HAITIS ZIVILGESELLSCHAFT LÄSST NICHT LOCKER

Proteste in Port-au-Prince Erst auf starken Druck hin hat Präsident Moïse Parlamentswahlen angesetzt (Foto: Aljazeera via Wikimedia Commons CC BY-SA 4.0)

Haitis Präsident Jovenel Moïse hat eine exklusive Sicht auf die Dinge: „Der Demokratie geht es gut in Haiti.“ Dieses Bild versuchte er bei seiner Rede vor dem Weltsicherheitsrat in New York zu vermitteln, wo er am 22. Februar zum Rapport antreten musste. Dabei musste er sich unangenehme Kritik anhören: „Die Verantwortlichen für die Massaker von La Saline und Bel Air müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Ich stelle auch fest, dass die Ermittlungen zur Ermordung von Monferrier Dorval (Präsident der Anwaltskammer von Port-au-Prince, Anm. d. Red.) nicht vorankommen. Der Kampf gegen die Straflosigkeit muss die Priorität der Behörden sein“, brachte die UN-Botschafterin Frankreichs, Nathalie Broadhurst, ihren Unmut über die Entwicklung in der ehemaligen Kolonie zum Ausdruck. Die Massaker in La Saline am 13. November 2019 und in Bel Air am 1. September 2020 mit mehr als 70 Toten sind die traurigen Höhepunkte der Repression in der Amtszeit von Präsident Jovenel Moïse, gegen den seit Mitte 2018 immer wieder Massenproteste stattfinden. Sie richten sich gegen Korruption und Straflosigkeit, aber auch gegen die zunehmende Gewalt im Land und die Einmischung von außen.

Seit einem Jahr regiert Moïse per Dekret, denn das Parlament ist seit dem 13. Januar 2020 nicht mehr funktionsfähig – die Neuwahlen stehen seit 2018 aus. Für die Opposition ist Moïses Amtszeit am 7. Februar abgelaufen. Sie beruft sich dabei auf die Verfassung, die eine fünfjährige Amtszeit vorsieht – und im Februar 2016 gab Präsident Michel Martelly die Amtsgeschäfte ab. Martellys Gefolgsmann Moïse rechnet anders und datiert den Beginn seiner Amtszeit auf den Zeitpunkt seiner Vereidigung im Februar 2017. Moïse hat vor dem Weltsicherheitsrat nochmals bekundet, dass er die Regierung an den Gewinner der Wahlen im Oktober 2021 übergeben und nicht zurücktreten werde, bis seine Amtszeit im Februar 2022 ausläuft. Sekundiert wird Moïse von der US-Regierung unter dem neuen Präsidenten Joe Biden. Die Administration in Washington sagte, dass ein neu gewählter Präsident Moïse nachfolgen sollte, „wenn seine Amtszeit am 7. Februar 2022 endet.“

Es sind vor allem junge Leute, die heute auf die Straße gehen

Der 7. Februar war in Haiti ein weiteres Mal geschichtsträchtig. An jenem Tag endete 1986 durch die Flucht von Jean-Claude „Baby Doc“ Duvalier ins französische Exil die Duvalier-Diktatur; sie hatte 1957 durch einen Militärputsch begonnen, der „Baby Docs“ Vater François Duvalier an die Macht brachte. Genau 35 Jahre später überschlugen sich die Ereignisse: Seit jenem Sonntag hat Haiti zwei Präsidenten. Neben dem 52-jährigen Jovenel Moïse, den 72-jährigen Richter Joseph Mécène. Er ist der älteste Richter am Obersten Gerichtshof, der von der Opposition unterstützt, aber von der internationalen Gemeinschaft ignoriert wird. Er legte den Amtseid allein in einem Raum ab, der mit der haitianischen Flagge geschmückt war. Dokumentiert wurde die Zeremonie über sein Facebook-Konto.

Verschanzt in seiner Residenz in Kenscoff, in den kühlen Bergen hoch über Port-au-Prince, sprach Moïse per Videobotschaft von einem Staatsstreich, ließ vermeintliche Verschwörer festnehmen und erklärte, eine Gruppe von Oligarchen wolle die Macht übernehmen. Laut Regierung wurden 23 Verdächtigein Haitis Hauptstadt Port-au-Prince verhaftet. Sie sollen geplant haben, Moïse umzubringen und die Regierung zu stürzen.

Pays lòk, blockiertes Land – so wird die Lage in Haiti auf den Punkt gebracht

Auf den Straßen ging die Polizei derweil mit Tränengas gegen Demonstrant*innen vor, die den Rücktritt von Moïse forderten. In der ersten Februarwoche hatten die Gewerkschaften zu einem Generalstreik aufgerufen, Port-au-Prince war teilweise völlig lahmgelegt. Pays lòk, blockiertes Land – so wird die Lage in Haiti oft auf den Punkt gebracht. Die Haitianer*innen protestierten gegen die dauerhaft angespannte Sicherheitslage. Sogar Schulen bleiben teilweise geschlossen. Nicht wegen der Corona-Pandemie, sondern um Lehrkräfte und Schüler*innen vor möglichen Entführungen zu schützen. Die haitianische Menschenrechtsorganisation Défenseurs Plus hat rund 1000 Entführungen allein im vergangenen Jahr registriert. Moïse werden enge Verbindungen zu kriminellen Banden vorgeworfen.
Für die 2018 abgesagten Parlamentswahlen hatte Moïse lange keinen neuen Termin angesetzt. Angesichts des zunehmenden Drucks der Opposition hat er im Januar schließlich die Termine für die nächsten Präsidenten- und Parlamentswahlen verkündet. Im September und November soll nun gewählt werden.

