Wechselspiel im Kabinett

Muss sich großen Herausforderungen stellen Präsident Boric bei der Eröffnung eines Theaterfestivals im Januar (Foto: Ministerio de las Culturas, las Artes y el Patrimonio)

Es war das Gegenteil eines Geschenks: Kurz vor dem ersten Jahrestag des Amtsantritts von Gabriel Boric Anfang März lehnte das chilenische Abgeordnetenhaus die Steuerreform der Regierung ab. Nur wenige Ja-Stimmen hatten gefehlt und ausgerechnet linke Parlamentarier*innen hätten den Unterschied machen können: Die Abgeordnete Viviana Delgado vom grünen Partido Ecologista Verde hatte aus Wut über einen Konflikt mit Borics Bildungsminister den Sitzungssaal verlassen, weitere Abgeordnete hatten sich angeschlossen.

Die Steuerreform war eines der großen Versprechen in Borics Wahlkampf gewesen und sollte wichtige Teile seines Regierungsprogramms finanzieren. Im Juli 2022 hatten er und Finanzminister Mario Marcel das Reformprojekt vorgestellt. Ziel war es, durch die höhere Besteuerung von Privat- und Unternehmensgewinnen Gelder für dringend nötige Sozialprogramme zu schöpfen, darunter ein Familienzuschuss sowie Verbesserungen im staatlichen Gesundheitssystem. Dass nur Chilen*innen mit höherem Einkommen und große Unternehmen sich im Zuge der Reform auf höhere Steuern hätten einstellen müssen, hatten auch linke Abgeordnete bezweifelt und deswegen gegen die Reform gestimmt, darunter Pamela Jiles. Nach der Entscheidung kann ein erneuter Anlauf erst 2024 diskutiert werden.

Finanzminister Marcel reagierte der Presse gegenüber verärgert. Feiern würden nun Rechte, „Steuerhinterzieher und jene, die sie beraten“. Abgesehen von der jüngsten Niederlage schlägt sich Borics Finanzminister nicht schlecht: Der chilenische Peso ist stabil und die Inflationsrate ging im März seit 27 Monaten zum ersten Mal leicht zurück. Das Wirtschaftswachstum ist derzeit zwar nur leicht positiv, werde sich aber weiter erholen, so Marcel gegenüber El País. Der Finanzminister gehört Cadem-Umfragen von Anfang März zufolge zu den beliebteren Minister*innen in Borics Kabinett.

Letzteres ist wohlbemerkt kein großes Kunststück. Sowohl Boric als auch viele seiner Minister*innen sind bei weiten Teilen der Bevölkerung unbeliebt. Der Präsident hält sich derzeit bei Zustimmungswerten von gerade einmal 35 Prozent – wobei diese über den Frühsommer noch deutlich niedriger lagen. Als dann auch noch die Steuerreform scheiterte, reagierte Boric mit einer umfassenden Kabinettsumstellung – bereits die zweite nach Amtsantritt. Fünf Ministerien werden nun von neuem Personal geführt.
Auch 15 Staatssekretär*innen wurden ersetzt, darunter Haydee Oberreuter, die bis zum 10. März Staatssekretärin für Menschenrechte war. Menschenrechtsorganisationen und Vereinigungen von Opfern der Diktatur, ehemaligen politischen Gefangenen und ihren Angehörigen kritisierten ihre Absetzung in einem offenen Brief an Boric. Oberreuter selbst hatte unter der Diktatur politische Haft und Folter erfahren und als Staatssekretärin einen landesweiten Aktionsplan zur Suche nach den Verschwundenen der Diktatur verkündet.

Mit der Kabinettsumstellung wendet sich Boric weiter der Mitte des politischen Spektrums zu. Drei der fünf neuen Minister*innen hatten bereits unter Michelle Bachelet politische Posten inne. Borics Gefährt*innen aus Zeiten der Studierendenproteste und langjährige Aktivist*innen wie Oberreuter rücken dahingegen weiter in den Hintergrund. Ob das Wechselspiel im Kabinett in der Bevölkerung auf Anklang stößt, ist bislang unklar. Fest steht, dass Boric sich weiter kompromissbereit und handlungsfähig zeigen muss. Pluspunkte machte er in den vergangenen Monaten vor allem durch seinen Kampf gegen die Folgen der großflächigen Waldbrände im Hochsommer. Angesichts einer betroffenen Waldfläche von 600.000 Hektar (fast sieben Mal so groß wie Berlin) und der Zerstörung von mindestens 1.500 Häusern hatte der Präsident seinen Urlaub abgebrochen, die betroffenen Regionen besucht und schnelle finanzielle Hilfen versprochen. Auch Borics Positionierung in Menschenrechtsfragen wie die Kritik an den Regierungen von Nicaragua und Venezuela stoßen in weiten Kreisen auf Zufriedenheit – bis hin ins rechte Lager.

Borics Misserfolge kann vor allem die rechte Opposition ausnutzen

Vom Kabinettswechsel nicht betroffen war unter anderem Bauminister Carlos Montes, der Anfang März einen Notfallplan für den sozialen Wohnungsbau vorlegte. In diesem Rahmen sollen in den kommenden zweieinhalb Jahren 260.000 Wohnungen fertiggestellt werden. Diese werden fünf Jahre lang unter Sozialbindung vergeben, gehen danach aber in den freien Markt über. Es bleibt also fraglich, ob das Programm dem Problem der Wohnungsnot in Chile langfristig Abhilfe verschaffen kann. Schätzungen zufolge fehlt es im Land derzeit an 640.000 Wohnungen.

Ein weiteres Regierungsprojekt hat mit der einstimmigen Annahme durch den Senat eine wichtige Hürde genommen. Bereits im Jahr 2017 hatte Camila Vallejo – die Politikerin der Kommunistischen Partei (PC) war damals noch Abgeordnete und ist inzwischen Regierungssprecherin – einen Gesetzentwurf zur Senkung der wöchentlichen Arbeitszeit von 45 auf 40 Stunden vorgelegt. Arbeitsministerin Jeanette Jara griff das Projekt nun wieder auf. Dem Entwurf zufolge soll die Arbeitszeit innerhalb von fünf Jahren schrittweise erst auf 44, dann 42 und schließlich auf 40 Wochenstunden reduziert werden. Das Projekt geht nun ins Abgeordnetenhaus, wo es noch vor dem Internationalen Tag der Arbeit verabschiedet werden könnte: „Wir hoffen, dass die Arbeiter schon am 1. Mai die 40-Stundenwoche gesetzlich festgeschrieben haben“, sagte Jara nach der Abstimmung im Senat. Die wöchentliche Arbeitszeit war zuletzt vor 18 Jahren gesenkt worden: von 48 auf 45 Stunden.

Trotz dieser positiven Entwicklungen überwiegt dem Politikwissenschaftler Marco Moreno zufolge, ein Jahr nach Amtsantritt die Ansicht, die Regierung würde Schwierigkeiten haben, die größten Probleme des Landes anzugehen: öffentliche Ordnung, Sicherheit, Migration und Wirtschaft. Dabei ließen sich drei konkrete Schwierigkeiten erkennen, zuallererst „die mangelnde Erfahrung in der Regierung“, die nötig wäre, um diese Herausforderungen zu bewältigen. Außerdem habe das Kabinett „bisher nicht bewiesen, dass es im Team spielen kann. Stattdessen verliert es sehr leicht die Kontrolle über die Agenda“. Drittens gebe es ein „Defizit an Regierungskommunikation“, so Moreno gegenüber der uruguayischen Zeitung la diaria. Auch die Politikwissenschaftlerin Mireya Dávila von der Universidad de Chile betont die Schwierigkeiten zweier Regierungskoalitionen und Borics Minderheit im Parlament. Außerdem laste das verlorene Verfassungsreferendum vom September noch immer auf der Regierung: Eine solche Niederlage gehöre „zu den Ereignissen, die die Politik eines Landes grundlegend prägen“, so Dávila bei la diaria.

Dass es Boric bislang kaum gelingt, mit eigenen Projekten und Erfolgen die öffentliche Agenda zu bestimmen, kann vor allem die politische Rechte ausnutzen, um Druck auf die Regierung aufzubauen und ihre Themen zu setzen: öffentliche Sicherheit, Kriminalität und Migration. Gegen Letztere geht die Mitte-links-Regierung nun aktiv vor: Seit Anfang März und voraussichtlich für 90 Tage ist das chilenische Militär an den Nordgrenzen zu Peru und Bolivien stationiert. Möglich macht das ein Gesetz zur Sicherung kritischer Infrastruktur, das rechte wie linke Parteien im Januar 2023 verabschiedeten.

Die Schwierigkeiten der Regierung verheißen nichts Gutes

Beim Thema Sicherheit ist die in Borics Wahlkampf angekündigte Reform der Militärpolizei Carabineros in den Hintergrund gerückt, stattdessen dominiert das Thema Verbrechen den medialen Diskurs. Seit einigen Wochen steht Boric außerdem wegen mehrerer Fälle getöteter Carabineros in der Kritik. Die Opposition nutzt die Aufmerksamkeit und stellt die Getöteten als Märtyrer dar. Boric und seine Regierung würden nicht genug tun, um die Kriminalität im Land zu bekämpfen und Mitglieder der Polizei zu schützen, heißt es.

Darüber hinaus wird der Sozialdemokrat Boric gerne in die linksextreme Ecke gerückt. So beherrschte Mitte März vor allem das Thema der Begnadigung der politischen Gefangenen der Revolte von 2019 die politische Debatte. Ende vergangenen Jahres hatte Boric zwölf politische Gefangene begnadigt, darunter auch den Ex-Guerrillero der Untergrundorganisation Frente Patriótico Manuel Rodríguez, Jorge Mateluna. Oppositionsparteien hatten gegen die Begnadigung in sieben Fällen Anklage vor dem Verfassungsgericht erhoben. Diese lehnte das, derzeit mit leichter linker Mehrheit besetzte, Gericht jedoch am 21. März ab. Ein Untersuchungsausschuss im Abgeordnetenhaus beschäftigt sich allerdings weiterhin mit dem Thema.

Auch nach einem Jahr bleibt Borics Präsidentschaft also von Schwierigkeiten geprägt. Die Ablehnung der Steuerreform hat erneut bewiesen, dass der Präsident keine Parlamentsmehrheit und auch die doppelte Regierungskoalition ihre Tücken hat. Nun braucht Boric schnell neue Finanzierungsmodelle und ein klares Regierungsprogramm, wenn er zeigen will, dass Chile ein sozialer Rechtsstaat sein kann, ohne in die wirtschaftliche Instabilität zu rutschen. Und auch wenn der Präsident derweil Distanz zum neuen Verfassungsprozess hält, verheißt dieser, gepaart mit den Schwierigkeiten der Regierung, nichts Gutes. Beide Themen beschäftigen seit Ende März auch ein Bündnis aus Akademiker*innen, Politiker*innen, Gewerkschaftsleuten und Aktivist*innen. Unter dem Slogan #YoAnulo rufen sie nicht nur dazu auf, bei der Wahl zum Verfassungsrat am 7. Mai ungültig zu wählen, sondern teilen auch gehörig gegen Boric aus: „Die Rechte hat alles dafür getan, Unternehmensgewinne zu schützen und das infrage gestellte ‚Chile der 30 Jahre‘ zu verteidigen. Nun hat sich die Regierung von Gabriel Boric den traditionellen Parteien angeschlossen“, heißt es in der Erklärung. Gemeint sind die 30 Jahre nach Ende der Diktatur, in der auch die Mitte-links-Regierungen der Concertación neoliberale Strukturen weiterführten. Diese sollten die Revolte und die neue Verfassung ein für alle Mal beenden. Dass der Präsident heute mit Vertreter*innen der ehemaligen Concertación regiert und rechtes Agendasetting einfach hinnehmen würde, verurteilen die Unterzeichnenden. Stattdessen rufen sie zur Selbstorganisation im Kampf gegen das „Chile der 30 Jahre“ und seine Vertreter*innen auf. Hoffnung in die Regierung setzen sie offenbar keine.


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DER KAMPF UM EIN LEBEN IN WÜRDE

Foto: Karen Toro für laperiodica.net

Der nationale Streik, zu dem verschiedene soziale Organisationen für den 13. Juni 2022 aufriefen, kam nicht ohne vorherige Ansage. Der ecuadorianische Präsident Guillermo Lasso, von der Mitte-rechts Partei CREO und seit etwas über einem Jahr im Amt, nutzte die Corona-Krise für die Durchsetzung neoliberaler Sparmaßnahmen. Damit baut Lasso auf der Politik seines Vorgängers Lenín Moreno auf, unter dessen Präsidentschaft es im Oktober 2019 zu den bis dato größten Protesten in den letzten zehn Jahren kam. Vergangenen Oktober ließ der Präsident den Preis für Diesel per Dekret auf 1,90 US-Dollar pro Gallone (entspricht 3,785 Liter) einfrieren – was einer Preissteigerung um 45 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entsprach. Seit Juni 2021 versuchte die CONAIE (Konföderation der indigenen Nationalitäten Ecuadors) mehrmals, mit dem Präsidenten in Dialog zu treten, ein letztes Treffen beider Parteien fand im November 2021 statt. Konkrete Lösungen ergaben sich aus diesen Treffen allerdings nicht. Gemeinsam mit mehreren indigenen Verbänden des Landes, Gewerkschaften, Studierenden und weiteren sozialen Organisationen verkündete die CONAIE am 13. Juni in einer Pressemitteilung: „Die aktuellen Bedingungen sind unerträglich. Wir fordern mehr Arbeitsplätze sowie angemessene Einkommen in dem ‚Land der Möglichkeiten‘, das Präsident Lasso uns versprochen hat und in dem nur drei von zehn Ecuadorianerinnen eine Arbeitsstelle haben.“

Die zehn Forderungen der CONAIE, die im Vorfeld der Proteste veröffentlicht wurden und bereits Teil der bisherigen Dialogversuche mit der Regierung waren, sind eine Antwort auf die wachsende soziale Ungleichheit im Land. Nach Zahlen des nationalen Institutes für Statistik und Bevölkerungszählung (INEC) aus dem Jahr 2021 leben 32,2 Prozent der ecuadorianischen Bevölkerung in Armut. 14,7 Prozent davon sogar in extremer Armut, was bedeutet, dass die Betroffenen mit durchschnittlich 1,60 USD am Tag überleben müssen.

Perspektivwechsel „Soziale Ungleichheit ist gewaltsamer als jeder Protest“ (Foto: Karen Toro für laperiodica.net)

Gefordert werden die Senkung und das anschließende Einfrieren der Treibstoffpreise sowie faire Preise für landwirtschaftliche Produkte, um die Existenzgrundlage der Produzentinnen zu gewährleisten. Ebenso die Einführung von Kontrollinstrumenten, die der Spekulation mit Grundnahrungsmitteln Einhalt gebieten. Weiter ein verbesserter Schutz der Ökosysteme, ein Moratorium für die Ausweitung von Bergbau und Erdölförderung sowie Entschädigungen für deren soziale und ökologische Auswirkungen. Außerdem fordert das Bündnis mehr Geld für den Bildungs- und Gesundheitssektor.

Indira Vargas ist Mitglied der Basisorganisation Pakkiru und moderiert ihre eigene Radiosendung beim Sender Voz de la CONFENIAE, einem Programm des Dachverbandes indigener Organisationen im Amazonasgebiet Ecuador. Die 31-Jährige gehört der Nationalität der Kichwa an und kommt aus der Provinz Pastaza. Zur wirtschaftlichen Situation des Landes sagt Indira gegenüber LN, dass die Preise für Grundnahrungsmittel – wie Speiseöl – überdurchschnittlich stark gestiegen sind, was beispielsweise die Betreiberinnen kleiner gastronomischer Betriebe besonders hart trifft. Gleichzeitig würden sich Unternehmen, die industriell hergestellte Produkte vertreiben, durch die Preisspekulation selbst bereichern. Menschen mit niedrigerem Einkommen aber können sich diese Produkte nicht mehr leisten. Deswegen sei es so wichtig, Kontrollinstrumente zu entwickeln, die dieser Spekulation Einhalt gebieten. Die Bevölkerung aus dem Amazonasgebiet hat sich den Protesten angeschlossen, weil sie von den Folgen der extraktivistischen Agenda der aktuellen Regierung besonders stark betroffen sind.

