„DIE REPRESSIVEN MASSNAHMEN WERDEN IMMER EXTREMER“
Interview mit Daniela Guerra von CODHEZ über willkürliche Festnahmen und Menschenrechtsverletzungen in Venezuela
Ihre Organisation gründete sich 2014 im Zuge der damaligen Protestwelle gegen den Präsidenten Nicolás Maduro. Was hat Sie dazu bewogen, aktiv zu werden?
Vor drei Jahren erlebte Venezuela eine sehr ähnliche Situation wie heute. Im Zuge der damaligen Proteste wurden viele Menschen willkürlich festgenommen. Niemand dokumentierte oder verfolgte diese Fälle. Die meisten Venezolaner können sich die Unterstützung eines Anwalts nicht leisten. So erhielt die Mehrheit der Festgenommenen keinerlei juristische Unterstützung. Ich wollte etwas gegen diese Situation tun und gründete gemeinsam mit vier weiteren Anwälten CODHEZ. Wir wollten den Festgenommenen kostenfreie juristische Unterstützung bieten. Unsere Arbeit konzentriert sich auf Zulia, den bevölkerungsreichsten Bundesstaat Venezuelas, und dessen Hauptstadt Maracaibo.
Was sind die Schwerpunkte Ihrer Arbeit?
Wir haben in den letzten drei Jahren über 100 Personen vertreten, die bei politischen Protesten willkürlich festgenommen wurden. Zudem betreuen wir Fälle extralegaler Hinrichtungen, in die Vertreter des Staates direkt oder indirekt verwickelt sind. Dazu gehören hauptsächlich Fälle, die mit den sog. Operationen zur Befreiung des Volkes (OLP) zusammenhängen.
Worum handelt es sich bei diesen OLP?
Nicolas Maduro rief die OLP als Sicherheitsoperationen ins Leben, um „organisierte Banden und ihre Hintermänner innerhalb der Zivilbevölkerung zu eliminieren“. Aber entgegen der offiziellen Verlautbarungen bestehen diese OLPs hauptsächlich darin, dass Vertreter der Polizei oder der Streitkräfte in marginalisierte Stadtviertel fahren und dort Menschen töten, die angeblich irgendeine Art von Straftat begangen haben. Sie dringen einfach in ihre Häuser ein und töten sie, ohne jegliche Art von Gerichtsverfahren. Von diesen extralegalen Hinrichtungen sind besonders indigene Gruppen betroffen. In der Region La Guajira betreuen wir aktuell 23 Fälle, bei denen Angehörige der indigenen Gruppe Wayú augenscheinlich von Soldaten hingerichtet wurden.
Zielen diese Operationen hauptsächlich auf marginalisierte Bevölkerungsgruppen?
Nein. Hier in Maracaibo gibt es ein berühmtes Gebäudeensemble, die Torres del Saladillo. Der Komplex besteht aus vier Hochhäusern im Zentrum der Stadt, über 2.000 Menschen wohnen dort. Seit 2014 wurden die Torres del Saladillo immer wieder von der Polizei angegriffen, weil das Gebiet ein traditionelles Zentrum der Protestbewegung ist. Die staatliche Repression ist völlig unverhältnismäßig. Seit April haben wir eine Vielzahl absurder Vorfälle dokumentiert. Fast jede Nacht verschießt die Polizei dort Tränengasbomben. Mehrere Wohnungen brannten durch den massiven Beschuss komplett aus. Ende Mai wurde ein 24-Jähriger bei gewalttätigen Auseinandersetzungen durch ein Bleigeschoss getötet. Das Dezernat für fundamentale Rechte der Staatsanwaltschaft ermittelt in dem Fall – das heißt, dass selbst die Staatsanwaltschaft davon ausgeht, dass die Bleikugel von einem Vertreter des Staates abgeschossen wurde. Die Menschen leben dort in konstanter Angst.
In welchem Zusammenhang stehen diese repressiven Maßnahmen mit den willkürlichen Festnahmen?
