Argentinien | Nummer 384 - Juni 2006

Pinguin steht auf VW…

…und die Mehrheit der ArgentinierInnen auf Kirchner

Nach drei Jahren in der Casa Rosada ist der Präsident so beliebt wie kaum einer seiner Vorgänger. Einen Großteil der Menschenrechtsbewegung im Rücken setzt er vor allem auf die Großindustrie, was hohe Wachstumsraten beschert. Zu Armen und Arbeitslosen sickert jedoch kaum etwas durch.

Jürgen Vogt

Ich habe meine Gruppe verloren.“ Maria ist nicht vor dem Präsidentenpalast. Die 64-Jährige sitzt am Straßenrand beim Obelisken und schlürft gemütlich ihren Mate. Seit sechs Uhr ist sie auf den Beinen, um acht Uhr war Abfahrt ins Zentrum der Hauptstadt Buenos Aires. Der 25. Mai ist in Argentinien Nationalfeiertag und die zentrale Veranstaltung findet wie jedes Jahr auf der Plaza de Mayo statt. Seit 2003 fällt der Feiertag mit dem Amtsantritt des argentinischen Präsidenten Néstor Kirchner zusammen.
Für Kirchner hat sein viertes Amtsjahr begonnen. Noch vor drei Jahren setzte niemand einen Peso auf den schielenden und lispelnden Schlacks aus der Pinguinprovinz Santa Cruz. Heute sitzt Kirchner fester in seinem Amtssessel als die große Mehrzahl seiner VorgängerInnen. Nach den letzten Meinungsumfragen sind 80 Prozent der ArgentinierInnen für eine zweite Amtszeit ihres 56-jährigen Präsidenten.
Rosa lächelt: „Einige kommen wegen des Feiertages, andere kommen wegen des Präsidenten. Um acht ist Abfahrt, hieß es.“ Kirchners AnhängerInnen mobilisierten seit Wochen zu einer großen Pro-Kirchner-Demonstration am Nationalfeiertag auf der Plaza de Mayo. Lange galt das Erscheinen des Präsidenten als ungewiss. Als klar war, dass die Plaza voll sein würde, sagte auch Kirchner sein Kommen zu. Nach Angaben der VeranstalterInnen sind 300.000 Menschen gekommen.

Ein holpriger Weg …

Argentinien geriet 1998 in eine der schwersten Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Im Dezember 2001 jagte die protestierende Bevölkerung den damaligen bürgerlichen Präsidenten Fernando de la Rúa aus dem Amt. Es folgten fünf Präsidenten in zwei Wochen. Der wirtschaftliche und politische Niedergang setzte sich fort. Schließlich führte der Peronist Eduardo Duhalde das Präsidentenamt gut ein Jahre bis zu den neuen Präsidentschaftswahlen. Im Mai 2003 stand Néstor Kirchner als Sieger der Präsidentenwahl fest, bevor es zu der vorgesehenen Stichwahl kam, da sein Gegenkandidat Carlos Menem zu dieser nicht mehr antrat.
„Er hatte kaum eine Legitimation. Er konnte ja nicht in den zweiten Wahlgang und hatte als Zweitplazierter im ersten Wahlgang gerade mal 22 Prozent der Stimmen,“ sagt Eduardo Vior, Professor für Politische Wissenschaft an der Universität La Matanza in der Provinz Buenos Aires. „Aber er ergriff sofort Maßnahmen zur Säuberung des Militärs und machte eine starke Menschenrechtspolitik.“ Damit konnte Kirchner den Großteil der einflussreichen argentinischen Menschenrechtsbewegung hinter sich bringen.
Auch an diesem 25. Mai stehen neben Kirchner die Mütter der Plaza de Mayo mit ihren weißen Kopftüchern auf der Bühne. Mercedes Sosa stimmt die Nationalhymne an. Die Schlüsselworte der 15-minütigen Rede Kirchners sind Rückgewinnung und Wiederaufbau. Rückgewinnung und Wiederaufbau des Staates, der Industrie, der Landwirtschaft, der Erinnerung, der Gerechtigkeit. Kein Wort von Wiederwahl 2007. Kirchner nimmt den KritikerInnen den Wind aus den Segeln, die zuvor Sturm liefen gegen eine Vereinnahmung des Feiertages für seinen Wahlkampfauftakt.