Überraschende Einigung

Der Streik am 13. Juni begann friedlich, im ganzen Land gab es Proteste, in einigen Provinzen kam es zu Straßensperrungen durch die Demonstrantinnen. Die nicht ganz so friedliche Reaktion der Regierung ließ nicht lange auf sich warten. Bereits am ersten Tag der Mobilisierungen verkündete Lasso über seinen Twitteraccount, die ecuadorianische Bevölkerung könne es nicht zulassen, dass politische Gruppen mit dem Ziel, die Republik zu destabilisieren, das Land lahmlegen würden – nachdem sich die Lage nach der langen Zeit der Pandemie gerade erst normalisiert hätte. Darauf folgte ein weiterer Versuch der Regierung, die Protestbewegung zu delegitimieren und zu kriminalisieren. Am 14. Juni, gegen ein Uhr morgens, wurde Leonidas Iza, Präsident der CONAIE und zentrale Führungspersönlichkeit während der Proteste, von Elitegruppen der Polizei festgenommen. Vorgeworfen wurde ihm die Störung der öffentlichen Ordnung sowie Rebellion. Die CONAIE rief ihre Anhänger daraufhin dazu auf, ihre Maßnahmen zu radikalisieren, um sich für die Freiheit von Leonidas Iza und einen Kampf in Würde einzusetzen. Nach 24 Stunden wurde Iza wieder freigelassen, der Prozess gegen ihn ist jedoch lediglich vertagt.

Eine weitere Maßnahme, die nicht nur die Demonstrierenden, sondern auch viele Künstlerinnen und Intellektuelle des Landes gegen die Regierung aufbrachte, war die Besetzung des Casa de la Cultura in Quito durch die Nationalpolizei am achten Tag der Proteste. Von dort aus sollte „die öffentliche Sicherheit und Ordnung angesichts der Bedrohung durch gesellschaftliche Gruppen, die Gewalt gegen Bürger sowie öffentliches und privates Eigentum als Form des Protests einsetzen, gewährleistet werden“. Das Museum und Kulturzentrum wurde bereits bei den Protesten 2019 als Versammlungszentrum genutzt. Es dient traditionell auch als Unterkunft und Schutzzone für die Familien der Protestierenden, von denen viele von weit her mit ihren Kindern in die Hauptstadt reisen, um die Proteste zu unterstützen. Der Vorsitzende des Casa de la Cultura, Fernando Cerón bezeichnete die Besetzung als diktatorische Handlung.

Auf die anhaltende Kriminalisierung der Protestierenden seitens der Regierung, reagierten Frauen aus der indigenen Bevölkerung, verschiedene feministische Kollektive und LGBTIQ-Personen mit einer großen Demonstration in Quito am 25. Juni. Indira Vargas sagt über die Rolle der Frauen während der Streiks: „Die Frauen haben eine sehr wichtige und zentrale Aufgabe während dieser Proteste eingenommen. Wenn die Einheit und Solidarität aller gebraucht wurde, waren die Frauen da, in der ersten Reihe, auch wenn es um die Gesundheit und Versorgung der Menschen ging.“

Doch trotz der vielen friedlichen Proteste überschattete, wie schon in den Jahren zuvor, die ausufernde Gewalt alles andere. Die Organisation Allianz für Menschenrechte Ecuador zählte am 14. Tag des Streiks 73 Menschenrechtsverletzungen, 5 Todesopfer, 200 Verletzte und 145 Festnahmen. Die Einigung kam dann in einem Moment, in dem viele schon nicht mehr daran glaubten.

An dem Dialog, der am 27. Juni zwischen Vertreterinnen verschiedener indigener Organisationen sowie Repräsentanten der Regierung aufgenommen wurde, nahm Guillermo Lasso selbst nicht teil. Nur einen Tag später kündigte er die Gespräche einseitig auf: „Wir werden nicht an einen gemeinsamen Tisch mit Leonidas Iza zurückkehren, der nur seine eigenen politischen Interessen vertritt und nicht die seiner Basis“, sagte der Präsident im Rahmen einer Pressekonferenz. Er offenbarte damit erneut seine Ignoranz und Unkenntnis gegenüber der Organisationsstruktur der indigenen Bevölkerung. Ramira Álvila, ehemaliger Richter des ecuadorianischen Verfassungsgerichts, sagte zu der Reaktion des Präsidenten: „Eine indigene Führungspersönlichkeit zu ignorieren, bedeutet ihre kollektive Organisationsstruktur zu ignorieren, und damit begeht der Präsident einen gravierenden Fehler.“

Überwältigende Solidarität gegen Polizeigewalt

Wenige Stunden zuvor war bei Straßenschlachten zwischen Demonstrierenden und Sicherheitskräften in der Provinz Sucumbíos ein Soldat ums Leben gekommen. Auch das galt der Regierung als Anlass, die Verhandlungen einseitig aufzukündigen. Von den fünf Todesopfern, welche die Proteste zu diesem Zeitpunkt bereits unter den Demonstrierenden gefordert hatten, war dabei keine Rede. Für Entsetzen sorgte der Fall von Byron Holger Guatatuca, der ums Leben kam, als er während Auseinandersetzungen in der Stadt Puyo von einer aus unmittelbarer Nähe gegen ihn abgefeuerten Tränengasgranate am Kopf getroffen wurde.

Indira Vargas, die mit etwa 700 Delegierten aus ihrer Provinz nach Quito gereist war, berichtet neben der Polizeigewalt auch von der überwältigenden Solidarität vieler Stadtbewohnerinnen gegenüber der indigenen Bevölkerung. „Die Menschen haben Wasser gespendet, Brot, Kleidung und Decken, um das kalte Klima erträglich zu machen. Während der gesamten Reise, bis wir die Hauptstadt erreichten, haben wir sehr viel Solidarität erfahren. Die Leute haben geweint, sie haben uns mit offenen Armen empfangen.“

Die Regierung, wenn auch wieder nicht in direkter Vertretung durch ihren Präsidenten, nahm die Verhandlungen mit der CONAIE unter Vermittlung der Bischofskonferenz wieder auf. Einen Tag später wurde die Einigung zwischen den beiden Parteien und die damit verbundene Beendigung der Proteste bekannt gegeben. Die Regierung versprach eine sofortige Senkung der Treibstoffpreise um 15 US-Cent, eine Senkung der Lebensmittelpreise sowie die Einführung von Kontrollen, um Spekulation zu verhindern. Das Dekret 151 zum Bergbausektor soll reformiert werden und der Bergbau in geschützten und archäologischen Gebieten sowie in Wasserschutzgebieten untersagt. Außerdem muss das Recht der freien, vorherigen Konsultation der indigenen Bevölkerung gewährleistet werden. Das Dekret 95, welches die Verdopplung der Öl-Produktion in indigenen Territorien vorsah, wird zurückgenommen. Darüber hinaus einigten sich die Parteien darauf, die übrigen Vereinbarungen innerhalb der nächsten 90 Tage im Rahmen eines weiteren Dialoges zu evaluieren.

Die indigene Bevölkerung Ecuadors, unterstützt von Gewerkschaften, Studierenden und weiteren sozialen Bewegungen, hat erneut gezeigt, dass sie eine Politik, von der nur die oberen Schichten des Landes profitieren, nicht akzeptiert und sich von Spaltungsversuchen sowie der Gewalt des Staatsapparates nicht einschüchtern lässt. Ihr Kampf geht weiter – für eine Politik, die dem Konzept des plurinationalen Staates, wie er in der ecuadorianischen Verfassung festgeschrieben ist, angemessen ist.


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DIFFAMIERUNG UND GESCHÖNTE ZAHLEN

Vizepräsidentin Murillo „Eine einzigartige Strategie” (Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl)

Nicaragua durchlebt mit der exponentiellen Wachstumskurve der Pandemie eine vom Präsidenten Daniel Ortega und der Vizepräsidentin Rosario Murillo verschuldete Tragödie: Von Beginn an leugnete das Präsidentenpaar die Pandemie, ignorierte die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), förderte die Ansteckung und diffamierte die Kampagne #QuedateEnCasa (Bleib‘ zu Hause) als Putschversuch der Protestbewegung von 2018. Das Gesundheitsministerium MINSA veröffentlicht regelmäßig geschönte Zahlen, die den Eindruck erwecken sollen, dass die Lage unter Kontrolle sei.

Ende Mai präsentierte die Regierung der Öffentlichkeit ein sogenanntes Weißbuch mit dem Titel „Eine einzigartige Strategie”. Neben unplausiblen Zahlen lässt der Text eine bemerkenswerte Realitätsferne erkennen. Die Weigerung, eine landesweite Quarantäne zu verhängen, wird mit dem schwedischen Sonderweg als Alternative zum totalen Lockdown begründet: „Nicaragua und Schweden stellen Alternativen zum völligen Lockdown in einem Entwicklungsland und einem entwickelten Land dar.” Nicaragua strebe ein Gleichgewicht zwischen öffentlicher Gesundheit und gesunder Wirtschaft an. In Schweden hat diese Strategie zu mehr als 5.000 Toten geführt, in Nicaragua führt sie zu einem Massensterben.

Am 1. Juni haben 34 Ärzteverbände die Nicaraguaner*innen in einem dramatischen Appell dazu aufgerufen, sich angesichts der „unaufhaltsamen” Zunahme der Covid-19-Fälle landesweit dringend in freiwillige Quarantäne zu begeben, um „die Auswirkungen der Krankheit zu verringern, indem Ansteckung, Übertragung und Todesfälle in der Bevölkerung reduziert werden”. Die Ärzt*innen warnen, dass der „exponentielle Anstieg” der Covid-19-Fälle zum „Zusammenbruch” des öffentlichen und privaten Gesundheitssystems geführt habe. Das bedeutet unter anderem: überfüllte Krankenhäuser, Bettenmangel, Medikamentenmangel und Engpässe bei dem so wichtigen Sauerstoff und bei Beatmungsgeräten.

Einzige Reaktion des Regimes: Am 8. Juni wurden 14 erfahrene Spezialist*innen aus dem öffentlichen Gesundheitssystem entlassen. Die Entlassungen verletzen nicht nur die Rechte der Arbeitnehmer*innen, sondern schränken auch die Fähigkeit erheblich ein, Tausende von Nicaraguaner*innen medizinisch zu versorgen. Bis Ende Juni waren bereits 32 Ärzt*innen entlassen worden.

In Nacht- und Nebelaktionen finden Beerdigungen statt

Auf die Zuspitzung reagierten fast 100 Intellektuelle aus Lateinamerika, den USA und Europa mit einem offenen Brief an Präsident Daniel Ortega und Vizepräsidentin Rosario Murillo. Darin forderten sie die sofortige Wiedereinstellung der entlassenen Ärzt*innen. „Ihr Land weist (…) die höchste Sterberate bei Ärzten und Krankenschwestern in Mittelamerika auf. Selbst mit diesem hohen Risiko erfüllen sie trotz unzureichender Bedingungen weiterhin ihren Dienst. Dass sie (die Ärzte, Anm. d. Red.) ungerechtfertigt Entlassungsbriefe erhalten anstatt Danksagungen, verpflichtet uns, unsere Stimme in Solidarität mit ihnen und der Bevölkerung von Nicaragua zu erheben.”

Seit dem Ausbruch der Pandemie Mitte März hat die Repression gegen Ärzt*innen und Krankenhauspersonal, die an der Vorgehensweise der Regierung Kritik übten, stetig an Schärfe zugenommen. Von Beginn an haben sie das Fehlen präventiver Maßnahmen sowohl zum Schutz der Bevölkerung als auch zu ihrer eigenen Sicherheit in den Kliniken und Gesundheitszentren angeprangert. Außerdem kritisierten sie, dass sie gezwungen wurden, die Opfer von Covid-19 als Todesfälle anderer Ursachen zu dokumentieren, um die offiziellen Zahlen niedrig zu halten. Mit dem Verbot, Masken und Schutzkleidung zu tragen − angeblich um keine Panik zu verbreiten − nahm das Gesundheitsministerium willentlich in Kauf, dass sich Patient*innen und Gesundheitspersonal infizierten (siehe LN 551). Mit verheerenden Folgen: Nach Informationen der unabhängigen Bürgerbeobachtungsstelle sind bis zum 8. Juli in weniger als sechzig Tagen 94 Beschäftigte des Gesundheitswesens an vermuteten Covid-19-Symptomen gestorben – darunter 40 Ärzt*innen, 22 Krankenschwestern sowie Verwaltungsangestellte, Labormitarbeiter*innen und Personen des klinischen Hilfspersonals.

Aufgrund der hohen Ansteckungsgefahr, aber auch aus Gründen der Geheimhaltung des tatsächlichen Ausmaßes der Verbreitung des Virus, zwingt das Gesundheitsministerium Familienangehörige zu sogenannten Expressbestattungen. Betroffene berichten, dass diese Beerdigungen, bei denen kaum Familienmitglieder anwesend sind, teils nachts stattfinden. Die Särge werden zugenagelt, manchen Familien wurde auch nur die Urne übergeben, sodass es Fälle gab, in denen die Familien die Identität der Verstorbenen, die sie beerdigen sollten, angezweifelt haben.

Als Folge solcher Zustände trauen sich die Leute nicht mehr in die Krankenhäuser. „Die Menschen verändern ihr Verhalten: Anstatt sich vor den Toren zu opfern, anstatt in einem Raum mit vielen Menschen zu sein, um sich mit Covid-19 zu infizieren, haben sie beschlossen, zu Hause zu bleiben, um sich um die leichten und mittelschweren Fälle zu kümmern”, beschreibt der Epidemiologe Álvaro Ramírez die Situation im Onlinemedium Confidencial.

Von Repressalien und Entlassung bedroht sind auch Lehrer*innen und Universitätsprofessor*innen, die die Aufrechterhaltung von Lehrveranstaltungen und des Unterrichts kritisieren. Am 23. April 2020 entließ die Nationale Autonome Universität von Nicaragua (UNAN) vier Wissenschaftler*innen des Forschungszentrums für Gesundheitsstudien (CIES), das der Universität angegliedert ist, einschließlich seines Direktors, Dr. Miguel Angel Orozco, der den ignoranten Umgang des Regimes mit der Pandemie in Interviews kritisiert hatte. Arbeitsplatzverlust droht auch Lehrer*innen an den staatlichen Schulen, sollten sie sich weigern, den Unterricht fortzuführen, obwohl der Schulbesuch auf derzeit zehn Prozent geschrumpft ist. Nach Angaben der unabhängigen Lehrendengewerkschaft Unidad Sindical Magisterial (USM) waren bis Ende Juni 32 Lehrer*innen an den Symptomen von Covid-19 gestorben.

Die Vereinigung AVA bezichtigt *Ortega der „biologischen Kriegsführung” gegen politische Gefangene

Die schutzloseste und verwundbarste Gruppe sind die Menschen im Strafvollzug. Am 13. Mai wurden 2.815 Männer und Frauen aus den Gefängnissen Modelo und La Esperanza in Managua und anderen übers Land verteilten Gefängnissen entlassen – offiziell, um ihnen die Gelegenheit zu geben, den Muttertag am 30. Mai mit ihren Familien zu feiern. Die Forderung internationaler Menschenrechtsorganisationen nach Freilassung der politischen Gefangenen verhallt dagegen ungehört. Aktuell sitzen 97 politische Gefangene in verschiedenen Gefängnissen des Landes ein.

Aufgrund des Mangels an sanitären Einrichtungen, sauberem Trinkwasser und der herrschenden Überfüllung in den Haftanstalten sind sie der Ansteckungsgefahr mit dem Virus dauerhaft ausgesetzt. Nach Auskunft von Familienangehörigen zeigten Mitte Juni schon mehr als die Hälfte von ihnen Symptome einer Covid-19-Infektion. *Zudem beklagen Betroffene, dass das für die politischen Gefangenen zuständige Wachpersonal die Masken, das Alkoholgel und andere Materialien, welche ihnen von ihren Familien zum Schutz vor Covid-19 mitgebracht werden, nicht aushändigt. Die Vereinigung der April-Opfer (AVA) beschuldigt in diesem Zusammenhang den Präsidenten gar der „biologischen Kriegsführung” gegen Bürger*innen, die seit 2018 gegen das Regime protestieren. Und sie sind mit dieser Meinung nicht allein.

Nach Einschätzung von Dora María Téllez, während der Revolutionsjahre Gesundheitsministerin (1985 bis 1990), hat die Covid-19-Krise die Macht der Ortega-Diktatur geschwächt. Deren Anhängerschaft stehe unter Schock, da es unter ihnen viele Kranke und Tote gebe. Einem Bericht von Confidencial von Mitte Juni zufolge seien bis dato mindestens 60 hohe Staatsfunktionär*innen, Berater*innen, Abgeordnete, Bürgermeister*innen, Polizist*innen, Ex-Militärs und politische Sekretär*innen der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN) im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben.

Ob diese Entwicklungen zum Vorteil der parlamentarischen Opposition ausschlagen könnten, ist angesichts des negativen Images, das deren Parteien in der Bevölkerung haben, derzeit unwahrscheinlich. Die Nationale Koalition (CN), ein Zusammenschluss von sieben Parteien und Bewegungen, weist nur vier Monate nach ihrer Gründung im Februar 2020 tiefe Risse auf (siehe LN 550). Angetreten als politische Vertretung aller oppositionellen Strömungen gelingt es ihr nicht, aus der breiten Ablehnung des Regimes politisches Kapital zu schlagen: Die Ergebnisse einer am 17. Juni 2020 veröffentlichten Umfrage des regionalen Meinungsforschungsinstituts CID Gallup, in der zwischen dem 15. Mai und 8. Juni 1.800 nach dem Zufallsprinzip ausgesuchte Personen befragt wurden, müssten die CN alarmieren. Auf die Frage „Wenn Sie heute wählen müssten, welche Partei würden Sie wählen?” antworteten 23 Prozent der Befragten, sie würden der FSLN ihre Stimme geben. Die beiden aus der Protestbewegung hervorgegangenen Organisationen Unidad Nacional Azul y Blanco (UNAB) kämen auf 10 Prozent, die Alianza Civica (ACJD) auf 5 Prozent. Die übrigen in der CN vertretenen Parteien lagen noch darunter. Ein Jahr vor den Wahlen im November 2021 entschieden sich 41 Prozent der Befragten für überhaupt keine Partei.

