Menschen statt Kühe

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Mehr Kühe als Menschen Landbesitz ist in Kolumbien stark konzentriert (Foto: Aris Gionis via Flickr (CC BY-NC 2))

Eine der erklärten Prioritäten der Regierung unter Präsident Petro ist es, eine Agrarreform durchzusetzen, die im ersten Punkt des Friedens­abkommens zwischen der FARC-Guerrilla und der Santos-Regierung 2016 beschlossen wurde. Laut dem Abkommen sollen drei Millionen Hektar von Großgrundbesitzer*innen umverteilt und Landtitel über sieben Millionen Hektar Land an die landlose kleinbäuerliche Bevölkerung vergeben werden. „Die Agrarreform ist der Weg, um die Gewalt auf dem Land zu vermeiden”, schrieb Petro im Juni auf der Plattform X. Dabei geht es nicht nur oder vorrangig um die Landrückgabe an intern Vertriebene. Dafür ist das Landrückgabeprogramm des 2011 verabschiedeten Opfergesetzes zuständig. „Landrückgabe ist keine Landreform. Sie ist einfach nur Gerechtigkeit“, so Petro. „Bei der Landreform geht es darum, dass Landlose oder Bauern mit zu wenig Land Landtitel bekommen. Und das geschieht durch eine Änderung der Grundbesitzverhältnisse.”

Um die ambitionierten Pläne der Regierung besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die Geschichte der ungleichen Landverteilung in Kolumbien, die ein Erbe der spanischen Kolonialzeit ist. „Der König oder sein Delegierter vergaben die Ländereien an die Kolonisatoren. Diese wurden von Generation zu Generation weitergegeben und bleiben so in den gleichen Händen”, erklärte der Lateinamerikaforscher Juan Guillermo López von der Freien Universität Berlin den LN. „Wir haben es in Kolumbien noch nicht geschafft, ein Kataster (Register über die Landbesitzverhältnisse, Anm. d. Red.) einzurichten. Oft haben Kleinbauern informell Land gekauft, sie haben keine Eigentumstitel. Es ist also sehr schwierig nachzuweisen, welches Land wem gehört, wenn es um die Agrarreform geht. Das ist das große Landproblem”, so López. Diese unklaren Besitzverhältnisse führten im Zusammenspiel mit einer gescheiterten Agrarpolitik im 20. Jahrhundert, dem bewaffneten Konflikt und illegalem Landkauf infolge paramilitärischer Gewalt zu einer stetig größer werdenden Landkonzentration. Die Folge: Millionen von landlosen Bäuer*innen. Die Bemühungen um die Umverteilung von Land begannen vor fast einem Jahrhundert mit den liberalen Reformen von Präsident Alfonso López Pumarejo im Jahr 1936 und jenen von Präsident Alberto Lleras Camargo im Jahr 1961. Wären sie umgesetzt worden, hätten sie einen bedeutsamen Einfluss auf die Landverteilung gehabt. Ihr Erfolg war jedoch sehr begrenzt – teils aus konzeptionellen Gründen und teils, weil sie auf den erbitterten Widerstand jener gesellschaftlichen Gruppen stießen, die bis heute von diesen Ungleichheiten profitieren. Eine weitere Reform sah 1994 mit einer staatlichen Deregulierung und verschiedenen Freihandelsabkommen die neoliberale Wirtschaftsöffnung im Land vor. Diese ließ den Agrarsektor schutzlos zurück und Kolumbien entfernte sich mehr und mehr von einer Produktions- und Subsistenzwirtschaft. Es folgten ein rasanter Anstieg im Bergbau- und Wasserstoffsektor, ebenso wie beim Import von Agrarprodukten, die die kleinbäuerliche Bevölkerung größtenteils selbst hätte produzieren können. Diese konnten im freien Markt nicht mithalten, auch angesichts der fehlenden Infrastruktur, der Gewalt im Land und dem fehlenden staatlichen Schutz. Auf jeden Versuch einer Agrarreform folgte eine (gewaltvolle) Gegenreform, die zu mehr Landkonzentration führte.


Landbesitz bedeutet wirtschaftliche und politische Macht

In Kolumbien bedeutet Landbesitz vor allem eines: wirtschaftliche und politische Macht. Wer nach feudaler Art landlose Arbeiter*innen die eigenen Ländereien bewirtschaften lässt, hat die Kontrolle über sie. Großgrundbesitzer*innen beeinflussen daher unter anderem Wahlergebnisse und die regionale Politik. Eben deshalb steht die Landfrage im Mittelpunkt des jahrzehntelangen Konflikts in Kolumbien.

Dabei wird der größte Teil der potenziellen Anbauflächen gar nicht genutzt – und wenn, dann hauptsächlich für den Export: Kolumbien verfügt über 11,9 Millionen Hektar Agrarfläche. Davon werden nur 3,9 Millionen Hektar bewirtschaftet. Ein Großteil liegt dagegen brach, ist nicht wirtschaftlich ertragreich und wird für die extensive Rinderzucht genutzt. Im Durchschnitt steht auf einem Hektar Land in Kolumbien etwas mehr als eine halbe Kuh. Denn Reichtum entsteht hier nicht durch Landwirtschaft, sondern durch Spekulation: Landbesitz ist eine Kapitalanlage – das reale Geschäft der Großgrundbesitzer*innen.

