn es nicht in unserer Nähe passiert. Dieses Thema betrifft uns alle, denn seine Auswirkungen sind äußerst schwerwiegend. Deshalb ist Solidarität immer notwendig. Sie ist vor allem für die Familien notwendig, aber auch für alle Journalist*innen und Verteidiger*innen, die in diesem Bereich arbeiten. Dass in der Berichterstattung auch Familien zu Wort kommen, ist immer wichtig. Denn sie sind diejenigen, die mit allen möglichen Hindernissen konfrontiert sind. Für uns sind sie die Hauptakteur*innen. Diejenigen, die uns Wege öffnen: bei der Suche, der Gerechtigkeit und der Wiedergutmachung in unserem Land.

WAS GUTE LITERATUR KANN

Poetische Diagramme „Wenn sich zwei Menschen ein Geheimnis erzählen, sieht das ungefähr so aus“ (Illustrationen: Verónica Gerber Bicecci / MaroVerlag)

„Da es in der Literatur schwierig ist, sich der hegemonialen Macht des geschriebenen Wortes zu entziehen, habe ich die bildende Kunst und die Wissenschaft zu Hilfe genommen“, schreibt Veró-nica Gerber Bicecci im Nachwort zu Leere Menge. Gerber Bicecci, 1981 als Tochter argentinischer Exilierter in Mexiko-Stadt geboren, nennt sich selbst eine „bildende Künstlerin, die schreibt“.

Ihr jüngstes Werk Leere Menge, im Herbst 2022 im MaroVerlag erschienen, lässt sich daher kaum als einfachen Roman beschreiben, sondern eher als Literaturstück, Kunstwerk und wissenschaftliche Beobachtung in einem. Und so erklärt auch die Autorin in einem Interview mit Words Without Borders, das Buch sei wie jedes andere ihrer Kunstprojekte – bei diesem gehe man nur nicht in eine Ausstellung, sondern müsse es eben lesen.

Dieses Lesen gestaltet sich anspruchsvoll: Die Handlung verläuft nicht chronologisch, sondern in miteinander verschlungenen Ebenen. Kurze Kapitel, Briefe und Einschübe werden immer wieder von Protokollen und Zeichnungen unterbrochen und ergänzt. So werden Leser*innen herausgefordert, ihr Zusammenspiel zu entschlüsseln, sich durch die Handlung zu arbeiten, hinter ihre Rätsel zu steigen. Dabei liest man mal schnell, mal langsam, brütet über dieser Zeichnung oder jener Formulierung – eine Abwechslung, die nur wenige Romane mit sich bringen.

Ähnlich herausfordernd muss auch die Entstehung des Buchs gewesen sein, wie Gerber Biceccis Erzählungen vermuten lassen: „Ich bin zwischen meinem Computer und meinem Zeichentisch hin- und hergelaufen, um zu sehen, wie die Texte und Zeichnungen zueinanderpassen. Es war ein gemischter Entstehungsprozess von Hand und Computer“, erzählt sie bei Words Without Borders.

Was verwirrend klingen mag, geht im Leseprozess in beeindruckender Weise auf. Denn die Zeichnungen, Protokolle und Texte bilden ein in sich stimmiges Gesamtwerk, eine tiefdringende Reflexion über Einsamkeit, Exil, Verschwinden und Vergessen mit autobiografischen Zügen. Wie die Autorin selbst ist auch Verónica, die gleichnamige Protagonistin von Leere Menge, Tochter exilierter Argentinier*innen. So werden immer wieder Bezüge zur argentinischen Militärdiktatur (1976-83) deutlich – zum Exil, zum Verschwindenlassen, zur Erinnerung (siehe Artikel auf Seite 18). „[D]er Tod verursacht, glaube ich, auf einen Schlag eine tiefe (sehr tiefe) Wunde, die dann langsam heilt. Das Verschwinden hingegen verursacht eine kleine, kaum spürbare Wunde, die aber jeden Tag etwas weiter aufreißt“, heißt es da etwa.

Verónica versucht, ihre zwischenmenschlichen Beziehungen, ihren Verlust und ihr Verschwinden formelhaft zu verbildlichen. Die so entstehenden Zeichnungen und Diagramme sind nicht nur sehr künstlerisch, sondern basieren auf naturwissenschaftlichen Prinzipien, auf physikalischen Zusammenhängen, auf natürlichen Formen wie den Ringen auf Baumstämmen. An vielen Stellen ergänzen die Zeichnungen den Text um das, was mit Wörtern schwer zu erzählen ist. „Ich muss zugeben, dass ich die Zeichnungen genutzt habe, um es zu vermeiden, Szenen zu schreiben, die sonst kitschig klingen würden“, entgegnet die Autorin etwa angesprochen auf die Frage, wieso eine Sexszene halb geschrieben, halb gezeichnet dargestellt wird.

Unterhaltsame Szenen wie diese lockern die tiefgründigen Fragen, denen Verónica nachgeht, auf. Gleiches gilt für die zahlreichen Wort-, Buchstaben- und Silbenspiele, die das Buch durchziehen. Es ist erfreulich, dass es der Übersetzerin Birgit Weilguny gelungen ist, diese ins Deutsche zu übertragen, ohne sie ins Lächerliche zu ziehen. Das gilt auch für Gerber Biceccis ebenso einfache wie liebevolle Sprache.

Leere Menge bietet damit ein besonderes Erlebnis, das über gewohnte Leseerfahrungen hinausgeht – ganz egal, wie vielen der Rätsel Leser*innen auf die Sprünge kommen. Eines der größten Rätsel ist da etwa das seltsame Verschwinden von Verónicas Mutter. Einige Geheimnisse klärt Gerber Bicecci im sehr aufschlussreichen Nachwort, das der deutschen Übersetzung angehängt ist, auf. Andere bleiben vielleicht für immer ein Rätsel oder lösen sich bei nochmaligem Lesen.

Eine tiefe Behandlung persönlicher und zwischenmenschlicher Fragen zeichnet das Buch in jedem Fall aus und lässt sicher viele Leser*innen nachdenklich zurück. Das gilt für Fragen nach der Bedeutung des Exils für nachkommende Generationen ebenso wie für das Thema Einsamkeit: „Einsamkeit sieht man nicht, man erlebt sie, ohne sie bewusst zu bemerken. […] Sie ist eine Art leere Menge, die sich im Körper, in der Sprache einrichtet, bis einen niemand mehr versteht.“

Zeichnungen ergänzen den Text „Zwei Universen (U) […] Oder besser gesagt zwei Länder: Argentinien (L1) Mexiko (L2) und Mama (M)“ (Illustrationen: Verónica Gerber Bicecci / MaroVerlag)

„EINE DER SCHWERSTEN MENSCHENRECHTSVERLETZUNGEN“

Mexiko befindet sich in einer schweren Menschenrechtskrise, was sich in besonderem Maße an den erschreckenden Zahlen an gewaltsam Verschwundenen zeigt. Wie stellt sich die Situation aktuell dar?
Offizielle Angaben gehen derzeit von mehr als 105.000 Verschwundenen in Mexiko aus. Und das, ohne die Fälle zu berücksichtigen, die nicht zur Anzeige gebracht wurden. Diese Krise ist auch eine forensische Krise. Nach inoffiziellen Angaben gibt es 52.000 nicht identifizierte Leichen. Viele von ihnen wurden von Familienangehörigen von Verschwundenen gefunden.

Wer sind die Opfer der Verbrechen?
Es sind vor allem junge Menschen, die gewaltsam verschwinden. Obwohl die meisten von ihnen Männer sind, werden auch immer mehr Frauen Opfer. Diese Verbrechen werden meist im Kontext anderer Straftaten, wie Menschenhandel oder Sexualverbrechen, begangen. Diese geschlechtsspezifischen Charakteristika erfüllen uns mit zusätzlicher Sorge.

