Sieg um jeden Preis
Das Spiel Argentiniens gegen Peru bei der Fußball-WM 1978 wurde vermutlich im Rahmen der „Operación Cóndor“ verkauft
Als ob es rund um dieses Spiel nicht schon genug Gerüchte und Legenden gäbe: Das 6:0 Argentiniens bei der WM 1978 gegen Peru ist mit Sicherheit eines der umstrittensten Resultate in der Geschichte des Weltfußballs. Seit Jahrzehnten ranken sich Manipulationsvorwürfe um die Partie, die die Argentinier mit mindestens vier Toren Unterschied gegen eine damals eigentlich starke peruanische Mannschaft gewinnen mussten, um ins WM-Finale einzuziehen.
Im Zuge der Ermittlungen gegen den Diktator Jorge Videla, der der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1981 vorstand, gab es nun eine überraschende Enthüllung. Der ehemalige peruanische politische Gefangene und spätere Senator Genaro Ledesma Izquieta sagte gegenüber der argentinischen Justiz aus, er sei als Gegenleistung für einen hohen Sieg der Albiceleste gegen Peru nach Argentinien ausgeliefert worden. Ledesma Izquieta war damals Gewerkschaftsfunktionär im ebenfalls von einer Militärdiktatur beherrschten Peru und wurde vom Regime von General Francisco Morales Bermúdez gefangen genommen, da er einen Generalstreik angeführt hatte, dessen Ziel es war, die Gewaltherrschaft der Militärs zu beenden. Laut Ledezma Izquietas Aussage lieferte ihn Bermúdez deswegen gemeinsam mit zwölf weiteren Aktivist_innen als Kriegsgefangene im Austausch gegen ein günstiges Resultat im entscheidenden Spiel nach Argentinien aus. Ledesma Izquieta gab weiterhin an, die Aktion sei im Zusammenhang mit der „Operación Cóndor“ erfolgt. Die „Operación Cóndor“ war eine Zusammenarbeit der Geheimdienste der Militärregierungen Argentiniens, Boliviens, Brasiliens, Chiles, Paraguays und Uruguays mit dem Ziel der Verfolgung und Ermordung linker Oppositioneller in den 1970er Jahren.
Ledesma Izquieta weist in seiner Zeugenaussage darauf hin, wie wichtig es den argentinischen Militärs war, ihr schlechtes Image mit Hilfe sportlicher Erfolge reinzuwaschen. Folter und Ermordung von Regimegegner_innen waren auch zum Zeitpunkt der WM 1978 international schon ein offenes Geheimnis. Bereits zu seiner Machtübernahme durch den Staatsstreich 1976 hatte Videla erklärt, es müssten „nun so viele Menschen wie nötig in Argentinien sterben, damit das Land wieder sicher ist“. Dem Fußball-Weltverband FIFA, der die WM bereits zehn Jahre zuvor an Argentinien vergeben hatte, war dies nach den politisch unruhigen Jahren der Regierung Isabel Perón mehr als Recht. „Jetzt ist Argentinien in der Lage, die Weltmeisterschaft auszurichten“, frohlockte der brasilianische FIFA-Präsident João Havelange nur zwei Tage nach Videlas Putsch und legte auf der Eröffnungsfeier der WM zwei Jahre später nach: Nun könne die Welt „das wahre Argentinien kennenlernen“.
Offensichtlich fielen seine Worte zumindest in Deutschland auf fruchtbaren Boden, denn der WM-Teilnehmer und spätere deutsche Bundestrainer Berti Vogts bekannte unbedarft: „Argentinien ist ein Land, in dem Ordnung herrscht. Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen“. Ob Vogts auch heute noch in dem Glauben lebt, die „Schmach von Córdoba“ (Deutschlands 2:3-Niederlage gegen Österreich, die das Ausscheiden besiegelte) sei das Schlimmste gewesen, was damals in Argentinien passierte, ist nicht bekannt. Fakt ist hingegen, dass etwa 30.000 Oppositionelle während Videlas Herrschaft inhaftiert, gefoltert und ermordet wurden – auch wenn es in der verzerrten Realität, in der Fußballer zwischen Teamhotel und Trainingsplatz während eines großen Turniers zu leben pflegen, vermutlich tatsächlich nicht wahrnehmbar war. Dies war Teil eines Plans der Militärjunta, die aus Prestigegründen auch Armutssiedlungen mit hohen Mauern umgab, um sie unsichtbar zu machen, oder sie sogar einfach abreißen ließ und die vertriebenen Bewohner_innen in Orte fernab der WM-Stadien umsiedelte.