Eben diesen „unproduktiven Ländereien“ will die Petro-Regierung entgegentreten – und macht sich damit mächtige Feinde. Eine Agrarreform widerspricht den Interessen der herrschenden Klasse in Kolumbien, traditionell Besitzerin des Landes und bis vor kurzem mit ihren Vertreter*innen stets an der Spitze des Staates. Während dem Präsidentschaftswahlkampf verbreitete die heutige Opposition die Lüge, Gustavo Petro würde Land, Eigentum, Häuser und Unternehmen der gesamten Bevölkerung enteignen.

Dabei steht der gesetzliche Rahmen schon seit fast einem Jahrhundert. Rechtlich gilt: Wer in Kolumbien Land besitzt, muss dieses produktiv nutzen, es muss eine „öffentliche Funktion“ erfüllen und darf kein Spekulationsobjekt sein. Ist das nicht der Fall, hat der Staat das Recht, diese Ländereien zu enteignen. Aus eben diesem Grund betreiben Großgrundbesitzer*innen Viehzucht. „Wenn ein Großgrundbesitzer eine Kuh hält, gilt er bereits als Viehzüchter. Das Problem ist also, dass sie eine einzige Kuh auf fünf Hektar stellen können und damit zeigen, dass sie das Land produktiv nutzen”, erklärt der Forscher Juan Guillermo López. Die Funktion der Rinder ist also nicht vorrangig deren Vermarktung. Sie erfüllen lediglich die Rolle der Platzhalter und Wächter über den Landbesitz.

Die Bemühungen der Regierung um eine umfassende Agrarreform begannen mit einer politischen Vereinbarung mit dem Viehzüchterverband (Fedegán) im Oktober 2022. Die Vereinbarung über den Staatsankauf von drei Millionen Hektar zu Marktpreisen ist ein wichtiger Meilenstein, denn seit jeher stellt sich der mächtige Verband gegen jede Landreform. Jose Felix Lafaurie, Präsident des Verbands, und Petro sind seit Jahren erbitterte Gegner. Fedegán steht zudem historisch in Verbindung mit Anti-Restitutionsarmeen und rechten paramilitärischen Gruppen.

Mit dem millionenschweren Verkauf würde Fedegán zum ersten Mal eine Agrarreform unterstützen. Zwar entbindet die Vereinbarung den Verband von seiner historischen, sozialen und rechtlichen Verantwortung, das Land zurückzugeben. Sie könnte jedoch relativ schnell greifbare Ergebnisse garantieren und das Risiko gewaltsamer Opposition reduzieren. Ihre Umsetzung gestaltet sich allerdings schleppend: Seit der Unterzeichnung der Vereinbarung bis Mai 2024 hat Fedegán erst 821.114 Hektar Land zum Kauf angeboten, von denen nur 208.512 brauchbar sind – das entspricht etwa sieben Prozent des Gesamtziels. In vielen Fällen sind die angebotenen Grundstücke unfruchtbar, schwer zugänglich und abgelegen, oder die Legitimität des Erwerbs ist nicht gewährleistet. Und auch nach dem Kauf gibt es weiterhin Verzögerungen bei der Übergabe der Ländereien.

Für die Reform greift Petro auch auf Mechanismen zurück, die bereits seit 30 Jahren festgelegt, jedoch nie umgesetzt wurden. Dazu gehört das Nationale System für Agrarreformen. Darin sind Ziele verankert, die weit über die Landverteilung hinausgehen. Es handelt sich um ein umfassendes Projekt zur ländlichen Produktivität, das auf einer gerechten Struktur des Besitzes von Land und Produktionsmitteln basiert: Durch Ausbau der Infrastruktur, Industrialisierung und Wertschöpfung vor Ort, Anbindung an die Märkte, freiwillige Substitution von Koka-Anbaukulturen durch Nahrungsmittelproduktion, Investitionen in Bildung und Gesundheit sowie Zugang zu Krediten sollen die Bedingungen geschaffen werden, damit Bäuer*innen Subsistenzwirtschaft betreiben und Überschüsse verkaufen können. Dadurch soll ein produktiver und technologischer Schwung in den kolumbianischen Agrarsektor gebracht werden, damit das Land seine Ernährungssouveränität wiedererlangt.

Eine Grundlage dafür existiert bereits: Die Bauernschutzzonen (ZRC) sind selbstverwaltete Gebiete, in denen der Staat die kleinbäuerliche Bevölkerung als Rechtssubjekte anerkennt und die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse und so auch ihrer traditionellen Lebensweise garantiert. In diesen Zonen sind Obergrenzen für Landbesitz festgelegt, die je nach Bodenbeschaffenheit und Marktanbindung variieren. Der rechtliche Rahmen für die ZRC wurde im Gesetz 160 von 1994 festgelegt. „Die Zonen wurden während der Uribe-Regierungen als Guerrilla-Hochburgen stigmatisiert und blockiert. Auch während der Duque-Regierung hatten sie keine echte Unterstützung. Die haben sie erst mit Petro erfahren”, so Juan Guillermo López. Gegenwärtig gibt es 14 solcher Schutzzonen, sieben davon wurden erst in Petros Regierungszeit anerkannt

