
Obwohl all das in den deutschen Medien ausführlich kommentiert wurde, ist ein anderer Plan von Volkswagen unter dem Radar geblieben. Im Februar 2024 kündigte das Unternehmen an, dass es 1,66 Milliarden Euro in seine brasilianische Tochtergesellschaft VW do Brasil investieren werde, um Hybridautos zu produzieren. Dies folgt dem MOVER-Plan der Regierung von Lula da Silva, der Anreize für Produzenten bieten soll, um die Automobilflotte zu dekarbonisieren.
Die Gleichzeitigkeit zwischen dem Abbau von Kapital in Europa und Investitionen in Südamerika ist kein Zufall. Sie ist Teil eines historischen Musters, das bis auf die Ansiedlung von Volkswagen in Brasilien Ende der fünfziger Jahre zurückgeht. Ein gutes Verständnis dieses Vorgehens ist entscheidend, wenn man die gegenwärtige Situation interpretieren möchte.
Die Krise von Volkswagen in den siebziger Jahren
Brasilien war bei der Umsetzung eines Programms zur Industrialisierung durch Importsubstitution (ISI) in den fünfziger Jahren einer der Pioniere in Südamerika. In diesem Fall konzentrierte sich das berühmte Programm des Präsidenten Kubitschek „50 Jahre Fortschritt in fünf Jahren“ auf den Automobilsektor. Das sollte die Grundlage für eine umfassende industrielle Entwicklung schaffen. Um Importe mit inländischer Produktion zu ersetzen, bot die damalige Regierung transnationalen Unternehmen zwei Alternativen: Entweder die Umstellung auf eine lokale Produktion und Montage von Autos, bei denen 95% der Komponenten in Brasilien hergestellt werden müssten – und das innerhalb von fünf Jahren – oder den vollständigen Rückzug vom brasilianischen Markt.
Volkswagen war das transnationale Unternehmen, das es schaffte, diese Situation zu nutzen. Durch staatliche Subventionen, öffentliche Kredite und einen speziellen Wechselkurs für den Import von Kapital erreichte das deutsche Unternehmen das Ziel innerhalb der geforderten Frist. Andere Automobilhersteller verschwanden aus Brasilien und überließen Volkswagen fast 50% des lokalen Marktes.
Dies wird normalerweise als Ergebnis von aggressiven Verhandlungen zwischen der brasilianischen Regierung und VW erklärt. Wenn man jedoch die Entwicklung des weltweiten Automobilmarktes zu dieser Zeit betrachtet, war die Situation für Volkswagen nicht so unvorteilhaft. Das Unternehmen wuchs auf der Grundlage von ungenutztem Kapital nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst. Bereits Mitte der 1950er Jahre begann es, seine Montagelinien zu automatisieren. Die Integration von neuen Technologien beschleunigte sich mit dem Eintritt Japans in den Weltmarkt in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre. Mit der Einführung des berühmten Toyota-Produktionssystems schossen bei dem japanischen Unternehmen die Produktivitätsniveaus in die Höhe. Und zwar so sehr, dass die Manager der europäischen Automobilhersteller zunächst glaubten, die Zahlen wären gefälscht. VW geriet in eine Krise.
Die Frage in beiden Situationen war, was nun mit den manuell betriebenen Produktionsmaschinen geschehen würde. Interne Dokumente von Volkswagen aus dem Jahr 1974 zeigen, dass der Versand gebrauchter Maschinen nach Brasilien ein völlig normaler Vorgang war. So erklären die Techniker aus Wolfsburg dort etwa dem VW-Vorstand die wirtschaftlichen Kosten, die durch die von der brasilianischen Diktatur 1974 eingeführten Importbeschränkungen entstehen [Kurzfassung der Vorlage zur Vorstandssitzung am 20.12.1977 (VW AG – 373/201/1)]. Im Land gab es nur wenig ausländische Devisen, deswegen beschränkte die Diktatur die Importe. Der Import gebrauchter Maschinen wurde verboten, weshalb VW begann, sie als „Spenden“ einzuführen. So konnte die deutsche Muttergesellschaft Maschinen ohne finanzielle Transaktionen bereitstellen.
Export von Schrott nach Brasilien
Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich fast alle Investitionen von Volkswagen auf Werttransfers des brasilianischen Staates gestützt. Wenn man die Finanzberichte der deutschen Muttergesellschaft aus dieser Zeit überprüft, sieht man, dass das deutsche Unternehmen lediglich 1956 eine Grundinvestition getätigt hat. Von 1957 bis mindestens 1973 trug der Konzern fast jedes Jahr zur Kapitalerhöhung von VW do Brasil bei, indem er Ausrüstung und Maschinen verschickte. Mit anderen Worten: Bei all den lokalen Vorteilen, die Volkswagen in Brasilien hatte, mussten überdies kaum deutsche Finanzanlagen angefasst werden. Mit den in Brasilien erzielten Gewinnen wurden erst die Kredite bezahlt, dann der aus Deutschland erhaltene Schrott. Wenn möglich, wurde Profit nach Europa geschickt. Als nun Brasilien Beschränkungen für den Kapitalexport auferlegte, wurde das Kapital innerhalb von VW do Brasil reinvestiert, auch in andere Industrien. Aus diesem Grund besaß Volkswagen z.B. auch eine Rinderfarm im Amazonasgebiet.
