Argentinien | Nummer 528 - Juni 2018 | Wirtschaft

ZWILLINGSDEFIZIT SCHLÄGT INS KONTOR

Macri sucht wegen doppelter Schieflage Zuflucht beim Internationalen Währungsfonds

Den Internationalen Währungsfonds (IWF) und Argentinien verbindet eine Geschichte der Hassliebe. Verhasst ist die Washingtoner Kreditinstitution bei der Normalbevölkerung, beliebt bei Politiker*innen wie dem amtierenden neoliberalen Präsidenten Mauricio Macri und einst den Schergen der Militärdiktatur (1976-83), die mittels Auslandsverschuldung Wachstum generieren wollten. Dasselbe Grundkonzept verfolgt Macri seit 2015 – erfolglos. Jetzt ist die Regierung wegen eines gleichzeitigen Haushalts- und Leistungsbilanzdefizits so klamm, dass sie wieder zum Bittsteller geworden ist – zwölf Jahre nachdem der linksperonistische Néstor Kirchner vorzeitig mit Chávez’ Hilfe sämtliche Kredite zurückzahlte, um wieder autonom von IWF-Rezepten Wirtschaftspolitik gestalten zu können.

Von Martin Ling


Schafft Mauricio Macri das historische Novum? Noch nie hat ein gewählter argentinischer Präsident, der nicht aus den Reihen der Peronisten stammte, seine Amtszeit zu Ende gebracht. Die kommenden Wahlen stehen im Oktober 2019 an und die Zeit bis dahin kann für Macri sehr lang werden. Macri ist in Not, im Parlament greift er zum Veto gegen eine Mehrheitsentscheidung, finanziell ist das Land derart in Bedrängnis, dass Macri beim Internationalen Währungsfonds (IWF) vorstellig wurde. Vor allem, weil sich der argentinische Peso im Sinkflug gegenüber dem Dollar befindet, mit 21 Prozent Wertverlust allein im Mai 2018 weit mehr als der brasilianische Real (6,7 Prozent) oder der mexikanische Peso (6,4 Prozent). Seit die US-amerikanische Notenbank FED die Zinsen erhöht und damit Anreiz zur Kapitalflucht in die USA gegeben hat, ist Argentinien bei der Abwertung der Währungen aus den Schwellenländern gegenüber dem Greenback bereits Weltmeister – wobei diese Sehnsucht in der Bevölkerung sich bekanntlich erst auf die anstehende Fußballweltmeisterschaft in Russland richtet.

Trump nannte Macris Wirtschaftspolitik den “richtigen Weg”

Klar daneben ist eben auch vorbei. Noch im März verkündete Macri im argentinischen Kongress: „Das Schwerste haben wir hinter uns.“ Wen auch immer er mit „wir“ gemeint haben mag, das Schwerste steht seiner Regierung erst bevor. Proteste auf der Straße gegen seine Politik ist er gewohnt, nun hat er es auch noch geschafft, die in drei Fraktionen gespaltene und zerstrittene peronistische Opposition erstmals punktuell wieder zu vereinen. Zusammen besitzen sie eine Mehrheit im Parlament, die sie bisher nicht nutzten. Nun brachten sie Ende Mai ein Gesetz ein, das den sogenannten tarifazo, die jüngsten Anhebungen der staatlich subventionierten Preise für Strom und Gas, zurücknimmt und künftige Erhöhungen der Tarife maximal in Höhe der Inflation zulässt, um weitere Kaufkraftverluste bei der Bevölkerung zu verhindern. In Kraft tritt dieses Gesetz vorerst nicht, weil Macri wie angekündigt sein Veto einlegte. Subventionen zu streichen und Preise zu erhöhen, ist schließlich sein wenig origineller Ansatz, um das Haushaltsdefizit anzugehen.

„Das Veto zeigt die absolute Unfähigkeit dieser Regierung zum Dialog und ihre mangelnde Sensibilität für das Leiden von denen, die diese Tarife nicht mehr bezahlen können“, kommentierte Juan Grabois von der Confederación de Trabajadores de la Economía Popular, einer Vereinigung, die in den Armensiedlungen aktiv ist. Fakt ist: Seit Macri im Dezember 2015 sein Amt antrat, stiegen in der Hauptstadt Buenos Aires die Tarife für Strom um rund 560 Prozent, für Wasser um rund 340 Prozent und für Gas um rund 220 Prozent.

