Argentinien | Nummer 486 - Dezember 2014

Verlasst die Städte!

In Argentinien wird Lehmbau zu einem neuen Trend

In Argentinien fand im Juni dieses Jahres der erste internationale Kongress zu Biokonstruktion statt. Doch es ging um mehr als um den Hausbau mit Lehm und Stroh. Es ging um die Suche nach Antworten auf die aktuellen Krisen in der Welt.

Romano Paganini

Jorge Belanko hat Hände wie Bärentatzen und wenn er spricht, lohnt es sich zuzuhören. „Die Biokonstruktion steht in direktem Zusammenhang mit dem Recht auf ein Stück Land. Denn ohne Land keine Erde und ohne Erde keine Biokonstruktion.” Jorge Belanko ist sowas wie der Lionel Messi des Lehmbaus und normalerweise haben die Worte des schlanken, hohen Mannes aus Patagonien Gewicht. Normalerweise. Doch in diesen windigen Spätherbsttagen an der argentinischen Atlantikküste folgte dem Gesagten keine vertiefte Diskussion. Weder bei der Präsentation einer Lehmbauverordnung im Parlament der Küstenstadt Mar del Plata, in der seit Monaten Lehmhäuser wie Pilze aus dem Boden schießen, noch danach beim Kongress zu Energieeffizienz in der Biokonstruktion, dem ersten in dieser Form in Argentinien.
Der gut 60-jährige Poliermeister insistierte dennoch und tat Entwaffnendes: Er erzählte seine eigene Geschichte. Davon, dass er mit seiner Familie in den 1980er Jahren nach El Bolsón (Patagonien) gezogen war, sich dort ein Stück Land aussuchte, sein Haus baute und dies ohne Plan oder Genehmigung der Gemeinde tat. „Man drohte mir mit der Gendarmerie, mit der Polizei, mit Bußgeld, und auch mit dem Abriss des Hauses – doch ich wohne nach wie vor dort.”
Während des Kongresses in Mar del Plata wurde eines ans Licht gefördert: Das Recht auf ein Stück Land ist ein wichtiges Puzzleteil der Biokonstruktion. Man spürte während den drei Kongresstagen, zu denen Expert_innen aus ganz Argentinien, Uruguay, Chile und selbst aus Deutschland angereist waren, dass es nicht nur um die Konstruktion mit nachwachsenden Materialien ging, sondern um die Konstruktion einer Lebensform – jener in Harmonie mit der Natur. Es machte zwischenzeitlich gar den Eindruck, als dass sich in der Küstenstadt Außerirdische trafen, die den Kontakt zur Erde verloren hatten, diesen nun aber unbedingt wieder herstellen wollten. Wohlgemerkt, im Konferenzsaal eines Dreisternehotels sitzend…
Um die Distanz zwischen Mensch und Erde zu verstehen, hilft vielleicht ein Blick auf die Weltkarte. Dieser zeigt, dass heute über die Hälfte der Erdbewohner_innen in Städten oder stadtnahen Gebieten lebt; in Lateinamerika sind es beinahe 80 Prozent. Realitäten wie jene des Land Grabbings sind daher schwierig zu erkennen. Land Grabbing bezeichnet den großflächigen Erwerb von landwirtschaftlich nutzbarem Land – vorwiegend im globalen Süden durch Firmen oder Regierungen aus Industrie- und Schwellenländern. Die Folgen sind unter anderem Vertreibungen der ansässigen Kleinbauern und -bäuerinnen und ökologisch problematische Monokulturen. Land Grabbing gleich Kolonialisierung gleich Unterdrückung. Realitäten, die die Stadtbewohner_innen des 21. Jahrhunderts, egal ob Berlin oder Buenos Aires, entweder nicht mitbekommen oder nicht mitbekommen wollen. Sie haben die Industrie komplett akzeptiert genauso wie den Ausverkauf der Erde.
Einschätzungen wie diese kamen nicht von Globalisierungskritiker_innen, sondern von Personen wie Jorge Czajkowski. Der Direktor des Laboratoriums für Architektur und nachhaltigen Wohnraum der Universität La Plata drückte sich unmissverständlich aus. „Was den Energieverbrauch betrifft, befindet sich unsere Konsumgesellschaft auf direktem Weg in den Suizid.”
Deutliche Worte wählte auch Architektin Isabel Donato, Koordinatorin einer Öko-Wohnüberbauung und neben Belanko eine der Vorreiterinnen der Biokonstruktion in Argentinien. „Die Städte haben ihren Zweck erfüllt”, sagte Donato vor den rund 100 Teilnehmer_innen. „Heute dienen sie höchstens noch als Museum.” Sie erwähnte zwar die Projekte des US-Architekten Paolo Soleri, der bereits in den 1960-Jahren in der Städteplanung die Nutzung von Sonnen- und Windenergie vorschlug und damit den Begriff Arcology maßgeblich prägte, doch der Aufruf von Donato war eindeutig: Verlasst die Städte!