Kampf gegen die Ungleichheit Auch Kleinbäuer*innen sollen eine Chance gegen Großgrundbesitzer*innen haben (Foto: MinAgricultura y Desarrollo Rural retrieved from Presidencia)

Bedeutende Schritte nach vorn, aber Gegenwind im Kongress

Trotz gewaltigen Widerstands sind bereits bedeutende Fortschritte in der Agrarreform zu beachten. Im Juni 2024 wurde die Anerkennung von Kleinbäuer*innen als Rechtssubjekte im Kongress beschlossen. Diese Gesetzesänderung hebt ihre Rolle als zu schützende politische Subjekte hervor, die eine aktive Rolle in der Agrarreform spielen. „Die bäuerlichen Gemeinschaften haben eine besondere Beziehung zum Land, die auf der Nahrungsmittelproduktion beruht”, so das Gesetz. Auch sollen sie dadurch Rechte auf vorherige Befragungen bekommen, die zuvor nur Angehörigen indigener Gemeinschaften galten.

Am selben Tag stimmte die Senatskammer der Einrichtung einer Agrar- und Landgerichtsbarkeit (JAR) zu. Die Entscheidung gilt nach sechs Jahren als bedeutendster Fortschritt bei der Umsetzung des Friedensabkommens. Die JAR soll spezialisierte Richter*innen in konfliktträchtigen Gebieten installieren und den Zugang der Landbevölkerung zur Justiz verbessern. Solle der Frieden auf dem Land durch den Rechtsweg erreicht werden. „Somit können alle Streitigkeiten, die wir über Landrechte, Brachland und öffentliches Eigentum haben, bearbeitet werden“, so die inzwischen ehemalige Agrarministerin Jhenifer Mojica. Allerdings muss dafür noch ein weiteres Gesetz durch den Kongress gebracht werden, welches die Zuständigkeiten der Agrargerichte definiert und schnellere Verfahren zur Streitbeilegung festlegt. Das Projekt trifft momentan auf starken politischen Widerstand. Die taktischen Verzögerungen der Opposition könnten das Projekt letztlich scheitern lassen, was das Vertrauen der ländlichen Bevölkerung in die Institutionen erschüttern würde.

Insgesamt wurden bis Mai 2024 laut dem Agrarministerium 1.065.109 Hektar Land für die Agrarreform gewonnen. Diese Fläche setzt sich aus gekauftem Land, formalisierten Landtiteln sowie Land zusammen, das der Staat von Drogenhändlern beschlagnahmt hat. Kritiker*innen der Regierung heben die langsame Umsetzung der Umverteilung von Land und der Vergabe von Landtiteln hervor. Fakt ist jedoch auch, dass die landlose kleinbäuerliche Bevölkerung, historisch Opfer des Konflikts, zum ersten Mal von einer Regierung anerkannt wird und sich ein neues Narrativ in Bezug auf die extrem ungerechte Realität der Akkumulation von Land durchsetzt.

Petro-Regierung legt Grundsteine

Dafür gibt es zahlreiche Beispiele. Im Juni 2024 wurden Landtitel von 800 Hektar an 35 Familien in El Aro in der Region Ituango vergeben. Am 27. Oktober 1997 hatte das Paramilitär in der Gemeinde ein Massaker verübt, das die Vertreibung von mehr als tausend Kleinbäuer*innen zur Folge hatte. Der Interamerikanische Menschenrechtshof verurteilte den kolumbianischen Staat 2006 und verpflichtete ihn dazu, die Opfer von El Aro zu entschädigen. Das Urteil war bis jetzt von allen Regierungen ignoriert worden. Weitere über 2.000 Hektar Land, die zuvor von der Mafia beschlagnahmt wurden, wurden im Juni an 181 Familien in den Regionen Bolívar, Sucre und Cesar übergeben. Die Gebiete, die stark unter Gewalt und Landraub gelitten haben, sollen nun den Landwirt*innen und Friedensunterzeichner*innen zugutekommen. Im Mai 2024 hat die Regierung in sieben Departamentos über 3.000 Hektar kollektive Landtitel an afro-kolumbianische Gemeinschaften formalisiert. 1.046 Familien profitierten von dieser Maßnahme. In Santa Bárbara de Punto im Departamen­­to Magdalena vergab die Regierung Kleinbäuer*innen 658 Hektar Land, das sie zuvor von einem Viehzüchter gekauft hatte. Zweifellos steht die Landfrage im Mittelpunkt des Konflikts in Kolumbien. Deshalb ist die Agrarreform eine Voraussetzung für einen zukünftigen Frieden. Es wird immer deutlicher, dass die Petro-Regierung in ihrer Amtszeit lediglich die Grundsteine für die Agrarreform legen kann. Ihr langfristiger Erfolg oder Misserfolg hängt von der Kontinuität eines progressiven politischen Projekts ab. Selbst wenn alle im Friedensabkommen festgelegten Ziele der Agrarreform erreicht werden würden, hätte die kleinbäuerliche Bevölkerung noch nicht genug Land pro Kopf, um davon würdevoll leben zu können. Eines steht zumindest fest: Kolumbiens aktuelle Regierung macht nach Jahrzehnten der negativen Entwicklungen einen ersten Schritt, damit in Zukunft Menschen statt Kühe über die Felder verfügen.