Damit der Fußball 1978 seine Rolle als Opium fürs Volk übernehmen konnte, brauchten die Militärs aber vor allem um jeden Preis Siege für das argentinische Team. Mehr noch: Es sollte endlich der lang ersehnte WM-Titel her, den die „Gauchos“ trotz langer Fußballtradition noch nie an den Río de la Plata geholt hatten. Doch die Lage verkomplizierte sich gegen Ende des Turniers, als es um den Einzug in das WM-Finale ging. Das heute übliche K.O.-System existierte 1978 nicht, die beiden Finalisten wurden über zwei Zwischenrundengruppen bestimmt, deren Sieger ins Finale kamen. Vor dem letzten Spieltag lag Argentinien in seiner Gruppe gleichauf mit Brasilien, das allerdings über das leicht bessere Torverhältnis verfügte – nach dem 0:0 der beiden Teams im direkten Duell das entscheidende Kriterium. Die letzten Gruppenspiele waren ursprünglich zeitgleich für den Abend des 21. Juni angesetzt. In einer Nacht- und Nebelaktion wurde jedoch ohne ersichtlichen Grund das letzte Gruppenspiel der Brasilianer auf den Nachmittag vorgezogen – ein erneuter Kniefall der FIFA vor Videla, denn nach dem 3:1-Sieg der Seleção wussten die Argentinier genau, mit wie vielen Toren Unterschied sie mindestens gewinnen mussten, nämlich mit besagten vier.
Dass es letztendlich sechs wurden, öffnete den Spekulationen Tür und Tor. Die Peruaner waren bis dahin nicht für ihre durchlässige Abwehr bekannt, unter anderem hatten sie Holland, der offensivstärksten Mannschaft des Turniers, ein 0:0 abgetrotzt. Zu Beginn des Spiels hielten sie auch mit und trafen sogar zwei Mal den Pfosten, in der zweiten Halbzeit brachen jedoch alle Dämme und sie wurden von Superstar Mario Kempes & Co. ohne Gegenwehr überrollt. Argentinien stand im Finale gegen Holland und gewann anschließend unter ähnlich dubiosen Umständen (unter anderem wurde der für das Finale vorgesehene Schiedsrichter kurzfristig ausgetauscht) seinen ersten Weltmeistertitel. 15 Tage nach Ende der WM lieferte Argentinien dann 35 000 Tonnen Getreide an Peru und erließ dem Land zudem Schulden in Höhe von 50 Millionen Dollar.
Ein direkter Zusammenhang dieser auffälligen Großzügigkeiten mit dem WM-Spiel konnte zwar nie nachgewiesen werden. In den letzten Jahren häuften sich aber die Enthüllungen bezüglich des Spiels mit dem ungewöhnlich hohen Ergebnis. Verbrieft ist, dass General Videla und der US-amerikanische Außenminister Henry Kissinger vor der Partie die peruanische Kabine aufsuchten. Der englische Journalist David Yallop schrieb in seinem 1999 erschienenen Buch „Wie das Spiel verloren ging“ zudem, drei peruanische Spieler hätten unabhängig voneinander im Gespräch mit ihm zugegeben, Zahlungen von je 20 000 Dollar erhalten zu haben, um für ein „korrektes Ergebnis“ zu sorgen. Bereits 1998 hatte Ramón Quiroga, der damalige Torwart der peruanischen Mannschaft (pikanterweise gebürtiger Argentinier, aber an den Gegentoren weitgehend schuldlos) in einem Interview mit der argentinischen Zeitung La Nación mehrere Spieler und seinen Trainer beschuldigt. Mehrere „seltsame Dinge“ seien in Zusammenhang mit diesem Spiel geschehen. So hätten Spieler auf dem Platz gestanden, die unter normalen Umständen nie gespielt hätten. Vor den Gegentoren hätten sich Spieler gebückt und ihre Gegenspieler einfach laufen lassen. Quiroga widerrief zwar später einige seiner Aussagen. 2008 wurde die Debatte jedoch kurz vor einem wichtigen WM-Qualifikationsspiel Argentiniens gegen Peru durch den Sohn des kolumbianischen Drogenbarons Gilberto „El Ajedrecista“ Rodríguez Orejuela wiederbelebt, der in seiner Autobiografie behauptete, sein Vater hätte damals das Geld für die Bestechung der peruanischen Spieler bereitgestellt.