Zuvor soll jedoch am 25. April ein Verfassungsreferendum abgehalten werden. Moïse strebt eine Stärkung der Position des Präsidenten einschließlich der Möglichkeit einer zweiten Amtszeit an, auf die er selbst, wie er hochheilig versichert hat, aber verzichten wolle. Das Amt des Ministerpräsidenten soll zudem abgeschafft werden. Bis jetzt ähnelt Haitis politisches System in dieser Beziehung dem System Frankreichs. Die Opposition hält das Referendum für verfassungswidrig, weil gemäß der Verfassung von 1987 Änderungen nicht per Plebiszit, sondern über Parlament und Senat in die Wege geleitet werden müssten.

Die Wut der Haitianer*innen richtet sich nicht nur gegen Moïse


Es sind vor allem junge Leute, die heute auf die Straße gehen mit Forderungen nach einer Verfassunggebenden Versammlung, nach einem neuen, gesellschaftlichen Konsens. „80 Prozent der Bevölkerung wollen nicht nur einen Regierungswechsel, sondern eine grundlegende Reform von Staat und Gesellschaft“, sagte Wirtschaftsprofessor Alrich Nicolas von der Universität in Port-au-Prince den Lateinamerika Nachrichten. Die sogenannte Core Group unterstütze die Forderungen der Zivilgesellschaft nicht. Dabei seien die Forderungen ja nicht revolutionär, sondern klassisch: Zugang zu öffentlichen Gütern, freie Wahlen, Sicherheit.

Die ehemalige Besatzungsmacht USA betrachtet den neoliberalen Unternehmer Jovenel Moïse als Garantie dafür, dass in Haiti keine linken Experimente stattfinden. So ist der Totalprivatisierung, die der Bauernführer Jean-Baptiste Chavanne befürchtet, Tür und Tor geöffnet: „Die vergangenen Regierungen haben schon privatisiert. Nun gibt es den Plan der totalen Privatisierung, bis hin zum Gesundheits- und Bildungssektor.“

Die Wut der Haitianer*innen richtet sich daher nicht nur gegen Moïse, sondern ist gemischt mit einer bitteren Enttäuschung über die internationale Gemeinschaft. „Die Haitianer fragen sich, warum das, was in fast aller Welt gilt, nicht auch für sie gilt“, analysiert Alrich Nicolas. Eine Antwort der „Core Group“ steht aus.

DAS ÖKONOMISCHE ERDBEBEN KAM ZUERST

Alrich Nicolas
Alrich Nicolas ist Professor für Ökonomie an der Universität Haiti in Port-au-Prince. Während der Diktatur von Jean-Claude Duvalier emigrierte er nach Deutschland und promovierte am Lateinamerika Institut in Berlin in Volkswirtschaft. Von 1996 bis 2005 war er Haitis Botschafter in Deutschland.
(Foto: Ambassade de France en Haïti / Ambafranceht, CC BY-NC-SA 2.0)


In den gängigen deutschen Medien wird fast nur bei runden Jahrestagen des Erdbebens ein Schlaglicht auf Haiti geworfen. Wie sehr sind die Nachwirkungen noch zu spüren?
Deutlich. Viele der zerstörten Gebäude konnten bisher nicht wieder aufgebaut werden. Es gibt ganze Stadtteile in der Hauptstadt Port-au-Prince, in denen der Wiederaufbau kaum vorangekommen ist. Das gilt auch für die Städte drum herum. Das Epizentrum lag ja nur 25 Kilometer von Port-au-Prince entfernt. Auch dort sind die Folgen noch deutlich sichtbar und das wird vermutlich auch noch einige Jahre so bleiben.

Warum läuft der Wiederaufbau so schleppend?
Beim Wiederaufbau gab es nicht nur die Herausforderung, die unmittelbaren Folgen des Erdbebens zu beseitigen. Schon vorher hatte Haiti ein ökonomisches Erdbeben erlebt, das den Staat stark geschwächt hatte und damit auch die Strukturen, die beim Wiederaufbau dringend benötigt worden wären. Denn die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) auferlegten Strukturanpassungsprogramme von 1985, noch gegen Ende der Duvalier-Diktatur (1957-1986), und 1996 sahen auch eine Liberalisierung und Staatsverschlankung vor.

Etwa 20 bis 30 Prozent der Beamten wurden durch die Liberalisierungsprogramme weggekürzt. Der Staat wurde privatisiert, ein schwacher Staat weiter geschwächt, sodass er weiter an Legitimität bei der Bevölkerung verloren hat.