Nelly Roque, eine ehemalige politische Gefangene, bringt das Dilemma auf den Punkt, wenn sie die Opposition dafür kritisiert, inmitten zweier Krisen den Wahlen Priorität einzuräumen. Denn das zeige schließlich ihr Desinteresse an den Forderungen der nicaraguanischen Bevölkerung.


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„DAS SCHLIMMSTE DIESER REGIERUNG HABEN WIR NOCH NICHT GESEHEN“


GASTÓN CHILLIER ist seit 2006 Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation CELS, wo er zuvor als Anwalt zu Themen institutioneller Gewalt gearbeitet hat. Das CELS (Zentrum für legale und soziale Studien) wurde vor 40 Jahren während der Militärdiktatur von einer Gruppe von Anwält*innen gegründet, um die Fälle der Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo und Folteropfer der Militärdiktatur in ihrem Prozess für Wahrheit, Erinnerung und Gerechtigkeit zu unterstützen. Seither kämpft das CELS gegen Straflosigkeit und institutionelle Gewalt und war an allen großen Menschenrechtsprozessen Argentiniens beteiligt. Neben diesen traditionellen Themenfeldern ist das CELS ein wichtiger und renommierter Akteur für aktuelle soziale Organisationen und Bewegungen. Das CELS gibt eine jährliche Studie zur Menschenrechtssituation in Argentinien heraus. (Foto: Caroline Kim)


Herr Chillier, wie steht es im Wahljahr um die argentinische Regierung?
Diese Regierung hat alle Befürchtungen übertroffen. Statt einer demokratischen modernen Rechten kam eine klassisch neoliberale Rechte, wie sie schlimmer nicht sein konnte. Die Macri-Regierung ist eine orthodoxe, neoliberale Regierung, die nach politischer Öffnung strebt, aber mit einer US-Regierung zu tun hat, die protektionistisch ist. Macri hatte das Pech, seine Politikstrategie, sich der Welt zu öffnen, umzusetzen, als die Welt gerade dabei war, sich zu schließen. Er war zu spät. Jetzt sind wir mitten in einer Wirtschaftskrise, im letzten Jahr hat die Regierung wieder Geld beim IWF geliehen. Das ist für Argentinien eine sehr sensible und negative Sache, die noch bis vor kurzem undenkbar war. Argentinien hat gute Gründe für die Ablehnung des IWF aus den Erfahrungen der großen Krise von 2001.

Was ist die Bilanz von vier Jahren Macri-Regierung hinsichtlich der Menschenrechte?
Es gibt zwei große Linien, die miteinander verbunden sind. Die soziale Situation im Kontext der Strukturanpassungen der Wirtschaftspolitik geht mit einer immer repressiveren Politik einher. Hinzu kommen Rückschritte in verschiedenen Politikbereichen wie der Migrations- oder Sicherheitspolitik: Militarisierung und Sicherheit stehen wieder ganz oben auf der Agenda in Argentinien. Wenn man die Statistiken betrachtet, ist zwar keine Zunahme von Polizeigewalt zu verzeichnen, die Rückschritte gab es jedoch vor allem im Diskurs, der den tödlichen Einsatz von Schusswaffen durch staatliche Sicherheitskräfte legitimiert. Ein viel beachteter Fall war der von Chocobar, einem Polizisten, der eine Person, die einen Touristen bestohlen hatte, mit einem Schuss in den Rücken tötete, ohne jegliche legitime Notwehr. Der Präsident hat ihn zusammen mit der Sicherheitsministerin Patricia Bullrich empfangen und gesagt: „Solche Polizisten brauchen wir.“ Das ist ein sehr harter Diskurs, auch ohne Bolsonaro zu sein. Chocobar ist heute wegen Mordes verurteilt.
Dann gab es natürlich den Fall des verschwundenen Aktivisten Maldonado und die Erschießung von Rafael Nahuel (Mapuche-Aktivist, 2017 durch einem Schuss in den Rücken ermordet, Anm. d. Red.). In allen Fällen reagierte die Regierung mit der Unterstützung der Sicherheitskräfte, die die Morde begangen haben.

Als die Massenproteste für Gerechtigkeit für Santiago Maldonado das ganze Land auf die Straße geholt haben, verschärften sich auch Repressionen gegen Demonstrant*innen und Journalist*innen. Ist die zunehmende Kriminalisierung der sozialen Proteste charakterisierend für Macris Regierungszeit?
Eine der ersten Amtshandlung nach der Amtsübernahme der Regierung war die Verhaftung der indigenen Führungsfigur Milagro Salas im Januar 2016. Das war ein Wendepunkt in der Kriminalisierung von sozialen Protesten. Die Einschüchterung von sozialen und politischen Aktivisten hat seither noch zugenommen, vor allem auch gegenüber Journalisten, die über soziale Proteste berichten. Die Regierung hat alles versucht, den Terrorismus als Bedrohung aufzubauen und somit auf die Agenda zu setzen, auch in der Vorbereitung auf den G20-Gipfel. Am besten sieht man das an der Kriminalisierung der Mapuche-Gemeinden. Die argentinische Regierung macht gemeinsame Sache mit der chilenischen Regierung und den Geheimdiensten, dazu gehört auch die illegale Überwachung von Mapuche-Aktivisten und Unterstützern. Auf chilenischer Seite gibt es Beweise für die Fälschung von Beweismitteln, um bekannte Mapuche-Autoritäten zu kriminalisieren und sie aufgrund von Terrorismus anzuklagen. Der neue Rahmen für Argentinien ist das Sicherheitsprogramm der USA, wo der Krieg gegen Terrorismus und Drogen im Zentrum steht. Auch in Argentinien ist das wieder zu einer starken politischen Strategie geworden. Die Regierung und die Sicherheitsministerin haben viel ihrer Zeit darein investiert, das Bild eines „inneren Feindes“ zu etablieren. Von da aus verwandelt sich jede Art der Demonstration, der öffentlichen Äußerung von sozialer Kritik, von Protest oder social leadership in eine Bedrohung. Das ist gefährlich für ein demokratisches System.

Wie spielt die wirtschaftliche Situation in dieses Klima mit hinein?
Das Merkmal dieser Zeit und dieser Regierung ist der bedeutende Anstieg der Ungleichheit aufgrund der Auswirkungen der Wirtschaftspolitik. Das heißt nicht, dass es in den vorherigen zwölf Jahren Kirchnerismus keine Probleme gab, aber die Fortschritte, die durch die Vorgängerregierungen hinsichtlich der Verteilung des Reichtums erzielt wurden, sind wieder rückgängig gemacht worden. Alle sozialen und wirtschaftlichen Indikatoren zu Armut und Arbeitslosigkeit zeigen, wie ernst die wirtschaftliche Situation ist. Argentinien kehrt nun zu diesem fatalen Schema zurück, in dem die jährliche Inflationsrate mindestens 40 Prozent beträgt, mit einer systematischen Abwertung des Peso. Im letzten Jahr wurde der Peso um 100 Prozent abgewertet, was eine enorme Auswirkung auf die Inflation und die soziale Situation hat.
Das Modell dieser Regierung ist vergleichbar mit dem chilenischen. Ein Modell, in dem es einen sehr viel konzentrierteren Reichtum gibt und viele Teile der Gesellschaft außen vor bleiben. Das ist die Realität. Als die Regierung angetreten ist, kursierten unter den Staatsbeamten Äußerungen über die Vorgängerregierung wie: „Die haben doch tatsächlich die Armen glauben machen, dass sie in Urlaub fahren könnten. Oder dass sie ein Recht darauf hätten, wenig für Strom und Gas zu bezahlen…“ Das ist eine Message, die gegen die Substanz der argentinischen Gesellschaft geht. Obwohl es seit vielen Jahren bergab geht, hat die Idee von Gleichheit einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft. Auf eine bestimmte Art und Weise schätzt sie, dass sie eine egalitäre mit einer großen Mittelklasse ist – im Gegensatz zu Chile, Brasilien oder Paraguay.

Derart umgeben von rechten Regierungen wird auch Argentinien mehr nach rechts rücken?
Wenn Macri gewinnt, wird er sich weiter nach rechts ausrichten. Nicht bis in die Extreme, die wir in Brasilien sehen, aber seine Politik wird noch mehr eine der Strukturanpassungen sein. Teil der Kritik, den die Hardliner an der Regierung haben, ist, dass sie nicht genug Sparmaßnahmen durchgesetzt hat. Sie nennen das Gradualismus, weil die Regierung nicht von Anfang an eine Schock- und Sparpolitik gefahren ist. Die Sozialausgaben sind vergleichsweise sogar höher als die der Vorgängerregierung, weil ihr nichts anderes übrigblieb. Es gab keinen Spielraum dafür, dass diese Regierung so neoliberal wie die von Präsident Menem in den 90ern sein konnte.

Aber es gab doch starke Kürzungen bei den Renten, Bildung, Gesundheit und Kultur?
Es gab Kürzungen, die tatsächlichen Ausgaben sind allerdings nicht weniger geworden, die Sozialpolitiken wurden nicht beendet. Aber nicht, weil die Regierung glaubt, dass es ein Recht auf Sozialpolitik gäbe, sondern weil sie nicht anders konnte. Das war der Weg, um die Regierungsfähigkeit zu erhalten. Wenn Macri jetzt gewinnt, sehen wir das hässlichste Gesicht einer Regierung, die noch neoliberaler und autoritärer werden wird. Die nächsten Jahre werden sehr hart werden durch zusätzliche Sparmaßnahmen in einem sozialen Gefüge mit vielen Konflikten. Und die argentinische Gesellschaft charakterisiert sich darüber, auf die Straße zu gehen und zu protestieren. Es waren die ständigen sozialen Proteste seit der Übernahme der Regierung, die verhindert haben, dass es noch mehr Repressionen gegeben hat. Ich glaube, wir haben das Schlimmste dieser Regierung noch gar nicht gesehen.

Und was denken Sie: Wird Macri gewinnen?
Das wäre politikwissenschaftlich eine sehr seltsame Sache, denn normalerweise werden Regierungen nicht wiedergewählt, wenn die Wirtschaft am Boden und die Regierung sehr schlecht ist. Wenn er trotz allem wieder gewinnt, kann das nur durch die hohe Polarisierung erklärt werden. Alles deutet darauf hin, dass die Leute eher danach wählen, was sie nicht wollen, als danach was sie wollen. Es gibt eine sehr starke Ablehnung der Politik der Regierung, sie wird nicht wegen ihrer Stärken gewählt. Aber trotzdem ist es nicht sicher, ob die Regierung bzw. der Präsident nicht doch wiedergewählt werden kann.

Das liegt auch an der noch zu bestimmenden Gegenkandidatur…
Wenn der Peronismus es schafft, sich zu einigen, wird er sicherlich in der ersten oder zweiten Wahlrunde gegen die aktuelle Regierung gewinnen. Wenn das nicht passiert, bleibt alles unklar. Die größte Figur, die der Peronismus heute hat, ist die Ex-Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner mit einer Unterstützung von 30 bis 35 Prozent der Wähler. Wer auch immer die Wahlen gewinnt, die nächsten Jahren werden sehr konfliktreich werden. Wenn die aktuelle Regierung gewinnt, wird es sehr viel härter, weil die Antwort brutaler sein wird. Wenn eine andere Partei gewinnt, wird es wahrscheinlich mehr Absichten geben, den sozialen Konflikt anders zu regeln.

Zuletzt: Ihr Ausblick in die Zukunft?
Ich glaube, trotz allem bleibt Lateinamerika im globalen Vergleich ein wichtiger Ort, um etwas aufzubauen, das sich an demokratischen Prinzipien und Menschenrechten orientiert, besonders Argentinien, aufgrund des Stellenwertes, den Menschenrechte bis jetzt in der Gesellschaft haben. Heute ist Macri das Rechteste, wohin wir gelangen können. Bisher sehe ich keine Möglichkeit, dass es politischen Raum für einen Antisystem-Kandidaten wie Bolsonaro gibt. Wenn es bei diesen Wahlen schlecht für die Regierung läuft, ist das eine gute Möglichkeit, aus den Erfahrungen mit einer neoliberalen Partei zu lernen. Es war das erste Mal, dass die Rechte und die Elite durch demokratische Wahlen an die Regierung gekommen sind. Davor waren es immer Putsche gewesen.
In heutigen Zeiten ist es wichtig, eine neue Form von Übereinkünften mit der Gesellschaft zu schaffen. Wenn wir nicht anfangen, die Herzen und Köpfe der Menschen zu erobern, werden diese letztlich autoritäre Optionen wählen. Wir brauchen eine Verteidigungsstrategie und gleichzeitig eine positivere, die nach vorne geht. Es existiert die Forderung nach alternativen Modellen. Ich hoffe, dass es eine überzeugende soziale Antwort gibt, die sich in der Ablehnung der neoliberalen Politik der aktuellen Regierung in den Wahlen ausdrückt.

 


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ALTE ELITE IM NEUEN GEWAND

Nostalgisch? Abdo Benítez äußerte sich mehrmals positiv über die Stroessner-Zeit (Foto: Flickr.com / Michel Temer CC BY 2.0)

Ein Bruch mit der Vergangenheit sieht anders aus. Der seit dem 15. August amtierende Präsident Paraguays Mario Abdo Benítez Junior ist der Sohn des ehemaligen Privatsekretärs von Alfredo Stroessner. Mario Abdo Benítez Senior galt über drei Jahrzehnte als rechte Hand des Diktators, der von 1954 bis 1989 das Land regierte. In dieser Zeit häufte Abdo Benítez Senior ein Vermögen an und wurde ein einflussreicher Unternehmer. Mit diesem finanziellen Hintergrund konnte der Junior seine politische Karriere finanzieren.

In einem Interview mit der Tageszeitung ABC hatte Abdo Benítez Junior noch im Wahlkampf erklärt: „Ich hege nichts als Bewunderung für meinen Vater. Er war mir ein Vorbild. Er war immer ein guter Vater und ein ehrenhafter Mann; zudem ein fleißiger Arbeiter.“ Mehrmals hatte er sich zudem positiv über die Stroessner-Zeit geäußert. Es war vorherzusehen, dass derartige Aussagen bei den Opfern der Stroessner-Diktatur nicht gut ankamen. Die Opposition versuchte deshalb, den Politiker der Republikanischen Nationalen Allianz (ANR) in die Nähe der Militärdiktatur zu rücken und zu beschwören, mit ihm drohe der Rückfall in den Autoritarismus.

Um sich gegen den Vorwurf zu verteidigen, betonte Abdo Benítez in seiner Wahlkampagne, dass er sich für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einsetzen werde. Er erklärte, dass er zwar bestimmte Aspekte der Stroessner-Zeit positiv bewerte – wie die wirtschaftliche Entwicklung und vermeintlich niedrige Kriminalitätsrate – , er damit aber „keine Verbrechen und keine Einzelpersonen“ verteidigen wolle. Bewusst hielt er seine Distanzierung von der Diktatur so nebulös: Schließlich finden sich unter den Colorados, wie die Angehörigen der ANR genannt werden, noch zahlreiche nostalgische Anhänger*innen Stroessners, die Abdo Benítez ebensowenig verprellen wollte, wie dessen Gegner*innen, von denen es auch nicht wenige in der ANR gibt.

Sein Wahlkampf war von Erfolg gekrönt. Am 22. April war Abdo Benítez Junior mit 46,5 Prozent zum Staatsoberhaupt gewählt worden. Doch für die ANR ist dieses Ergebnis eher ein Dämpfer. Efraín Alegre von der Liberalen Partei, historisch in Konkurrenz mit den Colorados, war der Kandidat des Mitte-links-Bündnisses GANAR und konnte 42,7 Prozent der Stimmen gewinnen. Dies entsprach nur ca. 94.000 Stimmen Unterschied.
Das Bündnis GANAR wurde auch von der linken Sammlungsbewegung Frente Guasú unterstützt, dem der ehemalige Präsident und Vorsitzender des Senats, Fernando Lugo, vorstand. Nur dem ehemaligen Bischof Lugo als Kandidaten hätten Beobachter*innen zugetraut, die seit 1947 fast ununterbrochen regierenden Colorados zu besiegen, wie er es bereits 2008 getan hatte. Doch Lugo, der 2012 in einem hochumstrittenen Verfahren des Amtes enthoben worden war, darf nicht erneut kandidieren, denn die Verfassung erlaubt keine Wiederwahl eines Präsidenten.
Diese Regelung hatte Abdo Benítez Amtsvorgänger Horacio Cartes zu kippen versucht. Auf verschiedenen Wegen hatte der Unternehmer*innen und mutmaßlich reichste Paraguayer*innen versucht, eine Verfassungsänderung durchzusetzen. Dadurch hatte er im April vergangenen Jahres gewaltsame Proteste provoziert, bei denen sogar das Parlamentsgebäude in Brand gesetzt worden war (siehe LN 514).

