Der Löwe ist auf dem Sprung

Inszenierung als Gegner des Establishments Milei hat die Nase voll von den “bürokratischen Faulpelzen” (in Argentinien ñoquis genannt) (Foto: Marcus Christoph)

„Wenn ihr mir 20 Jahre gebt, sind wir Deutschland. Wenn ihr mir 35 Jahre gebt, sind wir die Vereinigten Staaten.” Javier Milei, der sich selbst als Löwe und König einer verlorenen Welt stilisiert, richtete sich mit dieser vollmundigen Ankündigung an die Zuschauer*innen bei der ersten Debatte der Präsidentschaftskandidat*innen. Diese fand am 1. Oktober in Santiago del Estero im Norden Argentiniens statt, am 8. Oktober soll (nach Redaktionsschluss) in Buenos Aires eine weitere folgen. Dass in Argentinien mehr als zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten, also mehr als acht Jahre ohne Unterbrechung, in der Verfassung für eine Präsidentschaft nicht erlaubt sind, dürfte dem 52-jährigen Anarcho-Kapitalisten Milei egal sein. Ähnlich wie der Autokrat Najib Bukele in El Salvador wird der derzeit für die ultrarechte La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran, LLA) im Abgeordnetenhaus sitzende Milei versuchen, sich die Verfassung untertan zu machen, sollte er es in die Casa Rosada schaffen.

Beim ersten Wahlgang am 22. Oktober, bei dem es für die Präsidentschaft mehr als 45 Prozent der Stimmen oder mindestens 40 Prozent der Stimmen plus zehn Prozentpunkte Vorsprung bedarf, wird Milei der Sprung in die Casa Rosada, den Dienstsitz des argentinischen Präsidenten, laut Umfragen nicht gelingen. Ob bei einer Stichwahl am 19. November im zweiten Anlauf, steht in den Sternen. Ein am 1. Oktober von El País vorgelegter Querschnitt aus 18 Umfragen sieht Milei mit 35,3 Prozent vor dem Rechtsperonisten Sergio Massa mit 30 Prozent und der ehemaligen Innenministerin der rechten Regierung Macri, Patricia Bullrich, mit 25,9 Prozent. Weit abgeschlagen und ohne Chance auf die Stichwahl folgen der peronistische Gouverneur Juan Schiaretti aus Cordóba mit 3,4 und die trotzkistische Myriam Bregman mit 2,6 Prozent.

Diese Umfragen wurden allesamt vor dem Korruptionsskandal rund um Martín Insaurralde gemacht, der seit dem 30. September die Schlagzeilen beherrscht. Der bis dato Stabschef der peronistischen Regierung der Provinz Buenos Aires musste zurücktreten, nachdem eine Reihe von Fotos und Videos aufgetaucht war, auf denen er in Begleitung eines Models während eines Luxusurlaubs auf einer Yacht in Marbella zu sehen war. Laut seiner Steuererklärung ist Insaurralde arm wie eine Kirchenmaus. Von diesem Skandal profitiert Milei auf alle Fälle. Ob Massa auch zu Lasten von Bullrich deswegen Stimmen verliert, darüber gehen die Meinungen auseinander.

Dass Milei Deutschland und die USA als Vorbild wirtschaftlicher Stärke nennt, hat einen Anflug von Größenwahnsinn angesichts der aktuellen Lage. Die wirtschaftliche Gegenwart ist düster und steht im Zentrum der politischen Auseinandersetzung im Wahlkampf, zumal mit Sergio Massa der seit Anfang August 2022 amtierende Minister für Wirtschaft, Produktion und Landwirtschaft selbst für das höchste Staatsamt kandidiert. Somit steht er in zentraler Mitverantwortung für die Inflation, die mit zuletzt 124,4 Prozent immer weitere Höhen erklimmt. Dasselbe gilt für die Armutsrate: Mehr als 40 Prozent der Argentinier*innen werden von der Statistikbehörde INDEC inzwischen als arm geführt — damit nähert sich die Zahl der größten Krise dieses Jahrhunderts an, als 2001/2002 mehr als die Hälfte aller Argentinier*innen in die Armut abrutschte. Damals gab es auf der Straße nur noch einen Slogan für die politische Klasse „Que se vayan todos“ (Alle sollen abhauen). An diesen knüpft Milei an, stellt sich als Außenseiter dar, der mit der „Politikerkaste“ samt Korruption und Vetternwirtschaft aufräumen will.

Gegenkandidat Sergio Massa gehört fraglos zum peronistischen Establishment. Der ehemalige Bürgermeister von Tigre war 2015 maßgeblich mitverantwortlich für die Spaltung des peronistischen Lagers, als er selbst neben der offiziellen Kandidatur von Daniel Scioli seinen Hut für die Präsidentschaft in den Ring warf und damit indirekt dem neoliberalen Mauricio Macri zum Sieg verhalf. 2019 gelang es dem amtierenden Präsidenten Alberto Fernández, Sergio Massa wieder mit ins peronistische Boot zu holen, wofür Massa als Gegenleistung den Vorsitz des Abgeordnetenhauses erhielt. Nun soll er im Namen der Peronisten für die Unión por la Patria (Union für das Vaterland, UxP) die Präsidentschaft holen.

Anfang August 2022 rückte Massa als Superminister ins Kabinett auf, mit dem Ziel, der Wirtschaftskrise Herr zu werden. Das hat definitiv nicht geklappt. Die Wirtschaft stagniert, während die Preise steigen und der Wert des Peso immer weiter verfällt. Massa kündigte zuletzt erneut Maßnahmen an, die die Auswirkungen der Inflation abmildern sollen. Beispielsweise wurde ab September die Mindestrente auf umgerechnet rund 230 Euro erhöht und die Bezieherinnen staatlicher Renten und Pensionen erhalten für die drei Monate September, Oktober und November Zuschläge von rund 100 Euro monatlich.

Argentiniens Arme und große Teile der Mittelschicht gehen weiter schweren Zeiten entgegen

Die Spielräume für Massa sind eng, weil über allem die Vereinbarung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) steht. Diese sieht vor, das primäre Haushaltsdefizit – also ohne Einberechnung des Schuldendienstes – 2023 auf 1,9 Prozent zu senken und bis 2024 auszugleichen. Argentinien liegt dabei nicht auf Kurs, bekam aber vom IWF Ende August trotzdem eine neue Tranche von 7,5 Milliarden US-Dollar bewilligt, die in den Schuldendienst fließt und somit die Zahlungsunfähigkeit verhindert. Einerseits zeigte der IWF Verständnis, dass Argentinien die Ziele wegen des massiven Einbruchs bei den Agrarexporten wegen der langanhaltenden Dürre nicht einhalten konnte, andererseits gab es die neue Finanzspritze nur gegen neue Auflagen. Unter anderem müssen die Energietarife weiter angehoben werden und der Erhöhung von Pensionen und Gehältern wurden enge Grenzen gesetzt, die im letzten Maßnahmenpaket mit den dürftigen Erhöhungen sichtbar wurden. Immerhin wurden die Ausgaben von Sozialprogrammen dieses Mal nicht direkt vom IWF-Rotstift getroffen.

Massa ging in der Fernsehdebatte auf den IWF ein. Er räumte zwar eigene Fehler ein, lastete die Hauptverantwortung an der argentinischen Misere aber der Vorgängerregierung von Mauricio Macri (2015-2019) an, weil sie das Land unverantwortlich verschuldet habe. 2018 wurden Macri vom IWF auf Empfehlung von Donald Trump dubioserweise 57 Milliarden Dollar zugesagt, um mit besseren Karten in den Wahlkampf 2019 ziehen zu können. Abgewählt wurde er trotzdem und eine interne Untersuchungskommission des IWF kam Ende 2021 zu dem Schluss, dass der Kredit gemessen an den eigenen, üblichen Vergabekriterien eine Fehlentscheidung gewesen sei. Schon nach der Vereinbarung mit dem IWF hatte Massa verkündet: „Wir haben einen großen Schritt gemacht, um die Hypothek, die Mauricio Macri Argentinien hinterlassen hat, abzuarbeiten, aber sie besteht weiterhin. Argentinien wird erst wieder autonom sein, wenn wir uns ihrer entledigt haben.” Bei der Fernsehdebatte kritisierte er, dass der IWF die Wirtschaftspolitik diktiere.

Der selbsterklärte „Marktanarchist“ Javier Milei ist bereits mit dem IWF im Austausch über seine radikalen Liberalisierungs- und Deregulierungsvorhaben. „Wir haben vereinbart, dass die IWF-Analysten uns ihre Arbeitspapiere zur Verfügung stellen werden,“ sagte Milei nach einem ersten virtuellen Treffen. Milei will im Falle seiner Präsidentschaft in den ersten 100 Tagen die Dollarisierung der Wirtschaft in Gang setzen und deshalb die Zentralbank abschaffen, den Wechselkurs freigeben und die Exportsteuern abschaffen. Wie im Chile Pinochets (1973-90) ist Milton Friedman, nach dem auch einer der fünf Hunde Mileis benannt ist, und seine ultraliberale Chicagoer Schule das theoretische Referenzmodell. Grundstein des Plans, den Mileis Wirtschaftsteam ausarbeitet, ist ein Währungsstabilitätsfonds, der die Verbindlichkeiten der staatlichen Banken während der Schocktherapie abdecken soll. Der Fonds soll mindestens 26 Milliarden US-Dollar umfassen und in einem Finanzplatz außerhalb Argentiniens eingerichtet werden, um potenzielle Anlegerinnen mit Rechtssicherheit im Falle eines Zahlungsausfalls zu locken. Als Sicherheiten für die Investmentfonds sind die Schuldverschreibungen der Regierung gegenüber der Zentralbank und der Rentenkassen vorgesehen.

Mileis Wirtschaftspläne sind Zukunftsmusik, von der nicht klar ist, ob sie je gespielt wird. Es ist indes kein Zufall, dass in seinem Wirtschaftsteam sich mit Roque Fernández just der ehemalige Chef der argentinischen Zentralbank (1991-1996) befindet, der in der neoliberalen Ära von Carlos Menem (1989-1999) schon einmal das Ansinnen einer totalen Dollarisierung Argentiniens verfolgte und damals am Widerstand des IWF scheiterte.

Mileis wirtschaftspolitische Ausrichtung ähnelt der ultraliberalen in der Zeit von Menem, der dem rechten Flügel der Peronisten angehörte. Damals wurde zeitweise der Peso fix an den Dollar gebunden und damit zwar die Inflation gebrochen, aber um einen hohen Preis. Die Überbewertung des Pesos zerstörte die Wettbewerbsfähigkeit großer Teile der argentinischen Industrie, Hunderttausende verloren ihre Jobs, die Staatsverschuldung explodierte und mündete zwei Jahre nach dem Abgang von Menem in die tiefe Krise 2001/2002.

Wie auch immer die kommenden Präsidentschaftswahlen in Argentinien ausgehen werden und wer auch immer dann am 10. Dezember 2023 den Staffelstab von Alberto Fernández übernimmt: Argentiniens Arme und große Teile der Mittelschicht werden weiter schweren Zeiten entgegen gehen. Für den Fall, dass wirklich Milei das Ruder übernimmt und seine Vorschläge der sozialen Kürzungen umsetzt, sind eskalierende Armut und soziale Proteste gleichermaßen sicher. Auf alle Fälle sicherer als seine Wahl zum Präsidenten.

„Chan“ Santokhi in Not

Die Proteste in Surinam ebben auf und ab, versiegen tun sie nicht. Am 24. März gingen erneut Hunderte Surinamer*innen in der Hauptstadt Paramaribo auf die Straßen, um den Rücktritt des Präsidenten des karibischen Landes zu fordern, das im Nordosten des südamerikanischen Subkontinents liegt. Anlass dieses Protestes war der Vorwurf an die Regierung von Präsident „Chan“ Santokhi, sie versuche, die 2025 turnusmäßig anstehenden Parlamentswahlen zu verschieben. Sie können erst stattfinden, wenn der Gesetzgeber das Wahlgesetz geändert hat, wie es ein Gerichtsurteil aus dem Jahr 2022 vorschreibt. Das neue Wahlgesetz soll ein gerechteres Wahlsystem schaffen.