La Tierra para la Gente

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Más vacas que gente La propiedad de tierras s concentra en unas pocas manos (Foto: Aris Gionis via Flickr (CC BY-NC 2))

La primera administración progresista en la historia de Colombia está decidida a cambiar esto. Una de sus prioridades es adelantar la reforma agraria, una promesa del acuerdo de paz firmado en 2016 entre el estado colombiano y las FARC-EP. El acuerdo estipula la redistribución de 3 millones de hectáreas de grandes terratenientes y la entrega de títulos de propiedad de 7 millones de hectáreas a campesinos y campesinas sin tierra. “La reforma agraria es el camino para evitar la violencia en el campo”, escribió el presidente Petro el 20 de junio de 2024 en la plataforma X. No se trata solo de la restitución de tierras a la población despojada y desplazada, sino de entregar títulos de propiedad a campesinos y campesinas sin tierra o con tierras insuficientes, cambiando así la estructura de la propiedad en el país.

Para comprender mejor las metas del gobierno, es crucial entender la historia de la distribución desigual de tierras en Colombia, una herencia de la época colonial española. “El rey o su delegado asignaban tierras a dedo a las personas que hicieron la colonización en Colombia, las cuales se transmitían de generación en generación, permaneciendo en las mismas manos”, explicó el investigador Juan Guillermo López. “En Colombia aún no hemos logrado tener un catastro que esté configurado y que realmente se sepa de quién es qué. Lo que sí ha pasado mucho es que las personas campesinas han comprado tierra y la han comprado de forma informal. Entonces ellos no tienen títulos de propiedad, lo que complica la demostración de la propiedad durante una reforma agraria”, añadió. Estas condiciones, junto con políticas estatales ineficaces, el conflicto armado y las compras ilegales de tierras debido a la violencia paramilitar, han incrementado la concentración de tierras en el siglo XX, dejando a millones de campesinos y campesinas sin tierra.

Los esfuerzos por redistribuir la tierra no son nuevos. Hace casi un siglo con las reformas liberales del presidente Alfonso López Pumarejo en 1936 y del presidente Alberto Lleras Camargo en 1961 empezaron algunos intentos por una reforma agraria. Aunque limitadas por diversos factores, estas iniciativas enfrentaron la feroz oposición de los grupos que desde entonces y hasta nuestros días, se benefician de las desigualdades. Durante la apertura económica neoliberal de los noventa junto a los diversos acuerdos de libre comercio, se dejó al sector agrícola desprotegido, alejando a Colombia aún más de una economía de producción y subsistencia y a su vez sumiendo al campo colombiano en la pobreza. La economía nacional se enfocó en la extracción de minerales e hidrocarburos, así como en la importación de productos agrícolas que el campesinado podría haber producido localmente. La falta de infraestructura, la violencia y la falta de protección estatal impedían que la población campesina participara en el mercado.


Propriedad de tierra implica poder económico y político

En Colombia, la propiedad de la tierra significa sobre todo una cosa: poder económico y político. Quien, al estilo feudal, deja que campesinas y campesinos sin tierra cultiven su tierra, tiene el control sobre éstos y ejerce una fuerte influencia para moldear resultados electorales, y así, la política regional. Por ello, la cuestión de la tierra es central en el conflicto. Además, la mayoría de las tierras fértiles están en desuso o se destinan principalmente a la producción de productos para la exportación. De las 11,9 millones de hectáreas de tierras aptas para la agricultura en Colombia, actualmente solo se cultivan 3,9 millones. Gran parte de estas tierras se usan para la ganadería extensiva. En promedio, hay poco más de media vaca por hectárea en Colombia, ya que la riqueza no proviene de la agricultura sino de la especulación: La propiedad de la tierra es sobre todo una inversión de capital para terratenientes y latifundistas, quienes, por vía del acaparamiento, pueden determinar los precios y las condiciones de acceso a la tierra. Al aumentar su valor, se llenan sus bolsillos.

El gobierno del Pacto Histórico está desafiando esta lógica de acumulación de terrenos improductivos, enfrentándose así a enemigos poderosos. Una reforma agraria contradice los intereses de la clase dominante en Colombia, tradicionalmente dueña de las tierras y, hasta hace poco, controladora del Estado. No es sorprendente, entonces, que la oposición propagara el miedo durante las campañas presidenciales, sugiriendo que Petro expropiaría tierras, viviendas y negocios de la población.

En medio de una fuerte campaña de desinformación, se invisibilizó el hecho de que el marco legal ha existido por casi un siglo: en 1936 se creó la figura de la extinción de dominio para las tierras ociosas. Por lo tanto, la tierra no puede ser desaprovechada; si lo está, el Estado tiene el derecho de extinguir el dominio. Una forma común de demostrar que se está utilizando la tierra es mediante la ganadería. “Si un terrateniente tiene una vaca, se considera ganadero. El problema es que pueden colocar una sola vaca en 5 hectáreas y mostrar que están usando la tierra de manera productiva”, explica López. Así, el ganado no se cría principalmente para el mercado, sino para mantener y proteger la propiedad de la tierra. De esta manera, se mantiene la tierra como objeto de especulación.