Vor der Wahl im April dieses Jahres hatte Cartes noch versucht, sich als Kandidat für ein Senatorenamt aufstellen zu lassen, und dieses auch bei den Wahlen gewonnen. Als ehemaliger Präsident wäre er zwar ohnehin als Senator auf Lebenszeit aufgestellt worden, jedoch ohne Gehalt, Stimmrecht oder – wahrscheinlich am bedeutsamsten für Cartes – Immunität. Gegen ihn liegen mehrere Beschuldigungen wegen Korruption und Beteiligung am Zigarettenschmuggel vor, denen er sich vermutlich ungerne vor Gericht stellen will. Doch er konnte das gewonnene Sena­toren­amt nicht einfach annehmen, da es zu einer Überschneidung mit seinem Präsidentenamt gekommen wäre. Deshalb hatte er im Mai seinen Rücktritt eingereicht. Als sich abzeichnete, dass die Legislative seinen Rücktritt nicht akzeptieren würde, nahm er sein Rücktrittsgesuch zurück und übergab, wie vorgesehen, erst am 15. August das höchste Staatsamt.

Das Vorgehen Cartes‘ offenbart eine tiefe Respektlosigkeit gegenüber demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen und Regeln. Viele einflussreiche Colorados biegen und manipulieren die Gesetze zu ihren Gunsten, die Korruption ist virulent. Abdo Benítez hat versprochen, diese Praxis zu ändern. „Das stellt einen Bruch gegenüber Cartes und einen gewissen Fortschritt für Paraguay dar“, kommentiert der paraguayische Politikwissenschaftler und Soziologe Carlos Peris gegenüber den Lateinamerika Nachrichten. Er glaubt nicht, dass Abdo Benítez so schamlos wie Cartes demokratische Regeln für sich zurechtbiegen wird. „Allerdings ist auf wirtschaftlicher Ebene mit Kontinuität zu rechnen.“ Niemand rechnet damit, dass Abdo Benítez die neoliberale Wirtschaftspolitik seines Amtsvorgängers hinterfragen oder gar substanziell ändern wird.

Paraguay ist nach Mexiko der zweitgrößte Produzent von Marihuana

Die zu erwartende Wirtschaftspolitik Abdo Benítez‘ bringt ihm denn auch mächtige Verbündete ein. Wenige Tage vor seinem Amtsantritt hatte er die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF) Christine Lagarde in Washington besucht. Bei einer gemeinsamen Presse­konferenz versicherte Lagarde, dass der IWF weiterhin Paraguays wirtschaftliche Entwicklung mit Krediten unterstützen wolle. Dies verwundert nicht, ist doch abzusehen, dass Abdo Benítez ganz im Sinne des IWF regieren wird.

Auch die konservativen Präsidenten Brasiliens und Argentiniens, Michel Temer und Mauricio Macri, begrüßten die Wahl Abdo Benítez‘. Denn in seiner Regierung sehen sie einen zuverlässigen Verbündeten, um ein Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur) zu erreichen, das sie anstreben.

Traditionell sind beide Länder von enormer Bedeutung für die paraguayische Politik und Wirtscha, beide befinden sich aber in tiefen wirt­schaftl­­ichen Krisen. Dennoch gehen Wirtschaftsexpert*innen nicht davon aus, dass die Krise in den Nachbarländern einfach so auf Paraguay übergreift. Zwar sind die Einnahmen Paraguays aus dem Export von Elektrizität (generiert in den großen Wasserkraftwerken Itaipú und Yaceretá) nach Argentinien und Brasilien von großer Bedeutung, und diese gehen naturgemäß mit dem Rückgang der dortigen Wirtschaftsleistung zurück. Doch mittlerweile ist für Paraguay der Export von Soja wichtiger geworden: Das Land ist der fünftgrößte Sojaexporteur der Welt, und beliefert vor allem den europäischen und chinesischen Markt.

Im ländlichen Raum herrschen Rechtsunsicherheit und ein generalisiertes Klima der Angst

Ein anderes bedeutsames Exportprodukt Paraguays ist heiklerer Natur. Paraguay ist nach Mexiko der zweitgrößte Produzent von Marihuana. Insbesondere im Norden und Westen des Landes wird die illegalisierte Droge auf riesigen Feldern für den Export angebaut.

Großgrundbesitzer*innen, davon etliche Anhänger*innen der Colorados, profitieren mutmaßlich von diesem Geschäft, obwohl die ANR in öffentlichen Aussagen immer wieder betont, mit „harter Hand“ gegen den Drogenhandel durchgreifen zu wollen. Es gibt Indizien, dass Ex-Präsident Horacio Cartes selbst von der Geldwäsche von Einnahmen aus dem Geschäft profitiert hat.

Beide Wirtschaftszweige – Soja- und Marihuana-Anbau – basieren auf einer grundsätzlichen Rechtsunsicherheit im ländlichen Raum. Für beide Produkte müssen Kleinbäuer*innen vertrieben werden, ohne dass diese sich effektiv vor Gericht wehren können. Nur in einem generalisierten Klima der Angst unter der Bevölkerung können Mafias den Drogenanbau und -handel vollziehen, wie sie es derzeit tun.

Die immer stärker werdende Militarisierung des Nordens des Landes schafft diese Situation. Unter dem Vorwand der Bekämpfung der kleinen Guerrillagruppe Paraguayisches Volksheer (EPP) gibt der Staat dem Militär immer weiter reichende Vollmachten im Norden des Landes. Dies schafft das Klima der Angst, das die illegale Aneignung von Land und den großangelegten Anbau von Marihuana durch Mafias, die eng mit Politik und Großgrundbesitzer*innen verbunden sind, erst möglich macht. Abdo Benítez mag sich ein bisschen mehr an die demokratischen Regeln halten als sein Vorgänger. Dass er diese grundlegenden korrupten Strukturen im Land beseitigen wird, ist aber kaum zu erwarten. Letztlich wird er dafür sorgen, dass die alten Eliten weiter ihre Macht erhalten könnten.


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PIÑERAS GRUSELKABINETT

„Einen ehemaligen Freund der verbrecherischen Colonia-Führung als Minister für Justiz und Menschenrechte zu ernennen, ist ein Schlag ins Gesicht aller Opfer“, meint Myrna Troncoso in einer Pressemitteilung des Forschungs- und Dokumentationszentrums Chile-Lateinamerika (FDCL). Gemeint ist Hernán Larraín Fernández von der postfaschistischen Unabhängigen Demokratischen Union (UDI), die nach dem Ende der zivil-militärischen Diktatur Augusto Pinochets (1973-1990) von dessen Anhängern gegründet wurde. Larraín Fernández hatte – wie die meisten Granden seiner Partei – schon während der Diktatur Karriere gemacht. Besonders problematisch ist sein Verhältnis zur Sektensiedlung des deutschen Aussiedlers Paul Schäfer, der Colonia Dignidad. In den ersten Jahren nach dem Pinochet-Putsch, als dort systematisch Diktaturgegner*innen gefoltert und vermutlich über hundert von ihnen ermordet wurden, besuchte Larraín – gemeinsam mit Pinochets Chefideologen Jaime Guzmán – die Siedlung. Als die Vorwürfe wegen Kindesmissbrauch und Folter gegen die Siedlung immer vehementer wurden, verteidigte er sie viel zu lange und bezeichnete die Vorwürfe als Verleumdungen. Entsprechend fassungslos zeigen sich heute die Opferverbände über seine Ernennung als Minister für Justiz und Menschenrechte: „Es schockiert uns, denn er gehörte dem persönlichen Freundeskreis von Paul Schäfer an. Er verteidigte ihn, auch als die Vorwürfe schon bestätigt waren. Es kann nicht sein, dass er keine Informationen über die Gefangenen in der Colonia Dignidad hatte“, so Alicia Lira, Vorsitzende des Angehörigen­verbandes der während der Diktatur aus politischen Gründen Exeku­tierten (AFEP) gegenüber der Tageszeitung La Tercera. Auch wenn sich Larraín mittlerweile von der Colonia distanziert hat, deutet seine Ernennung auf den Stellenwert hin, den die Aufarbeitung der Diktaturverbrechen in der Regierung Piñeras haben wird.

In Piñeras Kabinett tummeln sich auch altbekannte Gesichter aus der Ära Pinochet.

Auch Andrés Chadwick, Innenminister im neuen Kabinett, ist kein Unbekannter. Der Cousin von Präsident Piñera gilt genau wie Larraín als Colonia-Freund. Während Piñeras erster Amtszeit war er zunächst Regierungssprecher, ehe er nach Rodrigo Hinzpeters Wechsel ins Verteidigungsministerium das Innenministerium von diesem übernahm. Chadwick gilt als einer der engsten Vertrauten Piñeras, musste allerdings im Nachgang von dessen mäßigem Ergebnis im ersten Wahlgang 2017 Kritiken einstecken. In der ersten Amtszeit Piñeras (2010-2014) wurde Chadwick vor allem wegen eines Gesetzesentwurfes kritisiert, den er zusammen mit dem Autor des stark umstrittenen Fischereigesetzes Pablo Longueira (auch UDI) eingebracht hatte. Mit dem Gesetz sollte die Ehe als ausschließlich zwischen Mann und Frau definiert werden, allerdings musste der Entwurf wegen Protesten aus der Zivilgesellschaft zurückgezogen werden. Da Piñera zugesagt hat, der gleichgeschlechtlichen Ehe nicht im Weg zu stehen, und Chadwick sich im Vorfeld des zweiten Wahlgangs mit Vertreter*innen der Bewegung für die Befreiung Homosexueller (Movilh) traf, sieht sich Chadwick nun inner­parteilicher Kritik, sowie dem Gegenwind der stets an Stärke gewinnenden evangelikalen Kirchen ausgesetzt.

Das bedeutet allerdings nicht, dass offen homo­phobe und antifeministische Positionen im Kabinett Piñeras nicht vertreten sind. Isabel Plá (UDI), die neue Ministerin für Frauen und Geschlechtergerechtigkeit, ist eine vehemente Kritikerin einer der größten Errungenschaften der Regierung Michelle Bachelets, der Teil­legalisierung von therapeutischen Schwanger­­schafts­­abbrüchen, die bis dahin komplett illegal waren. Das gleiche gilt auch für Emilio Santelices (parteilos), den neuen Gesundheitsminister. Dieser macht zu allem Überfluss den Anschein, das zutiefst dysfunktionale chilenische Gesund­heits­system noch stärker den Marktmecha­nismen zu unterwerfen. Das Aussetzen der Konzessionsvergabe für privat betriebene Kranken­häuser unter Bachelet hatte er stark kritisiert. Mit ihm dürfte der für weite Teile der Bevölkerung nicht erschwingliche private Gesundheitssektor weiter an Größe und Unterstützung gewinnen – zu Ungunsten einer adäquaten öffentlichen Gesundheitsversorgung, die auch ärmeren Bevölkerungsschichten Zugang gewährleistet.

Der konservative Rollback in Chile, den die Regierung Piñeras in Angriff nehmen wird, zeigt sich auch bei den zahlreichen intendentes, den von der Zentralregierung ernannten Ver­waltungs­beamt*innen für die Regionen. Diesen kommt in dieser Legislaturperiode besondere Bedeutung zu, da sie nach einer Strukturreform ab 2020 nicht mehr ernannt, sondern gewählt werden. Die jetzt ernannten intendentes werden, sollten sie sich dann zur Wahl stellen, mit einem Amtsbonus in den Wettstreit um die Wählerstimmen ziehen.

Offen homophobe und antifeministische Positionen sind im Kabinett vertreten.

Eine der besonders hervorstechenden Persön­lichkeiten in der Reihe der alten Männer in Piñeras Politiker*innenteam ist dabei Jorge Ulloa (UDI), Geschichtsprofessor und seit 1989 Abgeordneter. Dass er die Wähler*innen in seinem Wahlbezirk nicht überzeugen konnte, hat leider nicht dazu geführt, dass er kein politisches Amt übernimmt. Ulloa, der während der Diktatur Bürgermeister von Lebu war, ist der neue intendente der Region Biobío. Er ist einer der letzten bedingungslosen Bewunderer Augusto Pinochets, der für ihn „die wichtigste chilenische Persönlichkeit des öffentlichen Lebens des 20. Jahrhunderts“ ist. Als das Abgeordnetenhaus im vergangenen Mai beschloss, den längst über­fälligen Schritt zu gehen und einige ver­bleibende, die Diktatur verherrlichende Monu­­­mente zu entfernen, empörte sich Ulloa, dass damit versucht würde, Geschichte verschwinden zu lassen und erklärte: „Wir könnten auch vorschlagen, dass es keine Anerkennung mehr für einen Zerstörer der Demokratie, wie Salvador Allende es war, geben soll.“

Besonders schwer werden es soziale Bewegungen in der indigen geprägten Region Araucanía haben. Seit Jahrzehnten kämpfen Mapuche hier um die Rückgewinnung ihres ehemaligen Terri­toriums und gegen die Umweltzerstörung und Landnahme durch Forstunternehmen. Mit Luis Mayol von der konservativ-neoliberalen Partei Nationaler Erneuerung (RN) wird dort ein Vertreter des Agrobusiness den Posten den intendente übernehmen. Mayol war bis 2011 selbst Direktor eines von ihm gegründeten Agrarunternehmens. Allein seine Benennung ist im Kontext der Auseinandersetzungen zwischen Mapuche und Forstunternehmen schon eine Ansage, auf wessen Seite die kommende Regierung stehen wird. Mayol hat, genau wie auch schon Piñera selbst, angekündigt, gegen den „Terrorismus“ in Araucanía vorzugehen. Man kann nur hoffen, dass das rechts­konservative Gruselkabinett, mit dem sich der Präsident umgibt, nicht widerstandslos Angst und Schrecken verbreiten wird.


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DIE MUMIEN SIND ZURÜCK

Foto: julia viajando CC BY 2.0

Hupend und mit singenden Insass*innen fahren immer mehr SUVs und Oberklassenwagen die Alameda bergab. Die Richtung ist klar: Hin zum Grand Plaza Hotel, wo Chiles zukünftiger Präsident, Sebastián Piñera seinen Wahlsieg feiert. Woher die Leute kommen ist auch klar, aus dem Barrio Alto, aus Las Condes, Vitacura und anderen reichen Vierteln Santiagos. Mag sein, dass der Präsident der Konservativen viele Stimmen aus allen Klassen bekommen hat, diejenigen, die hier feiern, kommen jedoch mehrheit-lich aus der Oberschicht. Manche haben schon die obligatorische Chile-Fahne oder eine Piñera-Fahne, die sie aus den Fenstern schwenken, andere decken sich bei den Straßenhändler*innen ein, die gut vorbereitet zur Plaza Italia gekommen sind und ihre Waren anpreisen: Fahnen, Vuvuzelas in blau-weiß-rot und „Piñera-Wasser“, wie einer von ihnen scherzhaft anmerkt. Ein Mann ruft den Piñera-Fans hinterher: „Ihr seid doch alle Idioten!“ Gut 100 Meter weiter wird schnell eine Bühne aufgebaut, auf der Sebastián Piñera später reden wird. Immer mehr Leute trudeln ein und skandieren „Nos Salvamos!“ („Wir haben uns gerettet!“) und „Chile se salvó!“ („Chile hat sich gerettet!“). Gerettet vor „Chilezuela“, Zuständen wie in Venezuela, eine Angstkampagne der Rechten, die in den sozialen Netzwerken massiv an Schwung gewonnen hat. Ein Mann hält eine Büste von Augusto Pinochet in die Kameras, dem Diktator, der Chile von 1973 bis 1990 beherrschte, Oppositionelle hinrichten und ermorden ließ, zehntausende Chilen*innen ins Exil trieb und Chile mit seiner Militärjunta und den zivilen Helfer*innen zu dem neoliberalen „Musterland“ gemacht hat, das es heute ist.

Bereits kurz nach der Wahl, noch bevor Piñera überhaupt eine Amtshandlung getätigt hat, wurde seine Präsidentschaft schon von einem ersten Skandal überschattet. Der Chefökonom der Weltbank Paul Romer hatte zunächst eingeräumt, dass der jährliche „Doing-Business-Report“ aus politischen Gründen manipuliert worden sei, um die Chancen des konservativen Präsidentschaftskandidaten zu erhöhen. Die Kriterien des Index seien absichtlich geändert worden, um die wirtschaftliche Situation Chiles in ein schlechteres Licht zu rücken.

Wenn Piñera von Opfern spricht, meint er Großgrundbesitzer*innen und Forstunternehmen.