Die Regierungskoalition von Santokhi lässt sich dabei allerdings Zeit. Am 21. März setzte die Regierung immerhin einen Ausschuss ein, der zwei Vorschläge zur Änderung des Wahlgesetzes vorlegte. Laut Santokhi sollen sie innerhalb von zwei Monaten den Abgeordneten vorgelegt werden. Das reicht nicht allen. Die Demonstrant*innen fordern, dass das Gesetz innerhalb einer Woche verabschiedet wird. Die Aktivistin Maisha Neus sagte, sie werde weitere Proteste organisieren, falls es zu einer Verzögerung komme: „Wir werden sie dort treffen, wo es weh tut. Wirtschaftlich.”

Weit mehr als die Proteste zum Wahlgesetz machten die Proteste im Februar weltweit Schlagzeilen. Der 17. Februar sorgte in den USA, in Europa und in der ehemaligen Kolonialmacht Niederlande für beträchtliches Aufsehen. Dutzende von Demonstrant*innen drangen in das surinamische Parlament ein, bis sie von Sicherheitskräften zurückgedrängt werden konnten. Zuvor hatten Hunderte von ihnen in der Hauptstadt Paramaribo randaliert. Es kam zu chaotischen Situationen und gewalttätigen Zusammenstößen mit der Polizei. Mindestens 126 Personen wurde festgenommen. Die Regierung von Präsident „Chan“ Santokhi verurteilte die Gewalt und erklärte, sie habe eine Sondereinheit eingerichtet, um die Verantwortlichen für den Angriff auf das Parlament zu finden. „Wir werden energisch gegen die Personen vorgehen, die diese Angriffe angeordnet, ausgeführt und Zerstörungen verursacht haben“, hieß es in einer Erklärung. Laut mehreren Berichten auf Twitter sollen in Surinam kurz nach den Protesten im Februar soziale Netzwerke und Messenger-Dienste wie Facebook und WhatsApp unzugänglich gewesen sein. Der Telekommunikationsanbieter Telesur ist im Besitz der Regierung.

Beamt*innen errichten Barrikaden gegen die Bevölkerung

Am 24. März lief es gesitteter ab, weil die Polizei den Demonstrant*innen zahlenmäßig weit überlegen war. Dieses Mal errichteten die Beamt*innen Barrikaden, um das Präsidialamt und das Parlament vor unerwünschtem Zulauf zu schützen. „Ist das Demokratie, wenn man sein Volk hinter einem Zaun festhält?“, rief ein Demonstrant laut der Nachrichtenagentur AP. Die Proteste kommen nicht von ungefähr. Santokhis Kabinett ist gerade dabei, die vom IWF angeordneten Sparmaßnahmen umzusetzen. Der IWF fordert, die Subventionen für Strom, Wasser und Treibstoff abzubauen, um das Staatsdefizit in den Griff zu bekommen. Den Preis dafür zahlen die Bürger*innen, die ohnehin schon unter einer hohen Inflationsrate von 58 Prozent zu leiden haben. Der Anstieg der Lebenshaltungskosten hat viele in Surinam schwer getroffen – die Ärmsten wie immer am stärksten. Der IWF hatte sich zwar bereit erklärt, Surinam im Dezember 2021 ein Darlehen in Höhe von 690 Millionen Dollar zu gewähren, bisher wurden aber nur 100 Millionen Dollar ausgezahlt. Da die Regierung die auferlegten Ziele nicht erfüllte, wurden die Auszahlungen gestoppt.

Vor seiner Wahl zum Präsidenten vor fast drei Jahren rief „Chan“ Santokhi das Parlament zur Einigkeit der verschiedenen ethnischen Gruppen auf. In Surinam leben Menschen indonesischer, indischer, chinesischer, afrikanischer und europäischer Herkunft. Knapp die Hälfte der gut 600.000 Surinamer*innen wohnt in der Hauptstadt Paramaribo, die restlichen Einwohner*innen leben verstreut an der Küste oder im tiefen Urwald.

„Wir werden sie dort treffen, wo es weh tut.“

Mit seiner Prognose zum Amtsantritt hatte Santokhi im Juli 2020 durchaus Recht: „Wir stehen kurz vor dem finanziellen Abgrund“, sagte der frühere Polizeichef. Diese Krise übertreffe die schlimmsten Erwartungen. Bereits im April 2020 war das Land von einzelnen Ratingagenturen in seiner Kreditwürdigkeit herabgestuft worden. Je niedriger die Stufe, desto teurer wird der Zugang zu frischem Kapital, wenn sich überhaupt noch Kreditgeber*innen finden. Unter dem Druck der Corona-Pandemie wurde Surinam wenige Monate nach Santokhis Amtsantritt zahlungsunfähig. Im November 2020 musste das Land mangels Devisenreserven Zahlungen an seine Anleihegläubiger*innen teilweise einstellen. Seitdem laufen zähe Umschuldungsverhandlungen, die einen Neuanfang ermöglichen sollen. Bisher stellen sich die Gläubiger*innen gegen die Vorschläge Surinams.

Surinam war nach Sambia das zweite Land weltweit, das im Zusammenhang mit der Pandemie seinen Schuldendienst teilweise nicht mehr leisten konnte. Durch die coronabedingte Rezession brach die vom Tourismus und einigen wenigen Exportgütern wie Gold, Öl und Holz abhängige Wirtschaft um knapp 16 Prozent ein. Der Wachstumseinbruch, durch den die Staats- und Exporteinnahmen deutlich sanken, traf zudem auf ein Jahr mit besonders hohen Schuldendienstverpflichtungen: Mehr als 40 Prozent der Staatseinnahmen sollten 2020 in fällige Zins- und Tilgungszahlungen fließen. Entsprechend verschlechterte sich die Tragfähigkeit der Verschuldung: Das Verhältnis zwischen Staatsschulden und Wirtschaftsleistung stieg laut dem Schuldenreport 2022 von bereits hohen 85 Prozent im Jahr 2019 auf 148 Prozent im Jahr 2020. Der Schuldenreport 2023, der am 30. März 2023 veröffentlicht wurde, führt Surinam weiter als zahlungsunfähig und mit einer nur leicht gesunkenen Verschuldungsrate von 125,7 Prozent. Die Schuldensituation war bereits vor der Pandemie kritisch: Der Schuldendienst vervierfachte sich ab 2016.

Als Mitteleinkommensland ist Surinam von Schuldenerlassinitiativen für die ärmsten Länder ausgeschlossen, sowohl auf Ebene der G20-Staaten als auch direkt beim IWF. Wegen der schleppenden Umschuldungsverhandlungen mit seinen Gläubiger*innen beantragte Surinam ein IWF-Hilfsprogramm für die Jahre 2021 bis 2024. Der IWF ist dazu grundsätzlich bereit, aber wie immer nur zu seinen neoliberalen Bedingungen. Andererseits ist Surinam eines der wenigen kritisch verschuldeten Länder, bei denen sich der IWF seit Beginn der Pandemie für eine deutliche Umschuldungsempfehlung ausspricht und sowohl öffentliche als auch private Gläubiger*innen zum Forderungsverzicht aufruft. Denn nur so habe das Land eine Chance, wieder auf die Beine zu kommen. In Sicht ist das so wenig wie ein Ende der Proteste.

VOM MUSTERLAND ZUM IWF-KREDITNEHMER

Spaltpilz? Die “Bewegung Nationale Rettung” nutzt nationalistsiche Symbolik, Foto: Facebook: Movimiento Rescate Nacional

Bis Juni hatte sich die Lage so gut entwickelt, dass viele Beobachter*innen gar von einem Musterland sprachen. Kurz nach der ersten Covid19-Infektion verhängte die Regierung ab Mitte März schrittweise einen Lockdown: Schulen wurden geschlossen, Versammlungen verboten, die Ladenöffnungszeiten stark eingeschränkt und öffentliche Institutionen weitgehend geschlossen. Auch die Grenzen des stark vom Tourismus abhängigen Landes wurden geschlossen. Um die Auswirkungen der Maßnahmen auf die Wirtschaft zu dämpfen, beschloss die Regierung des sozialdemokratischen Präsidenten Alvarado, zahlreiche Konsumsteuern auszusetzen und Bürger*innen Sofortkredite zu gewähren.

Nach dem ersten Todesfall durch Covid-19 Mitte März explodierten die Fallzahlen nicht, sondern stagnierten auf niedrigem Niveau, mit im Schnitt unter 20 neuen bestätigten Fällen täglich. Vor allem die Todesrate konnte sehr niedrig gehalten werden: Nach drei Monaten der Pandemie hatte Costa Rica erst den elften Todesfall zu verzeichnen. Neben den schnellen Maßnahmen der Regierung wurde vor allem die gute öffentliche Gesundheitsversorgung für das Abfedern der Pandemie verantwortlich gemacht. Costa Rica investiert fast zehn Prozent seines Bruttoinlandsproduktes in das Gesundheitssystem, womit es laut OECD weltweit zu den zwölf Staaten mit den höchsten Anteilen der Staatsausgaben für Gesundheit zählt.

Aufgrund der unbedenklichen Lage und um die inzwischen schwächelnde Wirtschaft des Landes wieder anzukurbeln, lockerte die Regierung den Lockdown ab Juni schrittweise. Dies machen viele Beobachter*innen für die seitdem kontinuierlich steigenden Fallzahlen verantwortlich. 360 Intensivbetten für Corona-Infizierte gibt es im Land. Anfang September mahnte Gesundheitsminister Daniel Salas öffentlichkeitswirksam: „Es scheint, als stünden wir kurz vor dem Kollaps. 65 Prozent der Corona-Intensivbetten sind belegt.“ Mit den Fallzahlen und der Überlastung des Gesundheitssystems sind auch die Todeszahlen in die Höhe geschossen. Zum 1. Oktober wurden offiziell 904 verstorbene Coronapatient*innen gemeldet.

Der Gesundheitsexperte Luis Rosero nennt die Situation „paradox“: Costa Rica weise eine der höchsten Infektionsraten und zugleich eine der niedrigsten Sterblichkeitsraten in Lateinamerika auf. Paradox ist auch, dass die Regierung seit September weiter lockert. Unter dem Slogan „Costa Rica arbeitet und passt auf sich auf“ wird eine Strategie der „kontrollierten Öffnung“ verfolgt: Massenveranstaltungen bleiben untersagt und Orte, an denen Menschen gedrungen aufeinandertreffen, geschlossen. Ansonsten kann in nahezu allen Bereichen gewöhnlicher Betrieb unter Wahrung der Hygieneregeln stattfinden.

Vor allem die marginalisierten Bevölkerungsteile sind gefährdet

Im Kampf gegen das Virus setzt die Regierung vor allem auf Aufklärungskampagnen und das Einhalten der grundlegenden Hygieneregeln. Bereits im Juli machten der Leiter der renommierten Sozialkasse CCSS, Román Macaya, und Gesundheitsminister Salas eine zunehmende Nichteinhaltung der Hygieneregeln durch die Bevölkerung hauptverantwortlich für das Infektionsgeschehen. Selbstkritik an den Maßnahmen der „kontrollierten Öffnung“ ist aus Regierungskreisen kaum zu vernehmen. Während Salas und Macaya Feiern und Gruppenaktivitäten im Juli als Hauptinfektionsherde ausmachten, wurden diese mit begrenzter Teilnehmendenzahl nun wieder erlaubt.

Die Hotspots des regionalen Infektionsgeschehens zeigen deutlich, dass vor allem die marginalisierten Bevölkerungsteile gefährdet sind. Mittlerweile weist das Valle Central die mit Abstand höchsten Infektionszahlen im Land auf. In der Hochebene, in der auch die Metropolregion der Hauptstadt San José liegt, wohnen etwa zwei Drittel der Bevölkerung des Landes. Vor allem in den dicht besiedelten Armenvierteln mit schlechter sanitärer Infrastruktur grassiert das Virus.

Anfänglicher Hotspot waren jedoch die nördlichen Agrarregionen an der Grenze zu Nicaragua. Hier erstreckt sich mit einem Großteil der Ananasplantagen ein entscheidender Teil der Landwirtschaft des Landes. Das Virus breitete sich zunächst unter den Landarbeiter*innen aus. Ein großer Teil der Arbeit wird hier von Nicaraguaner*innen geleistet. Laut einer Zählung des nationalen Statistikinstituts INCE lebten im Jahr 2011 fast 300.000 Nicaraguaner*innen in Costa Rica . Viele von ihnen arbeiten im Niedriglohnsektor oder informell als Landarbeiter*innen oder Haushaltskräfte. Dazu kommen noch einmal knapp 100.000 Nicaraguaner*innen, die als Saisonkräfte zwischen den Ländern pendeln. Nationalistische Kräfte beschuldigten sie, das Virus über die angeblich unbewachte Grenze nach Costa Rica getragen zu haben.