Los esfuerzos del gobierno Petro para una reforma agraria comenzaron con un acuerdo político con la Federación Nacional de Ganaderos (Fedegán). El acuerdo para comprar tres millones de hectáreas a Fedegán a precios de mercado es un hito importante. Históricamente, la poderosa federación se ha opuesto a cualquier reforma agraria y está vinculada a la fundación de ejércitos anti-restitución y grupos paramilitares. Con este acuerdo, Fedegán apoyaría por primera vez una reforma agraria. Aunque esta estrategia exonera a la federación de su responsabilidad histórica y social de devolver tierras, garantiza resultados rápidos y reduce el riesgo de oposición violenta. Hasta mayo de 2024, Fedegán ofreció 821,114 hectáreas, de las cuales solo 208,512 son viables, aproximadamente el 7% del objetivo total. A menudo, las tierras ofrecidas son infértiles, inaccesibles, remotas o su procedencia es de dudosa legitimidad.

Para la reforma, el gobierno recurre a mecanismos establecidos hace 30 años, pero nunca implementados. Uno de ellos es el Sistema Nacional de Reforma Agraria, que establece objetivos que van más allá de la simple distribución de tierras. Este proyecto integral para la productividad rural se basa en una reestructuración equitativa de la propiedad de la tierra y los medios de producción.

Lucha contra la desigualdad Para que lxs campesinxs tengan chance contra lxs grandes terratenientes (Foto: MinAgricultura y Desarrollo Rural retrieved from Presidencia)

A través del desarrollo de infraestructura, la industrialización y la generación de valor en las regiones, la conexión a los mercados, la sustitución voluntaria de cultivos de coca por la producción de alimentos, inversiones en educación y salud, y el acceso a créditos, se busca crear las condiciones para que el campesinado pueda llevar a cabo una agricultura de subsistencia y vender sus excedentes. De esta manera, se pretende dar el impulso productivo y tecnológico necesario al sector agrario colombiano, con el fin de que el país recupere su soberanía alimentaria.

Existe ya una buena base para ello y son las Zonas de Reserva Campesina (ZRC), áreas autogestionadas donde el Estado reconoce al campesinado como sujeto de derecho, garantizando sus necesidades básicas y su forma de vida tradicional.

Con las ZRC se busca crear las condiciones para la adecuada consolidación y desarrollo sostenible de la economía campesina en las zonas respectivas. Con ellas también se regula la ocupación y aprovechamiento de las tierras baldías, dando preferencia en su adjudicación a las y los campesinos de escasos recursos. Junto al campesinado se construye una propuesta integral de desarrollo humano sostenible, de ordenamiento territorial y de gestión política que facilita la ejecución integral de las políticas de desarrollo rural. Se fortalecen así los espacios de concertación social, política, ambiental y cultural entre el Estado y las comunidades rurales, garantizando su adecuada participación en las instancias de planificación y decisión local.

Las ZRC, reguladas por la Ley 160 de 1994, fueron estigmatizadas y bloqueadas durante los gobiernos de Álvaro Uribe e Iván Duque. Solo con Gustavo Petro han recibido verdadero respaldo. Actualmente, hay 14 ZRC, siete de las cuales han sido reconocidas durante el gobierno de Petro.

Reactivando el sistema nacional de reforma agraria, revitalizando y ampliando las Zonas de Reserva Campesina, formalizando el acuerdo de compra de tierras con FEDEGÁN, acelerando y apoyando la implementación de la ley de víctimas y restitución de tierras y poniendo en marcha la implementación del Acuerdo de Paz, ya se observan progresos significativos en materia agraria, pese a la gran oposición y a las dificultades técnicas de la implementación.


Avanzes visibles a pesar de la fuerte oposición en el congreso

En junio de 2024, el Congreso aprobó el reconocimiento de campesinas y campesinos como sujetos de derechos, destacando su papel como sujetos políticos con derechos especiales de protección, así como con derecho a consultas previas, antes solo otorgado a los pueblos indígenas, afrocolombianos y demás grupos étnicos. El mismo día, el Senado aprobó la creación de la Jurisdicción Agraria y Rural (JAR), el avance más significativo en la implementación del acuerdo de paz en seis años. La JAR instalará jueces especializados en áreas conflictivas, mejorando el acceso a la justicia para la población rural y promoviendo la paz territorial. Esta jurisdicción permitirá resolver disputas sobre derechos de tierras, baldíos y propiedad pública.

No obstante, se necesita otra ley que defina las competencias de los tribunales agrarios y establezca procedimientos rápidos para resolver disputas. Este proyecto enfrenta una fuerte oposición política que podría retrasar su progreso y, en última instancia, socavar la confianza de la población rural en las instituciones.

Hasta mayo de 2024, se han adquirido y gestionado 1.065,109 hectáreas para la reforma agraria mediante compra, formalización de títulos de propiedad, recuperación y clarificación de baldíos, extinción de dominio a favor de la nación, restitución de tierras y confiscación de terrenos a narcotraficantes. Es un hecho que la población campesina sin tierra, las víctimas históricas del conflicto, está siendo reconocida por primera vez por un gobierno. Se está construyendo un nuevo relato, un relato que visibiliza la realidad extremadamente injusta de la acumulación de tierras y se empieza el proceso de cambio con hechos concretos.