Nun bringen die Aussagen von Genaro Ledezma Izquieta weitere Brisanz ins abgekartete Spiel. Laut dem früheren Senator wurde er gemeinsam mit den anderen Gefangenen in die nördliche argentinische Provinz Jujuy verschleppt. Dort sollten sie auf ein Flugzeug warten, das sie über dem Río de la Plata abwerfen sollte. In der argentinischen Militärdiktatur war es gängige Praxis, Oppositionelle unter Drogen zu setzen und dann von Flugzeugen aus ins Meer zu werfen, wo sie den sicheren Tod fanden. Offiziell gelten die Opfer dieser Morde bis heute als „Verschwundene“. Ledezma Izquieta führte weiterhin aus, ein Abkommen zwischen Videla und Bermúdez habe geregelt, dass nicht das „kleinste Bisschen“ von den 13 Aktivist_innen übrig bleiben sollte. Dass es anders kam, hatte er nur seiner Berufung in die peruanische Nationalversammlung zu verdanken. Die peruanische Militärjunta hatte den Übergang zum Parlamentarismus eingeleitet und freie Wahlen gestattet. Ledezma Izquieta war einer der Kandidaten mit den meisten Stimmenanteilen aus dem linken Lager und durfte deswegen mit seinen Mitgefangenen wieder die Heimreise antreten, um seiner parlamentarischen Arbeit nachzugehen. Besondere Brisanz erhalten seine Aussagen auch durch die Tatsache, dass sie ein weiteres Indiz für die Einbindung Perús in die „Operación Cóndor“ unter der Regierung Bermúdez liefern, die der Ex-Präsident bis heute bestreitet. Vor einem italienischen Gericht läuft aus diesem Grund auch eine Klage gegen ihn. Veröffentlichte US-Dokumente belegen unter anderem, dass argentinische Geheimdienste mit Billigung der Regierung Bermúdez Operationen in Peru durchführten. Auch mit Chile soll es geheime Vereinbarungen bezüglich einer Zusammenarbeit im Rahmen der „Operación Cóndor“ gegeben haben.
Ob Argentinien nun angesichts dieser Entwicklungen um seinen ersten WM-Titel bangen muss, darf bezweifelt werden. Der Sprecher des argentinischen Fußballverbandes AFA, Ernesto Cherquis Bialo, reagierte entrüstet auf die Aussagen Ledezma Inquietas. Man sei „perplex“, dass an der Rechtmäßigkeit des Titels gezweifelt werde, die Aufzeichnung der Partie Argentinien-Peru sei das „bildliche Zeugnis“, dass das Spiel „mit Anstand“ gewonnen worden sei. „Alles, was über dieses Spiel gesagt wird, ist pure Fantasie“. Man könne doch außerdem keinen Pokal zurückfordern, den ihnen FIFA-Präsident João Havelange persönlich ausgehändigt habe. Die Funktionäre der AFA müssen aber trotz aller Empörung vermutlich keine unruhigen Nächte fürchten. Die Organisation, die die Rechtmäßigkeit des argentinischen WM-Titels überprüfen wird, ist die FIFA selbst. Und die hat in letzter Zeit alles andere als den Ruf eines gründlichen Ermittlers, wenn es um das Thema Korruptionsbekämpfung geht.