Die globale Rezession hat das Land, das sich ohnehin in einer sehr unsicheren wirtschaftlichen Situation befindet, hart getroffen. Seit Jahren kämpft Costa Rica mit langsamem Wirtschaftswachstum und konstant steigender Staatsverschuldung. Erst Ende 2018 hatte das Parlament Sparmaßnahmen der Regierung zugestimmt, um das wachsende Haushaltsdefizit auszugleichen (siehe LN 534). Mit Steuererhöhungen, Rentenkürzungen und Einsparungen im öffentlichen Dienst setzte die regierende sozialdemokratische PAC genau die neoliberale Politik um, die sie seit ihrer Gründung im Jahr 2000 scharf kritisiert hat.

Im zweiten Quartal 2020 ist die Wirtschaftsleistung laut der Zentralbank Costa Ricas um 8,6 Prozent eingebrochen. Die Arbeitslosenquote ist von etwas über zehn Prozent im vergangenen Jahr auf ein historisches Hoch von 24 Prozent gestiegen. 2019 hat das Haushaltsdefizit und die Staatsverschuldung die höchsten Werte seit den 1980er Jahren erreicht.

Von zentraler Bedeutung für die Wirtschaft ist der Tourismussektor, der für etwa acht Prozent des Bruttoinlandsproduktes und rund 200.000 Arbeitsplätze sorgt. Tourismusminister Gustavo Segura hatte schon früh darauf gedrängt, die Grenzen für ausländische Tourist*innen wieder zu öffnen. Anfang September landete dann der erste Urlaubsflieger aus den USA in San José. Segura kündigte an, dass ab November – vor Beginn der Hochsaison – auch Kreuzfahrtschiffe wieder Halt in Costa Rica machen würden. Während das Land immer mehr Regionen von der Sperrliste nimmt, steht es selbst noch auf den Risikolisten der meisten Länder der Welt.

„Es scheint, als stünden wir kurz vor dem Kollaps“

Um die Wirtschaft wieder zu stimulieren, pocht die Regierung auf finanzielle Hilfe durch den IWF. Bereits im April wurde Costa Rica eine halbe Milliarde US-Dollar Notfallhilfe gewährt. In den nun angelaufenen Gesprächen geht es um einen Kredit in Höhe von 1,75 Milliarden US-Dollar – es sind die ersten Kreditverhandlungen mit dem IWF seit den 1980er Jahren. Das Angebot der Regierung sieht vor allem die Erhöhungen der Einkommens- und Unternehmenssteuer, die Einführung einer Finanztransaktionssteuer und Veräußerungen von Staatseigentum vor. Ziel sei es, die sozialen Sicherungssysteme wie die CCSS zu erhalten, hieß es aus dem Präsidentensitz.

Die Zurückweisung der Regierungspläne in der Bevölkerung könnte kaum stärker sein: Gewerkschaften, zivilgesellschaftliche Organisationen, Unternehmensverbände und Kirchen stellen sich nun gegen die Regierung. Im Parlament ist einzig die PAC für die Pläne und stellt lediglich zehn der 57 Abgeordneten. Die mit 17 Parlamentarier*innen größte Fraktion der neoliberalen, einst sozialdemokratischen PLN, hat den Plänen in einer Pressemitteilung bereits ihre klare Absage erteilt. 80 Prozent der Vorschläge bestünden aus Steuererhöhungen und nur 20 Prozent aus Sparmaßnahmen. „Das offensichtliche Ungleichgewicht der geplanten Maßnahmen wird durch das Fehlen von Vorschlägen zur Reaktivierung der Wirtschaft noch schlimmer“, heißt es dort. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament äußerte der evangelikale Parlamentspräsident Eduardo Cruickshank: „Ich sehe in der Legislativversammlung keine Stimmung, die Steuererhöhungen unterstützen würde.“

Die Ex-Präsident*innen Óscar Arias, Laura Chinchilla und Luis Guillermo Solís haben nun die Oppositionsparteien zum Dialog aufgerufen. Unterdessen kam es am 30. September zu landesweiten Demonstrationen, Streiks und Blockaden der „Bewegung Nationale Rettung“ unter dem Slogan „Keine weiteren Steuern!“. Die Bewegung wird unter anderem von Célimo Guido Cruz angeführt, der früher Abgeordneter linker Parteien war, jedoch 2019 zur rechtspopulistischen PIN übergetreten ist. Linke Kritiker*innen der Verhandlungen mit dem IWF blicken deshalb mit einiger Skepsis auf die Bewegung, die sich auch nationalistischer Rhetorik und Symbolik bedient. Zugleich hatten einige Gewerkschaften zur Teilnahme an den Protesten aufgerufen, bei denen es zu teils gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei kam.

Die Bewegung konnte einen ersten Erfolg verzeichnen. Am 4. Oktober verkündete Präsident Alvarado, dass die Regierung „die Stimmung im Land verstehe und den anfänglichen Plan nicht weiterverfolgen wird.“ Außerdem rief Alvarado alle demokratischen Kräfte zum Dialog auf. Die Situation lässt für Alvarado und die PAC für die im Februar 2022 anstehenden Wahlen nichts Gutes ahnen. Seit Jahren ist die stagnierende Wirtschaft und der defizitäre Staatshaushalt für die Costa-Ricaner*innen das wichtigste Thema. Die PAC wurde als Regierungspartei durch ihre Verwicklung in den größten Korruptionsskandal der Geschichte des Landes bereits bei den Wahlen 2018 abgestraft. Ihr weiterer Niedergang ist daher wahrscheinlich. Die politische Linke wurde damals de facto pulverisiert. Die großen Profiteur*innen waren stattdessen ultrakonservative Evangelikale und die rechtspopulistische PIN. Bei der momentanen Stimmung im Land könnten diese Kräfte weiter gestärkt werden.

ECUADORS INDIGENE MELDEN SICH ZURÜCK

Brennende Barrikaden Straßenproteste in Ecuadors Hauptstadt Quito // Foto: Miriam Lang

Die Übereinstimmung der Zahlen ist frappierend: Einen Kredit von vier Milliarden und 200 Millionen Dollar will die ecuadorianische Regierung unter Lenín Moreno vom Internationalen Währungsfonds. Um den zu bekommen, muss sie bestimmte Strukturanpassungsmaßnahmen durchführen: Unter anderem die staatlichen Subventionen für Treibstoffe streichen und die Diesel- und Benzinpreise dem Weltmarktniveau anpassen; aber auch Arbeitnehmer*innenrechte zurücknehmen, um den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren. Soziale Organisationen haben errechnet, dass es genau vier Milliarden und 295 Millionen Dollar sind, die Lenín Moreno in den vergangenen Jahren Banken und großen Unternehmen an Steuerzahlungen erlassen hat. Es handelt sich also, so wird argumentiert, um eine eindeutige Umverteilungsmaßnahme von unten nach oben.
Die breite Bevölkerung muss zahlen, damit die Eliten noch reicher werden. 554 Millionen Dollar Profit sollen die Banken allein 2018 gemacht haben, während nun die Gehälter von Staatsangestellten mit Gelegenheitsverträgen pauschal um 20 Prozent gekürzt werden sollen. Zehntausende werden aus dem Staatsapparat entlassen, in eine Ökonomie, die stagniert und kaum Arbeitsplätze zu bieten hat.
Eine Erhöhung der Benzin- und vor allem Dieselpreise bedeutet eine unmittelbare Verteuerung der allgemeinen Lebenshaltungskosten. Die Busfahrkarten im öffentlichen Nahverkehr werden um zehn Cent teurer, aber auch Lebensmittel und Dienstleistungen. Nicht nur, weil die Transportkosten aufgrund des zunächst um 123 Prozent verteuerten Treibstoffs tatsächlich steigen, sondern weil Transportunternehmen und Zwischenhändler*innen obendrein die Gelegenheit nutzen, ihre Gewinnspanne zu erhöhen. Das ist der Hauptgrund für die massiven Proteste, die seit dem 3. Oktober in Ecuador ausgebrochen sind und das Land lahmgelegt haben.
Es geht nicht etwa um eine umweltfreundliche Politik, die die Menschen von der privaten PKW-Nutzung auf öffentliche Verkehrsmittel umlenken soll – dafür müsste in einen sauberen öffentlichen Nahverkehr investiert werden, um eine reale Alternative zu schaffen. Der Effekt wird vielmehr eine weitere Vertiefung der Ungleichheit sein in einem Land, in dem die Ökonomie bereits stark monopolisiert ist. Auch die Ökologiebewegung hat sich den Protesten angeschlossen. Eine konsequente Umwelt- und Klimapolitik, so die Organisation Acción Ecológica, würde eine Rücknahme der vielfachen Subventionen und Steuerausnahmen für Erdölfirmen, Bergbau- und Palmölunternehmen erfordern, die jedoch ihre zerstörerischen Tätigkeiten im Land immer mehr ausweiten.
Seit Beginn der Proteste brennen in allen Teilen des Landes Barrikaden, die wichtigsten Verkehrsadern sind blockiert, Zehntausende Menschen sind auf den Straßen und mehrere Präfekturen besetzt. Einige Tage lang waren auch drei der wichtigsten Ölfelder im Amazonasgebiet lahmgelegt, was den Staat an seiner empfindlichsten Stelle trifft. Während Taxifahrer*innen und Transportarbeiter*innen mit den Protesten begonnen hatten, führt nun die indigene Bewegung den Aufstand an, mit Unterstützung der Gewerkschaften und einiger Sektoren der Mittelschichten. Als Antwort auf den von der Regierung für 60 Tage ausgerufenen Ausnahmezustand, der Tausende von Soldat*innen und schweres Gerät auf die Straßen brachte, rief auch die Konföderation der Indigenen Völker Ecuadors (CONAIE) in ihren Territorien den Ausnahmezustand aus und kündigte an, Polizist*innen und Soldat*innen festzunehmen, die diese ohne Erlaubnis betreten. Dies geschah dann auch prompt in der Provinz Chimborazo in den Anden, wo knapp 50 Uniformierte für mehrere Tage festgesetzt wurden.

Zum ersten Mal in zwölf Jahren hebt die Bevölkerung wieder den Kopf


Die größten Demonstrationen von bis zu 40.000 Menschen gibt es in der Hauptstadt Quito. Lastwagenweise kommen Indigene sowie Bauern und Bäuerinnen aus den umliegenden Provinzen und schlagen ihr Lager im zentralen Parque el Arbolito und in Universitäten auf. Die Bevölkerung der Hauptstadt heißt sie mit Decken, warmer Kleidung, Lebensmittel- und Medikamentenspenden willkommen, Großküchen werden spontan eingerichtet, um die Ernährung der Landbevölkerung solidarisch zu gewährleisten. Die massiven Protestmärsche wurden von heftigen Krawallen begleitet, an denen sich vor allem Studierende und andere junge urbane Männer beteiligen und von denen die indigenen Protestteilnehmer*innen sich deutlich distanzieren. Polizei und Armee antworten mit einem Niveau an Repression, wie sie das kleine Andenland bisher kaum kannte, inklusive Angriffe auf Krankenhäuser und Unis. Bis Redaktionsschluss bilanzierte der ecuadorianische Ombudsmann landesweit fünf Tote, über 1000 Festnahmen und über 800 Verletzte. Eine Lösung des Konflikts ist nicht in Sicht. Es geht heute in Ecuador nicht nur darum, eine Regierung zu zwingen, ein vom IWF aufgezwungenes neoliberales Maßnahmenpaket rückgängig zu machen oder sie zu stürzen. Zum ersten Mal seit zwölf Jahren hebt die Bevölkerung Ecuadors wieder den Kopf und zieht mit Massenmobilisierungen gegenüber den Mächtigen und der Oligarchie eine rote Linie. „Einmal mehr gibt die indigene Bewegung uns unsere Würde zurück“, bewertet der Intellektuelle Jaime Breilh die Situation.