Mit seinem Veto bring Macri die Bevölkerung weiter gegen sich auf. Am 1. Juni demonstrierten in Buenos Aires 300.000 Menschen gegen seine Politik. In einem Sternmarsch zogen sie auf die Plaza de Mayo vor den Präsidentenpalast. Am 28. Mai war der „Marsch für Brot und Arbeit“ in fünf Provinzen losgegangen. Aufgerufen hatten soziale Organisationen aus dem informellen Sektor, der geschätzt rund die Hälfte der argentinischen Wirtschaftsleistung bewerk­stel­­ligt. Die Hauptforderungen lauteten: mehr Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den sozial schwachen Siedlungen, sofortige Nahrungshilfen für notleidende Kinder und Jugendliche, Hilfe für Abhängige und Drogengefährdete und die Einrichtung eines Kreditfonds für die familiären Landwirtschaftsbetriebe zum Kauf von Ackerflächen.

Ob Rücknahme des tarifazo oder die Forderungen beim „Marsch für Brot und Arbeit.“ Beides bringt die Regierung Macri in die Zwickmühle, weil es ihre Sparpläne torpediert. Das Defizit des Staatshaushalts beläuft sich auf rund fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und wird zu allem Überfluss durch ein Leistungsbilanzdefizit in etwa demselben Ausmaß flankiert – zusammen zehn Prozent. Der Fachbegriff dafür heißt Zwillings­defizit, und Länder, die damit gestraft sind, trudeln erfahrungsgemäß unweigerlich in eine Währungs- und Wirtschaftskrise. Die Währungskrise ist schon da.

Der 8. Mai 2018 ist sicher der bisherige Tiefpunkt in Macris Amtszeit: Um ein Uhr mittags unterbrachen die wichtigsten Fernsehsender des Landes ihr Programm, um Macris Rede an die Nation zu übertragen. Sie war kurz und weckte schmerzhafte Erinnerungen. „Ich habe beschlossen, Gespräche über Finanzhilfen mit dem Internationalen Währungsfonds aufzunehmen. Wir gehen den einzigen möglichen Weg, um dem Stillstand zu entkommen und eine große Wirtschaftskrise zu verhindern, die uns allen schaden würde“, merkte er zerknirscht an. Der Gang zum IWF, um einen 30-Milliarden-Dollar-Beistandskredit zu ergattern, ist nicht weniger als der Offenbarungseid seiner bisherigen Wirtschaftspolitik. Der IWF zeigte sich entgegenkommend und gewährte gar eine Kreditlinie von maximal 50-Milliarden-Dollar. Die Bedingung: Bereits im Jahr 2020 soll ein ausgeglichener Primärhaushalt (ohne Schuldendienst) zwischen Staatseinnahmen und -ausgaben erreicht werden.

Eine „Revolution der Freude“ hatte er im Wahlkampf versprochen, nun kommt der IWF nach Argentinien zurück, wo er zu Recht einen denkbar schlechten Ruf hat. Unter dem Rechtsperonisten Carlos Menem (1989-99) hatte sich Argentinien sklavisch an die Vorgaben des IWF gehalten. Die Einfuhrzölle wurden minimiert; Unternehmensgewinne wurden niedriger besteuert als in den USA; die Mehrwertsteuer, die alle zahlen, wurde massiv erhöht; das Land gab Anleihen zu hohen Renditen aus, um Kapital anzulocken. Davon profitierten die Anleger*innen und dafür zahlte der argentinische Durchschnittsmensch die Zeche. Um die Jahreswende 2001/2002 führte diese Politik in die Zahlungsunfähigkeit und zur größten Staatspleite der Nachkriegszeit. Millionen argentinische Sparer*innen verloren große Teile ihrer Guthaben. Seither gilt der IWF jenseits der Oberschicht als kollektives Feindbild. Néstor Kirchner löste 2005 mittels Kredit von Venezuelas damaligem Präsident Hugo Chávez sämtliche IWF-Schulden vorzeitig ab, fast zehn Milliarden Dollar, um wieder eigenständig Wirtschaftspolitik machen zu können.