Welche Folgen haben diese Verbrechen für die Angehörigen?
Das Verschwindenlassen ist eine der schwersten Menschenrechtsverletzungen, da eine Vielzahl von Rechten betroffen ist. Nicht nur die Rechte der verschwundenen Person, die Unversehrtheit des Lebens und der Freiheit, sondern auch die Rechte der Angehörigen werden verletzt, auch weil der Verbleib der verschwundenen Person nicht bekannt ist.
Es sind meist Frauen, die ihre Angehörigen suchen. Sie sind Mütter oder Schwestern, die auf die Suche gehen, oft unter sehr schwierigen und unsicheren Bedingungen. Als Frauen sind sie mit besonderen Problemen konfrontiert, in Bezug auf die staatlichen Institutionen, aber auch in Bezug auf die eigenen Communities. In den letzten Jahren wurden 13 Suchende ermordet. Das zeigt auch, dass der Staat nicht in der Lage ist, diejenigen zu schützen, die die Aufgabe der Suche ausführen.

Warum verschwinden Menschen in Mexiko gewaltsam? Und welche strukturellen Bedingungen begünstigen diese Verbrechen?
Die Situation ist seit 2006 und dem sogenannten Krieg gegen die Drogen eskaliert. Die damalige Regierung von Präsident Felipe Calderón militarisierte das Land, was zu keinem Rückgang der Gewalt geführt hat. Im Gegenteil, es gab einen enormen Anstieg von Morden und Menschenrechtsverletzungen, darunter das Verschwindenlassen. Die beteiligten Akteure und die Motive, die hinter dem Verschwindenlassen stehen, sind vielfältig und komplex. Die organisierte Kriminalität spielt eine wichtige Rolle, aber auch die Sicherheitskräfte, die auf verschiedenen Ebenen an vielen dieser Verbrechen beteiligt sind. Manchmal arbeiten sie mit dem organisierten Verbrechen direkt zusammen, manchmal lassen sie es in bestimmten Regionen operieren, ohne einzugreifen. Das UN-Komitee gegen Gewaltsames Verschwindenlassen hat in seinem Bericht anlässlich seines Besuchs im April 2022 deutlich gemacht, dass es zu einem großen Teil genau diese Sicherheitspolitik ist, die das Verschwindenlassen begünstigt und ermöglicht.

Mit der jüngsten Reform der Nationalgarde wurde die öffentliche Sicherheit noch weiter militarisiert. Die Militarisierung der Sicherheitspolitik ist ein Teil des Problems. Ein weiteres Problem ist die Straflosigkeit. Sie ist einer der wesentlichen Faktoren, die Verschwindenlassen begünstigen. Und das dritte Element ist das Fehlen einer ganzheitlichen Politik, die die verschiedenen Stellen koordiniert, im Bereich der Sicherheit und im Bereich der Bekämpfung des Verschwindenlassens.

Welche Maßnahmen hat die Regierung von AMLO ergriffen, um das Problem zu bekämpfen?
Die Regierung hat die Krise anerkannt. Das war sehr wichtig und wir hatten Hoffnung, dass die Anerkennung auch zu angemessenen Schritten führen würde. In den ersten Jahren dieser Regierung wurden einige Maßnahmen erlassen, die den Eindruck erweckten, dass es in diesem Zusammenhang Verbesserungen geben könnte. Es wurden einzelne Maßnahmen ergriffen, wie die Stärkung der Nationalen Kommission zur Suche nach Verschwundenen, der Sondermechanismus zur forensischen Identifizierung (Mecanismo Extraordinaria de la Identificación Forense) oder die Schaffung des Nationalen Zentrums zur menschlichen Identifizierung (Centro Nacional de Identificación Humana). Diese und weitere Initiativen sind aber eher isolierte Maßnahmen und werden einem ganzheitlichen Ansatz der Politik nicht gerecht. Zudem wurden Maßnahmen erlassen, die in die entgegengesetzte Richtung gehen. Aus unserer Sicht ist die erwähnte Militarisierung eine der besorgniserregendsten Entwicklungen. Die Streitkräfte sind darauf trainiert, den Feind zu bekämpfen. Ein Großteil der Truppe ist weit davon entfernt, die Menschenrechte zu verteidigen, und sie ist auch sehr resistent gegen Transparenz und Rechenschaftspflicht, und Straflosigkeit ist ein großes Problem.

Im August wurde ein Bericht der Wahrheitskommission zum Fall Ayotzinapa veröffentlicht. Darin wurde die Komplizenschaft zwischen Militärkräften und organisiertem Verbrechen klar benannt. Von 83 ausgestellten Haftbefehlen in dem Fall betreffen nun 20 Militärs. Wie bewerten Sie den Bericht?
Der jüngste Bericht beinhaltet wichtige Elemente. Er zeigt deutlich, wie die Untersuchungen behindert wurden, um sie schnell abzuschließen und die „historische Wahrheit“ zu konstruieren. Es gab eine staatliche Politik, die darauf ausgerichtet war. Und er benennt deutlich, dass aufgrund der Verwicklung verschiedener staatlicher Institutionen von einem Staatsverbrechen gesprochen werden muss. In diesem Sinne ist der Bericht sehr relevant.
Es muss aber gesagt werden, dass dieser Bericht kein Bericht der Wahrheitskommission zum Fall Ayotzinapa ist, sondern nur der ihres Vorsitzenden Alejandro Encinas Rodríguez. Weder andere Mitglieder der Kommission noch Fachleute der GIEI (Interdisziplinäre Gruppe unabhängiger Expert*innen zum Fall Ayotzinapa, Anm. d. Red.) waren an der Erstellung und Bewertung beteiligt. Deshalb sind wir besorgt, dass die Veröffentlichung des Berichts vor allem politischen Gründen geschuldet ist. Familienangehörige haben den Bericht zwar ebenfalls begrüßt, fordern aber eine tiefere Analyse des genauen Tathergangs. Bisher haben sie noch immer noch keine Antwort darauf, wo ihre Söhne verblieben sind.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier „Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika“. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

DIE BEWEGUNG DER FRAUEN

(Foto: Robert Swoboda)

MARCELA TURATI ist unabhängige Journalistin und beschäftigt sich seit langem intensiv mit Gewalterfahrungen und deren Auswirkungen auf Einzelne und die mexikanische Gesellschaft. Sie ist Mitgründerin des Netzwerkes Periodistas de a Pie (Journalisten auf den Beinen), einer Organisation welche die Qualitätsverbesserung des Journalismus in Mexiko zum Ziel hat. Für ihre Arbeit wurde sie mit mehreren internationalen Preisen ausgezeichnet. Auf der Internetseite www.adondevanlosdesaparecidos.org gibt es eine interaktive Karte zu Fundorten von Verschwundenen, welche Frau Turati auf der Konferenz vorstellte.


Seit über einem Jahrzehnt berichten Sie über das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen in Mexiko, dabei betonen Sie die besondere Rolle von Frauen bei der Suche nach ihren Angehörigen. Was sind Ihre Erfahrungen als Journalistin?
Als ich im Jahr 2008 anfing mich mit der Gewalt in Mexiko zu beschäftigen, fiel mir auf, dass es immer Frauen waren, die sich organisierten, die auf die Straße gingen für die Ermordeten und heute auch für die 40.180 Verschwundenen. Wir Journalistinnen sind heute ebenfalls organisiert. Die Männer sind eingeladen, machen aber nicht mit oder sind in traditionellen Organisationen engagiert. In den neuen Kollektiven sind vor allem Frauen. Wir arbeiten zusammen mit Anthropologinnen, Psychologinnen, Anwältinnen und begleiten die Kollektive von Müttern auf der Suche nach ihren Angehörigen, wenn sie demonstrieren, Veranstaltungen organisieren oder wenn sie versuchen Gesetze zu ändern und die UNO oder den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen. Überall sind es Frauen. Für mich war das sehr beeindruckend, ich war bis dahin überhaupt keine Feministin.