En junio de 2024, se entregaron títulos de 800 hectáreas a 35 familias en El Aro, Ituango, donde la masacre paramilitar en 1997 provocó el desplazamiento de más de mil campesinos y campesinas. La Corte Interamericana de Derechos Humanos condenó al estado colombiano en 2006, obligándolo a indemnizar a las víctimas, un fallo ignorado por los gobiernos anteriores. A principios de junio, más de 2,000 hectáreas de tierras confiscadas a la mafia fueron entregadas a 181 familias en Bolívar, Sucre y Cesar, regiones afectadas por violencia y despojo de tierras. En mayo de 2024, se formalizaron títulos colectivos de más de 3.000 hectáreas para comunidades afrocolombianas en siete departamentos, beneficiando a 1.046 familias. En Santa Bárbara de Pinto, Magdalena, la administración Petro entregó 658 hectáreas a campesinos y campesinas, compradas previamente a un ganadero.

Sin duda, la cuestión de la tierra está en el centro del conflicto. Por ello, la reforma agraria es una condición esencial para la paz futura. Cada vez es más evidente que el gobierno de Petro está sentando las bases de esta reforma y avanzando en la dirección necesaria. El éxito de la reforma dependerá de la continuidad del proyecto político progresista; una continuidad que permita ver y afianzar los resultados a largo plazo. El camino es largo y una reforma agraria, un proceso de largo aliento. Tras décadas de política de despojo y acumulación, se está dando un primer paso hacia un futuro donde sean las personas, y no las vacas, quienes habiten los campos.

“No es una crisis climática, sino una crisis colonial”

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Movilización en Alemania Juan Pablo Gutiérrez (Delante, a la derecha) con otros manifestantes delante de la embaja de Colombia en Berlin
(Foto: Klaus Sparwasser)

La Corte Constitucional de Colombia en 2009 declaró que el pueblo Yukpa se encuentra en riesgo inminente de extinción física y cultural. ¿Cuáles son las razones?
Se debe a la pérdida de nuestro territorio ancestral. La llegada de las minas (véase texto explicativo abajo, nota de redacción) sólo fue posible a través de grupos paramilitares que despojaron de esas tierras a pueblos indígenas, a campesinos, a afrodescendientes, a personas que habían vivido ahí durante mucho tiempo. Estos grupos desplazaron y asesinaron a mucha gente.
El pueblo Yukpa como pueblo semi nómada siempre había podido alimentarse mediante la caza y la pesca, pero ahora las minas han desviado y contaminado los ríos. La caza y la pesca se dificultan cada vez más porque toca caminar muchísimo – días prácticamente – para encontrar un animal. El esfuerzo ya no vale la pena. Por eso, hoy en día recurrentemente los niños Yukpa se despiertan en las noches y lloran de hambre porque no se han alimentado bien. El hambre, sumado al polvo de carbón presente en la atmósfera causan la muerte de aproximadamente 40 niños y niñas por año. Dado que el territorio es lo que configura nuestra cultura y cosmovisión, éstas también se ven amenazadas. Muchos animales y plantas sagradas ya se han dejado de pronunciar porque dejaron de existir.
Todo eso sólo ha sido posible a causa de la negligencia y el olvido del Estado, a causa de la complicidad de los gobiernos anteriores con las empresas mineras, apoyados en el concepto del “progreso” – a nuestro parecer el nuevo disfraz del colonialismo.

Los Yukpa de momento tratan de lograr la delimitación de su territorio ancestral, la cual ha sido exigida también por la Corte Constitucional de Colombia desde 2017. ¿Por qué eso es tan importante?
A partir del momento en el que la Agencia Nacional de Tierras (ANT) ejecute las sentencias de la Corte Constitucional y delimite nuestro territorio ancestral, será oficial que las minas a tajo abierto están en territorio Yukpa. Esto a su vez será una ficha de defensa jurídica poderosísima (véase texto explicativo abajo, nota de redacción). Nos va a permitir hacer valer de manera retroactiva nuestros derechos a la consulta previa, la que nunca ocurrió antes del comienzo de la minería. También hará posible hacer cumplir nuestro derecho a una post consulta para obtener las reparaciones por los daños ocasionados. Entonces, llevar a cabo la delimitación es la llave para solucionarle los problemas al pueblo Yukpa.

¿Qué tipo de reparaciones piden los Yukpa?
Nosotros en Colombia desde 2016 estamos en un contexto de construcción de paz y hemos aprendido que para acceder a esta se necesitan tres cosas: la verdad, la justicia y la reparación. La cuestión de la reparación será definida por las autoridades Yukpa localmente en su momento. En mi opinión, lo más importante sería resolver todas las afectaciones. Por ejemplo, el problema del hambre, a través de la descontaminación de los ríos, la liberación de los ríos, el repoblamiento piscícola de los ríos, programas para repoblar de fauna y flora en el territorio.