Piñera selbst hatte per Twitter im Wahlkampf auf den Report verwiesen, in dem Chile vom 37. auf den 55. Rang gefallen war. Ohne die Änderung der Kriterien wären es nur fünf Ränge gewesen. Mittlerweile sind alle Beteiligten zurückgerudert, die Weltbank erklärte, die Änderung der Kriterien sei aus rein wissenschaftlichen Gründen erfolgt. Dennoch wirft der Skandal ein schlechtes Licht auf die Kampagne Piñeras, waren doch die Drohkulisse von „Chilezuela“ und die Ankurbelung der Wirtschaft sein zentrales Programm.

Piñeras Regierung, dessen Kabinett bis zum Redaktionsschluss noch nicht feststand, wird in der Legislaturperiode von 2018 bis 2022 viele Brücken bauen müssen. Seine Koalition verfügt in keiner der Kammern über eine eigene Mehrheit und muss darauf bauen, einzelne Abgeordnete für Gesetzesprojekte gewinnen zu können oder Zugeständnisse an die Oppositionsfraktionen vom Mitte-links-Bündnis Nueva Mayoría und dem Links-Bündnis Frente Amplio zu machen. Ein hundertprozentig neoliberales Programm wird es also nicht geben. Um sich die Unterstützung des Senators Manuel José Ossandón der konservativen Partei Renovación Nacional aus dem armen Randbezirk Puente Alto der Haupstadt zu sichern, musste er bereits kleine Zugeständnisse in der Bildungspolitik machen.

Ökonomische Interessen haben in Chile Verfassungsrang, indigene Rechte hingegen nicht.

Ossandón rang ihm das Versprechen ab, den kostenlosen Zugang zu Bildung auszuweiten. Piñera kündigte an, dieses Versprechen wahr zu machen und bei den Institutos Profesionales (IP), Institutionen, die in etwa die Rolle des Berufsausbildungssystems in Deutschland innehaben, für mehr kostenlosen Zugang zu sorgen. Von Seiten des Studierendenverbandes CONFECH hagelte es prompt Kritik: „Piñera verspricht 90 Prozent kostenlosen Zugang zu den IP, weil das das nächste Geschäft mit der Bildung ist.“ Denn die IPs sind oft privat betrieben und sind, wie so vieles im chilenischen Bildungssektor, eine weitere Möglichkeit Profit zu machen.

Ganz andere Töne schlug Piñera in Bezug auf Wallmapu an, ein zu großen Teilen von Mapuche besiedeltes Gebiet in den südlichen Regionen Chiles. Er kündigte an, weiterhin das Antiterrorgesetz gegen Mapuche anzuwenden, um so „klar und deutlich legitime Forderungen indigener Völker von gewalttätigen Handlungen oder Terrorismus“ zu trennen, so Piñera gegenüber der Tageszeitung El Mercurio. Dafür will er der Militärpolizei Carabineros den Rücken stärken und abschließend feststellen lassen, wie viel Territorium der chilenische Staat den indigenen Gemeinden überlassen muss.
Außerdem will er die Nationale Agentur für indigene Entwicklung CONADI durch eine „Entwicklungsagentur“ ersetzen und die Opfer im Konflikt unterstützen. Wenn er von Opfern spricht, ist allerdings klar, dass damit nicht Opfer von rassistischer Polizeigewalt, wie Brandon Hernández (s. Interview auf Seite 40) oder immer wieder vor Gericht gezerrte indigene Aktivist*innen wie Francisca Linconao oder die Angehörigen von ermordeten Aktivist*innen wie Macarena Valdés gemeint sind (siehe Kurznachrichten). Sondern es geht um die Großgrundbesitzer*innen und Forstunternehmen, die wegen des Widerstandes von Mapuche-Gemeinden nicht mehr ungestört agieren können. Ökonomische Interessen haben in Chile schließlich Verfassungsrang, indigene Rechte hingegen nicht.

Auf die sozialen Bewegungen Chiles dürften nicht nur im Wallmapu harte Zeiten zukommen. Schon der Papstbesuch Mitte Januar machte deutlich, dass die Repressionsorgane, allen voran die Carabineros, mit der vermeintlichen Unterstützung der neuen Regierung härtere Bandagen anlegen werden. Bei feministischen Protesten gegen die Stippvisite des Pontifex, gab es allein in Santiago mehr als 40 Festnahmen. Auf der Wache kam es wie üblich zu Misshandlungen. „Die Carabineros sagten uns, dass sie sich mit der kommenden konservativen Regierung sicher fühlen und dass wir uns Sorgen machen sollen, weil es nach dem 11. März schlimmer werden würde. Eine Polizistin sagte, dass sie alle ‚Scheißkommunisten‘ hasse“, so Millaray Hermosilla, eine der festgenommenen Aktivist*innen in der Onlinezeitschrift eldesconcierto. Auch wenn das Kabinett von Piñera noch nicht feststeht, ist klar: Chile erwartet wie schon während der ersten Amtszeit Piñeras turbulente Zeiten.


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DIE MASCHINE, DIE VERSCHWINDEN LÄSST

78 Tage nachdem Santiago Maldonado zuletzt lebend gesehen worden war, ist seine Leiche am 17. Oktober im Fluss Chubut in der gleichnamigen Provinz im Süden Argentiniens aufgefunden worden. Der 28-jährige Aktivist und Kunsthandwerker war laut Zeug*innenaussagen am 1. August während einer Protestaktion der Mapuche-Gemeinde Cushamen von der Gendarmerie verfolgt und verschleppt worden. Seither fehlte von ihm jede Spur (siehe LN 519/520). Maldonados gewaltsames Verschwinden hatte eine enorme Protestwelle im ganzen Land ausgelöst, die sich zum vorläufigen Höhepunkt des Protests gegen die rechtskonservative Regierung von Präsident Mauricio Macri entwickelte. Das Bild des verschwundenen Aktivisten ging um die Welt und in Argentinien Hunderttausende auf die Straßen.

Nach dem Auffinden und Identifizieren der Leiche wird nun der Ruf nach Gerechtigkeit laut. Menschenrechtsorganisationen werfen der Regierung vor, die Gendarmen, die als Hauptverdächtige für Maldonados Verschwinden gelten, zu protegieren und mit Hilfe von kollabierenden Medienunternehmen wissentlich falsche Theorien über den Fall in Umlauf gebracht zu haben, um so die Ermittlungen zu verschleppen und die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Alles systematische Momente in der Logik eines Verbrechens, das Argentinien während der letzten Militärdiktatur (1976 – 1983) zu trauriger Berühmtheit gebracht hat. Seit 2002 wird das gewaltsame Verschwindenlassen im Völkerrecht als Verbrechen gegen die Menschheit sanktioniert.

Der Wahlkampf wurde eingestellt nachdem Maldonados Körper gefunden wurde

Die Nachricht vom Fund von Santiago Maldonados Körper kam genau fünf Tage vor den argentinischen Parlamentswahlen, woraufhin alle Parteien ihren Wahlkampf einstellten. Entgegen plausibler Erwartungen dieses Ereignis könnte negative Auswirkungen auf das Wahlergebnis für die regierenden Parteien haben, ging das aktuelle Regierungsbündnis Cambiemos gestärkt aus den Parlamentswahlen hervor (zum Wahlergebnis siehe Kurznachrichten S. 56). Die vorschnelle Mitteilung des zuständigen Richters Gustavo Lleral am Vorabend der Wahl, der Körper Maldonados weise keine Verletzungen auf, mag zwar wahlbeeinflussend intendiert gewesen oder rezipiert worden sein, wahrscheinlich wäre das Wahlergebnis aber auch ohne dieses Statement positiv für Cambiemos ausgefallen. Fraglich bleibt, wie die Regierung es schafft, trotz wirtschaftlicher Flaute, extrem gestiegener Energie- und Lebenshaltungskosten, weiterer angekündigter Reformen, Panama Papers, ständigen Repressionen gegen die organisierte Bevölkerung und eines handfesten Menschenrechtsskandals ihr Saubermann-Image aufrechtzuerhalten. Aktuelle negative Entwicklungen werden in der dominierenden öffentlichen Meinung immer noch der Vorgängerregierung angelastet.

Foto: Lina Etchesuri / lavaca.org

Auch drei Wochen nach dem Leichenfund gibt es immer noch keine offiziellen Ergebnisse der Obduktion oder Gewissheit über den Zeitpunkt des Todes von Santiago Maldonado. Dass sich Maldonados Körper die ganze Zeit über an der Stelle befunden hat, wo er gefunden wurde, wird von Expert*innen angezweifelt. Einerseits sei die Stelle bereits mehrfach zuvor erfolglos abgesucht worden, andererseits hätte der Zustand der Leiche durch die Strömung weit stärker angegriffen sein müssen: „In diesem Fall ist der Körper intakt. Er hat sogar Fingerabdrücke. Deswegen muss das Todesdatum später als am 1. August sein“, erklärte der Gerichtsmediziner und Kriminologe Enrique Prueger gegenüber dem lokalen Radiosender La Red. „Es ist unmöglich, dass er an diesem Tag gestorben ist“, so seine Schlussfolgerung. Die Fragen, wie Maldonados Körper in den Fluss gelangt ist und wo er zuvor gewesen ist, sind völlig offen.

Familienangehörige und Vertreter*innen der Mapuche-Gemeinde versuchen nun auf anderen Wegen die Aufklärung des Falles voranzubringen. Am 26. Oktober fand vor der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (CIDH) in Montevideo eine Anhörung statt, in der sie Sanktionen gegen die argentinische Regierung und die Intervention des Komitees für Gewaltsam Verschwundene der UNO in die Ermittlungen forderten. Der zuständige Richter Lleral lehnte jedoch am 9. November die Aufnahme unabhängiger Expert*innen-gruppen in die Ermittlungen ab. Mapuche-Anwalt Chuzo Gonzales Quintana ließ bei der Anhörung vor dem CIDH kein gutes Haar am argentinischen Staat, dem er vorwarf, nicht nur nicht nach dem Verschwundenen gesucht zu haben, sondern auch die Hauptverdächtigen gedeckt zu haben. Desweiteren habe die Regierung mit Hilfe der Medien falsche Fährten gelegt und Zeug*innen aus der Mapuche-Gemeinde als Terrorist*innen verleumdet.

So treten in diesem Fall mehrere systemische Probleme des argentinischen Staates zutage, die mit vergangenem und aktuellem Staatsterrorismus, institutioneller Gewalt, einem korrupten Justizsystem, Straflosigkeit sowie der Verstrickung zwischen Unternehmen, Großgrundbesitz und Staat(sgewalt) in Verbindung stehen.

Auch der jahrelange Kampf der indigenen Gemeinden im Süden Argentiniens rückt ins Blickfeld. Das Gebiet der Gemeinde Cushamen liegt innerhalb eines 900 000 Hektar großen Territoriums, das das italienische Textilunternehmen Benetton im Jahr 1991 vom argentinischen Staat gekauft und dadurch zum größten privaten Landbesitzer in Argentinien gemacht hat. Die Mapuche betrachten dies als unrechtmäßige Aneignung ihrer angestammten Ländereien und widersetzen sich seit 2015 auch durch Besiedelung des Gebiets, das auf dem Papier Benetton gehört. Die Gendarmerie unterhält indes eine inoffizielle Kommandozentrale innerhalb von Benettons Territorium und die Mapuche in der Region sind immer wieder Repressionen ausgesetzt, werden kriminalisiert, verschwunden, verhaftet und zu Opfern extrem rassistischer Staatsgewalt. Jones Huala, lonko (Oberhaupt) in Cushamen, sitzt als politischer Gefangener seit Juni 2017 in Haft. Huala spekuliert, dass Maldonado von der Gendarmerie irrtümlicher Weise für einen Mapuche gehalten wurde und sie daher davon ausgegangen seien, dass sein Verschwindenlassen kein großes Aufsehen erregen würde. Die Zahlen sprechen für diese These: Mehr als 200 gewaltsam Verschwundene seit Ende der Diktatur zählt die Koordinationsstelle gegen staatliche und institutionelle Gewalt CORREPI, die meisten von ihnen blieben unbeachtet. Santiago Maldonado – selbst kein Mapuche, sondern solidarischer Aktivist – ist also lange nicht der erste gewaltsam Verschwundene in demokratischen Zeiten, aber der erste Fall, der so stark in der Öffentlichkeit steht seit dem Amtsantritt von Präsident Macri im Dezember 2015. Dessen Regierung bestreitet weiterhin jede Art von Verantwortung, obwohl im Fall Maldonado mittlerweile offiziell unter dem Tatbestand Gewaltsames Verschwindenlassen ermittelt wird. Ausführer dieses Verbrechens ist per Definition der Staat bzw. quasi-staatliche Organe. Menschenrechtsorganisationen fordern den Rücktritt der Sicherheitsministerin Patricia Bullrich, die für den Einsatz der Gendarmerie verantwortlich war, bei dem Maldonado zuletzt gesehen wurde.

Foto: Carla Perrone / lavaca.org

Obwohl noch viele Fragen ungeklärt sind: Kein Verschwinden geschieht ohne aktive oder passive Mitwirkung des Staates, auf dessen Machtgebiet das Verbrechen geschieht – durch die ausführenden Sicherheitskräfte, die verschachtelten Wege der Justiz, die Behörden und Funktionär*innen, die in einer Mischung aus Fahrlässigkeit und Verantwortungslosigkeit in den entscheidenden Momenten wegschauen, durch die Medien, die systematisch de-informieren oder manipulieren. Alle operieren in dem gleichen System, als „Zahnräder im Getriebe der Maschine, die verschwinden lässt“, so Vanesa Orieta anlässlich des Auffindens von Maldonados Leiche. Orieta hat selbst fünf Jahre lang nach ihrem 16-jährigen Bruder Luciano gesucht, der eines Tages im Jahr 2009 von einer Polizeiwache eines verarmten Vorortes von Buenos Aires nicht wieder zurückkehrte. Luciano war von der Provinzpolizei ermordet worden, seine Überreste konnten erst nach einem langen Kampf mit den Institutionen in einem anonymen Massengrab gefunden werden. So wie Vanesa Orieta sind es vor allem die Familien der Verschwunden, die gegen das System

Vor allem die Familien der Verschwundenen kämpfen gegen das System dahinter

des Verschwindenlassens ankämpfen und dabei immer wieder mit den gleichen systematischen Logiken der Vertuschung, Verschleppung der Aufklärung und der eigenen Kriminalisierung konfrontiert werden. In Argentinien haben sich die Angehörigen der Verschwundenen in ihrer unermüdlichen Suche zu wichtigen politischen Bezugsgrößen des Landes etwickelt: die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo, die Organisation der Kinder der in der Militärdiktatur gewaltsam Verschwundenen (H.I.J.O.S.) oder die vielen Einzelpersonen wie Vanesa Orieta, die selbst um die Aufklärung der Fälle ihrer Angehörigen kämpfen müssen. Und nun Sergio Maldonado, der Bruder von Santiago Maldonado, der zum wichtigsten Wortführer der jetzigen Proteste geworden ist. Nicht selten, so geschehen auch im Fall von Sergio Maldonado, werden die Familienangehörigen zu Zielscheiben von Aggressionen. Die Mediatisierung von Maldonados Fall hat bereits extreme Ausmaße angenommen. Während die großen Medienkonglomerate Clarín, Indalo und La Nación eine aktiv einmischende Rolle hinsichtlich der Entlastung der Regierung und Diffamierung der Familie eingenommen haben, wurde die zur Aufklärung so notwendige Gegenöffentlichkeit wiederum fast ausschließlich über Soziale Medien aktiviert. Am 1. November demonstrierten wieder 150 000 Menschen in Buenos Aires und forderten Gerechtigkeit für Santiago.


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// NOTORISCHE VERSAGER

Es war ein Versagen mit Ansage. Die wenigsten Mexikaner*innen dürften überrascht gewesen sein, welch schwache Figur ihre politische Führung im Umgang mit den schweren Erbeben abgab. Diese ereigneten sich am 7. und 19. September im südlichen und zentralen Mexiko, erschütterten neben der Hauptstadt und angrenzenden Bundesstaaten weite Teile Oaxacas und Chiapas‘. In beiden Fällen war es die selbstorganisierte Bevölkerung, die schneller und effizienter Hilfe leistete. So aktivierte Präsident Enrique Peña Nieto von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) am 19. September erst mit deutlicher Verzögerung den Katastrophennotfallplan „Plan MX“. Dieser sieht vor, das Militär in die betroffenen Gebiete zur Hilfe zu schicken. In der Zwischenzeit zogen Zivilpersonen Menschen mit bloßen Händen aus den Trümmern (siehe Titelfoto) und leisteten auf der Straße Notversorgung für Verletzte. Ohne die aufopferungsvolle Solidarität der zahllosen freiwilligen Helfer*innen, die tage- und nächtelang pausenlos arbeiteten, wären weit mehr Menschen gestorben.