Warum nehmen die Männer nicht teil?
Es gibt Männer. Als sich die Bewegung das erste Mal zeigte, war an der Spitze ein Mann, der Dichter Javier Sicilia (im Jahr 2011, Anm. d. Red.). Er hat einige weibliche Attribute. Es gibt auch ein paar Ausnahmen, aber die Frauen sind beständig da und organisieren sich.
Doch wir stellen uns die gleiche Frage. Was ich oft gehört und gesehen habe, ist, dass der Mann sich um die wirtschaftlichen Angelegenheiten kümmert, damit die teure Suche nach Verschwundenen finanziert werden kann. Er geht zur Arbeit und unterstützt sie damit. Für viele Frauen ist die Suche selbst zur Arbeit geworden. Ein anderer Zusammenhang ist der, dass Männer insgesamt häufiger Opfer von gewaltsamem Verschwindenlassen und Morden sind. Eine Mutter kann einem Auftragsmörder gegenüber treten oder um Erlaubnis bitten ein Gebiet zu betreten ohne derartiges zu provozieren. Mit der Anwesenheit eines Mannes stellt sich dagegen die Frage, wer die Kontrolle hat. Bei den regelmäßigen Treffen der Bewegungen gibt es eine sehr weibliche Dynamik, es wird auch geweint, dieser Teil fällt den Männern sehr schwer. Auf die ein oder andere Art nehmen sie also teil, aber nicht bei der regelmäßigen kollektiven Organisierung.

Wie schaut die mexikanische Gesellschaft auf die Frauenkollektive, welche nach ihren Angehörigen suchen?
Teil der Gewalt ist eine Stigmatisierung. Ob Mord oder Verschwindenlassen, ob Journalist oder wer auch immer, wenn sie dich umbringen oder dich verschwinden lassen, dann weil du etwas gemacht hast. Das ist es, was die Menschen glauben wollen und was die Regierung unterstützt: Die Bösen morden nur untereinander, also macht euch keine Sorgen.
Klar begann man zu sehen, dass es so nicht ist. Bei vielen Opfern ist das „Warum?“ ungeklärt. Und es gibt keine Justiz, die diese Frage stellt. Die Straflosigkeit in Mexiko liegt bei 98 Prozent, die Verbrechen werden von niemandem aufgeklärt. Deshalb hat das Narrativ auch lange funktioniert, bis heute. Obwohl es so viele Verschwundene gibt und es sehr wahrscheinlich ist, dass du jemanden davon kennst. Die Menschen beginnen zu sehen, dass das jedem passieren kann. Sie können dich verschwinden lassen für das Tragen eines Tattoos, weil sie denken du bist in einem Kartell. Das kann passieren, wenn jemand in einer anderen Region unterwegs ist, zum Beispiel in Sinaloa aber aus Michoacán stammt und dann angenommen wird, dass derjenige vom dortigen Kartell ist. Oder wenn eine Gruppe von Männern, Migranten oder Touristen mit einem gemieteten Truck unterwegs ist, die dann verdächtigt wird, zu einem verfeindeten Kartell zu gehören. Das haben wir sehr viel erlebt, bei Studenten oder Bauern und anderen. Es gibt also viele Möglichkeiten, dass etwas passiert. Jeder kann verschwinden.
Ich sehe, dass es Menschen gibt die darauf reagieren. Und ich würde gerne sagen, dass die mexikanische Gesellschaft sich dessen bewusst ist. Aber ich glaube es nicht. Es scheint eine gefährliche Normalisierung einzutreten. Wir erleben ständig diese Momente des Horrors und mir scheint, die Menschen sind jedes Mal etwas mehr daran gewöhnt: ‘Das passiert nun mal in Mexiko, es ist außer Kontrolle’. Ich sehe die Solidarität nicht, dass Menschen die Mütter auf der Suche nach ihren Verschwundenen unterstützen, mit ihnen auf die Straße gehen.

Im Jahr 2011 gab es die große Bewegung mit Javier Sicilia.
Das hat viel Aufmerksamkeit erregt. Als die Menschen das erste Mal im Fernsehen davon erfuhren und sahen, dass Präsident Calderón sich mit der Bewegung traf, wurde ihnen bewusst dass es überhaupt Verschwundene gibt. Mit Ayotzinapa (43 im Jahr 2014 verschwundene Student*innen, Anm. d. Red.) wurden sie wieder daran erinnert, weil die Bewegung sehr stark war. Es scheint mir aber, dass dies nicht zu den Prioritäten der Leute gehört.
Ähnlich ist es mit den ermordeten Journalisten. Diejenigen, die sich der Rolle des Journalismus bewusst sind, sorgen sich. Die Mehrheit ist jedoch weder solidarisch noch denkt sie darüber nach, es wird zur Normalität.

Welche Maßnahmen ergreifen Journalist*innen um sich zu schützen?
Das kommt darauf an, in welcher Region du arbeitest und was du recherchierst. Einige Dinge haben sich geändert, zum Beispiel wie wir an die Informationen der Polizei kommen. Früher sind wir zum Tatort gefahren, haben uns einfach Notizen gemacht und mit der Polizei gesprochen. In den Regionen wo es heute gefährlich ist, geht niemand mehr allein zum Tatort. Es gibt ein Netzwerk von Beobachtern, die darauf achten, dass alle zusammen rein und wieder raus gehen. Manchmal kann die Nachricht nicht veröffentlicht werden, weil Anrufer ihnen das sagen oder die Journalisten das so einschätzen. Für manche Zonen erstellen wir Sicherheitsprotokolle, eins ist dafür da, sich in regelmäßigen Zeitabständen zu melden, bleibt der Anruf aus, wird nach der Person gesucht. Es gibt vieles. Wir informieren uns über die neuesten Apps und so weiter.

Gibt es Hilfe von der Regierung und hat die neue Regierung von López Obrador etwas geändert?
Ich denke es ist noch zu früh dazu etwas zu sagen. Seit Obrador Präsident ist, ist die Zahl der ermordeten Journalisten exponentiell gestiegen. Es gibt zwei verschiedene Register, eins sagt es wären 17, das andere 9 ermordete Journalisten. Das hängt von der Methode der Erhebung ab, wir haben darüber eine interne Diskussion. Manche sagen, es sollten nur die gezählt werden, die wegen ihrer Arbeit umgebracht werden.
Die Regierung sagt, sie würde sich um die Presse kümmern, aber wir sehen verschiedene Dinge, die uns Sorgen machen. Zum Beispiel hält Obrador jeden Morgen eine Pressekonferenz ab und alle paar Tage spricht er dabei von der Presse als dem Feind. Er spricht von einigen bestimmten Medien, aber er verspottet sie. Wenn sie eine Frage stellen, sagt er, sie würden lügen. Er leugnet die Informationen, die ihm nicht passen, streitet sich mit den Journalisten, die er nicht mag oder droht ihnen. Es ist sehr schlecht in einem Land, in dem so viele Journalisten umgebracht werden, den Präsidenten dabei im Fernsehen zu sehen, wie er sie beschimpft. Das ist wie eine Einladung für andere Politiker, uns zu beschimpfen. Obrador mochte die Presse noch nie, vor allem die, die er konservativ nennt, betrachtet er als Feinde. Er erkennt die Arbeit der Medien nicht an und fühlt sich angegriffen. Obrador befasst sich mehr mit Baseball als mit dem Schutz von Jounalisten.