Auch die aktuellen Proteste gegen die Regierung zielen darauf, dass Reformen gefordert werden, die den Menschen wieder öffentliche Basisdienstleistungen bei Bildung, Gesundheit, Wasser verschaffen. Das wurde schon vor dem Erdbeben gefordert, das wurde danach gefordert und auch bei den seit Oktober anhaltenden Protesten gegen die Regierung von Präsident Jovenel Moïse. Die Lage hat sich unterm Strich seit 2010 verschlimmert.

Wie wirkte sich das ökonomische Erdbeben jenseits der Schwächung des Staates aus?
Früher war Haiti ein Agrarland. Nahrungsmittelimporte waren nicht nötig, weil im Land genug produziert wurde. Es gab Nahrungsmittelautonomie, die durch den Code Commercial von 1987 ausgehöhlt wurde. Der sah sinkende Importzölle auf wichtige Produkte des täglichen Bedarfs vor.

Die Senkung der Importsteuern betraf vor allem Waren, die mit der einheimischen Produktion konkurrierten, insbesondere Reis. Zum Zeitpunkt des Erdbebens im Januar 2010 war diese Nahrungsmittelautonomie bereits passé. Haiti benötigt derzeit 30 Prozent seiner Devisen für Nahrungsmittelimporte.

Die Produktivität im haitianischen Agrarsektor ist weiter gesunken, weil in den vergangenen Jahrzehnten nach der Liberalisierung kaum noch investiert worden ist, auch weil viele Kleinbauern keinen Zugang zu Krediten haben.

Und zudem macht die fehlende Wettbewerb­­sfähigkeit gegenüber der Importkon­kurrenz manche Investitionen unrentabel. Der Niedergang des Agrarsektors sorgte auch für eine verstärkte Landflucht.

Im Ballungsraum von Port-au-Prince leben inzwischen knapp drei der elf Millionen Haitianer und Haitianerinnen. Auf dem Land beschäftigungslos Gewordene gingen in die Städte, um sich dort mit informellen Tätigkeiten durchzuschlagen. Viele verkaufen auf der Straße Billigwaren aus dem Ausland. Auch das hat die einheimische Produktion weiter geschwächt, zum Beispiel den Textilsektor oder die Schuhfertigung.

Seit 2011 wird Haiti von neoliberal ausgerichteten Präsidenten regiert, zuerst Michel Martelly und seit Februar 2017 von Martellys Gefolgsmann Jovenel Moïse. Seit Sommer 2018 gibt es massive Proteste mit vielen Toten gegen die Korruption der Regierung, gegen die Erhöhung der Treibstoffpreise als Auflage des Internationalen Währungsfonds und die katastrophale Versorgungslage. Wie kann sich Moïse überhaupt an der Regierung halten?
Eine schwierige Frage. Die vergangenen drei Monate gab es täglich Demonstrationen, das Land war quasi lahmgelegt. Derzeit ist die Demonstrationswelle zwar abgeflaut, weil die Menschen eine Pause brauchen, aber die Forderungen sind noch da.

Bisher steht die Antwort der Regierung aus. Die Oppositionsbewegung ist auch heterogen zusammengesetzt.

Auf der einen Seite gibt es traditionelle Politiker, die sich erhoffen, durch die Bewegung an die Regierung zu kommen. Auf der anderen Seite gibt es eine Massenbewegung, die das ganze politische System kritisiert, gegen die Korruption kämpft, für eine grundlegende Staatsreform eintritt, die Schaffung von Arbeitsplätzen fordert.

Diese Bewegung fordert auch ein neues Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Sie wird weitermachen, selbst dann, wenn es einen Regierungswechsel geben sollte, der unter Umständen eine oberflächliche Lösung bedeuten könnte.

Ende Januar läuft das Mandat von einem Drittel der Kongressmitglieder aus, damit gäbe es kein funktionierendes Parlament mehr und Moïse könnte theoretisch per Dekret regieren. Was bedeutet das?
Das heißt, dass die Regierung Parlamentswahlen organisieren muss. In der jüngeren Geschichte Haitis hat sich gezeigt, dass Wahljahre die politische und ökonomische Krise verschärfen. Wenn Moïse per Dekret durchzuregieren versucht, wird das die Proteste erst recht weiter anfachen. 2020 wird wieder ein sehr schwieriges Jahr für die haitianische Bevölkerung.

Der Oberste Rechnungshof Haitis hat im November 2018 festgestellt, dass Dutzende ehemalige Minister und hohe Beamte Gelder für soziale Zwecke veruntreut hätten: 3,8 Milliarden US-Dollar aus einem Sozialfonds von Petrocaribe, das Venezuelas damaliger Präsident Hugo Chávez zur Unterstützung karibischer Länder auf den Weg gebracht hatte. Gab es daraus Konsequenzen?
Die Berichte haben zu einem Verfahren geführt. Mehr ist noch nicht passiert. Die Hauptbeschuldigten sind überwiegend ehemalige Minister der Regierung von Michel Martelly, die sind einflussreich und mit der jetzigen Regierung eng verbunden.

Die haitianische Justiz ist schwach, von der Regierung abhängig und in Teilen auch korrupt. Und diese Justiz soll nun die Veruntreuung der Petrocaribe-Sozialfonds aufklären. Klar ist aber auch, dass die Zivilgesellschaft und die Demonstranten nicht locker lassen und das weiter einfordern werden. Einfach Gras über die Sache wachsen lassen, wird der Justiz nicht helfen.