Um beim Beispiel der Torres del Saladillo zu bleiben: Viele der Hinweise auf beispielsweise oppositionelle Aktivisten gehen von den sogenannten patriotas cooperantes aus. Bei diesen kooperierenden Patrioten handelt es sich um ein Spitzelsystem mit anonymen Informanten, das Nicolás Maduro aufgebaut hat, um „destabilisierende Aktionen“ zu verhindern. Mit diesen „destabilisierenden Aktionen“ meint die Regierung im Grunde alles, was irgendwie mit der Opposition zusammenhängt. Deswegen werden die Personen, die bei den Protesten festgenommen werden, in offiziellen Verlautbarungen auch immer als „Störer“, als „Terroristen“ bezeichnet, die die „gesellschaftliche Ordnung und den Frieden destabilisieren“ möchten. In den Torres del Saladillo kam es wiederholt vor, dass Personen, die als Aktivisten der Opposition bekannt waren, unter völlig absurden Anschuldigungen festgenommen wurden, weil sie von diesen kooperierenden Patrioten verraten wurden.
Was sind das für Anschuldigungen?
Wir als Organisation betreuen einen Fall aus dem letzten Jahr, bei dem elf Personen in einem der Torres del Saladillo im Zusammenhang mit einer Einbruchserie in einem Kaufhaus festgenommen wurden. Neun von diesen elf Personen waren als hochrangige Delegierte oppositioneller Gruppen bekannt – keiner dieser Personen konnte irgendeine Verbindung zu den Einbrüchen nachgewiesen werden.
Was passiert, wenn diese Personen anschließend vor Gericht gestellt werden?
Wir haben in den vergangenen Tagen beobachtet, dass die Staatsanwaltschaft nicht mehr alle Entscheidungen der Regierung mitträgt. Mittlerweile ermitteln die Staatsanwälte auf nationaler Ebene in mehreren Fällen, die politisch sehr riskant sind. Leider mussten wir jedoch auch beobachten, dass die Richter den Forderungen der Staatsanwaltschaft oft nicht entsprechen. Wir haben beispielsweise vor kurzem einen Fall begleitet, bei dem die Staatsanwaltschaft die Freisprechung der Angeklagten forderte. Dennoch verhängte der Richter eine Freiheitsstrafe. Es ist eigentlich juristisch gar nicht möglich, dass die Richter ein höheres Strafmaß verhängen, als die Staatsanwaltschaft fordert. Wir sprechen also davon, dass selbst die Richter sich nicht an die Verfassung halten.
Seit einigen Wochen werden Personen, die bei den Protesten festgenommen werden, vor Militärgerichte gestellt. Wie erklären Sie sich dieses Vorgehen?
Ich denke, dass das eine direkt mit dem anderen zusammenhängt. Die Staatsanwaltschaft macht ihre Arbeit und ermittelt auch in politisch brisanten Fällen – und das gefällt den Behörden und der Regierung nicht. Deswegen entziehen sie die Fälle der Gerichtsbarkeit der normalen Staatsanwaltschaft und klagen die Protestierenden vor Militärgerichten an. Um das zu ermöglichen, müssen sie jedoch auch die Anklagepunkte ändern.
Was bedeutet das?
Normalerweise werden Personen, die im Rahmen von Protesten festgenommen werden, wegen Tatbeständen wie „krimineller Vereinigung“, „öffentlicher Einschüchterung“, „Aufruf zum Hass“ oder wegen Sachbeschädigung angeklagt. Diese Delikte fallen jedoch nicht unter die Militärgerichtsbarkeit. Deswegen werden die Protestierenden jetzt der „Rebellion“ bezichtigt oder ihnen werden „Angriffe auf das Militär“ unterstellt. Diese Tatbestände können Zivilpersonen eigentlich juristisch gar nicht erfüllen, ganz abgesehen davon, dass sie mit den realen Vergehen bei den Protesten nichts zu tun haben.
Können Sie dies an einem Beispiel erläutern?
Ein gutes Beispiel ist der Fall von Villa del Rosario, wo Protestierende am 5. Mai eine Chávez-Statue umstürzten. Außerdem plünderten sie mehrere Gebäude und brannten diese teilweise nieder, darunter unter anderem das Rathaus der Stadt. Es steht außer Frage, dass diese Akte bestraft gehören, denn sie haben mit friedlichem Protest – also unserem verfassungsgegebenem Recht – nichts zu tun. Aber wir reden hierbei von Sachbeschädigung, von Brandstiftung, von Plünderung. Das sind alles Tatbestände aus dem Zivilrecht. Dennoch wurden 16 Personen, die an diesem Tag festgenommen wurden, vor Militärgerichte gestellt. Gegen sie wird jetzt unter anderem wegen „Rebellion“ und „Landesverrat“ ermittelt. Sieben der 16 Angeklagten wurden im Militärgefängnis Santa Ana im Nachbarstaat Táchira inhaftiert, obwohl das Verfahren noch nicht einmal abgeschlossen ist.