Sie schreiben viel über jegliche Art von Gewalt, welche Form der Sprache benutzen Sie?
Manchmal fehlen mir die Worte. Die Perioden der Gewalt wiederholen sich immer wieder. Ich versuche die Sprache der Narcos nicht zu kopieren, das wäre sehr einfach und ist verbreitet unter Journalisten. Wenn die Mafia zum Beispiel einen Platz in der Stadt besetzt, wird das in deren Ausdrücken wiedergegeben, die das verharmlosen oder legal aussehen lassen. Wenn jemand verschwunden gelassen wird, wird stattdessen gesagt, die Mafia habe ihn ‘hochgenommen’. Das nimmt den Taten das Gewicht. Auch die Regierung verwendet bestimmte Begriffe in dem Zusammenhang, wie ‘kollaterale Opfer’ für im Kreuzfeuer erschossene Menschen. Wir diskutieren auch darüber, ob wir das Wort ‘Kartell’ benutzen oder nicht, denn das ist eine Konstruktion der Regierung. Was ist mit den organisierten kriminellen Banden, die sich nicht unter diesen Begriff fassen lassen?
Eine lange Zeit habe ich Zeugenaussagen aufgeschrieben, um zu erzählen was passiert ist, welche Auswirkungen die Gewalt auf die Familie und die Gemeinde hat, was die Täter und Opfer denken. Heute bin ich damit beschäftigt Daten aus Statistiken auszuwerten und sie mit den Regionen in Verbindung zu bringen. Das hilft mir Zusammenhänge zu verstehen und über die Einzelfälle hinaus zu gehen. So habe ich für meine Berichterstattung verschiedene Untersuchungsmethoden angewendet.

 

„DIE SICHERHEITSBEHÖRDEN SIND TEIL DES PROBLEMS“

“Genozid-Staat” Marcha Nacional Contra el Gatillo – Demonstrationen gegen tödliche Polizeigewalt im Mai 2019 in Buenos Aires

Was glauben Sie, was mit Santiago passiert ist?
Ich weiß es nicht, es gibt tausende Möglichkeiten. Aber alle denkbaren Hypothesen weisen auf den Staat als Verantwortlichen hin. Fakt ist: Fast 130 Gendarmen sind damals ohne richterlichen Beschluss in ein Gebiet eingedrungen, um acht bis zehn Demonstranten zu verfolgen. Einer von ihnen war Santiago. Die Gendarmen haben mit Gummigeschossen und Schrotkugeln geschossen; daraufhin blieb Santiago für 77 Tage verschwunden. Am 78. Tag wurde er gefunden – am Flussufer, das bereits dreimal durchsucht wurde. Zwei dieser drei Durchsuchungen fanden an genau derselben Stelle statt, an der dann die Leiche von Santiago aufgetaucht ist – mit Charakteristiken, die nicht üblich sind für einen Körper, der so lange im Wasser war. Laut Autopsie wies die Leiche Zeichen einer Konservierung auf, die üblicherweise zwischen -20 und -80 Grad entstehen. Das heißt, der Körper wurde künstlich gelagert.

Was ist der aktuelle Stand in dem Fall?
Im November 2018 hat der Richter Lleral den Fall in erster Instanz eingestellt, weil es keine Beweise dafür gäbe, dass der Staat für Santiagos Tod verantwortlich sei. Der Richter hat nicht mal rekonstruiert, was damals passiert ist. Wir sind dann in Berufung gegangen und diese Berufung wurde Ende Januar zugelassen. Seitdem warten wir auf einen Beschluss, ob der Fall weiter verfolgt wird oder nicht. Eigentlich dauert so etwas nur 15 Tage.

Ist der Fall Santiago Maldonado noch ein Thema in der argentinischen Öffentlichkeit?
Ja. Zwar nicht mehr so intensiv wie damals, als nach Santiago gesucht wurde, aber wenn etwas passiert, wird darüber berichtet, und wir versuchen auch dafür zu sorgen, dass das Thema in der Öffentlichkeit bleibt. Der Fall wird auch immer dann wieder lebendig, wenn über die Politik der harten Hand berichtet wird oder jemandem einfach so in den Rücken geschossen wird. Da war der Mord an Rafael Nahuel (der 22-jährige Mapuche wurde am 25. November 2017, am Tag der Trauerfeier für Santiago Maldonado, während einer Besetzung in der Nähe von Bariloche von Sicherheitskräften der Spezialeinheit „Albatros“ der argentinischen Marine von hinten erschossen, Anm. d. Red.) und viele weitere. Der jüngste Fall sind vier Jugendliche, die in San Miguel del Monte durch die Polizei ums Leben gekommen sind.

Hat es einen Anstieg der tödlichen Polizeigewalt in Argentinien gegeben?
Ja, in den letzten dreieinhalb Jahren, seit die Regierung von Mauricio Macri an der Macht ist, hat es bereits über 1.300 Tote durch Polizeigewalt gegeben. Seit 1989 waren es insgesamt 6.000. Auch unter anderen Regierungen gab es Fälle von Verschwindenlassen oder gatillo fácil (missbräuchlicher Einsatz von Schusswaffen durch Sicherheitskräfte, der von der Polizei meist als Unfall oder legitime Verteidigung dargestellt wird, Anm. d. Red.), aber den höchsten Anstieg gab es unter dieser Regierung. Der Unterschied ist, dass die beteiligten Sicherheitskräfte vorher nicht unterstützt wurden; sie wurden aus dem Dienst entfernt und es wurde ermittelt.

Sergio Maldonado Bruder von Santiago Maldonado / Foto: Lidia Barán/Anred.org

Und heute?
Fünf oder sechs der Gendarmen, die am Verschwindenlassen von Santiago beteiligt waren, wurden befördert und der Polizist Luis Chocobar, der Rafael Nahuel erschossen hat, wurde kurz danach ausgezeichnet. Seitdem bezeichnet man das als die Chocobar-Doktrin: Du knallst einen ab und bekommst dafür einen Preis im Regierungspalast. Diese Regierung hat uns eine Politik der harten Hand gebracht, mit einer Narrenfreiheit für die Täter.

Welche Rolle spielt dabei das Sicherheitsministerium?
Die Täter kommen aus verschiedenen Einheiten der Sicherheitskräfte, aber sie alle unterstehen dem Ministerium von Patricia Bullrich. Im Fall von Santiago hat sie den beteiligten Sicherheitskräften den Rücken gestärkt, anstatt sie freizustellen, um zu ermitteln und rauszufinden, was passiert ist. Das war ganz klar eine politische Entscheidung. Es war wie eine Blaupause, denn danach wurde es immer repressiver. Wenn man jetzt auf eine Demo geht, zeigen die Sicherheitskräfte: Wir können machen, was wir wollen. Im Dezember 2017 haben sie mitten in Buenos Aires Pfefferspray gegen Rentner eingesetzt, die gegen die Rentenreform protestiert hatten; sie haben Demonstranten mit Motorrädern überfahren, haben Leute verprügelt und alles wurde gefilmt – wenn so etwas mitten in Buenos Aires passiert, was können sie da erst in Patagonien machen, mitten auf der Ruta 40, wo keine Kameras sind, kein Signal, mitten im Nichts… Stell dir vor, was da mit Santiago passiert sein mag.

Wie wollen Sie erreichen, dass der Fall doch noch aufgeklärt wird?
Wir fordern eine unabhängige Expertengruppe, die in dem Fall ermittelt. Der argentinische Staat ist nicht in der Lage, in seinen eigenen Strukturen zu ermitteln, es sind alles Kollegen, sie werden niemals gegen sich selbst ermitteln. Wie im Fall von Rafael Nahuel decken sich auch im Fall von Santiago die verschiedenen Sicherheitsbehörden gegenseitig. Sie alle sind Teil des Staates und sie alle sind Teil des Problems. Das einzige, was sie machen, ist, die Familien auszuspionieren.

