DIE EINSAME KUH
Argentinien in Zeiten der Abrissbirne: Hernán Ronsinos großartiger Roman Lumbre
Den Anfang macht ein frühmorgendlicher Anruf in Buenos Aires. Von seinem Vater erfährt Federico Souza, dass Pajarito Lernú tot in einem Wassergraben gefunden wurde und ihm „einige Stunden vor seinem Tod eine Kuh geschenkt“ habe. „Das Tier ist in keinem guten Zustand, sagt er. Er hat es dem alten Soto geklaut.“ Also fährt der Drehbuchautor erstmals nach zwölf Jahren wieder nach Chivilcoy, sein Heimatstädtchen in der Provinz, wo früher einmal die Bahnlinie endete.
Nur einen kurzen Absatz braucht der argentinische Autor Hernán Ronsino, um die Leser*innen in seinen neuen Roman Lumbre („Glühen“) hineinzuziehen. Wer nun aber eine von den Rätseln um Lernús Tod und die mysteriöse Kuh getragene Spannungsgeschichte erwartet, wird überrascht. Zwar versucht der Erzähler Souza akribisch, den Umständen von Lernús Tod auf den Grund zu gehen. Doch Ronsino verwebt in diesen Rahmen unzählige Nebenstränge, die den vermeintlichen Hauptstrang an den Rand drängen. Immer wieder schweift der herumtreibende Souza in persönliche Erinnerungen ab, sei es an seine verstorbene Mutter, deren Grab er sucht, oder an seine in Buenos Aires zurückgebliebene Freundin Hélène. „Sich an etwas zu erinnern bedeutet, es – jetzt erst – zum ersten Mal zu sehen“, lautet einer der zentralen Sätze des Buches.
Seiner Heimatstadt begegnet der Erzähler mal liebevoll, mal distanziert. Er beobachtet präzise alltägliche Szenen, beschreibt die von latenter, struktureller Gewalt durchzogenen Lebensumstände und spickt seine Erinnerungen mit zahlreichen Anspielungen auf die argentinische Geschichte. Eine zentrale Rolle spielen die Aufzeichnungen des verstorbenen Lernú und ein verschollener Film über den modernistischen Dichters Carlos Ortiz, der 1910 in Chivilcoy ermordet wurde. Das Drehbuch hat kein geringerer als der große argentinische Schriftsteller Julio Cortázar verfasst, der in jungen Jahren eine Zeit lang als Spanischlehrer in Chivilcoy gelebt hat.
Lumbre ist der dritte Roman Ronsinos, der ebenso wie seine Vorgänger in dem Geburtsort des Autors angesiedelt ist. Auch die Figuren sind teilweise schon bekannt. So ist der Vater von Federico Souza einer der vier Erzähler aus dem meisterhaft konstruierten Kurzroman Letzter Zug nach Buenos Aires, der in deutscher Übersetzung ebenfalls im bilgerverlag erschienen ist.
Ronsino bedient sich filmischer Stilmittel und erzeugt starke Bilder. Nach und nach entsteht so ein großes gesellschaftliches Panorama, verortet in der Provinz im Jahr 2002, kurz nach dem Staatsbankrott Argentiniens. Von politischer Mobilisierung ist in Chivilcoy nichts zu spüren, aber der über Jahrzehnte vollzogene wirtschaftliche Niedergang ist allgegenwärtig. Sinnbildlich dafür fallen während der drei Tage die Getreidesilos des Ortes der Abrissbirne zum Opfer. Statt des einstigen Wohlstands bleibt nur eine einsame, gestohlene Kuh zurück.