¿Cómo se explica que en 2021 la empresa Glencore haya devuelto las licencias para sus minas en el departamento del Cesar, mientras sigue con la explotación de la mina El Cerrejón en La Guajira, que es la más conocida?
Después de que la Corte Constitucional fallara en nuestro favor en el 2021, Glencore anunció la renuncia a todos sus títulos mineros en el Cesar. La justificación que ellos dieron mediática y públicamente fue la caída del precio del carbón. Sin embargo, la mina del Cerrejón en La Guajira – que es territorio del pueblo indígena Wayuu – sigue funcionando, lo que demuestra que esa no es la razón verdadera. En realidad, fue porque les dio miedo, porque nosotros como pueblo Yukpa los arrinconamos a través de nuestro litigio estratégico y ellos se dieron cuenta de que tenían que irse, y así evadir las responsabilidades.

El gobierno de Gustavo Petro respeta los derechos indígenas y quiere terminar la explotación del carbón. ¿Por qué decidieron llevar una carta pública a diferentes embajadas en Europa junto a organizaciones de la sociedad civil?
La responsabilidad de todo lo que nosotros denunciamos en esa carta recae en las políticas de los gobiernos anteriores y no tiene nada que ver con el gobierno actual. El gobierno de Petro fue impulsado por sectores sociales, populares y el movimiento indígena en Colombia. El pueblo Yukpa lo apoya y los pueblos están incluso gobernando en la institucionalidad. Hemos convocado a organizaciones de distintos países para reunirse con embajadores con el objetivo de recordarle que esa sentencia existe. Estamos seguros de que el gobierno de Petro ni siquiera conoce esa sentencia, ya que se han incumplido muchísimas sentencias en gobiernos anteriores y esta es una más.
Yo hablo a veces con funcionarios, con los ministros del gobierno de Petro y tienen súper claro que el desafío es sacar a Colombia de esa dependencia de energías fósiles. Por lo tanto, es ahora o nunca. Si esa sentencia no se cumple con Gustavo Petro, no se cumple con nadie más.

Por la invasión rusa en Ucrania, Alemania ahora importa más carbón de Colombia que antes. ¿Qué esperas de los activistas en Europa?
El pueblo Yukpa vive las consecuencias del embargo de carbón que la Unión Europea le impuso a Rusia: En Colombia la exportación de carbón se incrementó en más de 200 por ciento, sin que de estos pagos se beneficien los niños y niñas Yukpa y Wayuu que mueren en la Serranía del Perijá y en el desierto de La Guajira.
Alemania le va a meter presión a Colombia para que no salga del carbón, entonces es fundamental que se fortalezca la voluntad del Gobierno de Colombia de hacerlo. Por otro lado, la sociedad civil movilizada en Alemania debería recordarle también a su propio gobierno la necesidad de acabar con la explotación del carbón.
Me parece fundamental que los activistas centren su narrativa de la crisis más en lo que es para nosotros: No una crisis climática, sino una crisis colonial. La tiene que resolver ese puñado de países que se encargaron de provocarla. Si la narrativa se mantiene únicamente en que se trata de una crisis climática, la reivindicación central va a consistir en pasar de un modo de explotación de la tierra que emite CO² por otro que no emite CO². Y nosotros vamos a seguir en las mismas porque la transición energética va a estar basada otra vez en la explotación de nuestros territorios, solo que ahora con el hidrógeno verde y los paneles solares en vez del carbón.
Otro punto es que, al interior de la lucha, se está pretendiendo avanzar a partir de pequeños nichos, de pequeños grupos y eso al gobierno y a las corporaciones les conviene. Una masa de personas decididas y determinadas a cambiar las cosas es imparable. Y eso es lo que falta acá. El 2024 tiene que ser el año de consolidación de un movimiento de movimientos, de empezar a unir sectores diferentes, también con el sindicalismo. Lo digo también pensando en que el fascismo se está tomando toda Europa. Lo pienso desde la perspectiva de los pueblos indígenas organizados en Colombia. A partir del momento en el que estuvimos organizados a nivel nacional, por ejemplo, en la ONIC, los pueblos indígenas nos convertimos en un poder. Si hubiéramos seguido solos como pueblo Yukpa, ya hubiéramos desaparecido.

Die Tragödie um La Gorgona

Paradies in Not Der Küstenwachenkomplex auf der Pazifikinsel La Gorgona soll um ein Radarsystem und Landungsbrücken erweitert werden
(Foto: travail via wikimedia commons (CC BY-SA 3.0 Deed))

28 Kilometer westlich der kolumbianischen Pazifikküste liegt die Insel Gorgona. Ihren mythologischen Namen, der auf die drei Schlangen­monster anspielt, zu denen der berühmte Seefahrerschrecken Medusa zählte, verdankt sie der Vielzahl von Schlangen, die sie bevölkern. Mit einer Fläche von nur 26 Quadratkilometern war Gorgona bereits Standort eines Gefängnisses, eines Nationalparks und ist heute die Basis eines Küstenwachenpostens, der ein von den Vereinigten Staaten finanziertes und installiertes Radarsystem beschützen soll. Das von der Regierung Juan Manuel Santos´ begonnene Projekt wird von der Regierung Petro fortgeführt.

Gorgona hat einen einzigartigen ökologischen Wert, nicht nur für Kolumbien, sondern für die gesamte Region. Manuel Rodríguez Becerra, Professor an der Universidad de los Andes, der die Gründung des kolumbianischen Umweltministeriums vorangetrieben hat, bezeichnet Gorgona als „ein Juwel des Nationalparksystems und der Inseln der Welt“ mit einer besonders hohen biologischen Vielfalt, und einer Vielzahl an Fisch-, Amphibien-, Reptilien- und Blumenarten. Darüber hinaus beherbergt die Insel eines der größten Korallenriffe im kolumbianischen Pazifik.