Von den anderen 1.299 Fällen der letzten Jahre hört man eher wenig. Was macht den Fall von Santiago so bedeutsam?
Das Leben von Santiago ist nicht mehr oder weniger wert, als die Leben der anderen jungen Leute, die durch den gatillo fácil in einem Dorf oder einem Viertel ermordet wurden. Was in diesem Kontext so wichtig ist, ist, dass er verschwunden war. Der Verschwundene hat in Argentinien eine besondere Bedeutung – es ist das erste Mal seit der Rückkehr zur Demokratie, dass eine staatliche Polizeieinheit so agiert und von der Regierung unterstützt wird.

Ist der Gesellschaft bewusst, dass es eine Politik der harten Hand gibt, in der Sicherheitskräfte töten können, ohne sich dafür verantworten zu müssen?
Nein, das sehe ich nicht so. Manchmal lese ich einen Kommentar und denke: Wie kann der sich über einen Mord freuen? Letztens fiel ein Satz, den ich oft gehört habe, als ich kleiner war: Hier muss mal ein Fidel Castro kommen oder ein Pinochet und dann ist Schluss mit der ganzen Kriminalität! Mal abgesehen vom Unterschied zwischen Castro und Pinochet denke ich, die Leute hier verstehen manchmal überhaupt nichts. Es gab schon immer einen Teil der Gesellschaft, der rechts steht, vielleicht 20 bis 25 Prozent, und ich sehe die Gefahr, dass sich die armen und unterprivilegierten Schichten nach rechts wenden. Das macht mir Sorgen.

In der Zivilgesellschaft gab es aber massive Reaktionen auf das Verschwinden und den Tod von Santiago…
Ja, im Fall von Santiago waren erstmals alle verschiedenen Organisationen vereint. Auf der ersten Demo ein paar Tage nach seinem Verschwinden waren 100.000 Menschen. Vier Wochen später kamen 200.000 Menschen und zwei Monaten danach waren 300.000 Menschen auf der Plaza de Mayo. Und dazu noch Menschen in 200 Städten im ganzen Land, in manchen Kleinstädten kam die Hälfte der Bevölkerung zusammen.

Im Oktober wird in Argentinien gewählt. Eine Abkehr von der Politik der harten Hand ist trotzdem nicht in Sicht?
Vielleicht könnte man mit einer anderen Regierung versuchen, den Sicherheitskräften ihre Macht zu nehmen. Das geht nicht von heute auf morgen; die Sicherheitskräfte, die jetzt aktiv sind, waren zum Teil schon in der Diktatur dabei. Es ist eine Frage der Erziehung, wie ob man die Hundeleine etwas länger lässt oder ob man sie besser kontrolliert. Die Politik der harten Hand und des gatillo fácil ist sozusagen Teil der Staatsräson.
Um diesen Kulturkampf zu gewinnen, muss man versuchen, einen Teil der Gesellschaft zu bilden, etwas beizubringen. Aber negativ gesehen denke ich: Man kann wählen, wer in der Regierung sitzt, aber nicht diejenigen, die in den Behörden sitzen. Die juristische Macht, die Macht der Medien und der Hedgefonds kann man nicht mit einem Regierungswechsel ändern.

 

AN DER FRONT

Der Fotograf Emmanuel Guillén Lozano reiste mit seiner Kamera vom Norden Mexikos bis zur Südküste. Im Blick Orte, die das Verbrechen zeigen. Dort wo die organisierte Kriminalität herrscht und sich Bürger*innen selbst organisieren und zur Wehr setzen, weil die örtliche Polizei Teil des Problems ist (siehe LN 504). Manchmal scheinen seine Fotos unwirklich, die bittere Realität wird zu einem Ausschnitt aus einer Szene mexikanischen Alltags, der schwer zu fassen ist. Lozano bildet gesichts­lose Auftragskiller in einer Umgebung ab, die zu Folter und Verschwindenlassen benutzt wird.

2017 wird das gewaltsamste Jahr in der Geschichte Mexikos, bis September registrierte das Innenministerium 18.505 Morde, 866 gemeldete Entführungen und 4.315 Erpressungen. Die Lateinamerika Nachrichten zeigen eine Auswahl des Fotografen.

Weitere Bilder: www.emmanuelguillen.com

DIE MASCHINE, DIE VERSCHWINDEN LÄSST

78 Tage nachdem Santiago Maldonado zuletzt lebend gesehen worden war, ist seine Leiche am 17. Oktober im Fluss Chubut in der gleichnamigen Provinz im Süden Argentiniens aufgefunden worden. Der 28-jährige Aktivist und Kunsthandwerker war laut Zeug*innenaussagen am 1. August während einer Protestaktion der Mapuche-Gemeinde Cushamen von der Gendarmerie verfolgt und verschleppt worden. Seither fehlte von ihm jede Spur (siehe LN 519/520). Maldonados gewaltsames Verschwinden hatte eine enorme Protestwelle im ganzen Land ausgelöst, die sich zum vorläufigen Höhepunkt des Protests gegen die rechtskonservative Regierung von Präsident Mauricio Macri entwickelte. Das Bild des verschwundenen Aktivisten ging um die Welt und in Argentinien Hunderttausende auf die Straßen.

Nach dem Auffinden und Identifizieren der Leiche wird nun der Ruf nach Gerechtigkeit laut. Menschenrechtsorganisationen werfen der Regierung vor, die Gendarmen, die als Hauptverdächtige für Maldonados Verschwinden gelten, zu protegieren und mit Hilfe von kollabierenden Medienunternehmen wissentlich falsche Theorien über den Fall in Umlauf gebracht zu haben, um so die Ermittlungen zu verschleppen und die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Alles systematische Momente in der Logik eines Verbrechens, das Argentinien während der letzten Militärdiktatur (1976 – 1983) zu trauriger Berühmtheit gebracht hat. Seit 2002 wird das gewaltsame Verschwindenlassen im Völkerrecht als Verbrechen gegen die Menschheit sanktioniert.

Der Wahlkampf wurde eingestellt nachdem Maldonados Körper gefunden wurde

Die Nachricht vom Fund von Santiago Maldonados Körper kam genau fünf Tage vor den argentinischen Parlamentswahlen, woraufhin alle Parteien ihren Wahlkampf einstellten. Entgegen plausibler Erwartungen dieses Ereignis könnte negative Auswirkungen auf das Wahlergebnis für die regierenden Parteien haben, ging das aktuelle Regierungsbündnis Cambiemos gestärkt aus den Parlamentswahlen hervor (zum Wahlergebnis siehe Kurznachrichten S. 56). Die vorschnelle Mitteilung des zuständigen Richters Gustavo Lleral am Vorabend der Wahl, der Körper Maldonados weise keine Verletzungen auf, mag zwar wahlbeeinflussend intendiert gewesen oder rezipiert worden sein, wahrscheinlich wäre das Wahlergebnis aber auch ohne dieses Statement positiv für Cambiemos ausgefallen. Fraglich bleibt, wie die Regierung es schafft, trotz wirtschaftlicher Flaute, extrem gestiegener Energie- und Lebenshaltungskosten, weiterer angekündigter Reformen, Panama Papers, ständigen Repressionen gegen die organisierte Bevölkerung und eines handfesten Menschenrechtsskandals ihr Saubermann-Image aufrechtzuerhalten. Aktuelle negative Entwicklungen werden in der dominierenden öffentlichen Meinung immer noch der Vorgängerregierung angelastet.

Foto: Lina Etchesuri / lavaca.org

Auch drei Wochen nach dem Leichenfund gibt es immer noch keine offiziellen Ergebnisse der Obduktion oder Gewissheit über den Zeitpunkt des Todes von Santiago Maldonado. Dass sich Maldonados Körper die ganze Zeit über an der Stelle befunden hat, wo er gefunden wurde, wird von Expert*innen angezweifelt. Einerseits sei die Stelle bereits mehrfach zuvor erfolglos abgesucht worden, andererseits hätte der Zustand der Leiche durch die Strömung weit stärker angegriffen sein müssen: „In diesem Fall ist der Körper intakt. Er hat sogar Fingerabdrücke. Deswegen muss das Todesdatum später als am 1. August sein“, erklärte der Gerichtsmediziner und Kriminologe Enrique Prueger gegenüber dem lokalen Radiosender La Red. „Es ist unmöglich, dass er an diesem Tag gestorben ist“, so seine Schlussfolgerung. Die Fragen, wie Maldonados Körper in den Fluss gelangt ist und wo er zuvor gewesen ist, sind völlig offen.

