Proteste in Port-au-Prince Erst auf starken Druck hin hat Präsident Moïse Parlamentswahlen angesetzt (Foto: Aljazeera via Wikimedia Commons CC BY-SA 4.0)
Haitis Präsident Jovenel Moïse hat eine exklusive Sicht auf die Dinge: „Der Demokratie geht es gut in Haiti.“ Dieses Bild versuchte er bei seiner Rede vor dem Weltsicherheitsrat in New York zu vermitteln, wo er am 22. Februar zum Rapport antreten musste. Dabei musste er sich unangenehme Kritik anhören: „Die Verantwortlichen für die Massaker von La Saline und Bel Air müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Ich stelle auch fest, dass die Ermittlungen zur Ermordung von Monferrier Dorval (Präsident der Anwaltskammer von Port-au-Prince, Anm. d. Red.) nicht vorankommen. Der Kampf gegen die Straflosigkeit muss die Priorität der Behörden sein“, brachte die UN-Botschafterin Frankreichs, Nathalie Broadhurst, ihren Unmut über die Entwicklung in der ehemaligen Kolonie zum Ausdruck. Die Massaker in La Saline am 13. November 2019 und in Bel Air am 1. September 2020 mit mehr als 70 Toten sind die traurigen Höhepunkte der Repression in der Amtszeit von Präsident Jovenel Moïse, gegen den seit Mitte 2018 immer wieder Massenproteste stattfinden. Sie richten sich gegen Korruption und Straflosigkeit, aber auch gegen die zunehmende Gewalt im Land und die Einmischung von außen.
Seit einem Jahr regiert Moïse per Dekret, denn das Parlament ist seit dem 13. Januar 2020 nicht mehr funktionsfähig – die Neuwahlen stehen seit 2018 aus. Für die Opposition ist Moïses Amtszeit am 7. Februar abgelaufen. Sie beruft sich dabei auf die Verfassung, die eine fünfjährige Amtszeit vorsieht – und im Februar 2016 gab Präsident Michel Martelly die Amtsgeschäfte ab. Martellys Gefolgsmann Moïse rechnet anders und datiert den Beginn seiner Amtszeit auf den Zeitpunkt seiner Vereidigung im Februar 2017. Moïse hat vor dem Weltsicherheitsrat nochmals bekundet, dass er die Regierung an den Gewinner der Wahlen im Oktober 2021 übergeben und nicht zurücktreten werde, bis seine Amtszeit im Februar 2022 ausläuft. Sekundiert wird Moïse von der US-Regierung unter dem neuen Präsidenten Joe Biden. Die Administration in Washington sagte, dass ein neu gewählter Präsident Moïse nachfolgen sollte, „wenn seine Amtszeit am 7. Februar 2022 endet.“
Es sind vor allem junge Leute, die heute auf die Straße gehen
Verschanzt in seiner Residenz in Kenscoff, in den kühlen Bergen hoch über Port-au-Prince, sprach Moïse per Videobotschaft von einem Staatsstreich, ließ vermeintliche Verschwörer festnehmen und erklärte, eine Gruppe von Oligarchen wolle die Macht übernehmen. Laut Regierung wurden 23 Verdächtigein Haitis Hauptstadt Port-au-Prince verhaftet. Sie sollen geplant haben, Moïse umzubringen und die Regierung zu stürzen.
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Für die 2018 abgesagten Parlamentswahlen hatte Moïse lange keinen neuen Termin angesetzt. Angesichts des zunehmenden Drucks der Opposition hat er im Januar schließlich die Termine für die nächsten Präsidenten- und Parlamentswahlen verkündet. Im September und November soll nun gewählt werden.
Zuvor soll jedoch am 25. April ein Verfassungsreferendum abgehalten werden. Moïse strebt eine Stärkung der Position des Präsidenten einschließlich der Möglichkeit einer zweiten Amtszeit an, auf die er selbst, wie er hochheilig versichert hat, aber verzichten wolle. Das Amt des Ministerpräsidenten soll zudem abgeschafft werden. Bis jetzt ähnelt Haitis politisches System in dieser Beziehung dem System Frankreichs. Die Opposition hält das Referendum für verfassungswidrig, weil gemäß der Verfassung von 1987 Änderungen nicht per Plebiszit, sondern über Parlament und Senat in die Wege geleitet werden müssten.
Die Wut der Haitianer*innen richtet sich nicht nur gegen Moïse
Es sind vor allem junge Leute, die heute auf die Straße gehen mit Forderungen nach einer Verfassunggebenden Versammlung, nach einem neuen, gesellschaftlichen Konsens. „80 Prozent der Bevölkerung wollen nicht nur einen Regierungswechsel, sondern eine grundlegende Reform von Staat und Gesellschaft“, sagte Wirtschaftsprofessor Alrich Nicolas von der Universität in Port-au-Prince den Lateinamerika Nachrichten. Die sogenannte Core Group unterstütze die Forderungen der Zivilgesellschaft nicht. Dabei seien die Forderungen ja nicht revolutionär, sondern klassisch: Zugang zu öffentlichen Gütern, freie Wahlen, Sicherheit.
Die ehemalige Besatzungsmacht USA betrachtet den neoliberalen Unternehmer Jovenel Moïse als Garantie dafür, dass in Haiti keine linken Experimente stattfinden. So ist der Totalprivatisierung, die der Bauernführer Jean-Baptiste Chavanne befürchtet, Tür und Tor geöffnet: „Die vergangenen Regierungen haben schon privatisiert. Nun gibt es den Plan der totalen Privatisierung, bis hin zum Gesundheits- und Bildungssektor.“
Die Wut der Haitianer*innen richtet sich daher nicht nur gegen Moïse, sondern ist gemischt mit einer bitteren Enttäuschung über die internationale Gemeinschaft. „Die Haitianer fragen sich, warum das, was in fast aller Welt gilt, nicht auch für sie gilt“, analysiert Alrich Nicolas. Eine Antwort der „Core Group“ steht aus.