Argentinien | Literatur | Nummer 583 - Januar 2023

WAS GUTE LITERATUR KANN

Verónica Gerber Bicecci erweitert mit Leere Menge spielerisch den Raum dessen, was in einem guten Roman möglich ist

Von Susanne Brust

Poetische Diagramme „Wenn sich zwei Menschen ein Geheimnis erzählen, sieht das ungefähr so aus“ (Illustrationen: Verónica Gerber Bicecci / MaroVerlag)

„Da es in der Literatur schwierig ist, sich der hegemonialen Macht des geschriebenen Wortes zu entziehen, habe ich die bildende Kunst und die Wissenschaft zu Hilfe genommen“, schreibt Veró-nica Gerber Bicecci im Nachwort zu Leere Menge. Gerber Bicecci, 1981 als Tochter argentinischer Exilierter in Mexiko-Stadt geboren, nennt sich selbst eine „bildende Künstlerin, die schreibt“.

Ihr jüngstes Werk Leere Menge, im Herbst 2022 im MaroVerlag erschienen, lässt sich daher kaum als einfachen Roman beschreiben, sondern eher als Literaturstück, Kunstwerk und wissenschaftliche Beobachtung in einem. Und so erklärt auch die Autorin in einem Interview mit Words Without Borders, das Buch sei wie jedes andere ihrer Kunstprojekte – bei diesem gehe man nur nicht in eine Ausstellung, sondern müsse es eben lesen.

Dieses Lesen gestaltet sich anspruchsvoll: Die Handlung verläuft nicht chronologisch, sondern in miteinander verschlungenen Ebenen. Kurze Kapitel, Briefe und Einschübe werden immer wieder von Protokollen und Zeichnungen unterbrochen und ergänzt. So werden Leser*innen herausgefordert, ihr Zusammenspiel zu entschlüsseln, sich durch die Handlung zu arbeiten, hinter ihre Rätsel zu steigen. Dabei liest man mal schnell, mal langsam, brütet über dieser Zeichnung oder jener Formulierung – eine Abwechslung, die nur wenige Romane mit sich bringen.

Ähnlich herausfordernd muss auch die Entstehung des Buchs gewesen sein, wie Gerber Biceccis Erzählungen vermuten lassen: „Ich bin zwischen meinem Computer und meinem Zeichentisch hin- und hergelaufen, um zu sehen, wie die Texte und Zeichnungen zueinanderpassen. Es war ein gemischter Entstehungsprozess von Hand und Computer“, erzählt sie bei Words Without Borders.

Was verwirrend klingen mag, geht im Leseprozess in beeindruckender Weise auf. Denn die Zeichnungen, Protokolle und Texte bilden ein in sich stimmiges Gesamtwerk, eine tiefdringende Reflexion über Einsamkeit, Exil, Verschwinden und Vergessen mit autobiografischen Zügen. Wie die Autorin selbst ist auch Verónica, die gleichnamige Protagonistin von Leere Menge, Tochter exilierter Argentinier*innen. So werden immer wieder Bezüge zur argentinischen Militärdiktatur (1976-83) deutlich – zum Exil, zum Verschwindenlassen, zur Erinnerung (siehe Artikel auf Seite 18). „[D]er Tod verursacht, glaube ich, auf einen Schlag eine tiefe (sehr tiefe) Wunde, die dann langsam heilt. Das Verschwinden hingegen verursacht eine kleine, kaum spürbare Wunde, die aber jeden Tag etwas weiter aufreißt“, heißt es da etwa.

Verónica versucht, ihre zwischenmenschlichen Beziehungen, ihren Verlust und ihr Verschwinden formelhaft zu verbildlichen. Die so entstehenden Zeichnungen und Diagramme sind nicht nur sehr künstlerisch, sondern basieren auf naturwissenschaftlichen Prinzipien, auf physikalischen Zusammenhängen, auf natürlichen Formen wie den Ringen auf Baumstämmen. An vielen Stellen ergänzen die Zeichnungen den Text um das, was mit Wörtern schwer zu erzählen ist. „Ich muss zugeben, dass ich die Zeichnungen genutzt habe, um es zu vermeiden, Szenen zu schreiben, die sonst kitschig klingen würden“, entgegnet die Autorin etwa angesprochen auf die Frage, wieso eine Sexszene halb geschrieben, halb gezeichnet dargestellt wird.

Unterhaltsame Szenen wie diese lockern die tiefgründigen Fragen, denen Verónica nachgeht, auf. Gleiches gilt für die zahlreichen Wort-, Buchstaben- und Silbenspiele, die das Buch durchziehen. Es ist erfreulich, dass es der Übersetzerin Birgit Weilguny gelungen ist, diese ins Deutsche zu übertragen, ohne sie ins Lächerliche zu ziehen. Das gilt auch für Gerber Biceccis ebenso einfache wie liebevolle Sprache.

Leere Menge bietet damit ein besonderes Erlebnis, das über gewohnte Leseerfahrungen hinausgeht – ganz egal, wie vielen der Rätsel Leser*innen auf die Sprünge kommen. Eines der größten Rätsel ist da etwa das seltsame Verschwinden von Verónicas Mutter. Einige Geheimnisse klärt Gerber Bicecci im sehr aufschlussreichen Nachwort, das der deutschen Übersetzung angehängt ist, auf. Andere bleiben vielleicht für immer ein Rätsel oder lösen sich bei nochmaligem Lesen.

Eine tiefe Behandlung persönlicher und zwischenmenschlicher Fragen zeichnet das Buch in jedem Fall aus und lässt sicher viele Leser*innen nachdenklich zurück. Das gilt für Fragen nach der Bedeutung des Exils für nachkommende Generationen ebenso wie für das Thema Einsamkeit: „Einsamkeit sieht man nicht, man erlebt sie, ohne sie bewusst zu bemerken. […] Sie ist eine Art leere Menge, die sich im Körper, in der Sprache einrichtet, bis einen niemand mehr versteht.“

Zeichnungen ergänzen den Text „Zwei Universen (U) […] Oder besser gesagt zwei Länder: Argentinien (L1) Mexiko (L2) und Mama (M)“ (Illustrationen: Verónica Gerber Bicecci / MaroVerlag)

Verónica Gerber Bicecci // Leere Menge // MaroVerlag // Aus dem mexikanischen Spanisch von Birgit Weilguny // 2022 // 224 Seiten // 24 Euro

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