Zehntausende auf den Straßen Die indigene Bewegung führt den Aufstand an // Foto: Miriam Lang

Anders als in einigen ausländischen Medien behauptet, drücken die Proteste im Oktober 2019 keineswegs den Wunsch der Bevölkerung aus, den Expräsidenten Rafael Correa (2007-2017) an die Regierung zurückzuholen. Dessen Partei wurde vielmehr bei den Regionalwahlen im März 2019 deutlich abgestraft und gewann lediglich zwei von 23 Präfekturen. Ein harter Kern von Correa-Anhängern und der Expräsident selbst, der sich nach wie vor im belgischen Exil befindet und aufgrund mehrerer Strafverfahren nicht nach Ecuador zurückkehren kann, versuchten jedoch schnell, den Protest politisch für sich zu instrumentalisieren. Während ihre Kritik an der Vertiefung neoliberaler Politik durch die Moreno-Regierung zutreffend ist, vertuschen sie systematisch, dass sie selbst den Weg für diese Politik bereitet und ihre ersten Stadien bereits umgesetzt hatten, beispielsweise durch die Unterzeichnung des Freihandelsabkommens mit der Europäischen Union. Die CONAIE distanzierte sich denn auch deutlich von den correistischen Vereinnahmungsversuchen, während diese der Moreno-Regierung einen willkommenen Vorwand lieferten, um zu behaupten, der Oktober-Aufstand sei lediglich eine von den Correisten aus dem Ausland gesteuerte Verschwörung, und kein Ausdruck echten Unmuts in der Bevölkerung.
Auffällig ist, dass keine der offiziellen Verlautbarungen der CONAIE den Rücktritt von Präsident Moreno fordert, sondern lediglich den seiner Innenministerin María Paula Romo und seines Verteidigungsministers Oswaldo Jarrín. Politischen Analysen zufolge sieht die Moreno-Regierung sich als eine Übergangsregierung, die der expliziten Rechten um den Christdemokraten Jaime Nebot den Weg ebnen soll. Dies hat eine Entsprechung in einem deutlichen Rechtsruck in offiziellen Medien und sozialen Netzen, wo die protestierenden Indigenen und Arbeiter*innen vielfach klassistisch und rassistisch diskriminiert werden. Ein Rücktritt Morenos könnte den Aufstieg der Rechten katalysieren, während der Verbleib dieses relativ schwachen Präsidenten im Amt den Organisationen die Chance gibt, sich wieder stärker in die gesellschaftliche Debatte um die Zukunft des Landes einzumischen.
Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass es den Indigenen mehrheitlich um ganz andere Dinge geht als Wahl- und Parteipolitik. Im Vordergrund steht nicht nur die Rücknahme des IWF-Pakets, sondern auch die Abkehr vom Extraktivismus, der rücksichtslosen Ausbeutung von Rohstoffen mit Billigung der Politik. Diese Praxis dringt immer weiter in ihre Territorien vor und bedroht ihre nackte Existenz, sowohl in materieller als auch in kultureller Hinsicht. Wie die Indigenen aus Chimborazo in einer Erklärung darlegten, verlangen sie Reparation für die seit der Kolonialzeit erlittene Ausplünderung. Und zwar nicht etwa in barer Münze, sondern in Form einer radikal anderen Agrarpolitik, die nicht auf die Ausrottung der Kleinbauern- und bäuerinnen und der kommunitären Subsistenzökonomie abzielt, sondern sie stärkt: Der Zugang zu Bewässerung, nicht patentiertem Saatgut und fruchtbarem Land im Kollektivbesitz stehen dabei im Vordergrund, sowie eine systematische Förderung ökologischer Anbaumethoden anstelle von korporativen Saatgut-Kunstdünger-Pestizid-Kits, die die Bauern und Bäuerinnen in die Abhängigkeit des transnationalen Kapitals zwingen. Plurinationalität, seit den 90er Jahren die zentrale Forderung der Indigenen, meint außerdem territoriale Selbstregierung mit eigenen Justiz-, Erziehungs- und Gesundheitssystemen, aber vor allem auch eigenen Formen der Versammlungsdemokratie. Das Recht auf eine Lebensweise, die nicht vom globalen Kapitalismus diktiert wird und von der Moderne nur das nimmt, was die Gemeinschaft souverän entscheidet, das ist es, worum Ecuadors indigene Bewegung im Grunde kämpft.

MACRI IM FREIEN FALL

Tägliches Rätselraten Wie viel ist der Dollar wert? (Schild vor einem Kiosk in Buenos aires am 20. August) // Foto: lavaca.org

„Was auch immer passiert, wer auch immer die Wahl gewinnt, die Herausforderung besteht darin, das Boot am 10. Dezember ins Dock zu bringen, nicht vorher oder nachher.“ Der Satz stammt von Argentiniens neuem Finanzminister Hernán Lacunza und die Frage ist, ob das Boot bis dahin nicht schon untergegangen ist. Erst seit dem 17. August ist Lacunza im Amt und sein Job hat es in sich: Er soll den neunten staatlichen Offenbarungseid in der Landesgeschichte seit der Unabhängigkeit 1816 abwenden. Ob dies gelingt, liegt in den Händen der Gläubiger*innen. Stimmen sie der von Lacunza Ende August vorgeschlagenen Stundung und Schuldenstreckung nicht zu, ist Argentinien pleite, wiewohl es mangels staatlichem Insolvenzrecht nicht pleite gehen kann und somit in die nächste unregulierte Staats- und Wirtschaftskrise abgleiten würde. Die Krise zur Jahreswende 2001/2002 ist vielen noch in Erinnerung, als mehr als die Hälfte der argentinischen Bevölkerung in die Armut abrutschte und auf den Straßen der politischen Klasse die Parole „Qué se vayan todos“ (Sie sollen alle abhauen) ertönte. Binnen weniger Monate gaben sich damals fünf Präsidenten und Interimspräsidenten die Klinke des Präsidentenpalastes Casa Rosada in die Hand. Erst ab der Regierungsübernahme von Néstor Kirchner im Frühjahr 2003 beruhigte sich die Lage wieder.
Die aktuelle Krise verschärfte sich Ende August, weil es Finanzminister Lacunza nicht gelang, auslaufende Staatsanleihen mit kurzer Laufzeit neu zu finanzieren und er deswegen längere Laufzeiten ins Spiel brachte. Das hoch verschuldete Land will sich damit finanziell Luft verschaffen. Es geht um Staatsanleihen bei privaten Investor*innen sowie um Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF) in der Höhe von insgesamt rund 100 Milliarden US-Dollar.

Bei der Krise 2001/2002 rutschte mehr als die Hälfte der Bevölkerung in die Armut ab


Der IWF lässt seinen Liebling, Argentiniens Präsidenten Mauricio Macri, jedoch nicht fallen. „Wir verstehen, dass die Regierung diesen Schritt gemacht hat, um für Liquidität zu sorgen und die Reserven zu schützen. Wir stehen in diesen herausfordernden Zeiten an der Seite von Argentinien“, kommentierte IWF-Sprecher Gerry Rice. Das Verständnis hat einen handfesten Grund: Der IWF hatte Argentinien 2018 einen Bereitschaftskredit in Rekordhöhe von 57 Milliarden Dollar gewährt, als die Landeswährung Peso stark an Wert verlor. Der Kurs war seinerzeit von etwa 20 Peso für einen Dollar auf mehr als 40 Peso gefallen. Die Regierung Macri setzte unter dem damaligen Finanzminister Nicolás Dujovne große Teile des IWF-Kredits für Stützungskäufe des Peso ein, konnte damit die Abwertung aber nur verlangsamen. Nach der klaren Niederlage von Macri bei den unverbindlichen Vorwahlen am 11. August, die aber ein wichtiger Stimmungsbarometer für die Präsidentschaftswahlen sind, geriet der Peso abermals unter Druck und wertete von 45 bis in der Spitze auf 60 Peso für den Dollar ab. Wie desaströs die wirtschaftliche Lage ist, illustrieren Inflationsrate und Zinssatz der Zentralbank. Die Geldentwertung liegt bei über 50 Prozent und Banken, die sich bei der Zentralbank frisches Geld beschaffen wollen, müssen dafür mehr als 70 Prozent Zinsen berappen.
Argentiniens Krise kommt mit Ansage. Wie schon die Schergen der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 wollte der neoliberale Präsident Macri nach Amtsantritt im Dezember 2015 mittels Deregulierung und Auslandsverschuldung Wachstum generieren – erfolglos. Die Freigabe des Wechselkurses, die Aufhebung der Agrarexportbesteuerung, beziehungsweise die Senkung dieser beim Soja-Export, die Abschaffung der Steuern auf den Bergbau: Die von Macri versprochene Flut an Neuinvestitionen blieb aus. Und zu allem Überfluss hielt sich Macri nicht einmal an die Vorgabe der Defizitreduzierung, die mit der Deregulierung und der Privatisierung den Dreiklang der neoliberalen Entwicklungsblaupause des sogenannten Konsens von Washington bildet.

Alberto Fernández strahlender Sieger der Vorwahlen // Foto: Santiago Sito via flickr.com CC BY-NC-ND 2.0

Stattdessen schlug das sogenannte Zwillingsdefizit ins Kontor: 2018 überstiegen Argentiniens Haushalts- und Leistungsbilanzdefizit jeweils 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). In der darauf folgenden Wirtschafts- und Finanzkrise stieg die Staatsverschuldung steil auf fast 90 Prozent des BIP an. Das sind 334 Milliarden US-Dollar. Drei Viertel der Ausstände sind in ausländischen Währungen denominiert, rund 100 Milliarden US-Dollar hat allein die Regierung Macri an neuen Auslandsschulden aufgenommen. Die Zinsen und Tilgungsraten müssen dafür über Überschüsse im Außenhandel erwirtschaftet werden. Gelingt das wie derzeit nicht, muss das Loch durch neue Kredite gestopft werden, womit wieder der Verschuldungsgrad steigt. Ein Ausdruck davon ist der Wertverfall des Pesos. Er brach im Sommer 2018 infolge der sich beschleunigenden Kapitalflucht ein, und die Inflation schoss in die Höhe. Es war Macris Geschäftsfreund Donald Trump, der den IWF zum Eingreifen aufforderte und bei IWF-Chefin Christine Lagarde auf aktive Unterstützung traf. Von den 57 Milliarden Dollar sind schon 80 Prozent ausbezahlt worden.
Dennoch gehen Argentiniens Regierung die Devisen aus. Deswegen hat die Regierung Macri am 1. September, einem Sonntag, ein Dekret veröffentlicht, wonach große Exporteure künftig eine Erlaubnis der Notenbank für den Kauf von Fremdwährungen und zur Überweisung von Devisen ins Ausland einholen müssen. Für Privatpersonen, die die US-Währung erwerben wollen, gilt künftig eine monatliche Obergrenze von 10.000 Dollar (rund 9.100 Euro). Damit hat Macri einen drastischen Kurswechsel vollzogen. 2015 hatte er versprochen, die „von der Vorgängerregierung bevorzugten Kontrollen aufzugeben.“ Jetzt heißt es in dem Dekret, die Maßnahmen seien nötig, um „den Devisenhandel intensiver zu regulieren und das normale Funktionieren der Wirtschaft zu stärken“.