Doch wer die Stadt verlässt, der braucht ein Stück Land. Und dieses ist teuer geworden in Argentinien, insbesondere an der nördlichen Atlantikküste, an der in den vergangenen Jahren unablässig gebaut wurde. 500 Quadratmeter Land kosten dort heute gut und gerne 40 000 Dollar und sind also unerschwinglich für die Mehrheit der Argentinier_innen. Der hiesige Durchschnittslohn liegt unter 1000 Dollar pro Monat und verliert angesichts der anhaltenden Inflation wöchentlich an Wert. Es zeichnet sich an der Atlantikküste eine ähnliche Entwicklung ab, wie an den Stadträndern von Buenos Aires, Rosario oder Cordoba: Es wachsen nicht nur die Armenghettos, sondern auch jene Viertel der Reichen. In sogenannten barrios cerrados (geschlossene Viertel) hat sich die argentinische Oberschicht abzuschotten begonnen. Neuerdings, und dies entbehrt nicht ganz der Ironie, sogar in Lehmhäusern. Denn diese sind in Mode, auch die Massenmedien postulieren diesen Trend wie ein Accessoire.
Natürlich hat sich das Jorge Belanko so nicht vorgestellt, als er 2008 vor die Kamera trat und der Lehrfilm „El barro, las manos, la casa“ („Der Lehm, die Hände, das Haus“) gedreht wurde.Während der zwei Stunden gibt Belanko dort jenes Kulturgut weiter, das angesichts der Flucht vom Land in die Stadt und vom Realen zum Digitalen zu verloren gehen droht: der Bau des Eigenheims. Die Dokumentation ist eine Anleitung zum Selberbauen und sie ist der Ursprung der aktuellen Lehmbau-Euphorie im Land.
Seither ist Belanko fast ununterbrochen unterwegs und wird gefeiert wie ein Popstar. Egal ob an Workshops in Mexiko oder Feuerland oder eben an Kongressen wie in Mar del Plata. Sein Anliegen bezüglich Landbesitz geht im Enthusiasmus um die Wiederentdeckung des Baustoffs Erde und dem unerbittlichen Personenkult oftmals unter.
Indirekt aufgenommen wurde Belankos Anliegen am letzten Kongresstag von Gernot Minke, Leiter des Forschungslabors für Experimentelles Bauen an der Universität Kassel, Autor zahlreicher Bücher und weltweit Ansprechpartner im Lehmbau. Während der Diskussion zur staatlichen Regulierung des Lehmbaus sagte er: „Vorsicht mit Gesetzen. Sie dienen meistens der Industrie und berücksichtigen nicht die Ideen von kleinen Firmen.“ Der 77-jährige bezog sich auf seine Erfahrungen aus Deutschland, wo die Industrie längst Teil der Lehmbaukultur ist und wo staatliche Gesetze wichtiger sind als universelle Gesetze, etwa jenes wonach jeder das Recht auf ein Stück Land hat. In Lateinamerika leben weniger Menschen auf mehr Raum, weshalb Industrie und Staat eine andere Rolle spielen als in Europa. Hier regiert trotz Land Grabbing und Flucht in die Stadt nach wie vor der Spirit der autoconstrucción, des Selbstbauens. Man baut mit lo que hay – also damit, was einem zu Verfügung steht. Ob mit oder ohne staatliche Regelung.
„Die Biokonstruktion ist ein Prolog“, pflegt Jorge Belanko zu sagen und er sagte es auch während des Kongresses. „Sie ist ein Prolog dafür, dass wir Menschen uns wieder zusammentun, und versuchen in Harmonie mit unserem Umfeld zu leben.“

Lehm ist wieder salonfähig
Lehm dient seit Jahrtausenden als Baumaterial, egal ob in Afrika, Asien, Australien, Amerika oder Europa. Noch heute lebt rund ein Drittel der Menschen in Lehmhäusern, vorwiegend in Ländern des Südens. Dort ist Lehm angesichts der herrschenden Wohnungsnot und fehlenden Mitteln für den Kauf von industrialisierten Baumaterialen (Eisen, gebrannte Ziegel, Zement) unabdingbar. Doch auch in den „Industriestaaten“ wird Lehm und Stroh für den Häuserbau wieder salonfähig – dies gleich aus mehreren Gründen. Der Energieverbrauch und die Kosten für Herstellung und Transport sind beim Bau eines Lehmhauses wesentlich geringer als beim Bau mit konventionellen Materialien. Hinzu kommen weitere Vorteile wie die Regulierung des Feuchtigkeitsaustausches zwischen Innen- und Außenraum, geringere Heizkosten dank besserer Isolation, Abschirmung von hochfrequenten Strahlungen (etwa durch Handy-Antennen) und der Tatsache, dass Lehm beim Abriss eines Hauses wiederverwendet werden kann und somit keinen Abfall produziert.

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