Familienangehörige und Vertreter*innen der Mapuche-Gemeinde versuchen nun auf anderen Wegen die Aufklärung des Falles voranzubringen. Am 26. Oktober fand vor der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (CIDH) in Montevideo eine Anhörung statt, in der sie Sanktionen gegen die argentinische Regierung und die Intervention des Komitees für Gewaltsam Verschwundene der UNO in die Ermittlungen forderten. Der zuständige Richter Lleral lehnte jedoch am 9. November die Aufnahme unabhängiger Expert*innen-gruppen in die Ermittlungen ab. Mapuche-Anwalt Chuzo Gonzales Quintana ließ bei der Anhörung vor dem CIDH kein gutes Haar am argentinischen Staat, dem er vorwarf, nicht nur nicht nach dem Verschwundenen gesucht zu haben, sondern auch die Hauptverdächtigen gedeckt zu haben. Desweiteren habe die Regierung mit Hilfe der Medien falsche Fährten gelegt und Zeug*innen aus der Mapuche-Gemeinde als Terrorist*innen verleumdet.

So treten in diesem Fall mehrere systemische Probleme des argentinischen Staates zutage, die mit vergangenem und aktuellem Staatsterrorismus, institutioneller Gewalt, einem korrupten Justizsystem, Straflosigkeit sowie der Verstrickung zwischen Unternehmen, Großgrundbesitz und Staat(sgewalt) in Verbindung stehen.

Auch der jahrelange Kampf der indigenen Gemeinden im Süden Argentiniens rückt ins Blickfeld. Das Gebiet der Gemeinde Cushamen liegt innerhalb eines 900 000 Hektar großen Territoriums, das das italienische Textilunternehmen Benetton im Jahr 1991 vom argentinischen Staat gekauft und dadurch zum größten privaten Landbesitzer in Argentinien gemacht hat. Die Mapuche betrachten dies als unrechtmäßige Aneignung ihrer angestammten Ländereien und widersetzen sich seit 2015 auch durch Besiedelung des Gebiets, das auf dem Papier Benetton gehört. Die Gendarmerie unterhält indes eine inoffizielle Kommandozentrale innerhalb von Benettons Territorium und die Mapuche in der Region sind immer wieder Repressionen ausgesetzt, werden kriminalisiert, verschwunden, verhaftet und zu Opfern extrem rassistischer Staatsgewalt. Jones Huala, lonko (Oberhaupt) in Cushamen, sitzt als politischer Gefangener seit Juni 2017 in Haft. Huala spekuliert, dass Maldonado von der Gendarmerie irrtümlicher Weise für einen Mapuche gehalten wurde und sie daher davon ausgegangen seien, dass sein Verschwindenlassen kein großes Aufsehen erregen würde. Die Zahlen sprechen für diese These: Mehr als 200 gewaltsam Verschwundene seit Ende der Diktatur zählt die Koordinationsstelle gegen staatliche und institutionelle Gewalt CORREPI, die meisten von ihnen blieben unbeachtet. Santiago Maldonado – selbst kein Mapuche, sondern solidarischer Aktivist – ist also lange nicht der erste gewaltsam Verschwundene in demokratischen Zeiten, aber der erste Fall, der so stark in der Öffentlichkeit steht seit dem Amtsantritt von Präsident Macri im Dezember 2015. Dessen Regierung bestreitet weiterhin jede Art von Verantwortung, obwohl im Fall Maldonado mittlerweile offiziell unter dem Tatbestand Gewaltsames Verschwindenlassen ermittelt wird. Ausführer dieses Verbrechens ist per Definition der Staat bzw. quasi-staatliche Organe. Menschenrechtsorganisationen fordern den Rücktritt der Sicherheitsministerin Patricia Bullrich, die für den Einsatz der Gendarmerie verantwortlich war, bei dem Maldonado zuletzt gesehen wurde.

Foto: Carla Perrone / lavaca.org

Obwohl noch viele Fragen ungeklärt sind: Kein Verschwinden geschieht ohne aktive oder passive Mitwirkung des Staates, auf dessen Machtgebiet das Verbrechen geschieht – durch die ausführenden Sicherheitskräfte, die verschachtelten Wege der Justiz, die Behörden und Funktionär*innen, die in einer Mischung aus Fahrlässigkeit und Verantwortungslosigkeit in den entscheidenden Momenten wegschauen, durch die Medien, die systematisch de-informieren oder manipulieren. Alle operieren in dem gleichen System, als „Zahnräder im Getriebe der Maschine, die verschwinden lässt“, so Vanesa Orieta anlässlich des Auffindens von Maldonados Leiche. Orieta hat selbst fünf Jahre lang nach ihrem 16-jährigen Bruder Luciano gesucht, der eines Tages im Jahr 2009 von einer Polizeiwache eines verarmten Vorortes von Buenos Aires nicht wieder zurückkehrte. Luciano war von der Provinzpolizei ermordet worden, seine Überreste konnten erst nach einem langen Kampf mit den Institutionen in einem anonymen Massengrab gefunden werden. So wie Vanesa Orieta sind es vor allem die Familien der Verschwunden, die gegen das System

Vor allem die Familien der Verschwundenen kämpfen gegen das System dahinter

des Verschwindenlassens ankämpfen und dabei immer wieder mit den gleichen systematischen Logiken der Vertuschung, Verschleppung der Aufklärung und der eigenen Kriminalisierung konfrontiert werden. In Argentinien haben sich die Angehörigen der Verschwundenen in ihrer unermüdlichen Suche zu wichtigen politischen Bezugsgrößen des Landes etwickelt: die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo, die Organisation der Kinder der in der Militärdiktatur gewaltsam Verschwundenen (H.I.J.O.S.) oder die vielen Einzelpersonen wie Vanesa Orieta, die selbst um die Aufklärung der Fälle ihrer Angehörigen kämpfen müssen. Und nun Sergio Maldonado, der Bruder von Santiago Maldonado, der zum wichtigsten Wortführer der jetzigen Proteste geworden ist. Nicht selten, so geschehen auch im Fall von Sergio Maldonado, werden die Familienangehörigen zu Zielscheiben von Aggressionen. Die Mediatisierung von Maldonados Fall hat bereits extreme Ausmaße angenommen. Während die großen Medienkonglomerate Clarín, Indalo und La Nación eine aktiv einmischende Rolle hinsichtlich der Entlastung der Regierung und Diffamierung der Familie eingenommen haben, wurde die zur Aufklärung so notwendige Gegenöffentlichkeit wiederum fast ausschließlich über Soziale Medien aktiviert. Am 1. November demonstrierten wieder 150 000 Menschen in Buenos Aires und forderten Gerechtigkeit für Santiago.