Rette seine Einlagen, wer kann, lautet mal wieder das Motto


Kurz vor dem Dekret hatten alle drei großen Ratingagenturen die Bonitätsnote Argentiniens auf ein Niveau gesenkt, das nur noch knapp über Zahlungsausfall, also der schlechtesten Einschätzung liegt. Vor dem Wochenende stufte die US-amerikanische Kreditratingagentur Standard&Poor’s das Land auf „selektiven Zahlungsausfall“ zurück. Auch Moody’s und Fitch senkten ihre Bewertungen auf ein vergleichbares Niveau.
Das Dekret ist der zweite Kurswechsel seit den verlorenen Vorwahlen am 11. August. Da hatten die Wähler*innen Präsident Macri durch ihr Votum mit fast 16 Prozentpunkten Vorsprung für das oppositionelle Mitte-links-Bündnis von Alberto Fernández und Cristina Kirchner klargemacht, wie wenig sie von den Ergebnissen seiner Wirtschaftspolitik halten: Unternehmen gehen reihenweise Konkurs, es gibt Massenentlassungen, der Peso hat im Vergleich zum Dollar in nur einem Jahr die Hälfte an Wert verloren, und ein Drittel der Argentinier*innen lebt unter der Armutsgrenze.
Nur wenige Tage nach der Vorwahlschlappe verkündete Macri eine Reihe finanzieller Maßnahmen, die er Präsidentin Kirchner immer vorgeworfen hatte. Er versprach unter anderem eine Erhöhung des Mindestlohns, setzte die Mehrwertsteuer für Lebensmittel aus, kündigte günstigere Kredite für kleine Unternehmen an und setzte die Kraftstoffpreise für 90 Tage fest.
Macris Maßnahmen kommen für eine Wiederwahl am 27. Oktober oder einen Erfolg bei einer möglichen Stichwahl mit ziemlicher Sicherheit zu spät. Zumal sie nicht verfangen. Am Montag nach der Verkündung der Kapitalverkehrskontrollen standen in der Hauptstadt Buenos Aires viele Menschen vor den Banken an, um ihre Einlagen abzuheben. Rette seine Einlagen, wer kann, lautet mal wieder das Motto in Argentinien. Allein seit dem 11. August haben die Argentinier*innen Dollaranlagen in Höhe von rund vier Milliarden Dollar von den Banken abgezogen. Auf 75 Milliarden Dollar wird die Kapitalflucht unter Macri beziffert.
Der Oppositionskandidat Alberto Fernández gilt nun als klarer Favorit, um Macri ab dem 10. Dezember im Präsidentenamt zu beerben. Hinterlassen wird Macri ihm auch die Rückzahlung des IWF-Kredits. Die erste Tranche wird erst 2020 fällig. Nicht weniger als 34 Milliarden Dollar muss das Land dann zurückzahlen. Fernández hat mehrfach erklärt, dass die Schulden neu verhandelt werden müssen. Denn sonst werden erneut die Armen und die Mittelschicht die Zeche zahlen. Dass sie darauf nicht untätig warten, zeichnet sich ab. Am 4. September gingen Zehntausende Argentinier*innen in der Hauptstadt Buenos Aires auf die Straße. Die Demonstrant*innen forderten höhere Mindestlöhne sowie Lebensmittelhilfen für Arme. Und einige davon sind gekommen, um zu bleiben. Sie haben auf der Prachtstraße 9 de Julio im Stadtzentrum vor dem Ministerium für soziale Angelegenheiten ihre Zelte aufgestellt, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Sie fordern mehr Sozialprogramme und niedrigere Preise für Grundnahrungsmittel. Sie wollen bleiben bis ihre Forderungen erfüllt werden – von welcher Regierung auch immer.

 

„DAS SCHLIMMSTE DIESER REGIERUNG HABEN WIR NOCH NICHT GESEHEN“


GASTÓN CHILLIER ist seit 2006 Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation CELS, wo er zuvor als Anwalt zu Themen institutioneller Gewalt gearbeitet hat. Das CELS (Zentrum für legale und soziale Studien) wurde vor 40 Jahren während der Militärdiktatur von einer Gruppe von Anwält*innen gegründet, um die Fälle der Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo und Folteropfer der Militärdiktatur in ihrem Prozess für Wahrheit, Erinnerung und Gerechtigkeit zu unterstützen. Seither kämpft das CELS gegen Straflosigkeit und institutionelle Gewalt und war an allen großen Menschenrechtsprozessen Argentiniens beteiligt. Neben diesen traditionellen Themenfeldern ist das CELS ein wichtiger und renommierter Akteur für aktuelle soziale Organisationen und Bewegungen. Das CELS gibt eine jährliche Studie zur Menschenrechtssituation in Argentinien heraus. (Foto: Caroline Kim)


Herr Chillier, wie steht es im Wahljahr um die argentinische Regierung?
Diese Regierung hat alle Befürchtungen übertroffen. Statt einer demokratischen modernen Rechten kam eine klassisch neoliberale Rechte, wie sie schlimmer nicht sein konnte. Die Macri-Regierung ist eine orthodoxe, neoliberale Regierung, die nach politischer Öffnung strebt, aber mit einer US-Regierung zu tun hat, die protektionistisch ist. Macri hatte das Pech, seine Politikstrategie, sich der Welt zu öffnen, umzusetzen, als die Welt gerade dabei war, sich zu schließen. Er war zu spät. Jetzt sind wir mitten in einer Wirtschaftskrise, im letzten Jahr hat die Regierung wieder Geld beim IWF geliehen. Das ist für Argentinien eine sehr sensible und negative Sache, die noch bis vor kurzem undenkbar war. Argentinien hat gute Gründe für die Ablehnung des IWF aus den Erfahrungen der großen Krise von 2001.

Was ist die Bilanz von vier Jahren Macri-Regierung hinsichtlich der Menschenrechte?
Es gibt zwei große Linien, die miteinander verbunden sind. Die soziale Situation im Kontext der Strukturanpassungen der Wirtschaftspolitik geht mit einer immer repressiveren Politik einher. Hinzu kommen Rückschritte in verschiedenen Politikbereichen wie der Migrations- oder Sicherheitspolitik: Militarisierung und Sicherheit stehen wieder ganz oben auf der Agenda in Argentinien. Wenn man die Statistiken betrachtet, ist zwar keine Zunahme von Polizeigewalt zu verzeichnen, die Rückschritte gab es jedoch vor allem im Diskurs, der den tödlichen Einsatz von Schusswaffen durch staatliche Sicherheitskräfte legitimiert. Ein viel beachteter Fall war der von Chocobar, einem Polizisten, der eine Person, die einen Touristen bestohlen hatte, mit einem Schuss in den Rücken tötete, ohne jegliche legitime Notwehr. Der Präsident hat ihn zusammen mit der Sicherheitsministerin Patricia Bullrich empfangen und gesagt: „Solche Polizisten brauchen wir.“ Das ist ein sehr harter Diskurs, auch ohne Bolsonaro zu sein. Chocobar ist heute wegen Mordes verurteilt.
Dann gab es natürlich den Fall des verschwundenen Aktivisten Maldonado und die Erschießung von Rafael Nahuel (Mapuche-Aktivist, 2017 durch einem Schuss in den Rücken ermordet, Anm. d. Red.). In allen Fällen reagierte die Regierung mit der Unterstützung der Sicherheitskräfte, die die Morde begangen haben.

Als die Massenproteste für Gerechtigkeit für Santiago Maldonado das ganze Land auf die Straße geholt haben, verschärften sich auch Repressionen gegen Demonstrant*innen und Journalist*innen. Ist die zunehmende Kriminalisierung der sozialen Proteste charakterisierend für Macris Regierungszeit?
Eine der ersten Amtshandlung nach der Amtsübernahme der Regierung war die Verhaftung der indigenen Führungsfigur Milagro Salas im Januar 2016. Das war ein Wendepunkt in der Kriminalisierung von sozialen Protesten. Die Einschüchterung von sozialen und politischen Aktivisten hat seither noch zugenommen, vor allem auch gegenüber Journalisten, die über soziale Proteste berichten. Die Regierung hat alles versucht, den Terrorismus als Bedrohung aufzubauen und somit auf die Agenda zu setzen, auch in der Vorbereitung auf den G20-Gipfel. Am besten sieht man das an der Kriminalisierung der Mapuche-Gemeinden. Die argentinische Regierung macht gemeinsame Sache mit der chilenischen Regierung und den Geheimdiensten, dazu gehört auch die illegale Überwachung von Mapuche-Aktivisten und Unterstützern. Auf chilenischer Seite gibt es Beweise für die Fälschung von Beweismitteln, um bekannte Mapuche-Autoritäten zu kriminalisieren und sie aufgrund von Terrorismus anzuklagen. Der neue Rahmen für Argentinien ist das Sicherheitsprogramm der USA, wo der Krieg gegen Terrorismus und Drogen im Zentrum steht. Auch in Argentinien ist das wieder zu einer starken politischen Strategie geworden. Die Regierung und die Sicherheitsministerin haben viel ihrer Zeit darein investiert, das Bild eines „inneren Feindes“ zu etablieren. Von da aus verwandelt sich jede Art der Demonstration, der öffentlichen Äußerung von sozialer Kritik, von Protest oder social leadership in eine Bedrohung. Das ist gefährlich für ein demokratisches System.

Wie spielt die wirtschaftliche Situation in dieses Klima mit hinein?
Das Merkmal dieser Zeit und dieser Regierung ist der bedeutende Anstieg der Ungleichheit aufgrund der Auswirkungen der Wirtschaftspolitik. Das heißt nicht, dass es in den vorherigen zwölf Jahren Kirchnerismus keine Probleme gab, aber die Fortschritte, die durch die Vorgängerregierungen hinsichtlich der Verteilung des Reichtums erzielt wurden, sind wieder rückgängig gemacht worden. Alle sozialen und wirtschaftlichen Indikatoren zu Armut und Arbeitslosigkeit zeigen, wie ernst die wirtschaftliche Situation ist. Argentinien kehrt nun zu diesem fatalen Schema zurück, in dem die jährliche Inflationsrate mindestens 40 Prozent beträgt, mit einer systematischen Abwertung des Peso. Im letzten Jahr wurde der Peso um 100 Prozent abgewertet, was eine enorme Auswirkung auf die Inflation und die soziale Situation hat.
Das Modell dieser Regierung ist vergleichbar mit dem chilenischen. Ein Modell, in dem es einen sehr viel konzentrierteren Reichtum gibt und viele Teile der Gesellschaft außen vor bleiben. Das ist die Realität. Als die Regierung angetreten ist, kursierten unter den Staatsbeamten Äußerungen über die Vorgängerregierung wie: „Die haben doch tatsächlich die Armen glauben machen, dass sie in Urlaub fahren könnten. Oder dass sie ein Recht darauf hätten, wenig für Strom und Gas zu bezahlen…“ Das ist eine Message, die gegen die Substanz der argentinischen Gesellschaft geht. Obwohl es seit vielen Jahren bergab geht, hat die Idee von Gleichheit einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft. Auf eine bestimmte Art und Weise schätzt sie, dass sie eine egalitäre mit einer großen Mittelklasse ist – im Gegensatz zu Chile, Brasilien oder Paraguay.

Derart umgeben von rechten Regierungen wird auch Argentinien mehr nach rechts rücken?
Wenn Macri gewinnt, wird er sich weiter nach rechts ausrichten. Nicht bis in die Extreme, die wir in Brasilien sehen, aber seine Politik wird noch mehr eine der Strukturanpassungen sein. Teil der Kritik, den die Hardliner an der Regierung haben, ist, dass sie nicht genug Sparmaßnahmen durchgesetzt hat. Sie nennen das Gradualismus, weil die Regierung nicht von Anfang an eine Schock- und Sparpolitik gefahren ist. Die Sozialausgaben sind vergleichsweise sogar höher als die der Vorgängerregierung, weil ihr nichts anderes übrigblieb. Es gab keinen Spielraum dafür, dass diese Regierung so neoliberal wie die von Präsident Menem in den 90ern sein konnte.

Aber es gab doch starke Kürzungen bei den Renten, Bildung, Gesundheit und Kultur?
Es gab Kürzungen, die tatsächlichen Ausgaben sind allerdings nicht weniger geworden, die Sozialpolitiken wurden nicht beendet. Aber nicht, weil die Regierung glaubt, dass es ein Recht auf Sozialpolitik gäbe, sondern weil sie nicht anders konnte. Das war der Weg, um die Regierungsfähigkeit zu erhalten. Wenn Macri jetzt gewinnt, sehen wir das hässlichste Gesicht einer Regierung, die noch neoliberaler und autoritärer werden wird. Die nächsten Jahre werden sehr hart werden durch zusätzliche Sparmaßnahmen in einem sozialen Gefüge mit vielen Konflikten. Und die argentinische Gesellschaft charakterisiert sich darüber, auf die Straße zu gehen und zu protestieren. Es waren die ständigen sozialen Proteste seit der Übernahme der Regierung, die verhindert haben, dass es noch mehr Repressionen gegeben hat. Ich glaube, wir haben das Schlimmste dieser Regierung noch gar nicht gesehen.