Die Regierungen auf Landes- und Bundesebene hingegen simulierten oftmals nur Hilfe oder versuchten die Situation für sich politisch auszunutzen. So raubte die Regierung des Bundesstaats Morelos Spendengüter aus der Hauptstadt, um diese mit ihren Aufklebern zu versehen und als eigene Spenden zu deklarieren. Menschen aus den südmexikanischen Bundesstaaten Chiapas und Oaxaca berichteten, dass Hilfspakte oftmals nur an Anhänger*innen der Regierungsparteien übergeben wurden. Ebenso gibt es Aussagen von Augenzeug*innen, die berichten, wie ein LKW mit Hilfspaketen beladen vor einem zerstörten Haus hielt, Fotos machte – und die Pakete anschließend wieder mitnahm. Präsident Peña Nieto persönlich wollte in der Öffentlichkeit bella figura machen, indem er vor geladenen Fotograf*innen bei der Verladung der staatlichen Hilfspakete mit anpackte. Dumm nur, dass eine Videoaufnahme offenlegt, wie er vor der Aktion herumfeixt und in der organisierten Inszenierung die Kisten leer sind. Das Video ist ein Hit in den sozialen Medien.

Überhaupt kein Hit war dagegen die staatliche Krisenprävention. Seit Jahrzehnten bestehen strenge Bauvorschriften, die nach dem Erbeben 1985, das große Teile der Hauptstadt zerstörte, nochmals verstärkt wurden. Ebenso sind regelmäßige Überprüfungen der Bausubstanz vorgesehen. Wie kann es also sein, dass sogar neuere Gebäude jetzt einstürzten? Und wie kann es sein, dass ausgerechnet derjenige Ingenieur Schulgebäude nach dem Beben überprüfen soll, welcher der eben erst eingestürzten Schule Enrique Rébsamen im Jahr 2014 das Prädikat „perfekter Zustand“ verlieh? Ein Kollektiv aus Anwält*innen, Aktivist*innen und Akademiker*innen hat bei der Justizverwaltung von Mexiko-Stadt Klage gegen verschiedene städtische Autoritäten als auch private Bau- und Immobilienfirmen eingereicht. Der Vorwurf: fahrlässige Tötung.

Das staatliche Versagen bei dem Erbeben im Jahr 1985 war Initiationspunkt für das Entstehen einer sich selbst organisierenden Zivilgesellschaft, die das autoritäre korporatistische Herrschaftsmodell der PRI bekämpfte und demokratische Rechte einforderte. Echte Oppositionsparteien entstanden, unter anderem die Partei der Demokratischen Revolution (PRD), die seit 1997 in Mexiko-Stadt regiert. Das Machtmonopol der PRI zerbrach. Das staatliche Versagen bei den Beben im Jahr 2017 ist jedoch das aktuellste Beispiel dafür, dass sich zwar bisweilen das Parteibuch, nicht jedoch die Verantwortungslosigkeit und systematische Korruptheit der politischen Eliten geändert hat. Damals wie heute kann sich die Bevölkerung im Wesentlichen nur auf sich selbst verlassen. Trotz der Abwärtsspirale aus entgrenzter (staatlicher) Gewalt sowie weitgehender gesellschaftlicher Verrohung und Apathie, in der sich das Land seit einem guten Jahrzehnt befindet, ist die Selbstverständlichkeit, mit der Mexikaner*innen nun ihre Solidarität untereinander wiedergefunden haben, ein Hoffnungsschimmer.


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HURRIKAN GEGEN MAPUCHE

Foto: Carpintero Libre (CC BY-SA 2.0) (https://www.flickr.com/photos/sinjefes/29252210044/)

117 Tage verweigerten vier Mapuche-Gefangene die Nahrungsaufnahme, um ihrer Forderung nach einem baldigen und fairen Prozess Nachdruck zu verleihen. Die Brüder Benito, Pablo und Ariel Trangol sowie der Lonko (politische Autorität der Mapuche) Alfredo Tralcal sind wegen Brandstiftung angeklagt und sitzen bereits seit 16 Monaten in Untersuchungshaft. Nach fast vier Monaten Hungerstreik kündigte die Regierung nun einen Kurswechsel im Umgang mit den Inhaftierten an und kommt damit zumindest einer ihrer Forderungen nach: Statt der Anwendung des Anti-Terror-Gesetzes, einem Relikt aus der Militärdiktatur unter Pinochet, sollen die Häftlinge nach allgemeinem Recht behandelt werden. Benito und Pablo Trangol sowie Alfredo Tralcal entschieden sich daraufhin für die Beendigung ihres „Fastens“. Nur Ariel Trangol verharrte drei weitere Tage streikend, da er, laut seinem Sprecher Cristian Tralcal, den Versprechungen der Regierung vorerst nicht traute.

Mittlerweile befinden sich die vier Häftlinge in einem Krankenhaus in der Nähe Temucos in medizinischer Behandlung durch Ärzte und machis (spirituelle Autorität und Heiler*in). Der Forderung im Kontext des Hungerstreiks, die Untersuchungshaft in Hausarrest umzuwandeln, wurde nicht nachgegangen. Sonia Trangol, Schwester der drei inhaftierten Brüder erklärt, ihr gesundheitlicher Zustand sei immer noch gefährdet. Sie sähe das Einlenken der Regierung nicht als Sieg, denn es habe einen hohen Einsatz gefordert und schwere Schäden bei den Inhaftierten und ihren Familien hinterlassen. Um unparteiisch behandelt zu werden, müssten sie all das über sich ergehen lassen, „nur weil sie Mapuche sind“.

Im Interview mit Radio Universidad de Chile berichten die Inhaftierten über gesundheitliche Probleme während des Hungerstreiks und äußern Kritik an der Regierung. Pablo Trangol betont darin die unzureichende medizinische Behandlung und geht davon aus, dass Informationen über den schlechten Zustand der Häftlinge nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollten: „Nachdem ich gewogen wurde, sagten sie öffentlich, ich hätte 16 Kilo abgenommen, obwohl es in Wirklichkeit 20 waren.“

Die Hintergründe der Anklage im „Caso Iglesias“ weisen Ungereimtheiten auf.

Die Hintergründe der Anklage im „Caso Iglesias“ weisen Ungereimtheiten auf. Die Inhaftierten sollen im Juni vergangenen Jahres eine evangelische Kirche in Padre Las Casas nahe der südchilenischen Stadt Temuco angezündet haben. Sprecher Tralcal glaubt jedoch an ihre Unschuld: „Sie wurden 100 Kilometer vom Tatort entfernt festgenommen. Ein Polizist nahm sie nach einer allgemeinen Verkehrskontrolle mit auf die Polizeiwache. Und es gibt Ungereimtheiten bei den Zeugenaussagen. Diesen zufolge hätten die Täter Spanisch gesprochen, dabei ist die Muttersprache der vier Angeklagten Mapudungun. Außerdem sagen die Zeugen, die Täter hätten Waffen bei sich getragen, aber im Auto wurden keine Waffen gefunden. Weil die Zeugen anonym sind, ändern sie ständig die Version.“

Gerade aktuell, etwa einen Monat vor den Präsidentschaftswahlen, ist der Umgang mit den Mapuche ein Thema von höchster Brisanz und spaltet die politischen Lager. Der ehemalige Präsident und Mitte-rechts-Kandidat Piñera hält das Einlenken der Regierung für ein Zeichen der Schwäche und warnt vor der Verharmlosung des „Terrorismus“. Noch extremer äußerte sich der rechts-unabhängige Kandidat Kast, der in einer TV-Debatte die Mapuche als „Nomadenvolk“ und damit ohne Anspruch auf Land betitelte. Aus den Reihen des Regierungsbündnisses Nueva Mayoría sprechen sich kritische Stimmen indessen gegen den ungerechten Umgang mit den Mapuche und das Anti-Terror-Gesetz aus. Entwicklungsminister Barraza hatte die Präsidentin bereits mehrfach aufgerufen, die Inhaftierten nicht wie Verurteilte zu behandeln. Der derzeit entstehende, rassistische und diskriminierende Diskurs gegen die Mapuche bereite ihm Sorgen. Gegensätzlich zu rechten politischen Kräften erklärte er, im Süden Chiles gebe es zwar durchaus politisch motivierte Gewalttaten und Demonstrationen, aber keinen Terrorismus.

Trotz Kritik aus den eigenen Reihen, startete die Regierung an Tag 109 des Hungerstreiks eine Großrazzia gegen weitere Mapuche-Aktivist*innen. Scheinbar inspiriert von den Naturkatastrophen, die in den vergangenen Wochen in vielen lateinamerikanischen Ländern eine Spur der Verwüstung hinterlassen haben, stürmte die Polizei im Rahmen einer sogenannten „Operation Hurrikan“ mit gepanzerten Fahrzeugen und Maschinengewehren zeitgleich verschiedene indigene Gemeinden, durchsuchte Wohnhäuser und nahm acht Personen fest.
Die Festgenommen sind Aktivist*innen der Mapuche-Organisationen Coordinadora Arauco Malleko (CAM) und Weichan Aukan Mapu sowie Mitglieder der Autonomen Gemeinde Temucuicui, die sich für die Wiederaneignung von Land und Autonomie im Mapuche-Gebiet einsetzen. Ihnen werden die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Brandanschläge auf Lastwagen vorgeworfen. Als einzigen Beweis präsentierte die Staatsanwaltschaft Telefongespräche und Whatsapp-Unterhaltungen, in denen die Beschuldigten angeblich über Attentate, Geld und Waffen sprachen.

Entwicklungsminister Barraza meint, insbesondere die Verhaftung des CAM-Sprechers Héctor Llaitul hätte ohne die mediale „Effekthascherei“ stattfinden können, die seiner Meinung nach Radikalisierung begünstige. Auch Präsidentschaftskandidat Alejandro Guillier von der aktuell regierenden Nueva Mayoría erachtet die unterschiedliche Behandlung gleicher Delikte durch das Anti-Terror-Gesetz als absurd. Er verstehe nicht, „wieso das Anzünden eines Lastwagens in Santiago ein gewöhnliches Verbrechen, in Araukanien aber Terrorismus“ sei.
Seit einigen Jahren erregt die Anwendung des Anti-Terror-Gesetzes gegen Mapuche auch international Aufsehen. 2013 kam eine unabhängige Untersuchung der Vereinten Nationen zu dem Ergebnis, dass das Gesetz „willkürlich und unklar“ eingesetzt werde. Aktuell appellierten erneut UN-Vertreter*innen sowie die Internationale Liga für Menschenrechte an die chilenische Regierung, das Gesetz nicht gegen weitere Mapuche einzusetzen. Auch Ana Llao, ehemalige Beraterin für Angelegenheiten der Mapuche bei der Indigenenbehörde CONADI, tadelt: „Für die Mapuche-Bevölkerung hat sich die Verfolgung und die Angst aus Zeiten der Diktatur in keinster Weise verändert“.

Viele Aktivist*innen glauben nicht an unabhängige Ermittlungen.

Viele Aktivist*innen glauben nicht an unabhängige Ermittlungen. Pamela Pezoa, Ehefrau des inhaftierten CAM-Sprechers, befürchtet, dass durch die Verhaftung die Ausreise ihres Mannes zu einem Kongress der Vereinten Nationen unterbunden werden solle. Für die Beschuldigten handelt es sich bei der „Operation Hurrikan“ um eine Montage, mit der die Mapuche-Bewegung und ihre Forderungen delegitimiert werden sollen, und um politische Rache an den Anführer*innen der Mapuche-Bewegung für die vielfältigen Aktionen und Proteste in den vergangenen Monaten. Mit Märschen und zahlreichen Besetzungen politischer Institutionen in Santiago und im Süden des Landes zeigten nicht nur Mapuche in den letzten Wochen Solidarität mit den Gefangenen und erhöhten den Druck auf die Regierung.

Neben der Debatte um kostenlose Bildung, um das Rentensystem und eine neue Verfassung ist der Umgang mit den Mapuche zentrales Wahlkampfthema. Die Wahl am 19. November wird den politischen Kurs der nächsten Jahre in dieser Angelegenheit maßgeblich beeinflussen. Nach der Enthüllung der Wahlkampffinanzierung Piñeras durch den Chemiekonzern SQM war nochmal Spannung in den Wahlkampf gekommen. Seine stärksten Konkurrent*innen Guillier und Sánchez hatten in Umfragen zugelegt. Zeitweise lag die Kandidatin des erst im vergangenen Jahr gegründeten Linksbündnisses Frente Amplio sogar auf Platz zwei nach Piñera. Sánchez kündigte an, das Anti-Terror-Gesetz im Falle ihrer Wahl nicht anzuwenden. Aktuelle Umfragen sehen sie jedoch weit abgeschlagen hinter Guillier und Favorit Piñera, der mit 45 Prozent der Stimmen momentan die besten Chancen auf das Amt hat.

Das radikal- und basisdemokratische Bündnis Frente Amplio hat seine Wurzeln in den Studierendenbewegungen und neuen politischen und sozialen Strömungen der letzten Jahre. Es tritt nicht nur als Kraft gegen rechts an, sondern gegen das seit der Diktatur bestehende neoliberale System insgesamt, das vom gesamten politischen Establishment unterstützt wird. Für die chilenische Bevölkerung und die Mapuche wäre eine innovative Politik mit echten politischen Alternativen, die sich von der Vergangenheit distanziert, ein lang benötigter Umbruch.


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“DER PRÄSIDENT STREBT DIE TOTALE KONTROLLE AN”

Der amtierende Präsident Juan Orlando Hernández gilt trotz zahlreicher Skandale mit seiner Nationalen Partei als Favorit bei den bevorstehenden Wahlen im November. Wie kommt das?
Zunächst ist die Möglichkeit zur Wiederwahl des Präsidenten komplett illegal. Es ist eine Paradoxie, denn Manuel Zelaya wurde 2009 ja abgesetzt, weil er den Artikel der Verfassung ändern wollte, der die Wiederwahl verbietet. Obwohl Juan Orlando Hernández als Kandidat zugelassen ist, ist er sehr unbeliebt. Aber er hat den gesamten Staatsapparat für seine Kampagne zur Verfügung, und nutzt Hilfsprogramme für sich aus. Wer zum Beispiel mit einem emissionsarmen Herd unterstützt werden will, muss die persönlichen Daten von zehn Personen liefern, die für die Nationale Partei stimmen wollen.

Im Jahr 2015 erschütterte ein massiver Korruptionsskandal die honduranische Regierung. Warum hat sie diesen weitgehend unbeschadet überstanden?
Weil sie den Justizsektor kontrolliert. Die Staatsanwaltschaft, die der Nationalen Partei zu Diensten ist, wird gegen kein Parteimitglied ermitteln oder es anklagen. Das führt zu hoher Straflosigkeit, sowohl in Bezug auf die Korruption als auch auf Menschenrechtsverletzungen. Die Staatsanwälte verfolgen nur die Delikte, die sie verfolgen wollen.

Im Zuge des Korruptionsskandals und der darauf folgenden Massenproteste wurde die Mission zur Unterstützung der Korruptionsbekämpfung (MACCIH) eingesetzt. Kann diese bereits Erfolge vorweisen?
Prinzipiell ist die MACCIH dadurch eingeschränkt, dass sie von der Organisation Amerikanischer Staaten abhängt. Die Mission hat nicht die Aufgabe, selbst zu ermitteln. Sie begleitet und berät nur die honduranischen Staatsanwälte. Ihr Mandat bezieht sich auf Korruptionsfälle, nicht auf Menschenrechtsverletzungen. Wir unterstützen sie als Zivilgesellschaft. Aber bis heute haben wir keine besonderen Resultate gesehen.

Derzeit befindet sich ein neues Strafgesetzbuch im Abstimmungsprozess. Sind bereits Teile in Kraft getreten?
Leider wurde bereits der Teil verabschiedet, der die Abtreibung erneut komplett unter Strafe stellt. Die feministischen und Frauenorganisationen hatten die Straffreiheit in drei Fällen gefordert: nach einer Vergewaltigung, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist und wenn der Fötus nach der Geburt nicht lebensfähig ist. Es waren Minimalforderungen, aber auch diese sind am Einfluss der Kirchen gescheitert.

Inwiefern könnte das Gesetzesprojekt auch der Kriminalisierung sozialer Bewegungen dienen, wie von Seiten der Zivilgesellschaft kritisiert wird?
Es ist ein antidemokratisches Strafgesetzbuch, das soziale Proteste, wie zum Beispiel die Meinungsfreiheit, unter Strafe stellt. Es gibt Rückschritte bei Delikten wie Diffamierung, Verleumdung und Beleidigung. Wenn eines dieser Delikte gegen einen staatlichen Funktionär begangen wird, dann wird dies von Amts wegen verfolgt. Statt dass sich Funktionäre der öffentlichen Kritik stellen, wird versucht, diese Kritik mundtot zu machen. Außerdem soll die „widerrechtliche Aneignung“ erneut hart bestraft werden, und dieser Straftatbestand wird beispiels-weise gegen Kleinbauern eingesetzt, die für ihre Landrechte kämpfen.