… zum Global Player

Für Vior hat Kirchner wenig von einem professionellen Politiker, weil er kaum auf Kompromisse eingeht: „Er ist ein Vollblutaktivist, der stur durch die Wand geht. Er hat sich als ein desarrollista definiert, ein Entwicklungsfanatiker.“ Mit diesem Fanatismus setzt Kirchner auf die großen argentinischen Industriekonzerne und betreibt eine Politik der Re-Industrialisierung. „Er geht davon aus, dass Argentinien seine internen Probleme nur als Global Player lösen kann,“ so der Politologe.
Dazu passt, dass VW Argentina in Anwesenheit des Präsidenten Kirchner vor wenigen Wochen das neue Modell Suran feierte, das ausschließlich in Argentinien gebaut wird. Viktor Klima, seit 2000 Präsident von VW Argentina, bestätigt, dass Kirchner im Vergleich zu Vorgängerregierungen stark auf eine Re-Industrialisierung des Landes setzt. Für den ehemaligen österreichischen Bundeskanzler ist Kirchner eine interessante Mischung eines Politikers, der penibel auf eine solide Haushaltspolitik mit Überschüssen achtet und versucht, mit politischem Einfluss Preise zu regulieren um damit die Inflation im Zaum zu halten. Der Autobauer hat von dem jährlichen Wirtschaftswachstum zwischen acht und zehn Prozent in den letzten drei Jahren profitiert. „Nach einer harten Konsolidierungsphase ist VW heute Marktführer in Argentinien.“
Seit Kirchners Amtsantritt geht es mit Argentiniens Wirtschaft aufwärts. „Kirchner hat Glück und Soja,“ kommentierte dies kürzlich Ex-Präsident Carlos Menem. Tatsächlich ist die Landwirtschaft der Motor des Aufschwungs und Kirchner profitiert von den Entscheidungen seines Vorgängers Duhaldes. Allen voran die Aufhebung der festen Währungsverhältnisses 2002. Bis dahin war ein Peso gleich ein Dollar wert. Nach der Freigabe des Wechselkurses kostete ein Dollar schnell drei Peso. Seitdem erlebt Argentinien einen Soja- und Exportboom bei Agrarprodukten. 40 Prozent der Exporterlöse bringt allein das Soja. Und da auf dem Weltmarkt mit Dollar bezahlt wird, bedeutet Außenhandel Dollareinnahmen, die über die Exportsteuer auch in die Staatskasse fließen.
Die Dollars halfen Ende 2005 auch bei der vorzeitigen Rückzahlungen aller Schulden beim Internationalen Währungsfonds (IWF). Kirchner hatte damals die komplette Schuldentilgung beim verhassten IWF vor den GouverneurInnen der Provinzen, geladenen UnternehmerInnen, Gewerkschaftsführern, VertreterInnen der Streitkräfte und Menschenrechtsorganisationen verkündet. Estela de Carlotto, die Vorsitzende der Großmütter der Plaza de Mayo sprach anschließend, „von einem historischen Tag, weil wir mit einem Monster Schluss gemacht haben, dass uns unterdrückt hat.“

Nationale Befreiungstat

Kirchner gelang es, die Zahlung als nationale Befreiungstat zu verkaufen: „Gegen jeden anderen Politiker wäre die Bevölkerung Sturm gelaufen, hätte er diese, als Unrecht empfundene Schuld bezahlt“, kommentiert Eduardo Vior den Überraschungscoup des Präsidenten. Auch an diesem 25. Mai sagt Kirchner den 300.000: „Auf diesem Platz haben wir dem IWF Tschüss gesagt. Wir sind nicht länger von ihm abhängig.“
Kirchner sei es gelungen, die Diskussion über eine gerechte Einkommensverteilung durch seinen industriellen Entwicklungsdiskurs zu ersetzen, sagt die Soziologin Claudio Lozano. „Das Wirtschaftswachstum soll alle Probleme lösen“, so der unabhängige Parlamentsabgeordnete und Ökonom des alternativen Gewerkschaftsdachverbandes CTA. Lozano präsentiert eine andere Rechnung: „Auch nach drei Jahren hohem Wirtschaftswachstum haben wir 600.000 Arbeitslose mehr als 1998.“ Die Arbeitslosenquote liegt mit 14 Prozent höher als zu Beginn der Krise 1998 mit 12,4 Prozent. 40 Prozent der Bevölkerung leben noch immer unterhalb der Armutsgrenze. Das sind 4,5 Millionen Menschen mehr als 1998. Sechs von zehn Kindern wachsen in Armut auf.“
Am 25. Mai sind vor allem jene auf der Plaza de Mayo, die nicht zu den GewinnerInnen des Wirtschaftaufschwungs gehören. Die Menschen sind zwar nicht begeistert vom Präsidenten „aber in den Armenvierteln ist kaum jemand gegen ihn“, sagt Eduardo Vior. „Doch mit Kirchner ist es ein wenig besser geworden“, so Maria. Auch sie setzt auf eine Wiederwahl von Néstor Kirchner. Bis halb sieben muss sie noch warten und deutet auf ihren Bus auf der anderen Straßenseite. Dann sei die Rückfahrt, hat es geheißen.


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