Und was denken Sie: Wird Macri gewinnen?
Das wäre politikwissenschaftlich eine sehr seltsame Sache, denn normalerweise werden Regierungen nicht wiedergewählt, wenn die Wirtschaft am Boden und die Regierung sehr schlecht ist. Wenn er trotz allem wieder gewinnt, kann das nur durch die hohe Polarisierung erklärt werden. Alles deutet darauf hin, dass die Leute eher danach wählen, was sie nicht wollen, als danach was sie wollen. Es gibt eine sehr starke Ablehnung der Politik der Regierung, sie wird nicht wegen ihrer Stärken gewählt. Aber trotzdem ist es nicht sicher, ob die Regierung bzw. der Präsident nicht doch wiedergewählt werden kann.

Das liegt auch an der noch zu bestimmenden Gegenkandidatur…
Wenn der Peronismus es schafft, sich zu einigen, wird er sicherlich in der ersten oder zweiten Wahlrunde gegen die aktuelle Regierung gewinnen. Wenn das nicht passiert, bleibt alles unklar. Die größte Figur, die der Peronismus heute hat, ist die Ex-Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner mit einer Unterstützung von 30 bis 35 Prozent der Wähler. Wer auch immer die Wahlen gewinnt, die nächsten Jahren werden sehr konfliktreich werden. Wenn die aktuelle Regierung gewinnt, wird es sehr viel härter, weil die Antwort brutaler sein wird. Wenn eine andere Partei gewinnt, wird es wahrscheinlich mehr Absichten geben, den sozialen Konflikt anders zu regeln.

Zuletzt: Ihr Ausblick in die Zukunft?
Ich glaube, trotz allem bleibt Lateinamerika im globalen Vergleich ein wichtiger Ort, um etwas aufzubauen, das sich an demokratischen Prinzipien und Menschenrechten orientiert, besonders Argentinien, aufgrund des Stellenwertes, den Menschenrechte bis jetzt in der Gesellschaft haben. Heute ist Macri das Rechteste, wohin wir gelangen können. Bisher sehe ich keine Möglichkeit, dass es politischen Raum für einen Antisystem-Kandidaten wie Bolsonaro gibt. Wenn es bei diesen Wahlen schlecht für die Regierung läuft, ist das eine gute Möglichkeit, aus den Erfahrungen mit einer neoliberalen Partei zu lernen. Es war das erste Mal, dass die Rechte und die Elite durch demokratische Wahlen an die Regierung gekommen sind. Davor waren es immer Putsche gewesen.
In heutigen Zeiten ist es wichtig, eine neue Form von Übereinkünften mit der Gesellschaft zu schaffen. Wenn wir nicht anfangen, die Herzen und Köpfe der Menschen zu erobern, werden diese letztlich autoritäre Optionen wählen. Wir brauchen eine Verteidigungsstrategie und gleichzeitig eine positivere, die nach vorne geht. Es existiert die Forderung nach alternativen Modellen. Ich hoffe, dass es eine überzeugende soziale Antwort gibt, die sich in der Ablehnung der neoliberalen Politik der aktuellen Regierung in den Wahlen ausdrückt.

 

HAITI KOMMT NICHT ZUR RUHE

Heute wie damals Das Foto zeigt Haitianer*innen 2010 bei Protesten gegen die Regierung (Foto: Ben Piven via flickr.com, CC BY-NC 2.0)

Präsident Jovenel Moïse spielt auf Zeit. Der ehemalige Bananenexporteur greift immer wieder zum selben Mittel des Machterhalts. Wächst der Druck der Opposition auf der Straße und im Parlament, wird der Premier geopfert. War es nach der Protestwelle im Sommer 2018 Jack Guy Lafontant, der gehen musste, traf es im März 2019 seinen Nachfolger Jean-Henry Céant. Moïse selbst macht derweil keine Anstalten, sein Amt aufzugeben, obwohl sich die Proteste gegen Regierung und Präsidenten gleichermaßen richten.

Ein oppositionelles Bündnis aus 20 unterschiedlichen Parteien und Organisationen fordert seit mehreren Monaten den Rücktritt von Präsident Jovenel Moïse und dem Großteil der Parlamentsabgeordneten. Korruption und wiederholte Erhöhungen der Treibstoffpreise auf „Empfehlung“ des Internationalen Währungsfonds (IWF) waren die Auslöser der Proteste 2018 und flammen seitdem im wahrsten Sinne des Wortes immer wieder auf. Brennende Autoreifen und Barrikaden gehören in Haiti zur gängigen Protestkultur – oft fordern die Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften Menschenleben. Im Februar soll es mindestens 26 Tote gegeben haben, im März lief es glimpflicher ab.

Die Korruptionsvorwürfe sind durchaus begründet: Der Oberste Rechnungshof Haitis selbst hatte im November 2018 festgestellt, dass 15 ehemalige Regierungsfunktionäre für soziale Zwecke eingeplante Gelder veruntreut hätten. Dabei handelt es sich um 3,8 Milliarden US-Dollar aus einem Sozialfonds von Petrocaribe. Bei diesem, noch von Venezuelas verstorbenem Präsidenten Hugo Chávez initiiertem Projekt, lieferte Venezuela Öl zu Vorzugspreisen an bedürftige karibische Länder, um Spielraum für Sozialpolitik zu schaffen. Die Veruntreuung fand in den Jahren 2016 und 2017 unter Präsident Michel Martelly statt, der Jovenel Moïse bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen für seine Kahlkopf-Partei (Parti haïtien tèt kale – PHTK) ins Rennen schickte. Der Oberste Gerichtshof ermittelte vergangenen November, dass auch Moïse selbst Geld veruntreut haben soll.

„Unser Staat ist korrupt, kriminell und kaputt

Wie gering der Rückhalt für Haitis Regierung ist, zeigte sich beim Misstrauensvotum gegen Premier Jean-Henry Céant am 19. März: 93 Abgeordnete gaben ihm den Laufpass, drei enthielten sich und nur sechs votierten für eine Fortsetzung seiner Regierungsführung. Bereits bevor Céant sein offizielles Rücktrittsgesuch einreichte, reagierte Moïse und erklärte kurzerhand den bisherigen Kulturminister Jean-Michel Lapin per Präsidialdekret zum Interimsministerpräsidenten. Lapin ist nun mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt und soll damit die Wogen glätten.

Viel spricht jedoch dafür, dass die Proteste in Haiti anhalten werden. Denn die Haitianer*innen begehren gegen die sich weiter verschlechternden Lebensbedingungen auf. Den Ausfall der billigen Öllieferungen aus Venezuela versucht die Regierung mit deftigen Preiserhöhungen beim Treibstoff zu kompensieren. Im Sommer 2018 hatten die vom IWF geforderten starken Preisanhebungen für Benzin, Diesel und Kerosin Krawalle in mehreren Städten ausgelöst. Die Regierung ruderte daraufhin zurück, korrigierte die Preiserhöhungen und der damalige Premier Lafontant räumte seinen Posten.

Ob Lafontant, Céant oder nun Lapin: Der katastrophalen Entwicklung konnte bisher keiner Einhalt gebieten. Ein Liter Milch kostet in Haiti mehr als die Hälfte des täglichen Mindestlohns. Damit ist Milch für die meisten Haitianer*innen nicht zu haben. Der Preis für Hühnerfleisch hat sich in vier Jahren verdoppelt, sodass das einst wegen seiner relativen Preisgünstigkeit zum zentralen Bestandteil der haitianischen Ernährung avancierte Hühnchen in normalen Haushalten nur noch selten aufgetischt werden kann. Die Lebenshaltungskosten scheinen für viele Bewohner*innen des ärmsten Landes der westlichen Hemisphäre außer Kontrolle zu geraten.

„Unser Staat ist korrupt, kriminell und kaputt“, sagt Celigny Darius, Leiter der SOS-Kinderdörfer in Haiti. Die Situation auf der Straße eskaliere, dem Karibikstaat drohe der Kollaps.

Darius befürchtet, dass es mit dem Land immer weiter bergab geht: „Die Menschen ringen noch immer mit den Folgen von Hurrikan Matthew 2016 und Hurrikan Irma 2017. Tausende Familien sind obdachlos und ohne Einkommen.“ Viele hätten kein Geld, ihre Kinder zur Schule zu schicken, ohnehin seien erst 25 Prozent der zerstörten Schulen wiederaufgebaut.

Nun gibt es den Plan der totalen Privatisierung, bis hin zum Gesundheits- und Bildungssektor

Aktuell seien 2,6 Millionen Haitianer*innen auf Hilfe angewiesen. „Wir rechnen damit, dass diese Zahl weiter ansteigen wird und erwarten mit größter Sorge die Hurrikan-Saison, die im Juni beginnt“, so Darius weiter.

Jerry Tardieu, der haitianische Abgeordnete für die Region Petión-Ville, ein Vorort der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince, sieht das ähnlich: „Die Haitianer leben von Tag zu Tag. Ich erhalte viel Druck von meinen Wählern, die mich bitten und mich darauf hinweisen, dass das Wasser zur Neige geht, dass ihnen die Nahrungsmittel ausgingen. Sie sind kurz vor der Panik. Es kann sein, dass wir nicht weit von einer humanitären Notlage entfernt sind. Das ist real und das ist eine ernste Situation.“

Dass die sozioökonomische Lage in dem Karibikstaat ernst ist, steht außer Zweifel. Laut Weltbank leben 59 Prozent der haitianischen Bevölkerung unter der nationalen Armutsgrenze von 2,41 US-Dollar pro Tag, während 24 Prozent sogar in extremer Armut mit weniger als 1,23 US-Dollar pro Tag überleben müssen.

Druck von den USA oder aus der EU muss Präsident Moïse sowenig wie sein Vorgänger Martelly fürchten. Die ehemalige Besatzungsmacht USA finanzierte den Wahlprozess und betrachtet den neoliberalen Martelly wie den Unternehmer Jovenel Moïse als Garantie dafür, dass in Haiti keine linken Experimente stattfinden. Die EU ist im „Hinterhof“ der USA grundsätzlich kaum als Stimme zu vernehmen. Und so ist der Totalprivatisierung, die der Bauernführer Jean-Baptiste Chavanne befürchtet, Tür und Tor geöffnet: „Die vergangenen Regierungen haben schon privatisiert. Nun gibt es den Plan der totalen Privatisierung, bis hin zum Gesundheits- und Bildungssektor.“ Zur Ruhe kommen wird Haiti so sicher nicht.

 

KEIN STROM, KEIN GAS, KEIN WASSER

Mobilisierte Bevölkerung Essensausgabe auf einer Demo gegen die Politik Macris (Fotografías Emergentes via Flickr CC BY-NC 2.0)

„Wenn ich weniger als 18 Stunden am Tag arbeite, dann komme ich nicht über die Runden“, berichtet Javier. Er ist Taxifahrer in einem Außenbezirk von Buenos Aires. „Heute endet mein Arbeitstag gegen 24 Uhr, und morgen muss ich schon wieder um sechs Uhr früh raus. Es gibt kaum noch Arbeit. Die Leute können sich ein Taxi nicht mehr leisten.“ Das liegt an dem starken Kaufkraftverlust aufgrund der Inflation und zudem ist der Benzinpreis seit Beginn des Jahres von 25 auf fast 40 Pesos (etwa 1 Euro) pro Liter angestiegen.

Tatsächlich musste sogar der argentinische Präsident Mauricio Macri in seiner Fernsehansprache vom 3. September eingestehen, dass sich die Lebensbedingungen vieler Argentinier*innen in diesem Jahr verschlechtert haben. Auch wenn er dafür äußere Bedingungen und natürlich das „schwere Erbe der Ära Kirchner“ verantwortlich macht. Damit meint er das Erbe von Néstor (Präsident von 2003-2007, 2010 verstorben) und dessen Frau Cristina Fernández de Kirchner (Präsidentin von 2007-2015), die einen staatsinterventionistischen Wirtschaftskurs pflegten.

Macris Verweis auf das Erbe der Kirchners ist wohlfeil, denn das zentrale Problem liegt vielmehr darin, dass die rechtskonservative Regierungskoalition Cambiemos die argentinische Wirtschaft in eine massive Abhängigkeit vom Dollar und den internationalen Finanzmärkten getrieben hat. Die mehr als 100 prozentige Abwertung des Peso in diesem Jahr hat die Inflation in die Höhe getrieben. Bereits im September lag diese bei über 32 Prozent. Die ohnehin schon mageren Gehälter wurden nicht entsprechend angepasst, weshalb der Konsum dramatisch eingebrochen ist. Dazu kommt die Verteuerung von Strom, Gas und Wasser. Das trifft vor allem die armen Haushalte und geht zu Lasten der Grundbedürfnisbefriedigung.