„Unser Staat ist korrupt, kriminell und kaputt.“ Das ist ein Zitat von Deligny Darius, Leiter der SOS-Kinderdörfer in Haiti. Würden Sie dem zustimmen?
Es trifft im Großen und Ganzen zu. Es ist offensichtlich, dass es eine starke Korruption in Haiti gibt.

Es gibt zwar staatliche Institutionen, die die Aufgabe haben, die Korruption zu bekämpfen. Aber es geht nicht wirklich voran. Das liegt vor allem am Justizsystem, das selber korrumpiert ist. Auch die Regierung ist nicht wirklich daran interessiert, Anti-Korruptionsmaßnahmen zu treffen.

Aber solange die Öffentlichkeit und die Zivilgesellschaft weiter Druck macht, wird es weder für die amtierende noch für die kommenden Regierungen einfach sein, so weiter zu machen und sich über die Wünsche der Bevölkerung hinwegzusetzen.

Die Haitianer wissen, dass es mit den Finanzmitteln, die im Korruptionssumpf versickert sind, möglich gewesen wäre, den Staat zu modernisieren. Deswegen werden sie weiter fordern, dass der Korruption Einhalt geboten wird. Mit Nachdruck, wie die vergangenen drei Monate gezeigt haben.

Zivilgesellschaftliche Akteure haben die Ergebnisse der Petrocaribe-Sozialfonds in den Nachbarländern mit denen in Haiti verglichen und sie haben festgestellt, dass es dort weit besser lief, zum Beispiel in der benachbarten Dominikanischen Republik. Die haitianische Zivilgesellschaft wird ihren Kampf gegen die Korruption sicherlich nicht aufgeben.

Wie kann Haiti aus der Dauerkrise herauskommen? An welchen zentralen Stellschrauben muss gedreht werden? Bringt es eine Streichung der Auslandsschulden?
Die Frage der Auslandsverschuldung ist nicht die wichtigste. Die zentrale Herausforderung ist, die politischen Strukturen zu verändern. Die Zivilgesellschaft muss stärker beteiligt und mit mehr Einflussmöglichkeiten ausgestattet werden, mit mehr Macht.

Es muss ein gesellschaftlicher Pakt zur Modernisierung geschlossen werden, und zwar zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Wenn dieser politische Prozess gelänge, würde man auch bei den ökonomischen und gesellschaftlichen Prozessen weiterkommen.

Das Problem ist, dass die haitianische Verfassung von 1987 einen solchen politischen Prozess schwierig macht. Die vielen Wahlen sorgen für politischen Stress, harte Auseinandersetzungen beim Ringen um den Zugriff auf die Fleischtöpfe. Eine längerfristige Entwicklungsstrategie bleibt so auf der Strecke. Das Land kommt nicht zur Ruhe. Deswegen wächst der Druck, die Verfassung zu verändern.

Welche Verantwortung und welche Möglichkeiten hat die internationale Gemeinschaft?
Sie hat auf alle Fälle viel Einfluss. Dass die Regierung Moïse trotz der Repression der Proteste, die über 70 Menschenleben gefordert hat, immer noch im Amt ist, liegt daran, dass sie von den Geberstaaten gestützt wird. Denn 80 Prozent der Bevölkerung wollen nicht nur einen Regierungswechsel, sondern eine grundlegende Reform von Staat und Gesellschaft.

Die sogenannte Core Group, in der unter anderem die Vereinten Nationen, die USA, Kanada, Frankreich und auch Deutschland vertreten sind, zeigt keinerlei Anstalten, Moïse zur Raison zu rufen. Sie unterstützt die Forderungen der Zivilgesellschaft nicht. Aber die Forderungen sind nicht revolutionär, sondern klassisch: Zugang zu öffentlichen Gütern, freie Wahlen, Sicherheit. Die Haitianer fragen sich, warum das, was in fast aller Welt gilt, nicht auch für sie gilt.

KAMPF UM SOUVERÄNITÄT

Im Januar 2020 jährt sich in Haiti das katastrophale Erdbeben mit offiziell 300.000 Toten zum zehnten Mal. Bis dahin will die ansonsten uneinige Opposition den Präsidenten Jovenel Moïse aus dem Amt gejagt haben._Während die internationale Gemeinschaft die Lösung noch in einem Dialog zwischen Präsident und parlamentarischer Opposition sieht, plant letztere bereits eine Zukunft ohne Moïse. Gemeinsam mit Vertreter*innen der Zivilgesellschaft hat sie unter dem Titel „Alternative consensuelle pour la refondation de la nation“ (Konsensuelle Alternative für die Neugründung der Nation) einen Plan erarbeitet, der bereits Anfang November 2019 von einem großen Teil der parlamentarischen Opposition unterschrieben wurde. Die von den USA empfohlene Kohabitationsregierung unter der Präsidentschaft Moïses lehnt André Michel, Sprecher der Initiative, entschieden ab. Stattdessen soll der nun erarbeitete Plan als Orientierung für die Zeit nach dem Abtritt Moïses dienen und einen geregelten Übergangsprozess hin zur Etablierung eines neuen politischen Systems ermöglichen. Demzufolge könnte die Präsidentschaft vorerst von einem Richter des Revisionsgerichtes übernommen werden. Verschiedene Opposition und Zivilgesellschaft nahestehenden Organisationen würden dann je zwei Repräsentant*innen bestimmen, die wiederum über die Nachfolge für das Präsidialamt abstimmen. Als Premierminister*in soll ein „anerkanntes Mitglied“ der Opposition ernannt werden. Außerdem sieht der Plan die Aufklärung des Petrocaribé-Skandals (siehe LN 538) sowie die Einberufung einer Nationalversammlung vor.