Es wird auch der Begriff des Terrorismus verwendet…
Es gibt ein Delikt, das Anstiftung zum Terrorismus heißt. Strafbar macht sich, wer die Bevölkerung mit irgendeiner Art von Aktion in Angst versetzt. Das kann beispielsweise perfekt auf einige Protestformen der sozialen und oppositionellen Bewegungen angewandt werden. Die Bevölkerung zu ängstigen, ist eine ausgesprochen subjektive Formulierung. Daher ist dieser Straftatbestand ziemlich besorgniserregend.
Wir bedauern besonders, dass dieses Strafgesetzbuch von der spanischen Entwicklungszusammenarbeit unterstützt wurde. In der Vergangenheit hat sie Gesetzesänderungen in Honduras begünstigt, die nicht schlecht waren, wie etwa die Strafprozessordnung aus dem Jahr 2000. Aber im jetzigen Fall hätten die Spanier zuhören müssen statt den Gesetzesentwurf gegen den Willen der Zivilgesellschaft durchzudrücken.

Ist das Gesetzesprojekt Teil einer autoritären Tendenz der Regierung Juan Orlando Hernández?
Absolut. Es gibt bereits einige Merkmale einer Diktatur, vor allem, wenn es ihm gelingt, wiedergewählt zu werden. Der Präsident steht nicht alleine da, er gehört zu einer starken Gruppe der Oligarchie und wird auch von den USA unterstützt.
Er ist dabei, sein Projekt der totalen Kontrolle umzusetzen. Es beginnt mit dem Nationalen Rat für Sicherheit und Verteidigung, der durch die Präsidenten der drei Staatsgewalten gebildet wird, alle wichtigen Entscheidungen trifft und vom Staatspräsidenten geleitet wird. Damit einher geht die Schaffung der Militärpolizei für die Öffentliche Ordnung, die so etwas wie der bewaffnete Arm des Präsidenten ist. Die Gesellschaft wird immer weiter militarisiert und die Militärpolizei als Lösung für alle Probleme angepriesen. Bei Problemen in Krankenhäusern, in Schulen oder in der Universität wird das Militär geschickt.
Die Kontrolle setzt sich im Justizapparat fort. Der Generalstaatsanwalt wurde vom Präsidenten ernannt, ebenso der Oberste Gerichtshof. Dessen Präsident wurde als Vorsitzender der honduranischen Delegation zum Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen nach Genf geschickt, um die honduranischen Fortschritte in Bezug auf die Menschenrechte zu verteidigen. Das ist vollkommen unangemessen, da er als Richter unparteiisch bleiben sollte und im gegebenen Moment über Menschenrechtsverletzungen durch die Exekutive urteilen muss.

Welche Chancen hat das Bündnis der Oppositionsparteien bei den bevorstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen?
Dass sich die Oppositionspartei LIBRE (Partei Freiheit und Neugründung) und die Antikorruptionspartei PAC zu einem Bündnis zusammengeschlossen haben, stimmt mich optimistisch, dass dieser Mann mit seinen Verbindungen zur Oligarchie entmachtet werden kann. Dieser Teil der Oligarchie arbeitet mit transnationalen Unternehmen zusammen, die das Land ausplündern. Wenn er gewinnt, gibt es daher nur noch mehr Plünderung der Natur, mehr Angriffe auf und Morde an Umweltschützern, Menschenrechtsverteidigern und Oppositionellen. Aber ich glaube, die Opposition wird mindestens ihre Sitze im Parlament halten können, so dass die Parteien der Oligarchie keine Zweidrittelmehrheit erreichen und damit das Parlament nicht komplett kontrollieren können.


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KIRCHNER-LISTE SAGT MACRI DEN KAMPF AN

Sie ist auf der politischen Bühne zurück: die ehemalige Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner (CFK). Lange Zeit war nicht klar, ob sie sich für das Amt der Senatorin bei den landesweiten Zwischenwahlen im Oktober aufstellen lassen würde. Sie hat sich entschieden. Anzeichen gab es: Vor mehr als einem halben Jahr hatte sie bereits zur Gründung einer neuen Wahlallianz, der Unidad Ciudadana (“Bürgerliche Einheit”), aufgerufen, um die neoliberale Agenda und die massiven Sparmaßnahmen der Regierung Macri auszubremsen. Dennoch hielt sie sich bis zum letztmöglichen Präsentationstermin der Wahllisten, dem 24. Juni, bedeckt und traf in Sitzungen mit anderen Kandidat*innen zusammen, unter ihnen der ehemalige Verkehrsminister Florencio Randazzo. Randazzo hatte als Präsidentschaftskandidat der Frente para la Victoria (“Front für den Sieg”) vor den Wahlen 2015 gegenüber dem Ex-Gouverneur von Buenos Aires Daniel Scioli den Kürzeren gezogen.

Statt Fernández de Kirchner oder Randazzo heißt es nun, Kirchner gegen Randazzo. CFK steht an der Spitze der Liste von Unidad Ciudadana, einer Vereinigung linksperonistischer und nicht peronistischer, sozialdemokratisch-orientierter Gruppen für die Teilwahl zum Senat. Florencio Randazzo hingegen präsentierte sich mit dem eigenen Wahlbündnis Frente Justicialista, einem Zusammenschluss des konservativen Flügels peronistischer Parteien und Gruppierungen.

In der Provinz von Buenos Aires, wo sie gegeneinander antraten, waren es insgesamt elf solcher Bündnisse, die sich zu den sogenannten PASO (Primarias Abiertas Simultáneas y Obligatorias) präsentierten. Die PASO wurden eigens von der Ex-Präsidentin Fernández de Kirchner ins Leben gerufen, angeblich, um die Auswahl der Kandidat*innen innerhalb der Wahlbündnisse transparenter und demokratischer zu gestalten. Dabei, so die Idee, sollte jedes Bündnis mehrere Listen mit unterschiedlichen Kandidat*innen aufstellen, um dann in Vorwahlen, die ebenso wie die Hauptwahlen für alle Argentinier*innen Pflicht sind, gegeneinander anzutreten. Die siegreich aus den PASO hervorgehenden Listen der jeweiligen Wahlbündnisse präsentieren sich dann in den Hauptwahlen. All jene Zusammenschlüsse, die weniger als 1,5 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen können, fallen aus den Wahlen heraus. Interessanterweise ist CFK selbst keine Freundin ihrer eigenen Erfindung. Allerdings hat nicht nur sie es bevorzugt, für die PASO am 13. August lediglich eine Liste für ihre Allianz vorzuschlagen, weshalb diese sogenannten Vorwahlen inzwischen vielmehr eine groß angelegte Volksbefragung zwei Monate vor den eigentlichen Wahlen darstellen.

Für das Regierungsbündnis Cambiemos ging der bis zu seiner Aufstellung als Bildungsminister dienende Esteban Bullrich als Senator für die Provinz Buenos Aires ins Rennen. Bullrich brachte sich mit dubiosen Aussagen in Misskredit: “Unsere Regierung zeigt ihren Einsatz, in dem sie jeden Tag einen weiteren Meter Straße asphaltiert, ein weiteres Schulzimmer eröffnet und einen weiteren Jungen hinter Gitter bringt.” Laut seiner späteren Erklärungen bezog er sich damit auf Drogendealer*innen und Kriminelle. Dennoch kommen Zweifel auf, denn ein zentraler Vorschlag der Regierung zur Bekämpfung der “Unsicherheit”, ist die Senkung des Alters der Strafmündigkeit auf 14 Jahre. Bereits zuvor war Bullrich in der Öffentlichkeit nur unter Begleitung der beliebten Provinzgouverneurin María Eugenia Vidal aufgetreten, die den eigentlichen Wahlkampf für Cambiemos in Buenos Aires führte, obgleich sie nicht zur Wahl stand. Nach diesem ehrlichen Ausrutscher, der nur einer von vielen war, verschwand Bullrich praktisch völlig von der Bildfläche.


Viele hatten nach Bullrichs Ausrutschern mit einem erdrutschartigen Sieg von CFK gerechnet, doch ihre Erwartungen wurden enttäuscht.

Viele hatten nach Bullrichs Ausrutschern mit einem erdrutschartigen Sieg von CFK gerechnet, doch ihre Erwartungen wurden enttäuscht. Als am 13. August gegen 21 Uhr die ersten Resultate verkündet wurden, lag Bullrich sogar vor Fernández de Kirchner, und das sollte sich auch im Laufe des Abends nicht ändern. Während Cambiemos, das in zehn von 23 Provinzen (einschließlich der Hauptstadt) gewonnen hatte, feierte, betrat die Spitzenkandidatin von Unidad Ciudadana erst kurz vor vier Uhr morgens die Bühne, als sich dann doch ein, wenn auch sehr knapper, Sieg ihrerseits abzeichnete. Während ihrer Rede klagte CFK über die Manipulation bei der Auszählung, da ein Teil der so wichtigen Stimmen aus dem Großraum Buenos Aires zurückgehalten werden würden, was den Eindruck vermittele, sie hätte verloren. Tatsächlich sollte es noch mehr als eine Woche dauern, bis die endgültigen Ergebnisse der Wahlen bekanntgegeben wurden.

Am Ende setzte sich CFK mit 34,27 Prozent der Stimmen gegen Esteban Bullrich durch, der es auf 34,06 Prozent brachte. Auf nationaler Ebene konnte sich Cambiemos jedoch sowohl bei den Parlamentsabgeordneten als auch den Senator*innen gegenüber Unidad Ciudadana behaupten. Florencio Randazzo schaffte es mit der Frente Justicialista auf etwas über fünf Prozent, weshalb inzwischen eine Wanderbewegung seiner Alliierten zum Bündnis von Fernández de Kirchner stattfindet. Ebenso ein Verlierer der Wahl ist der Zusammenschluss 1País (“1Land”), der sich hinter Sergio Massa, konservativer Peronist und ebenfalls Präsidentschaftskandidat 2015, versammelte. Auf Grund massiver Stimmenverluste konnte er sich nicht, wie noch vor zwei Jahren, als starke dritte Kraft etablieren. Ein Großteil der linken Wahlbündnisse, die sich allerdings vor allem in der Hauptstadt präsentierten, schaffte es nicht über die 1,5-Prozent-Hürde. Allein die Frente de Izquierda (“Linksfront”) kam auf ein nennenswertes Ergebnis; in einigen Provinzen konnte sie sogar mehr als zehn Prozent der Wähler*innen für sich überzeugen.

Die Regierung von Mauricio Macri sieht sich durch das Ergebnis der Vorwahlen in ihrem Kurs bestätigt und hat bereits weitere Sparmaßnahmen sowie Preisanstiege bei Strom, Gas und im öffentlichen Transport angekündigt. Auch die bislang hinausgezögerten Arbeitsmarkt- und Rentenreformen sollen nun kommen. Und damit die Argentinier*innen nicht auf falsche Gedanken kommen, ist die Fußballfernseh-übertragung, die CFK in den öffentlich-rechtlichen Kanal geholt hatte, noch bis nach den Wahlen kostenlos, danach wird sie wieder an private Bezahlkanäle abgegeben. Fernández de Kirchner zeigt sich währenddessen trotz des nur sehr geringen Vorsprungs in der Provinz kämpferisch: “Wir sind die Handvoll Leute, die der Politik der Regierung Einhalt gebieten werden.” Dabei scheint sie jedoch zu vergessen, dass ein Großteil der neoliberalen Maßnahmen und Gesetzesänderungen Macris durch Stimmen aus den Reihen ihrer Partei mitgetragen wurden.


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ABSTIEG EINES KOMIKERS

Foto: Codeca

Vor zwei Jahren hatte Guatemala genug von der Korruption und seiner politischen Klasse. Monate zuvor war Ex-Präsident Otto Pérez Molina quasi aus dem Amt ins Gefängnis befördert worden, das gleiche Schicksal hatte schon zuvor Vizepräsidentin Roxana Baldetti ereilt. Ein „unbelasteter“ Politikertyp sollte her, dazu ein Mensch, der „populär“ genug ist, um Wahlen gewinnen zu können. Ausgerechnet der reaktionärste Teil des politischen Spektrums ritt am erfolgreichsten auf dieser Anti-Establishment-Welle. Die von Ex-Militärs gegründete und von Radikal-Evangelikalen gestützte Front der Nationalen Konvergenz (FCN) hatte bei den Wahlen vier Jahre zuvor kein einziges Mandat gewinnen können. 2015 aber zog ihr Kandidat, der zotige Fernsehkomiker Jimmy Morales, mit Heilsversprechen an allen anderen vorbei.

In der Stichwahl entfielen mehr als zwei Drittel der abgegebenen und gültigen Stimmen auf den damals 46-Jährigen – das zweitbeste Wahlergebnis seit der Wiederherstellung der Demokratie 1985. Doch schon damals prophezeiten viele, dass es dem politisch völlig unerfahrenen Morales, dem dazu Selbstverliebtheit und machistische Züge zugeschrieben wurden, kaum gelingen würde, ausgerechnet mit seiner Machtbasis verbrecherisch gestriger Generäle aus Zeiten von Diktatur und Völkermord ein „neues Guatemala“ zu erschaffen, frei von Korruption, in dem es jeder und jedem bessergehen würde.

Es fing schon nicht gut an. Morales’ designierter Regierungsminister, Ex-Militär César Cabrera, musste eine Woche vor der Vereidigung des Präsidenten das Handtuch werfen, angeklagt wegen Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur in den 1980er Jahren. Schon kurz nach Amtsantritt gab Kommunikationsministerin Sherry Ordóñez ihr Amt wegen Interessenskonflikten auf. Mittlerweile hat Guatemalas Oberster Rechnungshof Anzeigen gegen sieben der 14 Minister*innen wegen verschiedener strafrechtlich relevanter Vorgänge der Staatsanwaltschaft übergeben. Gegen Morales’ ehemaligen Sicherheitschef, den heutigen Kongressabgeordneten und Ex-Militär Armando Melgar Padilla, laufen Ermittlungen wegen seines unerklärlich großen Vermögens. Der Kongressabgeordnete, FCN-Gründer und Freund von Morales, Edgar Ovalle, ist seit März auf der Flucht, ebenfalls angeklagt wegen Beteiligung an Massakern während des bewaffneten Konflikts in den 1980er Jahren. Eineinhalb Jahre nach Beginn seiner Präsidentschaft sitzt Morales’ innerer Zirkel in Haft, ist auf der Flucht oder muss sich strafrechtliche Ermittlungen gefallen lassen.

Besonders dürften den Präsidenten aber die strafrechtlichen Ermittlungen gegen seinen Bruder Sammy treffen, ehemals sein engster Vertrauter und Berater, sowie jene gegen den eigenen Sohn, José Manuel. Seit September 2016 wird gegen beide in einem Fall von Betrug und Geldwäsche aus dem Jahr 2013 ermittelt. In drei Monaten könnte der Prozess beginnen, der gerade für den Bruder des Präsidenten böse enden könnte: Wird er der Geldwäsche schuldig gesprochen, könnten ihm zwischen sechs und zwanzig Jahre Haft blühen.

Doch all das ist nichts im Vergleich zu der kollektiven Abscheu, die Morales seit dem Verbrennungstod von 41 Mädchen in einem staatlichen Heim entgegenschlägt.

Doch all das ist nichts im Vergleich zu der kollektiven Abscheu, die Morales und seiner Regierung seit dem Verbrennungstod von 41 Mädchen in einem staatlichen Heim und den folgenden Ermittlungen entgegenschlägt. In einem Saal des Heims war am 8. März ein Feuer ausgebrochen, bei dem 41 Mädchen starben und 15 verletzt wurden. Schnell ergaben die Ermittlungen, dass die Mädchen tags zuvor aus dem Heim ausgebrochen waren, nachdem sie monatelang Misshandlungen, sexuellen Missbrauch, ungeheuerliche hygienische Bedingungen und verdorbenes Essen erduldet hatten (siehe LN 514). Erste Anzeigen hatte es bereits im Jahr 2013 gegeben, also vier Jahre zuvor. Sicherheitskräfte hatten die 56 Jugendlichen zunächst eingefangen und dann stundenlang in einem Saal eingeschlossen. Als die Sicherheitskräfte sich auch nach Stunden weigerten, den Mädchen den Gang zur Toilette zu ermöglichen, zündeten diese eine Matratze an, um dadurch die Öffnung der Tür zu erzwingen. Die zuständigen Polizist*innen, so die Anklage, hätten aber die Tür nicht geöffnet und die Mädchen somit bewusst verbrennen lassen.

Der Fall Hogar Seguro („Sicheres Heim“) hatte noch im selben Monat zur Verhaftung des Direktors der präsidentiellen Wohlfahrtskommission, Carlos Antonio Rodas Mejía, und der dort für Kinderschutz zuständigen Vizedirektorin, Anahí Keller Zabala, geführt. Beide hatte Morales persönlich ernannt. Seit Mitte Juni sitzen zudem die Ombudsfrau für Kinderrechte, Gloria Patricia Castro Gutiérrez, der für Kinder und Jugendliche zuständige Oberstaatsanwalt Harold Augusto Flores Valenzuela und die Staatsanwältin für Fälle von Misshandlungen, Brenda Julissa Chamam Pacay, in Untersuchungshaft.