„Ich bekomme eine Sozialhilfe vom Staat von 5750 Pesos (etwa 133 Euro) und ein wenig Geld für die Kinder, aber das reicht hinten und vorne nicht. Und Arbeit kriege ich nicht, nicht mit den Kindern und ohne Schulabschluss“, erzählt Rocio. Rocio ist 23 Jahre alt, Mutter von drei Kindern und besucht jeden Abend eine Volkshochschule im Armenstadtteil Villa 31, um die Oberstufe abzuschließen. Um heute in Argentinien nicht als arm zu gelten, muss eine Familie im Monat mehr als 22.000 Pesos (etwa 510 Euro) verdienen. Für mehr als ein Drittel der Bevölkerung des Landes liegt das außer Reichweite. “Bis Anfang dieses Jahres konnte ich meinen Kindern wenigstens noch jeden Tag ein vernünftiges Essen auf den Tisch stellen, aber jetzt haben wir nicht mal mehr Geld, um das Gas zum Kochen zu bezahlen. Zum Glück gibt es die Gemeinschaftszentren, wo ich die Kleinen hinschicken kann. Dort bekommen sie auch etwas zu essen, aber wenn du da nicht früh hingehst, kommst du nicht mehr rein. Zu viele Leute haben Hunger“, berichtet Rocio weiter.

Doch es sind nicht nur die Lebensmittel, die fehlen. „In unser Viertel kommt nicht mal der Krankenwagen, weil die Straßen nicht asphaltiert sind. Kindertagesstätten oder eine Schule gibt es nicht und jedes Mal, wenn es regnet, steht mein Haus unter Wasser, weil die Regierung die versprochenen Abwasserkanäle nicht baut“, erzählt Ana. Sie lebt im sogenannten zweiten Gürtel, in der Stadt La Matanza, nur etwa 30 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Buenos Aires. Hier ist die Situation besonders prekär. Etwa 45 Prozent der Menschen können die Nebenkosten nicht mehr bezahlen. Nicht selten muss in Schulen der Unterricht nach zwei Stunden abgebrochen werden, weil es kein Wasser gibt. Die Provinzgouverneurin und Parteigenossin Macris, Maria Eugenia Vidal, investiert aber lieber in mehr Polizei auf den Straßen.

Die sozialen Bewegungen im Land, vor allem jene, die in den ärmsten Stadt- und Landesteilen mit den Menschen arbeiten, sind besorgt. Gonzalo vom Bündnis Vamos berichtet: „Seit Juni, als der Peso dermaßen an Wert verloren hat, ist es für uns noch schwerer geworden, den sozialen Unmut in den Vierteln einzudämmen. Die Menschen sind wütend auf Macri. Sie fühlen sich betrogen. Er hat eine Reduzierung der Armut und mehr Arbeit versprochen, aber genau das Gegenteil ist eingetroffen. Außerdem hat er den Internationalen Währungsfonds wieder ins Land geholt, der am Zusammenbruch der Wirtschaft im Jahr 2001 beteiligt war. Das sind alles Faktoren, die dazu führen, dass sich die Stimmung immer mehr aufheizt.“

Bereits im Dezember 2017 kam es während der Parlamentsdebatte zur Rentenreform zu massiven Ausschreitungen vor dem Kongressgebäude. Auch dieses Jahr könnte es wieder heikel werden für die Regierung, denn mehr als 50 Prozent aller Unternehmen haben für den Dezember Entlassungen angekündigt. Die Regierung kürzt weiter im Sozialbereich: Erst kürzlich wurde per Dekret mehr Geld für die Polizei zur Verfügung gestellt, das aus dem Bildungs- und Gesundheitshaushalt abgezogen wurde. Die nun noch besser ausgerüstete Polizei wird vom 30. November bis 1. Dezember Schwerstarbeit zu leisten haben, wenn in Buenos Aires der G-20-Gipfel stattfindet – eine riesige PR-Show für Mauricio Macri. Die Nachricht, die von diesem Gipfel in alle Welt dringen soll, steht fest: Wenn die 20 wichtigsten politischen Repräsentant*innen der Welt sagen, Argentinien sei auf dem richtigen Weg, dann ist das so. Das argentinische Volk irrt also, wenn es gegen den vom IWF diktierten Haushalt 2019, der auch „Armut per Dekret“ genannt werden kann, auf die Straßen geht. Es irrt auch, wenn es an seinem Präsidenten zweifelt, der, während tausende argentinischer Kinder hungrig ins Bett gehen, seine illustren Gäste am 30. November im Colón-Theater bei einem festlichen Abendessen verköstigen wird. Aber wofür hat das Land den Milliardenkredit des IWF, wenn nicht dafür?

ZWILLINGSDEFIZIT SCHLÄGT INS KONTOR


Schafft Mauricio Macri das historische Novum? Noch nie hat ein gewählter argentinischer Präsident, der nicht aus den Reihen der Peronisten stammte, seine Amtszeit zu Ende gebracht. Die kommenden Wahlen stehen im Oktober 2019 an und die Zeit bis dahin kann für Macri sehr lang werden. Macri ist in Not, im Parlament greift er zum Veto gegen eine Mehrheitsentscheidung, finanziell ist das Land derart in Bedrängnis, dass Macri beim Internationalen Währungsfonds (IWF) vorstellig wurde. Vor allem, weil sich der argentinische Peso im Sinkflug gegenüber dem Dollar befindet, mit 21 Prozent Wertverlust allein im Mai 2018 weit mehr als der brasilianische Real (6,7 Prozent) oder der mexikanische Peso (6,4 Prozent). Seit die US-amerikanische Notenbank FED die Zinsen erhöht und damit Anreiz zur Kapitalflucht in die USA gegeben hat, ist Argentinien bei der Abwertung der Währungen aus den Schwellenländern gegenüber dem Greenback bereits Weltmeister – wobei diese Sehnsucht in der Bevölkerung sich bekanntlich erst auf die anstehende Fußballweltmeisterschaft in Russland richtet.

Trump nannte Macris Wirtschaftspolitik den “richtigen Weg”

Klar daneben ist eben auch vorbei. Noch im März verkündete Macri im argentinischen Kongress: „Das Schwerste haben wir hinter uns.“ Wen auch immer er mit „wir“ gemeint haben mag, das Schwerste steht seiner Regierung erst bevor. Proteste auf der Straße gegen seine Politik ist er gewohnt, nun hat er es auch noch geschafft, die in drei Fraktionen gespaltene und zerstrittene peronistische Opposition erstmals punktuell wieder zu vereinen. Zusammen besitzen sie eine Mehrheit im Parlament, die sie bisher nicht nutzten. Nun brachten sie Ende Mai ein Gesetz ein, das den sogenannten tarifazo, die jüngsten Anhebungen der staatlich subventionierten Preise für Strom und Gas, zurücknimmt und künftige Erhöhungen der Tarife maximal in Höhe der Inflation zulässt, um weitere Kaufkraftverluste bei der Bevölkerung zu verhindern. In Kraft tritt dieses Gesetz vorerst nicht, weil Macri wie angekündigt sein Veto einlegte. Subventionen zu streichen und Preise zu erhöhen, ist schließlich sein wenig origineller Ansatz, um das Haushaltsdefizit anzugehen.

„Das Veto zeigt die absolute Unfähigkeit dieser Regierung zum Dialog und ihre mangelnde Sensibilität für das Leiden von denen, die diese Tarife nicht mehr bezahlen können“, kommentierte Juan Grabois von der Confederación de Trabajadores de la Economía Popular, einer Vereinigung, die in den Armensiedlungen aktiv ist. Fakt ist: Seit Macri im Dezember 2015 sein Amt antrat, stiegen in der Hauptstadt Buenos Aires die Tarife für Strom um rund 560 Prozent, für Wasser um rund 340 Prozent und für Gas um rund 220 Prozent.

Mit seinem Veto bring Macri die Bevölkerung weiter gegen sich auf. Am 1. Juni demonstrierten in Buenos Aires 300.000 Menschen gegen seine Politik. In einem Sternmarsch zogen sie auf die Plaza de Mayo vor den Präsidentenpalast. Am 28. Mai war der „Marsch für Brot und Arbeit“ in fünf Provinzen losgegangen. Aufgerufen hatten soziale Organisationen aus dem informellen Sektor, der geschätzt rund die Hälfte der argentinischen Wirtschaftsleistung bewerk­stel­­ligt. Die Hauptforderungen lauteten: mehr Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den sozial schwachen Siedlungen, sofortige Nahrungshilfen für notleidende Kinder und Jugendliche, Hilfe für Abhängige und Drogengefährdete und die Einrichtung eines Kreditfonds für die familiären Landwirtschaftsbetriebe zum Kauf von Ackerflächen.

Ob Rücknahme des tarifazo oder die Forderungen beim „Marsch für Brot und Arbeit.“ Beides bringt die Regierung Macri in die Zwickmühle, weil es ihre Sparpläne torpediert. Das Defizit des Staatshaushalts beläuft sich auf rund fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und wird zu allem Überfluss durch ein Leistungsbilanzdefizit in etwa demselben Ausmaß flankiert – zusammen zehn Prozent. Der Fachbegriff dafür heißt Zwillings­defizit, und Länder, die damit gestraft sind, trudeln erfahrungsgemäß unweigerlich in eine Währungs- und Wirtschaftskrise. Die Währungskrise ist schon da.

Der 8. Mai 2018 ist sicher der bisherige Tiefpunkt in Macris Amtszeit: Um ein Uhr mittags unterbrachen die wichtigsten Fernsehsender des Landes ihr Programm, um Macris Rede an die Nation zu übertragen. Sie war kurz und weckte schmerzhafte Erinnerungen. „Ich habe beschlossen, Gespräche über Finanzhilfen mit dem Internationalen Währungsfonds aufzunehmen. Wir gehen den einzigen möglichen Weg, um dem Stillstand zu entkommen und eine große Wirtschaftskrise zu verhindern, die uns allen schaden würde“, merkte er zerknirscht an. Der Gang zum IWF, um einen 30-Milliarden-Dollar-Beistandskredit zu ergattern, ist nicht weniger als der Offenbarungseid seiner bisherigen Wirtschaftspolitik. Der IWF zeigte sich entgegenkommend und gewährte gar eine Kreditlinie von maximal 50-Milliarden-Dollar. Die Bedingung: Bereits im Jahr 2020 soll ein ausgeglichener Primärhaushalt (ohne Schuldendienst) zwischen Staatseinnahmen und -ausgaben erreicht werden.

Eine „Revolution der Freude“ hatte er im Wahlkampf versprochen, nun kommt der IWF nach Argentinien zurück, wo er zu Recht einen denkbar schlechten Ruf hat. Unter dem Rechtsperonisten Carlos Menem (1989-99) hatte sich Argentinien sklavisch an die Vorgaben des IWF gehalten. Die Einfuhrzölle wurden minimiert; Unternehmensgewinne wurden niedriger besteuert als in den USA; die Mehrwertsteuer, die alle zahlen, wurde massiv erhöht; das Land gab Anleihen zu hohen Renditen aus, um Kapital anzulocken. Davon profitierten die Anleger*innen und dafür zahlte der argentinische Durchschnittsmensch die Zeche. Um die Jahreswende 2001/2002 führte diese Politik in die Zahlungsunfähigkeit und zur größten Staatspleite der Nachkriegszeit. Millionen argentinische Sparer*innen verloren große Teile ihrer Guthaben. Seither gilt der IWF jenseits der Oberschicht als kollektives Feindbild. Néstor Kirchner löste 2005 mittels Kredit von Venezuelas damaligem Präsident Hugo Chávez sämtliche IWF-Schulden vorzeitig ab, fast zehn Milliarden Dollar, um wieder eigenständig Wirtschaftspolitik machen zu können.