Einig ist sich die parlamentarische Opposition aber nicht: Die sozialdemokratische Partei Fanmi Lavalas rund um den ehemaligen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide hat die Einigung nicht mitunterschrieben. Auch der Aktivist Nixon Bomba kritisiert, dass die meisten Führungspersonen der Gruppen, die die Transition anstoßen wollen, seit 30 Jahren auf der politischen Bühne stünden und wenig Interesse an einem echten Systemwechsel hätten. Stattdessen befürchtet er, dass es sich bei dem ausgehandelten Kompromiss eher um eine PR-Maßnahme handelt.

77 Tote, 219 Verletzte

Moïse selbst macht derweil keine Anstalten, sein Amt abgeben zu wollen, obwohl selbst die konservativsten Kräfte des Landes – wie die katholische Kirche – ihn dazu auffordern. Im Januar läuft zudem das Mandat von einem Drittel der Kongressmitglieder aus, damit gäbe es kein funktionierendes Parlament mehr und Moïse könnte theoretisch per Dekret regieren. Dass die Bevölkerung das hinnimmt, ist überaus unwahrscheinlich. Seit Mitte September_fordern tausende Protestierende in ganz Haiti den Rücktritt des Präsidenten, der unter Korruptionsverdacht steht (siehe LN 546). Am 18. November konnte er wie schon im Jahr zuvor einen Pflichttermin nicht wahrnehmen: Bei den Feierlichkeiten zum 216. Jahrestag der Schlacht von Vertières, welche die Unabhängigkeit Haitis einläutete, musste er aus Sicherheitsgründen passen und blieb dem historisch bedeutenden Ort fern. Die Straßenproteste wurden bewusst auch am Feiertag fortgesetzt. Bis Ende November 2019 zählten die Organisationen der Amerikanischen Staaten (OAS) und die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte 77 Tote, 219 Verletzte und 315 Verhaftete. Wie viele Menschenleben die Krise in Haiti aber tatsächlich kostet, lassen diese Zahlen nur erahnen.

Auf die Unterstützung eines der wichtigsten Machtfaktoren in Haiti kann Moïse jedoch zählen. Die USA werden von der Opposition beschuldigt, der als ultraneoliberal verschrienen Regierungspartei PHTK (Parti haïtien tèt kale) den Machterhalt zu garantieren. Im Gegenzug unterstütze Haitis Regierung die US-Interessen in der OAS, der Caribbean Community (CARICOM) und ihr Vorgehen gegen die venezolanische Regierung – beispielsweise erkannte Moïse die Selbsternennung Guaidos als Präsidenten an.

Tausende forden Moïses Rücktritt

Die USA sowie die Vereinten Nationen und das Europäische Parlament zeigen sich besorgt über die Lage vor Ort. Während sie zu Dialog und Gewaltverzicht aufriefen, vermuten haitianische Aktivist*innen, dass internationale Missionen eher den Präsidenten und die Banden, die in seinem Interesse gewaltsam agieren, unterstützen. Den USA wird vorgeworfen, sich mithilfe irregulär entsendeter Streitkräfte auch aktiv in die Krise einzumischen. So wurden in mindestens zwei Fällen mehrere US-Staatsbürger*innen, die schwere Waffen sowie Kommunikationstechnik mit sich führten, am Flughafen aufgegriffen. Während die Mehrzahl ohne weitere Ermittlungen abgeschoben wurde, drohen dem Ex-US-Soldaten Jacques Yves Sébastien Duroseau nun 15 Jahre Haft wegen Waffenschmuggels. Auch die Landung des US-Marineschiffes USNS Comfort am 13. November wird als Einmischung aufgefasst.