DIE ANDEREN VERSCHWUNDENEN

„Es war der Staat“ Aktivist*innen klagen das Verschwindenlassen der 43 Studenten aus Ayptzinapa an (Foto: Subversión Visual, CC BY-NC-ND 2.0)
„Es war der Staat“ Aktivist*innen klagen das Verschwindenlassen der 43 Studenten aus Ayptzinapa an (Foto: Subversión Visual, CC BY-NC-ND 2.0)

„¡Hijo, escucha, tu madre está en la lucha!“ („Kind, hör zu, deine Mutter kämpft“) – immer wieder hallt der Schlachtruf durch den Innenhof des Stadtmuseums. Wo sonst Besucher*innen in andächtiger Stille Relikte aus der 700-jährigen Geschichte der mexikanischen Hauptstadt bewundern, drängen an diesem kalten Mittwochmorgen dutzende Reporter*innen und Schaulustige auf die wenigen freien Plätze im Hof des Museums. Transparente, Plakate und Bilder von verschwundenen Personen zieren jeden freien Zentimeter der Innenfassade des barocken Kolonialgebäudes.
Es ist der 9. September 2015, kurz vor dem ersten Jahrestag des Verschwindens der 43 Studenten aus Ayotzinapa. Zu hunderten sind sie gekommen – einzelne Familienangehörige, Vertreter*innen von Opferkollektiven und Nichtregierungsorganisationen – um den vergessenen Opfern des Drogenkrieges eine Stimme zu geben. Sie sind wütend und enttäuscht darüber, dass die Schicksale ihrer Familienangehörigen und Freund*innen weiterhin mit Resignation hingenommen werden, obwohl die Massenentführung in Iguala das Thema endlich auf politischen Agenda Mexikos katapultiert hatte. Der Anlass für die medienwirksame Protestveranstaltung ist der neueste Tiefschlag, den die Demonstrant*innen hinnehmen mussten: In kafkaesker Manier arbeitete die mexikanische Regierung einen Gesetzentwurf zum gewaltsamen Verschwindenlassen (Ley general de desaparición forzada) aus – eigentlich ein wichtiges Zugeständnis der Regierung an die Betroffenen. Er entstand auf Druck von Opferverbänden wie der Bewegung für den Frieden um den Dichter Javier Sicilia (s. LN 445/446) und wurde bereits in der Amtszeit des ehemaligen Präsidenten Felipe Calderón erstellt. Die Ausarbeitung des Entwurfs geschah allerdings ohne die Zivilgesellschaft auch nur ein einziges Mal zu konsultieren. Nicht eine der 35 Opfer- und 41 Nichtregierungsorganisationen vor Ort war nach ihrer Meinung gefragt worden. Niemand durfte seine Geschichte erzählen, die zumeist von einem Klima der Angst und der Untätigkeit lokaler Behörden handelt. Im schlimmsten Fall waren Politiker*innen und Polizeibeamt*innen selbst in das Verschwinden ihrer Mitbürger*innen verstrickt, deren Schutz auf körperliche Unversehrtheit sie eigentlich garantieren sollten.
Wie ist es möglich, dass heute, 30 Jahre nach dem Ende der rechten Militärdiktaturen in Lateinamerika, Menschen systematisch entführt, gefoltert und getötet werden können, ohne dass die Regierung eine Antwort auf diese Menschenrechtsverletzungen findet und diese auch noch mit zu verantworten hat? Was hat es auf sich mit dieser rohen, von Gewalt durchdrungenen Welt, die sich im toten Winkel des wirtschaftlichen Aufstiegs Mexikos ausgebreitet hat wie ein Krebsgeschwür? Welche Schicksale ereilen die Angehörigen, die abseits des Medienrummels um die verschwundenen Studenten aus Ayotzinapa für ihre vermissten Familienmitglieder kämpfen?
Seit dem Fall Ayotzinapa ist die Problematik der Verschwundenen in Mexiko präsenter denn je. Die Porträts neuer und alter Verschwundener sind überall zu finden – in den sozialen Netzwerken, in Zeitungen und im Straßenbild. Dies bedeutet nicht, dass auch auf staatlicher Ebene nach ihnen gesucht wird. Allerdings zeigt sich, dass der Druck auf die Regierung seitens der Zivilbevölkerung immer größer wird.
Die Vereinten Nationen gehen von 27.000 verschwundenen Menschen in Mexiko aus – aller-dings ist unklar, ob diese Personen Opfer von gewaltsamem Verschwindenlassen unter Beteiligung staatlicher Akteur*innen wurden, ob sie durch nichtstaatliche Akteur*innen verschwunden worden sind und wie viele Menschen aus freien Stücken ihren Wohnort verlassen haben. Allerdings lässt die Tatsache, dass die Generalstaatsanwaltschaft (Procuraduría General de la República, PGR) bei ihrer Suche nach den verschwundenen Studenten allein in der Region um Iguala rund 60 Massengräber fand, vermuten, dass die Mehrheit der Verschwundenen nicht auf Strandurlaub in Cancún ist. Mittlerweile werden einige Teile Mexikos in diplomatischer Rhetorik als „Räume begrenzter Staatlichkeit“ bezeichnet, um damit subtil auf das Fehlen des staatlichen Gewaltmonopols hinzuweisen. Die Profile der Betroffenen sind vielfältig, niemand kann sich wirklich sicher sein, nicht eines Tages verschwunden zu werden. Der öffentliche Diskurs hat sich verändert: während es einst üblich war, davon auszugehen, dass Verschwundene in illegale Machenschaften verwickelt gewesen sein müssen – frei nach dem Motto „algo habrán hecho“ („irgendetwas müssen sie ja getan haben“) – ist mittlerweile offensichtlich, dass es jede*n treffen kann – auch Kinder. Was mit den Opfern passiert, ist nicht immer so klar, wie es die vielen Massengräber vermuten lassen. Auch Menschenhandel, Prostitution und Zwangsarbeit sind lukrative Geschäfte.
Nur selten scheinen die mexikanischen Behörden ihre Ermittlungen darauf auszurichten, die Wahrheit darüber herauszufinden, was passiert ist. Die Situation ist paradox: Strafrechtliche Untersuchungen werden in der Regel von lokalen Institutionen durchgeführt. Diese haben aber kaum Interesse daran, gegen ihre eigenen Bediensteten zu ermitteln – obwohl in der überwiegenden Anzahl der nachgewiesenen Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen Teile der lokalen Exekutive involviert waren. Folglich beschränken sich die Behörden darauf, wenig brauchbare Maßnahmen einzuleiten, die zumindest den Anschein ernsthafter Ermittlungen und rechtsstaatlicher Prinzipien vortäuschen sollen.
Xalapa, die Hauptstadt des Bundesstaats Vera-cruz, im März 2016. Die Stadt der Blumen, wie sie genannt wird, ist eines der Epizentren der Gewalt in der Region. Ángeles Fernández pendelt zwischen der südöstlich gelegenen Provinz und der 300 Kilometer entfernten Landeshauptstadt. Auch sie demonstrierte am 9. September im Stadtmuseum von Mexiko City. Ángeles ist eine der zahlreichen Aktivist*innen, die ihr Leben der Suche nach den Vermissten gewidmet haben. Sie ist eine elegante, zierliche Frau mit den Gesichtszügen eines Menschen, der schon früh viel gearbeitet hat. Es wird schnell deutlich, dass Ángeles zu denjenigen gehört, die ihre Worte mit Bedacht wählen. Sie hat diese abwägende, wohlüberlegte Art, die vielen Leuten eigen ist, die ihren Kampf vor allem mit Worten und der Macht der Sprache führen. „In Xalapa“, erzählt sie, „beruhen alle relevanten Informationen auf Ermittlungen, die von den Familien und den Opferkollektiven bereitgestellt wurden. Die Beweise werden von Angehörigen zusammengetragen, die Opfer eigenständig gesucht.“