Der Gang zum IWF fiel Macri nicht leicht. Noch in der Woche davor hatte die Regierung in einer koordinierten Aktion mit der Zentralbank versucht, wieder Vertrauen zu schaffen. Davor hatte die Zentralbank an einem Tag so viele Dollar wie nie zuvor verkauft – ohne die Abwertung des Peso stoppen zu können. Daraufhin erhöhte die Zentralbank den Leitzins zum dritten Mal innerhalb von acht Tagen auf nunmehr 40 Prozent – fast das Doppelte der für das laufende Jahr erwarteten Inflationsrate. Gleichzeitig kündigte Schatzminister Nicolás Dujovne eine Kürzung des für 2018 geplanten Haushaltsdefizits von 3,2 auf 2,7 Prozent des BIP an – ohne Schuldendienstzahlungen, die sich auf mindestens noch einmal zwei Prozent des BIP addieren. Der Kurs des Peso beruhigte sich daraufhin leicht, dennoch sieht Macri ohne den IWF-Kredit kein Land, auch weil die Zinswende in den USA den Schuldendienst Argentiniens 2018 mächtig erhöhen wird – laut Telesur um exakt die 30 Milliarden Dollar, die vom IWF kommen sollen.

Drei Viertel der Argentinier*innen lehnen laut Umfragen neue IWF-Kredite ab. So zogen postwendend Tausende Argentinier*innen auf die Straße, um gegen ein neues IWF-Abkommen zu protestieren und gegen die angekündigten Haushaltskürzungen und Massenentlassungen im öffentlichen Bildungssektor gleich mit.

„Die Menschen leiden und die Regierung findet keinen Weg, der uns an einen besseren Ort bringt“, sagte Roberto Baigorria, Mitglied der linken Partei Libres del Sur als Reaktion auf die Ankündigung der Kreditaufnahme. Macri ließ verlauten: „Der IWF wird uns keine Bedingungen stellen. Sie werden sich weder in unsere Gesetzgebung noch in die Anpassungen einmischen. Hier gibt es keine versteckte Agenda oder Verhandlungen.“ Keiner glaubt Macris Worten.

Wenig hilfreich für Macri hat sich nun auch Donald Trump eingemischt: Der US-Präsident nannte Macris Wirtschaftspolitik den „richtigen Weg“. Was der Argentinier da treibe, sei hundertmal besser als die chaotische Wirtschaftspolitik in, beispielsweise, dem sozialistischen Venezuela. Venezuela hin oder her – Ansagen aus den USA sind in Argentinien auf alle Fälle nicht willkommen, ob aus dem Weißen Haus oder vom IWF.
Macri ist mit seinem Reformlatein am Ende. Die Freigabe des Wechselkurses, die Aufhebung der Agrarexportbesteuerung beziehungsweise der Senkung beim Soja, die Abschaffung der Steuern auf den Bergbau: Die von ihm versprochene Flut bei Neuinvestitionen wurde dadurch jedenfalls nicht ausgelöst. Stattdessen sieht er sich nun mit Kapitalflucht in die USA konfrontiert, weil dort die Zinsen steigen. Es sind die Anleger*innen, für die er in Argentinien die Profitbedingungen verbessert hat, die ihm jetzt auf der Suche nach Mehrprofit den Rücken kehren.
Argentiniens wirtschaftliche Lage ist düster: Die Landwirtschaft, die den Großteil der Deviseneinnahmen einbringt, wird nach der schwersten Dürre seit Jahrzehnten in diesem Jahr etwa 20 Prozent weniger ernten und einen Einnahmeverlust in Höhe von rund einem Prozent des BIP verursachen. Eine neue Steuer, die Argentinien seit April auf die Zinseinkünfte ausländischer Anleger erhebt, hat die Kapitalflucht beschleunigt. Über all dem thront Argentiniens Zwillingsdefizit. Dieses macht das Land besonders anfällig für weitere Zinserhöhungen in den Vereinigten Staaten – und damit zu einem bevorzugten Kandidaten für den Rückzug von Anleger*innen, die sich im riskanten Markt der Schwellenländer tummeln, wo die Chancen und Risiken größer sind als in den Industriestaaten. Die von Macri noch im März verkündete Botschaft, dass die Zahl der Armen auf zehn Millionen gesunken sei – jede*r Vierte – dürfte schon überholt sein. Derzeit wachsen Auslandsverschuldung und Armut wieder simultan.

KRANKE KASSE

In vielen lateinamerikanischen Ländern sorgt eine halbwegs funktionierende Rentenversicherung zwar nicht unbedingt für einen sorgen-freien Übergang in den Ruhestand, aber immerhin für eine minimale Form der Existenzsicherung. Doch auch damit könnte es in Nicaragua bald vorbei sein, wenn man dem Internationalen Währungsfonds (IWF) glauben darf. So stellte dieser in einer im Juni dieses Jahres erschienenen Studie fest, dass „2019 Nicaraguas Institut für Sozialversicherung (INSS), einige Jahre früher als gedacht, die Mittel ausgehen werden“, sollte es mit seiner bisherigen Handhabung der Renteneinzahlungen weitermachen. Kosten und Ausgaben würden in diesem Falle in so enormen Maße weiter über die Einnahmen steigen, dass eine Gegenfinanzierung über die Einzahler*innen sowie aus Zinseinnahmen des Rententopfs nicht mehr gegeben wäre. Anders ausgedrückt: In der nicaraguanischen Kranken- und Rentenkasse klafft derzeit ein tiefes Loch. Laut Zahlen der Nicaraguanischen Zentralbank (BCN) hat sich das Defizit seit 2013 in nur drei Jahren von umgerechnet rund sieben Millionen Euro auf stattliche 60 Millionen Euro Ende 2016 vergrößert, Tendenz steigend. Rund 850.000 formal Beschäftigte und als Selbstständige freiwillig Einzahlende, die über das INSS künftig Kassenleistungen oder Altersgeld beziehen möchten, können sich damit in Zukunft auf schmerzende Einschnitte einstellen.

Dabei hatte das INSS bis vor einigen Jahren verlässlich Überschüsse generiert. Der jetzige Absturz in die roten Zahlen ist erstaunlich, da er weder an einer sich wandelnden demographischen Entwicklung noch an gravierend geänderten ökonomischen Rahmenbedingungen festzu-machen ist. So litt die Kasse stets unter verhältnismäßig geringen Einzahlungen und einem sich außerhalb des staatlich organisierten Rentensystems befindenden informellen Sektor. Laut Internationaler Arbeitsorganisation (ILO) ist mit über 70 Prozent der Großteil der arbeitenden Bevölkerung in Nicaragua informell beschäftigt. Auch das in den letzten Jahren gestiegene, aber immer noch niedrige Rentenniveau sollte sich eigentlich durch die heute höheren Gehälter und die damit einhergehenden höheren Einzahlungen ausgleichen. Doch es machen sich nun einige Maßnahmen im Rentenhaushalt negativ bemerkbar. Laut der Tageszeitung La Prensa gehört dazu die Vervierfachung der Mindestrente von 2006 bis 2016 sowie die Einführung der Rente für Nicht-Volleinzahler*innen im Jahre 2013. Beide sind zwar generell begrüßenswert, allerdings haben sie den Beigeschmack von verteilten Geschenken an die Wähler*innen der Regierungspartei Sandinistische Nationale Befreiungsfront (FSLN).

Vor allem aber geht die beständige Talfahrt der Kassenreserven mit verschiedenen anderen Eingriffen der Regierung Daniel Ortegas einher. So haben sich laut La Prensa seit der Vorgängerregierung von 2007 bis heute die Personal- und Verwaltungskosten des INSS mehr als verdoppelt. Dies mag zwar auch an einer laut INSS-Präsident Roberto López „für den besseren Service“ vorgenommenen Ausweitung des landesweiten Netzes von INSS-Zweigstellen liegen. Insbesondere habe Ortega aber laut La Prensa die Zahl der INSS-Mitarbeiter*innen vorzugsweise mit FSLN-Kadern und Regierungsleuten in den vergangenen Jahren verdreifacht. Die dort Beschäftigten haben nicht nur ein wesentlich höheres Einkommen als so gut wie alle anderen Berufsgruppen Nicaraguas, sondern beziehen neben dem dreizehnten sogar noch ein vierzehntes Monatsgehalt.


Delikat ist auch die Praxis des INSS, Beitragsmittel für Immobilienprojekte zu investieren.

Delikat ist auch die Praxis des INSS, Beitragsmittel für Immobilienprojekte zu investieren, was die Liquidität des Rententopfs drastisch reduziert hat. Aufsehen erregte in diesem Rahmen 2013 ein Fall, als das INSS für den Bau einer Luxusimmobilie in Managua eine Millioneninvestition zusagte, deren Errichtung die Baufirma eines INSS-Vorstands besorgte. Dieser räumte bei Bekanntwerden der Tatsache zwar seinen Posten, die Kassengelder hatte er sich jedoch bereits geschickt in die eigene Tasche gesteckt. Aber auch bei den für eine Sozialversicherung üblichen Kapitalgeschäften mit Beitragsmitteln ist die Rendite in den vergangenen Jahren immer weiter abgesunken.

Statt diese seit langem brodelnden Probleme strukturell anzugehen oder im eigenen Haus aufzuräumen, versucht das INSS wiederum dort einzusparen, wo es ihm am einfachsten erscheint – also dort, wo mit wenig Gegenwehr zu rechnen ist. So ist es mittlerweile dazu übergegangen, bestimmte Medikamente an Rentner*innen zu verkaufen, die diese vorher kostenfrei als Kassenleistung zur Verfügung gestellt bekamen. Bei anderen Medikamenten wurde die Ausgabe begründungslos eingeschränkt. Laut Luis Orlando Aráuz von der Rentner*innenvereinigung AJUPIN, die Ende Juli einen der sehr kleinen Proteste organisierte, gefährde das INSS damit nun die Gesundheit Tausender älterer Menschen und chronisch Kranker, die ernsthafte Schwierigkeiten haben, Geld für den Medikamentenkauf aufzubringen. Allerdings werden die meisten älteren Menschen im Lande aus Angst auch nicht dagegen vorgehen. „Wir haben dazu aufgerufen, zu protestieren und die Leute sagen uns, dass sie dann das Wenige wegnehmen könnten, das sie einem jetzt noch geben”, so Aráuz in La Prensa weiter.

Aber auch der IWF schlägt in seiner Analyse vom Juni Reformmaßnahmen vor, die das Rentner*innenherz nicht höher, sondern eher kürzer schlagen lassen werden. So stehen in klassischer IWF-Manier eine Erhöhung des Rentenalters von 60 auf 63 bzw. 65 Jahre, eine längere Lebensarbeitszeit sowie eine bis zu 30-prozentige Kürzung der Durchschnittsrente im Aktionskatalog, ohne dabei natürlich die Besserverdienenden verstärkt zu belasten. Immerhin ist der IWF zumindest so konsequent, dass er – seiner Linie treu bleibend – auch Lohnanpassungen und die Verringerung der Verwaltungskosten beim INSS einfordert.

INSS-Präsident López reagierte auf diese Vorschläge zunächst eher reserviert. So sagte er im Namen der Regierung, dass weder INSS noch das Wirtschaftsministerium sich bis dato Gedanken über die Erhöhung der Lebensarbeitszeit oder des Rentenalters gemacht hätten. „Das Rentenalter steht bei der nicaraguanischen Regierung nicht zur Debatte“, so López bei einer Pressekonferenz. Pikanterweise hatte er beides in gleicher Funktion im Jahre 2010 noch als Lösungs-ansatz selbst ins Spiel gebracht.

Auch wenn sich Regierung und INSS plakativ noch gegen den IWF stellen und dessen Berechnungen sogar als „unrealistisch“ bezeichnen, wird es kaum eine Alternative zur Reform des Rentensystems geben. Mehr Renteneinnahmen sind momentan schlicht nicht drin. Kurzfristig könnte die Ortega-Regierung zwar versuchen, dem Kassen-Kollaps mit weiteren als den bisher aufgewendeten Steuermitteln entgegenzulenken, um diesen um einige Jahre nach hinten zu verschieben. Aber mittelfristig würde dies an anderer Stelle empfindliche Löcher in den Staatshaushalt reißen.
Durchatmen könnten die sozialversicherten Arbeitnehmer*innen sowie die Alten und Kranken Nicaraguas aber selbst dann nicht, wenn Regierung und INSS alle benannten IWF-Reformvorschläge umsetzen würden. So prognostiziert der IWF nämlich, dass selbst dann nur eine Stabilisierung des INSS bis zum Jahre 2040 gesichert wäre.

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