Zusätzlich wird die Polizei in Haiti von einem millionenschweren Assistenzprogramm der USA unterstützt, der Law Enforcement and Narcotics Affairs Section (NAS). Das Programm soll haitianische Polizeikräfte für den Schutz der Menschenrechte sensibilisieren und dabei unterstützen, entschlossener gegen Drogenhandel und Geldwäsche vorzugehen. In der Realität wird vor allem das repressive Vorgehen gegen die eigene Bevölkerung professioneller. So richten sich die anhaltenden Proteste auch gegen die politische Einmischung von außen – allen voran gegen den Einfluss der USA. Anlässlich des Treffens des Spitzendiplomaten David Hale mit Präsident Moïse Anfang Dezember wurde vor der US-amerikanischen Botschaft in Port-au-Prince demonstriert. Am Tag zuvor hatte es bereits Demonstrationen vor der französischen Botschaft gegeben.
Der Menschenrechtsverteidiger Guy Laurore Rosenez des internationalen Anwaltsbüros Bureau des Avocats Internationaux (BAI) beklagt außerdem, dass bewaffnete Gruppen Bewohner*innen der ärmeren Viertel daran hindern würden, auf die Straße zu gehen. Dort, wo der Widerstand gegen Präsident Moïse besonders groß ist, häufen sich Angriffe mit Schusswaffen. Dies ist nichts Neues. Bereits Anfang November 2018 hatte es im Viertel La Saline von Port-au-Prince, welches als Epizentrum des Widerstandes gegen die Regierung gilt, ein Massaker mit mindestens 71 Toten gegeben, sogar die UN bestätigten eine Einmischung der Regierung. Gleichzeitig weist Rosenez auf eine Kriminalisierung der Politik hin. Politiker*innen suchten die Unterstützung gewaltsamer Banden und protegierten diese im Gegenzug. Mit dieser Strategie wird der Einfluss der Banden in den ärmeren Vierteln immer größer. Die Regierung legt derweil ein neues Sicherheitskonzept vor mit, dem diese gangstérisation und der florierende Waffenschmuggel angeblich aufgehalten werden soll.

Die anhaltende Gewalt hat in letzter Zeit auch prominente Opfer gefordert, etwa den LGBTI-Aktivisten Charlot Jeudy und den Radiojournalisten Néhémy Joseph. Bei beiden sind die Todesumstände seit Oktober beziehungsweise November 2019 ungeklärt. Joseph hatte jedoch Morddrohungen erhalten – auch von regierungsnahen Abgeordneten aus der Region Plateau Central. Auch die Polizei ist von der Welle der Gewalt betroffen: Im Jahr 2019 kamen 44 ihrer Einsatzkräfte ums Leben.

42 TOTE BEI PROTESTEN

Seit dem 16. September ist die Lage in Haiti angespannt: Fast täglich finden Demonstrationen oder Straßenblockaden statt, um den Rücktritt des Präsidenten Jovenel Moïse zu fordern. Die geschäftlichen Aktivitäten sowie das öffentliche Leben in der Hauptstadt Port-au-Prince sind fast vollständig zum Stillstand gekommen. Am Dienstag, den 29. Oktober hatten unter anderem die Lehrer*innengewerkschaften zu einem Generalstreik aufgerufen. Die Straßenblockaden erschweren die Verteilung von Wasser und den ohnehin knappen Nahrungsmitteln. Während der Proteste wurden bisher 42 Tote registriert, von denen die meisten durch Schussverletzungen starben. Das UNO-Menschenrechtsbüro teilte mit, dass weitere 86 Personen verletzt wurden.

Der Präsident weigert sich abzutreten

Die Sprecherin des Büros, Marta Hurtado, erklärte, dass 19 der Todesopfer durch Verschulden von Sicherheitskräften starben. Zudem bestätigte sie, dass unter den Toten auch ein Journalist sei und neun der Verletzten über die Antiregierungsproteste berichtet hätten. Die UNO sei „zutiefst besorgt“ über die Situation des Karibikstaates. Die Sprecherin empfahl den Behörden und Konfliktparteien, „Maßnahmen zu ergreifen, um friedliche Lösungen für die vielen Forderungen zu finden, die die Haitianer*innen auf die Straße treiben“.

Währenddessen weigert sich Präsident Moïse abzutreten, um das Land nicht „bewaffneten Banden und Drogendealern“ zu überlassen. Er besteht darauf, die Situation im friedlichen Dialog mit der Opposition zu klären. Diese hat den Vorschlag einer Verhandlungsrunde allerdings mehrfach abgelehnt, da sie ihn für ungeeignet hält, die Probleme des Landes zu lösen.

Die aktuelle Protestwelle wurde durch einen Treibstoffmangel ausgelöst. Bereits im Frühjahr 2019 kam es zu einer Protestwelle gegen den Präsidenten, die sich an der Empörung über die Erhöhung der Treibstoffpreise entzündet hatte (siehe LN 538).

Eine Lösung der Krise ist nicht in Sicht

Vor dem Hintergrund der schwierigen wirtschaftlichen und politischen Situation fordert die Bevölkerung nun weiterhin den Rücktritt von Präsident Moïse. Neben extremer Armut, einer hohen Inflationsrate, Arbeitslosigkeit und sozialer Ungleichheit hat der Karibikstaat auch mit Korruption zu kämpfen. Das betrifft unter anderem Beamt*innen der öffentlichen Verwaltung. Aber auch Moïse selbst steht unter Verdacht, in Korruptionsfälle im Rahmen des venezolanisch-karibischen Abkommens Petrocaribe verwickelt zu sein, mit dem Haiti vergünstigte Erdöllieferungen aus Venezuela erhalten hatte. Ein Bericht des haitianischen Rechnungshofes, der im Juni veröffentlicht wurde, skizziert zahlreiche Fälle von Geldwäsche und Korruption, in die neben dem Präsidenten und ehemaligen Regierungsmitgliedern auch private Unternehmer*innen involviert sein sollen.