Man sieht es Xalapa nicht an. Die Stadt unterscheidet sich auf den ersten Blick kaum von anderen in der Gegend. Doch gleich drei Kartelle kämpfen hier um die Vorherrschaft: Los Zetas, Jalisco Nueva Generación und das Golf-Kartell. Die Grenzen zwischen organisierter Kriminalität und lokalen Eliten sind oftmals fließend, die Korruption hoch. Wer sich auf die Suche nach der Wahrheit macht, wird schnell zum Ziel von Repressalien. Ángeles und ihre Mitstreiter*innnen halten diese Hürden nicht auf. Sie zeigt die lange Liste mit den Namen von Vermissten aus Veracruz – 950 Personen sind es momentan. Unentwegt berichtet sie von dem langen Weg, den sie noch vor sich haben: „Die Opfer und ihre Angehörigen müssen eine angemessene Entschädigung erhalten, die ihnen die Wiederherstellung ihrer verletzten Rechte erleichtert.“ Es brauche einen systematischen Mechanismus zur Kontrolle des Ermittlungsstandes sowie Sanktionierungsmöglichkeiten bei Untätigkeit der Behörden, meint Ángeles. Bisher sei keine dieser Forderungen umgesetzt worden. Es gäbe noch nicht einmal eine einheitliche Liste aller Verschwundenen in Mexiko, geschweige denn ein strafrechtlich verfolgbares Delikt für gewaltsames Verschwindenlassen. Dazu kommt noch, dass der Etat der PGR für die Spezialeinheit zur Suche von verschwundenen Personen für 2016 um 30 Prozent reduziert wurde. Im März dieses Jahres veröffentlichte Amnesty International einen Bericht aus dem deutlich wird, dass der Staat nicht den Eindruck vermittelt, das Problem in den Griff kriegen zu wollen. Die Mutter eines Verschwunden fasste das Verhalten der Behörden in einem Satz zusammen: „Eine gleichgültige Behandlung, wie ein weiteres Stück Papier, denn das sind die verschwundenen Personen für sie, eine weitere Akte, die sie abheften.“
Veracruz ist landesweit trauriger Spitzenreiter, wenn es um gewaltsames Verschwindenlassen geht. Erst am 11. Februar 2016 wurden hier fünf junge Menschen von lokalen Polizeikräften gemeinsam mit Mitgliedern des Kartells Jalisco Nueva Generación entführt und umgebracht. Das Opferkollektiv El Solecito de Veracruz, dem auch Ángeles angehört, hat allein zwischen 2010 und 2013 zwanzig Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen dokumentiert. „Das gewaltsame Verschwinden eines Menschen verletzt nicht nur die Rechte der Opfer, sondern auch die ihrer Angehörigen“ sagt Ángeles. Ein Aspekt, der oftmals vergessen wird: Der Grad der Betroffenheit durch das Verschwinden naher Angehöriger ist so gravierend und tiefgreifend, das von einer Verletzung der persönlichen Unversehrtheit gesprochen werden muss. Darüber hinaus sehen sich viele Angehörige ernsthaften wirtschaftlichen Problemen ausgesetzt, da sie sich durch die Suche nach den Verschwundenen ihren Anstellungen nur noch in geringem Maße widmen können. Besonders schwerwiegend wird es, wenn die verschwundene Person Geldschulden hatte, die nun von den Verwandten getragen werden müssen. Ángeles erklärt, dass viele Familien vor dem Ruin stünden, weil ihnen die finanziellen Mittel ausgingen. Die momentane Gesetzgebung sieht keinerlei Rechtsschutz für eine solche Situation vor.
Seit dem Beginn des Drogenkrieges unter Präsident Felipe Calderón im Jahr 2006 hat sich das Phänomen des gewaltsamen Verschwindenlassens in nahezu allen Teilen des Landes ausgebreitet. Selbst wenn der mexikanische Staat seiner Pflicht nachkäme und ausführliche Suchen nach den Verschwunden durchführte, die Fakten untersuchte sowie für eine angemessene und umfangreiche Entschädigung der Opfer bürgte, würde das Verschwinden von Personen auch zukünftig voraussichtlich nicht verhindert werden. Sinnvolle Lösungsansätze gibt es zwar, allerdings liegen wesentliche Ursachen des gewaltsamen Verschwindenlassens außerhalb des Einflussbereichs der mexikanischen Politik – zum Beispiel im Verbot von Drogen in den USA und Europa. Erst diese Prohibitionspolitik ermöglicht die astronomischen Gewinne, mit denen die Kartelle ihre militärische Aufrüstung und das Netzwerk von Korruption und Bestechung finanzieren.
Vor diesem Hintergrund finden Forderungen nach einer Liberalisierung des Drogenkonsums ihre Berechtigung. Doch wird allein ein Paradigmenwechsel der Drogenpolitik nicht ausreichen, da die Kartelle ihre Einnahmequellen bereits stark diversifiziert haben. Manche Gruppierungen verdienen mehr Geld mit Aktivitäten wie Menschenhandel, Erpressung, Waffenschmuggel und Produktpiraterie als mit dem Drogengeschäft. Weiterhin haben einige Organisationen wie das Sinaloa-Kartell des mittlerweile verhafteten „El Chapo“ riesige Summen ins Ausland oder in die legale Wirtschaft des Landes transferiert. Wenn es gelänge, diese Vermögen einzufrieren, könnte eine tiefgreifende Schwächung des organisierten Verbrechens in Mexiko realisiert werden. Dies allerdings scheitert oftmals am politischen Willen der Eliten, denn die Netzwerke aus legalen Unternehmen tragen einen erheblichen Teil zur mexikanischen Wirtschaft bei und finanzieren nicht zuletzt den Wahlkampf von Politiker*innen. Es handelt sich um einen Teufelskreis: Da die Kontrolle über die staatlichen Akteur*innen nur bei ihnen selbst liegt, ist im Falle des gewaltsamen Verschwindenlassens keine Strafe zu erwarten, da kaum Beweise existieren werden. Somit sind die Fälle nur sehr schwer zu erfassen und werden verdrängt, da keine Statistiken aufgestellt werden. Ein weiteres Problem, auf das die Regierung reagieren müsste, ist die chronische Unterbezahlung von Beamt*innen auf kommunaler Ebene. Einfache Polizist*innen erhalten monatlich rund 400 Euro. Sind sie parallel auch noch für ein Kartell tätig, verdienen sie ein Vielfaches ihres Polizei-Lohnes. Doch auch die Angst vor den Kartellen zwingt viele Angestellte zum Mitspielen. Wer sich weigert, ist der ständigen Gefahr ausgesetzt erpresst, bedroht, verschwunden oder ermordet zu werden. Die mexikanische Regierung schätzt, dass sich mehr als die Hälfte der lokalen Polizeikräfte im Land von Drogenbanden bezahlen lässt. Zudem ist der Erfolg der Kartelle auch der Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher geschuldet. Trotz verbesserter Bildungschancen ist der soziale Aufstieg nur für Wenige möglich und eine Tätigkeit für das Organisierte Verbrechen ist weitaus lukrativer als alle legalen Alternativen. „Lieber fünf Jahre leben wie ein König als 50 Jahre wie ein Ochse“ lautet das durchaus nachvollziehbare Kredo vieler junger Menschen in den Armenvierteln der Großstädte und auf dem Land.
Es wird deutlich: Das Problem des gewaltsamen Verschwindenlassens in seiner unheimlichen Komplexität zu erfassen und realistische Lösungen zu formulieren gleicht einer Sisyphos-Arbeit. Die mexikanische Politik scheint angesichts dieser Verantwortung in einem Lethargie-Zustand zu verweilen. So befindet sich das Gesetz zum gewaltsamen Verschwindenlassen, das am 6. Januar dieses Jahres hätte verabschiedet werden müssen, noch immer in der Schwebe. Es soll nun in einer Sondersitzung des Abgeordnetenhauses im Juni verabschiedet werden. Als sei das nicht schon genug, hat die Interdisziplinäre Expert*innengruppe der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zur Untersuchung der Massenentführung von Iguala bei der Präsentation ihres Abschlussberichts am 24. April der mexikanischen Regierung mangelnde Kooperationsfähigkeit und eine Blockadehaltung zu ihren Ermittlungen konstatiert. Auch Ángeles war bei der Vorstellung des Berichts anwesend, um wieder zu demonstrieren. „Das Gefühl der Ohnmacht und der Schmerz sind schlimm“, erklärt sie, „aber die Ignoranz der Behörden wiegt fast noch schlimmer“. Sie hat ihre beiden Töchter verloren.

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