Auch Präsident Morales ging es nach dem Vorfall an den Kragen. Nicht nur wegen des Entsetzens, das dieses Verbrechen in weiten Teilen der Bevölkerung hervorrief, und weil der Ruf der staatlichen Institutionen Guatemalas ein weiteres Mal schwer beschädigt worden ist. Sondern auch, weil die Opposition im guatemaltekischen Kongress nach Enthüllungen einer direkten Einflussnahme des Präsidenten auf den Umgang mit der Affäre durch die Polizei die Aufhebung der Immunität des Präsidenten betrieb. Das Vorhaben scheiterte allerdings am 22. Juni vor dem Obersten Gerichtshof. Morales dürfte aufgeatmet haben.

Dabei sei nicht alles so schlecht, sagen zumindest einige politische Analyst*innen.

Dabei sei nicht alles so schlecht, sagen zumindest einige politische Analyst*innen. Die personellen Änderungen im Finanzministerium, in der in Verruf geratenen Steuerbehörde und im Regierungs- und Gesundheitsministerium galten zumindest zum Zeitpunkt der Ernennungen als recht kluge Personalentscheidungen. Die Verlängerung des Mandats der Internationalen Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) bis 2019 wurde gelobt. Aber anstatt die Erfolge dieser Minister*innen herauszustellen, fährt ihnen Morales allzu oft in die Parade: Dem Finanzminister wurde schon der Vorschlag einer Steuerreform untersagt, ohne die aber die versprochene Ausweitung von Bildungs- und Gesundheitsprogrammen nicht finanzierbar ist. Die Gesundheitsministerin ist mehrfach von Morales und der eigenen Partei vorgeführt worden. Dem Regierungsminister regiert Morales in interne Ministeriumsangelegenheiten hinein. Und den Chef der Steuerbehörde kritisierte Morales öffentlich wegen dessen Ermittlungen gegen Steuerhinterzieher*innen. So demontiert Morales seit 18 Monaten munter sein eigenes Bild eines angeblichen Saubermanns und versierten Staatslenkers.

An Morales sind all die Affären und Skandale nicht spurlos vorübergegangen. Der ehemalige Komiker ist dünnhäutig geworden. In einem Fernsehinterview mit dem Journalisten Jorge Ramos vom spanischsprachigen US-Fernsehsender Univision warf Morales der guatemaltekischen Justiz indirekt die Verletzung der verfassungsgemäßen und demokratischen Ordnung vor und relativierte die Geldwäschevorwürfe gegen seinen Bruder als Teil einer in Guatemala und ganz Lateinamerika verbreiteten und als normal empfundenen Korruption. Wenn dem so ist, dann ist beim selbst ernannten Kämpfer gegen die Korruption und vor kurzem noch strahlenden Wahlsieger jetzt auch ganz offiziell die Luft raus.

Die Frage ist: Welche Konsequenzen wird das haben? Rücktrittsforderungen kommen nicht nur aus dem guatemaltekischen Kongress, auch die Massendemonstrationen in Guatemala-Stadt sind wieder zurück. Guatemalas Kleinbauern- und Indigenen-Organisation Codeca hat Mitte Juli bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr zum Generalstreik aufgerufen und landesweit Straßen blockiert. Auch die nationale Presse geht mit Morales und seinen Leuten durchaus hart ins Gericht. Aber das muss nicht unbedingt bedeuten, dass Jimmy Morales das gleiche Schicksal blüht wie seinem Vorgänger Otto Pérez Molina.

Denn gegen den Präsidenten selbst wird in keiner der genannten Affären ermittelt. Für Politikwissenschaftlerin Geidy de Mata, Professorin an der staatlichen autonomen Universität San Carlos (USAC) zeigen die Rücktritte und Verhaftungen, dass Präsident*innen ihr Personal nicht nach Befähigung auswählen, sondern über die Auswahl geleistete Gefälligkeiten honorieren würden. Unfähigkeit und Verantwortungslosigkeit würden dabei sowohl die Ernannten wie die Ernennenden charakterisieren. Dies ist in Guatemala aber nicht neu – und wird der Bogen nicht überspannt – auch nicht strafbar.

Guatemaltekische Leitartikel diskutieren zwar seit fast einem Jahr über die Möglichkeit eines nahenden Endes der Präsidentschaft von Jimmy Morales. Helen Mack, angesehene Menschenrechtlerin und Schwester der 1990 ermordeten Anthropologin Myrna Mack, prophezeite schon im Oktober letzten Jahres, dass Morales im Falle der Verhaftung seines Bruders und Sohnes zurücktreten würde. Eingetreten ist davon allerdings bislang nichts. Und nicht nur guatemaltekische Präsidenten halten traditionell so lang wie irgend möglich am Amt fest.


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„DIE REPRESSIVEN MASSNAHMEN WERDEN IMMER EXTREMER“

Ihre Organisation gründete sich 2014 im Zuge der damaligen Protestwelle gegen den Präsidenten Nicolás Maduro. Was hat Sie dazu bewogen, aktiv zu werden?
Vor drei Jahren erlebte Venezuela eine sehr ähnliche Situation wie heute. Im Zuge der damaligen Proteste wurden viele Menschen willkürlich festgenommen. Niemand dokumentierte oder verfolgte diese Fälle. Die meisten Venezolaner können sich die Unterstützung eines Anwalts nicht leisten. So erhielt die Mehrheit der Festgenommenen keinerlei juristische Unterstützung. Ich wollte etwas gegen diese Situation tun und gründete gemeinsam mit vier weiteren Anwälten CODHEZ. Wir wollten den Festgenommenen kostenfreie juristische Unterstützung bieten. Unsere Arbeit konzentriert sich auf Zulia, den bevölkerungsreichsten Bundesstaat Venezuelas, und dessen Hauptstadt Maracaibo.

Was sind die Schwerpunkte Ihrer Arbeit?
Wir haben in den letzten drei Jahren über 100 Personen vertreten, die bei politischen Protesten willkürlich festgenommen wurden. Zudem betreuen wir Fälle extralegaler Hinrichtungen, in die Vertreter des Staates direkt oder indirekt verwickelt sind. Dazu gehören hauptsächlich Fälle, die mit den sog. Operationen zur Befreiung des Volkes (OLP) zusammenhängen.

Worum handelt es sich bei diesen OLP?
Nicolas Maduro rief die OLP als Sicherheitsoperationen ins Leben, um „organisierte Banden und ihre Hintermänner innerhalb der Zivilbevölkerung zu eliminieren“. Aber entgegen der offiziellen Verlautbarungen bestehen diese OLPs hauptsächlich darin, dass Vertreter der Polizei oder der Streitkräfte in marginalisierte Stadtviertel fahren und dort Menschen töten, die angeblich irgendeine Art von Straftat begangen haben. Sie dringen einfach in ihre Häuser ein und töten sie, ohne jegliche Art von Gerichtsverfahren. Von diesen extralegalen Hinrichtungen sind besonders indigene Gruppen betroffen. In der Region La Guajira betreuen wir aktuell 23 Fälle, bei denen Angehörige der indigenen Gruppe Wayú augenscheinlich von Soldaten hingerichtet wurden.

Zielen diese Operationen hauptsächlich auf marginalisierte Bevölkerungsgruppen?
Nein. Hier in Maracaibo gibt es ein berühmtes Gebäudeensemble, die Torres del Saladillo. Der Komplex besteht aus vier Hochhäusern im Zentrum der Stadt, über 2.000 Menschen wohnen dort. Seit 2014 wurden die Torres del Saladillo immer wieder von der Polizei angegriffen, weil das Gebiet ein traditionelles Zentrum der Protestbewegung ist. Die staatliche Repression ist völlig unverhältnismäßig. Seit April haben wir eine Vielzahl absurder Vorfälle dokumentiert. Fast jede Nacht verschießt die Polizei dort Tränengasbomben. Mehrere Wohnungen brannten durch den massiven Beschuss komplett aus. Ende Mai wurde ein 24-Jähriger bei gewalttätigen Auseinandersetzungen durch ein Bleigeschoss getötet. Das Dezernat für fundamentale Rechte der Staatsanwaltschaft ermittelt in dem Fall – das heißt, dass selbst die Staatsanwaltschaft davon ausgeht, dass die Bleikugel von einem Vertreter des Staates abgeschossen wurde. Die Menschen leben dort in konstanter Angst.

In welchem Zusammenhang stehen diese repressiven Maßnahmen mit den willkürlichen Festnahmen?
Um beim Beispiel der Torres del Saladillo zu bleiben: Viele der Hinweise auf beispielsweise oppositionelle Aktivisten gehen von den sogenannten patriotas cooperantes aus. Bei diesen kooperierenden Patrioten handelt es sich um ein Spitzelsystem mit anonymen Informanten, das Nicolás Maduro aufgebaut hat, um „destabilisierende Aktionen“ zu verhindern. Mit diesen „destabilisierenden Aktionen“ meint die Regierung im Grunde alles, was irgendwie mit der Opposition zusammenhängt. Deswegen werden die Personen, die bei den Protesten festgenommen werden, in offiziellen Verlautbarungen auch immer als „Störer“, als „Terroristen“ bezeichnet, die die „gesellschaftliche Ordnung und den Frieden destabilisieren“ möchten. In den Torres del Saladillo kam es wiederholt vor, dass Personen, die als Aktivisten der Opposition bekannt waren, unter völlig absurden Anschuldigungen festgenommen wurden, weil sie von diesen kooperierenden Patrioten verraten wurden.

Was sind das für Anschuldigungen?
Wir als Organisation betreuen einen Fall aus dem letzten Jahr, bei dem elf Personen in einem der Torres del Saladillo im Zusammenhang mit einer Einbruchserie in einem Kaufhaus festgenommen wurden. Neun von diesen elf Personen waren als hochrangige Delegierte oppositioneller Gruppen bekannt – keiner dieser Personen konnte irgendeine Verbindung zu den Einbrüchen nachgewiesen werden.

Was passiert, wenn diese Personen anschließend vor Gericht gestellt werden?
Wir haben in den vergangenen Tagen beobachtet, dass die Staatsanwaltschaft nicht mehr alle Entscheidungen der Regierung mitträgt. Mittlerweile ermitteln die Staatsanwälte auf nationaler Ebene in mehreren Fällen, die politisch sehr riskant sind. Leider mussten wir jedoch auch beobachten, dass die Richter den Forderungen der Staatsanwaltschaft oft nicht entsprechen. Wir haben beispielsweise vor kurzem einen Fall begleitet, bei dem die Staatsanwaltschaft die Freisprechung der Angeklagten forderte. Dennoch verhängte der Richter eine Freiheitsstrafe. Es ist eigentlich juristisch gar nicht möglich, dass die Richter ein höheres Strafmaß verhängen, als die Staatsanwaltschaft fordert. Wir sprechen also davon, dass selbst die Richter sich nicht an die Verfassung halten.

Seit einigen Wochen werden Personen, die bei den Protesten festgenommen werden, vor Militärgerichte gestellt. Wie erklären Sie sich dieses Vorgehen?
Ich denke, dass das eine direkt mit dem anderen zusammenhängt. Die Staatsanwaltschaft macht ihre Arbeit und ermittelt auch in politisch brisanten Fällen – und das gefällt den Behörden und der Regierung nicht. Deswegen entziehen sie die Fälle der Gerichtsbarkeit der normalen Staatsanwaltschaft und klagen die Protestierenden vor Militärgerichten an. Um das zu ermöglichen, müssen sie jedoch auch die Anklagepunkte ändern.

Was bedeutet das?
Normalerweise werden Personen, die im Rahmen von Protesten festgenommen werden, wegen Tatbeständen wie „krimineller Vereinigung“, „öffentlicher Einschüchterung“, „Aufruf zum Hass“ oder wegen Sachbeschädigung angeklagt. Diese Delikte fallen jedoch nicht unter die Militärgerichtsbarkeit. Deswegen werden die Protestierenden jetzt der „Rebellion“ bezichtigt oder ihnen werden „Angriffe auf das Militär“ unterstellt. Diese Tatbestände können Zivilpersonen eigentlich juristisch gar nicht erfüllen, ganz abgesehen davon, dass sie mit den realen Vergehen bei den Protesten nichts zu tun haben.

Können Sie dies an einem Beispiel erläutern?
Ein gutes Beispiel ist der Fall von Villa del Rosario, wo Protestierende am 5. Mai eine Chávez-Statue umstürzten. Außerdem plünderten sie mehrere Gebäude und brannten diese teilweise nieder, darunter unter anderem das Rathaus der Stadt. Es steht außer Frage, dass diese Akte bestraft gehören, denn sie haben mit friedlichem Protest – also unserem verfassungsgegebenem Recht – nichts zu tun. Aber wir reden hierbei von Sachbeschädigung, von Brandstiftung, von Plünderung. Das sind alles Tatbestände aus dem Zivilrecht. Dennoch wurden 16 Personen, die an diesem Tag festgenommen wurden, vor Militärgerichte gestellt. Gegen sie wird jetzt unter anderem wegen „Rebellion“ und „Landesverrat“ ermittelt. Sieben der 16 Angeklagten wurden im Militärgefängnis Santa Ana im Nachbarstaat Táchira inhaftiert, obwohl das Verfahren noch nicht einmal abgeschlossen ist.

Ihre Organisation betreut diese und ähnliche Fälle seit 2014. Wie bewerten Sie die politische Entwicklung der letzten Monate vor diesem Hintergrund?
Wir beobachten einen stetigen Anstieg der Gewalt, die repressiven Maßnahmen werden immer extremer. Staatliche Kräfte nutzen jetzt nicht mehr nur Tränengasbomben, sondern auch illegale Waffen mit scharfer Munition. Damit schießen sie teilweise direkt auf die Protestierenden. Am 8. April dokumentierte eine lokale Zeitung, wie die Regionalpolizei von Maracaibo bei einer Demonstration auf die Menschen schoss. Selbst der Sicherheitschef der Polizei sah sich genötigt, auf diese Fotos zu reagieren und verurteilte den Einsatz der Waffen. Dennoch wurden die betroffenen Polizisten bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen. Und das sind nicht nur Einzelfälle – ständig erreichen uns neue Berichte von Augenzeugen. Das heißt, Teile der staatlichen Kräfte nutzen Waffen mit der eindeutigen Absicht zu töten. So lassen sich auch die unzähligen Todesfälle bei Demonstrationen erklären. Diese Entwicklung hängt aus meiner Sicht auch mit dem von Nicolás Maduro verabschiedeten „Plan Zamora“ zusammen.

Worum handelt es sich bei dem „Plan Zamora“?
Der „Plan Zamora“ ist eine Art Sicherheitsmaßnahme, der jedoch nach wie vor die legale Basis fehlt. Nicolás Maduro ruft mit dieser Operation die Zivilbevölkerung dazu auf, gegen jene Bevölkerungsgruppen vorzugehen, die aus Sicht der Regierung „Chaos verursachen und den Frieden gefährden“. Seit der „Plan Zamora“ verabschiedet wurde, beobachten wir im ganzen Land ein verstärktes Auftreten bewaffneter, gewaltbereiter Zivilisten, deren Aktionen von den Behörden gutgeheißen werden. Dazu zählen neben paramilitärischen Verbänden auch kriminelle Gruppen, die beispielsweise Geschäfte plündern oder Straßensperren errichten und dort Wegzoll verlangen. Ich wurde selbst wiederholt von diesen Banden abkassiert, teilweise in weniger als einhundert Meter Entfernung zur nächsten Polizeipatrouille. Es ist also absolut unwahrscheinlich, dass die Sicherheitskräfte nichts von diesen Aktionen wissen. Das Absurde ist, dass sie gegen die kriminellen Banden im Grunde nichts unternehmen, aber selbst friedliche Protestierende mit absurden Anklagen vor Gericht stellen.

Was müsste also aus Ihrer Sicht geschehen, um die Situation in Venezuela zu verbessern?
Das ist einfach: Alle Beteiligten müssten sich an das halten, was unsere Verfassung vorgibt. Die Regierung müsste endlich die Wahlen durchführen, die bereits 2016 hätten stattfinden müssen. Wenn die Bevölkerung ein Referendum zur Absetzung des Präsidenten durchführen will, muss dieses Referendum ermöglicht werden. Gleichzeitig müssen die Protestierenden ihre Aktionen jedoch auch auf die rechtlich legalen Möglichkeiten, das heißt, den friedlichen Protest ohne Einsatz jeglicher Art von Waffen, beschränken. Die Repression muss beendet werden, die unzähligen politischen Gefangenen müssen frei gelassen werden. Ich finde es außerdem essentiell, dass die Regierung endlich internationale humanitäre Hilfe akzeptiert – zwar kann diese den ökonomischen Notstand im Land nicht beenden, aber zumindest in Ansätzen dabei helfen, die schwere Hungerkrise, die wir gerade erleben, aufzulösen.


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