Die Situation verschlimmert sich weiter durch einen möglichen Kollaps der nationalen Energieversorgung. Die Firma Sogener, einer der wichtigsten Energieversorger des Landes, warnt seit Ende Oktober vor diesem Szenario, da der Treibstoff knapp werde und die Firma ihren in Auftrag gegebenen Öl-Import über 30.000 Fass nicht bezahlen könne, solange die Regierung nicht die entsprechenden Rechnungen begleiche. Das Pressebüro der Regierung hatte am 23. Oktober angekündigt, die Zahlungen an die großen Energieversorgungsfirmen des Landes auszusetzen. Die Regierung ließ außerdem verlauten, dass alle staatlichen Elektrizitätszentralen unter die Verwaltung des Ministeriums für Justiz und öffentliche Sicherheit gestellt und die Verträge mit den Energieversorgungsunternehmen auf Eis gelegt werden. Darüber hinaus wolle man gegen „alle Schuldigen der Verschwendung öffentlicher Gelder” vorgehen, die im Zuge von Verträgen mit Energieversorgungsfirmen geschehen sei, und verlangt von diesen Firmen Geldsummen zurück, die dem Staat angeblich zu viel in Rechnung gestellt wurden. Von Sogener fordert die Regierung beispielsweise 123 Millionen Dollar.

Die Energieversorgung droht zusammenzubrechen

Das Unternehmen kündigte indessen drastische Kürzungen der Elektrizität in Port-au-Prince an und stellte ebenfalls eine Zahlungsforderung: Rund 200 Millionen Dollar sei der Staat der Firma in den vergangenen Jahren für seine Energielieferungen schuldig geblieben. Die Streitigkeiten um Schulden und Verträge zwischen Regierung und Energieversorgern erscheinen wie ein Ablenkungsmanöver von der politischen Krise und den Protesten auf der Straße.

Wie wird es weitergehen? Zur Lösung der Krise schlagen oppositionelle politische und soziale Organisationen vor, eine*n Oberste*n Richter*in zu ernennen und einen Staatsrat einzurichten, der die Aktivitäten der Regierung überwachen soll. Gleichzeitig fordern knapp vier Dutzend Bürgermeister*innen, dass die politischen Akteur*innen eine gemeinsame Erklärung unterzeichnen, um die politischen Ziele zu definieren, mit denen die politische Stabilität des Landes wiederhergestellt werden kann.

Moïse ließ währenddessen eine Erhöhung des Mindestlohns zum 1. November verlauten. Gewerkschaften kritisierten jedoch, dass die Erhöhungen zu gering seien und der Präsident nur versuche, die Protestierenden zu beschwichtigen. Die Krise in Haiti geht weiter – weitestgehend unbeachtet von internationalen Medien und ohne, dass eine Lösung in Sicht wäre.

 

HAITI KOMMT NICHT ZUR RUHE

Heute wie damals Das Foto zeigt Haitianer*innen 2010 bei Protesten gegen die Regierung (Foto: Ben Piven via flickr.com, CC BY-NC 2.0)

Präsident Jovenel Moïse spielt auf Zeit. Der ehemalige Bananenexporteur greift immer wieder zum selben Mittel des Machterhalts. Wächst der Druck der Opposition auf der Straße und im Parlament, wird der Premier geopfert. War es nach der Protestwelle im Sommer 2018 Jack Guy Lafontant, der gehen musste, traf es im März 2019 seinen Nachfolger Jean-Henry Céant. Moïse selbst macht derweil keine Anstalten, sein Amt aufzugeben, obwohl sich die Proteste gegen Regierung und Präsidenten gleichermaßen richten.

Ein oppositionelles Bündnis aus 20 unterschiedlichen Parteien und Organisationen fordert seit mehreren Monaten den Rücktritt von Präsident Jovenel Moïse und dem Großteil der Parlamentsabgeordneten. Korruption und wiederholte Erhöhungen der Treibstoffpreise auf „Empfehlung“ des Internationalen Währungsfonds (IWF) waren die Auslöser der Proteste 2018 und flammen seitdem im wahrsten Sinne des Wortes immer wieder auf. Brennende Autoreifen und Barrikaden gehören in Haiti zur gängigen Protestkultur – oft fordern die Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften Menschenleben. Im Februar soll es mindestens 26 Tote gegeben haben, im März lief es glimpflicher ab.

Die Korruptionsvorwürfe sind durchaus begründet: Der Oberste Rechnungshof Haitis selbst hatte im November 2018 festgestellt, dass 15 ehemalige Regierungsfunktionäre für soziale Zwecke eingeplante Gelder veruntreut hätten. Dabei handelt es sich um 3,8 Milliarden US-Dollar aus einem Sozialfonds von Petrocaribe. Bei diesem, noch von Venezuelas verstorbenem Präsidenten Hugo Chávez initiiertem Projekt, lieferte Venezuela Öl zu Vorzugspreisen an bedürftige karibische Länder, um Spielraum für Sozialpolitik zu schaffen. Die Veruntreuung fand in den Jahren 2016 und 2017 unter Präsident Michel Martelly statt, der Jovenel Moïse bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen für seine Kahlkopf-Partei (Parti haïtien tèt kale – PHTK) ins Rennen schickte. Der Oberste Gerichtshof ermittelte vergangenen November, dass auch Moïse selbst Geld veruntreut haben soll.