Ihre Organisation betreut diese und ähnliche Fälle seit 2014. Wie bewerten Sie die politische Entwicklung der letzten Monate vor diesem Hintergrund?
Wir beobachten einen stetigen Anstieg der Gewalt, die repressiven Maßnahmen werden immer extremer. Staatliche Kräfte nutzen jetzt nicht mehr nur Tränengasbomben, sondern auch illegale Waffen mit scharfer Munition. Damit schießen sie teilweise direkt auf die Protestierenden. Am 8. April dokumentierte eine lokale Zeitung, wie die Regionalpolizei von Maracaibo bei einer Demonstration auf die Menschen schoss. Selbst der Sicherheitschef der Polizei sah sich genötigt, auf diese Fotos zu reagieren und verurteilte den Einsatz der Waffen. Dennoch wurden die betroffenen Polizisten bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen. Und das sind nicht nur Einzelfälle – ständig erreichen uns neue Berichte von Augenzeugen. Das heißt, Teile der staatlichen Kräfte nutzen Waffen mit der eindeutigen Absicht zu töten. So lassen sich auch die unzähligen Todesfälle bei Demonstrationen erklären. Diese Entwicklung hängt aus meiner Sicht auch mit dem von Nicolás Maduro verabschiedeten „Plan Zamora“ zusammen.
Worum handelt es sich bei dem „Plan Zamora“?
Der „Plan Zamora“ ist eine Art Sicherheitsmaßnahme, der jedoch nach wie vor die legale Basis fehlt. Nicolás Maduro ruft mit dieser Operation die Zivilbevölkerung dazu auf, gegen jene Bevölkerungsgruppen vorzugehen, die aus Sicht der Regierung „Chaos verursachen und den Frieden gefährden“. Seit der „Plan Zamora“ verabschiedet wurde, beobachten wir im ganzen Land ein verstärktes Auftreten bewaffneter, gewaltbereiter Zivilisten, deren Aktionen von den Behörden gutgeheißen werden. Dazu zählen neben paramilitärischen Verbänden auch kriminelle Gruppen, die beispielsweise Geschäfte plündern oder Straßensperren errichten und dort Wegzoll verlangen. Ich wurde selbst wiederholt von diesen Banden abkassiert, teilweise in weniger als einhundert Meter Entfernung zur nächsten Polizeipatrouille. Es ist also absolut unwahrscheinlich, dass die Sicherheitskräfte nichts von diesen Aktionen wissen. Das Absurde ist, dass sie gegen die kriminellen Banden im Grunde nichts unternehmen, aber selbst friedliche Protestierende mit absurden Anklagen vor Gericht stellen.
Was müsste also aus Ihrer Sicht geschehen, um die Situation in Venezuela zu verbessern?
Das ist einfach: Alle Beteiligten müssten sich an das halten, was unsere Verfassung vorgibt. Die Regierung müsste endlich die Wahlen durchführen, die bereits 2016 hätten stattfinden müssen. Wenn die Bevölkerung ein Referendum zur Absetzung des Präsidenten durchführen will, muss dieses Referendum ermöglicht werden. Gleichzeitig müssen die Protestierenden ihre Aktionen jedoch auch auf die rechtlich legalen Möglichkeiten, das heißt, den friedlichen Protest ohne Einsatz jeglicher Art von Waffen, beschränken. Die Repression muss beendet werden, die unzähligen politischen Gefangenen müssen frei gelassen werden. Ich finde es außerdem essentiell, dass die Regierung endlich internationale humanitäre Hilfe akzeptiert – zwar kann diese den ökonomischen Notstand im Land nicht beenden, aber zumindest in Ansätzen dabei helfen, die schwere Hungerkrise, die wir gerade erleben, aufzulösen.
Daniela Guerra ist Anwältin und Generaldirektorin der Nichtregierungsorganisation Kommission für Menschenrechte im Bundesstaat Zulia (Comisión para los Derechos Humanos en el Estado Zulia, CODHEZ).