Der Gang zum IWF fiel Macri nicht leicht. Noch in der Woche davor hatte die Regierung in einer koordinierten Aktion mit der Zentralbank versucht, wieder Vertrauen zu schaffen. Davor hatte die Zentralbank an einem Tag so viele Dollar wie nie zuvor verkauft – ohne die Abwertung des Peso stoppen zu können. Daraufhin erhöhte die Zentralbank den Leitzins zum dritten Mal innerhalb von acht Tagen auf nunmehr 40 Prozent – fast das Doppelte der für das laufende Jahr erwarteten Inflationsrate. Gleichzeitig kündigte Schatzminister Nicolás Dujovne eine Kürzung des für 2018 geplanten Haushaltsdefizits von 3,2 auf 2,7 Prozent des BIP an – ohne Schuldendienstzahlungen, die sich auf mindestens noch einmal zwei Prozent des BIP addieren. Der Kurs des Peso beruhigte sich daraufhin leicht, dennoch sieht Macri ohne den IWF-Kredit kein Land, auch weil die Zinswende in den USA den Schuldendienst Argentiniens 2018 mächtig erhöhen wird – laut Telesur um exakt die 30 Milliarden Dollar, die vom IWF kommen sollen.

Drei Viertel der Argentinier*innen lehnen laut Umfragen neue IWF-Kredite ab. So zogen postwendend Tausende Argentinier*innen auf die Straße, um gegen ein neues IWF-Abkommen zu protestieren und gegen die angekündigten Haushaltskürzungen und Massenentlassungen im öffentlichen Bildungssektor gleich mit.

„Die Menschen leiden und die Regierung findet keinen Weg, der uns an einen besseren Ort bringt“, sagte Roberto Baigorria, Mitglied der linken Partei Libres del Sur als Reaktion auf die Ankündigung der Kreditaufnahme. Macri ließ verlauten: „Der IWF wird uns keine Bedingungen stellen. Sie werden sich weder in unsere Gesetzgebung noch in die Anpassungen einmischen. Hier gibt es keine versteckte Agenda oder Verhandlungen.“ Keiner glaubt Macris Worten.

Wenig hilfreich für Macri hat sich nun auch Donald Trump eingemischt: Der US-Präsident nannte Macris Wirtschaftspolitik den „richtigen Weg“. Was der Argentinier da treibe, sei hundertmal besser als die chaotische Wirtschaftspolitik in, beispielsweise, dem sozialistischen Venezuela. Venezuela hin oder her – Ansagen aus den USA sind in Argentinien auf alle Fälle nicht willkommen, ob aus dem Weißen Haus oder vom IWF.
Macri ist mit seinem Reformlatein am Ende. Die Freigabe des Wechselkurses, die Aufhebung der Agrarexportbesteuerung beziehungsweise der Senkung beim Soja, die Abschaffung der Steuern auf den Bergbau: Die von ihm versprochene Flut bei Neuinvestitionen wurde dadurch jedenfalls nicht ausgelöst. Stattdessen sieht er sich nun mit Kapitalflucht in die USA konfrontiert, weil dort die Zinsen steigen. Es sind die Anleger*innen, für die er in Argentinien die Profitbedingungen verbessert hat, die ihm jetzt auf der Suche nach Mehrprofit den Rücken kehren.
Argentiniens wirtschaftliche Lage ist düster: Die Landwirtschaft, die den Großteil der Deviseneinnahmen einbringt, wird nach der schwersten Dürre seit Jahrzehnten in diesem Jahr etwa 20 Prozent weniger ernten und einen Einnahmeverlust in Höhe von rund einem Prozent des BIP verursachen. Eine neue Steuer, die Argentinien seit April auf die Zinseinkünfte ausländischer Anleger erhebt, hat die Kapitalflucht beschleunigt. Über all dem thront Argentiniens Zwillingsdefizit. Dieses macht das Land besonders anfällig für weitere Zinserhöhungen in den Vereinigten Staaten – und damit zu einem bevorzugten Kandidaten für den Rückzug von Anleger*innen, die sich im riskanten Markt der Schwellenländer tummeln, wo die Chancen und Risiken größer sind als in den Industriestaaten. Die von Macri noch im März verkündete Botschaft, dass die Zahl der Armen auf zehn Millionen gesunken sei – jede*r Vierte – dürfte schon überholt sein. Derzeit wachsen Auslandsverschuldung und Armut wieder simultan.

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