„Unser Staat ist korrupt, kriminell und kaputt

Wie gering der Rückhalt für Haitis Regierung ist, zeigte sich beim Misstrauensvotum gegen Premier Jean-Henry Céant am 19. März: 93 Abgeordnete gaben ihm den Laufpass, drei enthielten sich und nur sechs votierten für eine Fortsetzung seiner Regierungsführung. Bereits bevor Céant sein offizielles Rücktrittsgesuch einreichte, reagierte Moïse und erklärte kurzerhand den bisherigen Kulturminister Jean-Michel Lapin per Präsidialdekret zum Interimsministerpräsidenten. Lapin ist nun mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt und soll damit die Wogen glätten.

Viel spricht jedoch dafür, dass die Proteste in Haiti anhalten werden. Denn die Haitianer*innen begehren gegen die sich weiter verschlechternden Lebensbedingungen auf. Den Ausfall der billigen Öllieferungen aus Venezuela versucht die Regierung mit deftigen Preiserhöhungen beim Treibstoff zu kompensieren. Im Sommer 2018 hatten die vom IWF geforderten starken Preisanhebungen für Benzin, Diesel und Kerosin Krawalle in mehreren Städten ausgelöst. Die Regierung ruderte daraufhin zurück, korrigierte die Preiserhöhungen und der damalige Premier Lafontant räumte seinen Posten.

Ob Lafontant, Céant oder nun Lapin: Der katastrophalen Entwicklung konnte bisher keiner Einhalt gebieten. Ein Liter Milch kostet in Haiti mehr als die Hälfte des täglichen Mindestlohns. Damit ist Milch für die meisten Haitianer*innen nicht zu haben. Der Preis für Hühnerfleisch hat sich in vier Jahren verdoppelt, sodass das einst wegen seiner relativen Preisgünstigkeit zum zentralen Bestandteil der haitianischen Ernährung avancierte Hühnchen in normalen Haushalten nur noch selten aufgetischt werden kann. Die Lebenshaltungskosten scheinen für viele Bewohner*innen des ärmsten Landes der westlichen Hemisphäre außer Kontrolle zu geraten.

„Unser Staat ist korrupt, kriminell und kaputt“, sagt Celigny Darius, Leiter der SOS-Kinderdörfer in Haiti. Die Situation auf der Straße eskaliere, dem Karibikstaat drohe der Kollaps.

Darius befürchtet, dass es mit dem Land immer weiter bergab geht: „Die Menschen ringen noch immer mit den Folgen von Hurrikan Matthew 2016 und Hurrikan Irma 2017. Tausende Familien sind obdachlos und ohne Einkommen.“ Viele hätten kein Geld, ihre Kinder zur Schule zu schicken, ohnehin seien erst 25 Prozent der zerstörten Schulen wiederaufgebaut.

Nun gibt es den Plan der totalen Privatisierung, bis hin zum Gesundheits- und Bildungssektor

Aktuell seien 2,6 Millionen Haitianer*innen auf Hilfe angewiesen. „Wir rechnen damit, dass diese Zahl weiter ansteigen wird und erwarten mit größter Sorge die Hurrikan-Saison, die im Juni beginnt“, so Darius weiter.

Jerry Tardieu, der haitianische Abgeordnete für die Region Petión-Ville, ein Vorort der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince, sieht das ähnlich: „Die Haitianer leben von Tag zu Tag. Ich erhalte viel Druck von meinen Wählern, die mich bitten und mich darauf hinweisen, dass das Wasser zur Neige geht, dass ihnen die Nahrungsmittel ausgingen. Sie sind kurz vor der Panik. Es kann sein, dass wir nicht weit von einer humanitären Notlage entfernt sind. Das ist real und das ist eine ernste Situation.“

Dass die sozioökonomische Lage in dem Karibikstaat ernst ist, steht außer Zweifel. Laut Weltbank leben 59 Prozent der haitianischen Bevölkerung unter der nationalen Armutsgrenze von 2,41 US-Dollar pro Tag, während 24 Prozent sogar in extremer Armut mit weniger als 1,23 US-Dollar pro Tag überleben müssen.

Druck von den USA oder aus der EU muss Präsident Moïse sowenig wie sein Vorgänger Martelly fürchten. Die ehemalige Besatzungsmacht USA finanzierte den Wahlprozess und betrachtet den neoliberalen Martelly wie den Unternehmer Jovenel Moïse als Garantie dafür, dass in Haiti keine linken Experimente stattfinden. Die EU ist im „Hinterhof“ der USA grundsätzlich kaum als Stimme zu vernehmen. Und so ist der Totalprivatisierung, die der Bauernführer Jean-Baptiste Chavanne befürchtet, Tür und Tor geöffnet: „Die vergangenen Regierungen haben schon privatisiert. Nun gibt es den Plan der totalen Privatisierung, bis hin zum Gesundheits- und Bildungssektor.“ Zur Ruhe kommen wird Haiti so sicher nicht.

 

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