Eine der 59 Maschinen, die die Techniker*innen den Dokumenten zufolge nach Brasilien importieren wollten, diente zur Herstellung der BX-Plattform, auf der das Modell VW Gol basieren sollte. Das erste Modell dieser Plattform wurde mit luftgekühlten Motoren betrieben. Das ist sehr relevant, da die Chronik von Volkswagen die Zeit zwischen 1973 und 1981 als die Episode beschreibt, in der diese von wassergekühlten Motoren abgelöst wurden. Die modernere Kühlmethode ermöglicht eine feinere Temperaturkontrolle in den Motoren und macht Technologien wie die Kraftstoffeinspritzung möglich. Die Produktion des Gol-Modells mit dem veralteten Motor lief in Brasilien aber bis 1985 weiter, die Einspritztechnologie wurde dort erst 1989 eingeführt. Die Maschinen sind auch von den Technikern der damaligen Zeit evaluiert worden – eine rein buchhalterische Maßnahme, weil die Maschinen praktisch keinen Wert hatten. Laut der Techniker: „Dieser Zeitwert ist jedoch zum Teil als fiktiv anzusehen, da es sich bei den meisten Maschinen um Spezialmaschinen und nicht um Universalmaschinen handelt, deren Verkauf zum Zeitwert sich am Markt schwer realisieren ließe.“ Kurz gesagt, scheint es, dass Brasilien bereits verlor, als es Kapital aus Europa erhielt.
Wer gewinnt bei all dem?
Wirtschaftliche Beziehungen bestehen oft über eine lange Zeit, aber sie ändern ihre Form. Heute sind sie nicht mehr die luftgekühlten Motoren, sondern die Hybridtechnologien. Sie verlassen Europa, besteigen ein Schiff und erhalten in Brasilien ein neues Leben. VW wird aus der Transaktion einen saftigen Gewinn schlagen. Was hat es mit dieser Magie der Grenzen auf sich, die Maschinen von einem Land zum anderen wieder an Wert gewinnen lässt? Eine Voraussetzung für diesen Zauber ist wie gesagt die Existenz protektionistischer Politiken in Brasilien, die die Einfuhr von Autos aus moderneren Fabriken verhindert. Die kontrollierten Grenzöffnungen, die es im Mercosur in den neunziger Jahren gab, haben dieses Muster nur erweitert.
Die Zölle sind nur für Partnerländer wie Argentinien aufgehoben, die unter ähnlichen Bedingungen technischer Obsoleszenz Autos produzieren. Den nationalen Protektionismus bekommt man nicht für umsonst, weil die lokale Produktion am Ende immer teurer ist, als es importierte Produkte wären. Wer dafür bezahlt, ist in erster Linie der Staat mit den Ausgaben für seine Förderpolitiken. Dann sind es auch die lokalen Industriekapitale, die das Produzierte als Produktionsmittel weiterverwenden, sowie die Arbeiter*innen, die die teuren Produkte kaufen. Die Gewinne, die die Industrien im Land reinvestieren, werden auch nur durch diese Politiken garantiert.
Aber was macht das schon – könnte man sagen –, wenn all das die Entwicklung einer dynamischen lokalen Industrie ermöglicht? Das grundlegende Problem dieses Arrangements ist, dass es nur überlebt, wenn die Bedingungen aufrechterhalten werden. Als die hohen Einnahmen aus natürlichen Ressourcen Mitte der siebziger Jahre zurückgingen, fiel fast ganz Südamerika in Diktaturen, die die meisten der ISI-Programme wieder abbauten und die Arbeiter*innenbewegung brutal unterdrückten. Die neoliberale Wende. Die brasilianische Diktatur führte eben 1974, genau zu Beginn der sogenannten „verlorenen Dekade“, die besagten Kontrollen für den Kapitalimport ein. Als die Rohstoffpreise wieder stiegen, kam es in den neunziger Jahren zu einer wirtschaftlichen Erholung, gefolgt von der berühmten linken „pink tide“ (Lula in Brasilien, Bachelet in Chile, Kirchner in Argentinien, usw.) infolge der asiatischen Krise. Es schien sogar, als könnte Venezuela einen Sozialismus mit seinen Öleinnahmen aufbauen. Wenn man die zugrunde liegenden ökonomischen Bewegungen nicht sieht, scheint alles nur ein politisches „Tauziehen“ zu sein, was zu kurz gedacht wäre. Offensichtlich ist der Freihandel auch keine Lösung. Der Abbau protektionistischer Politiken führt ja wiederum nur zu einer gewaltvollen Prekarisierung der Bevölkerung.
Aber es ist auch keine Antwort, Industrialisierungsprogramme zu unterstützen, die mit Technik arbeiten, die anderswo schon obsolet ist – auch wenn VW jetzt im Falle der Hybridautos etwa behauptet, „grüne Energien zu entwickeln“. Südamerikas Geschichte bewegt sich in einem Pendel: Es pendelt von Momenten der Industrialisierung, die die Lebensqualität der Arbeiter*innenklasse verbessern, zu Perioden von autoritären Regierungen und Diktaturen, die die Strukturen wieder abbauen und die Bevölkerung ins Elend stürzen. Milei ist das beste Beispiel dafür, wie sich dieser Zersetzungsprozess heute manifestiert. Die Zyklen sind bedingt durch die Rolle, die der Region im weltweiten Kapitalakkumulationsprozess zukommt. Südamerika ist eine Region, die sich auf die Produktion von Rohstoffen spezialisiert hat. Das bedeutet, dass der Ausweg aus diesen Zyklen ebenfalls global sein muss. Und das kann keine in der Region gewählte Regierung schaffen.