Ihre Lage an der Westküste Kolumbiens macht Gorgona zu einem wichtigen Durchgangsort für Meerestiere wie Buckelwale. Während der Saison zwischen Juni und Oktober/November können diese Wale zusammen mit ihren Kälbern gesichtet werden. Die Walbeobachtung in dem Gebiet ist zudem zu einer wichtigen Einnahmequelle für die Einwohner*innen der Küstenstadt Guapi und ihrer umliegenden Ortschaften geworden. Die Gemeinden an der Pazifikküste, die das Militärprojekt ablehnen, haben – wie sie es in einem Rundbrief vom 14. Februar ausdrücken – auf diese Weise „in einer harmonischen Beziehung zu Gorgona gelebt und das einzigartige Ökosystem, das Teil unseres kollektiven und ethnischen Territoriums ist, respektiert und geschützt“.

Die biologische Vielfalt der Insel ist immer widerstandsfähig gegenüber politischen Ereignissen und Entscheidungen wie etwa der Einrichtung des Hochsicherheitsgefängnisses im Jahr 1960 gewesen. Beschwerden über die ständigen Misshandlungen und unmenschlichen Bedingungen, unter denen die Gefangenen auf der Insel festgehalten wurden, sowie die Anerkennung der umweltpolitischen Bedeutung der Insel führten 1983 zur Schließung des Gefäng­nisses. Die Künstlerin und Aktivistin Cecilia Castillo aus der Stadt Ibagué hatte dafür jahrelang unermüdlich gekämpft. Bei einem Besuch war sie Zeugin der Bedingungen in dem Gefängnis geworden, ein Erlebnis, das sie dazu veranlasste, eine Kampagne für seine Schließung zu initiieren. Castillo war in den darauffolgenden Jahren entscheidend am Protest gegen das Gefängnis und für die Umwandlung der Insel in einen Nationalen Naturpark beteiligt.

Für die US-Regierung ist die Insel vor allem wegen ihrer Lage inmitten der Drogenhandelsroute nach Norden interessant. Die US-Initiative für die Installation des Radarsystems ist Teil der von der Leiterin des US-Südkommandos, Laura Richardson, vorgeschlagenen Strategie, den US-Einfluss in der Region zu verstärken.

Das Projekt wurde bereits während der Regierung von Juan Manuel Santos (2010 bis 2018) begonnen. Der Vorschlag, der der Nationalen Umweltbehörde (ANLA) vorgelegt wurde, sah unter anderem einen 50 Meter hohen Turm für ein Radar, den Bau einer Küstenwachstation und einen 163 Meter langen Kai vor.

Der Bau sollte durch ein Budget von 12 Millionen Dollar aus den Vereinigten Staaten finanziert werden. Eine Umweltgenehmigung wurde am 31. Dezember 2015 erteilt, nur 29 Tage nachdem das Projekt vorgeschlagen worden war – eine auffällig kurze Zeit, um die notwendigen Studien zur Einschätzung der tatsächlichen sozio-ökologischen Auswirkungen des Projekts durchzuführen. Die Auswirkungen, die der Bau des Kais auf die Reise der Wale haben würde, oder die Risiken, die mit der Installation von Benzintanks nahe der Insel verbunden sind, wurden nicht berücksichtigt. Nach Erteilung der Genehmigung wurde dann schnell mit der Umsetzung des Projektes begonnen.

Die Zivilgesellschaft hat der Durchsetzung des US-Projektes auf der Insel jedoch nicht tatenlos zugesehen. Aus Gemeindeverbänden der Ortschaften an der Pazifikküste und aus akademischen und Umweltgruppen sind Organisationen wie das Komitee Salvemos Gorgona („Lasst uns Gorgona retten“) hervorgegangen, die sich von Anfang an gegen die Versuche der verschiedenen Regierungen gewehrt haben, das Projekt zu verwirklichen. Die Organisation betont, wie wichtig es ist, sowohl die biologische Vielfalt der Insel als auch die Souveränität über das Territorium zu schützen.

Mit den Wahlen im Jahr 2022 und dem Amtsantritt von Gustavo Petro als Präsidenten ging die Erwartung einher, dass die selbsternannte „Regierung des Wandels“ das Projekt stoppen würde. Nachdem Salvemos Gorgona verschiedene Forderungen vorgetragen hatte und eine öffentliche Anhörung im Kongress, den die Abgeordnete Jennifer Pedraza initiierte und an der auch die Umweltministerin Susanna Muhammad teilnahm, stattgefunden hatte, wurde das Projekt vorübergehend ausgesetzt. Trotzdem versuchte die Regierung weiterhin, die Gemeinden von den angeblichen Vorteilen des Projekts zu überzeugen, indem sie in der Region Bürgerforen durchführte, an denen auch die Vizepräsidentin Francia Márquez teilnahm.

Bei einem Besuch der Regierung in Guapi, inmitten von Bannern, die die Absage des Projektes forderten und von Ausrufen, der Präsident möge sich zu dem Thema positionieren, beschloss dieser, die Gemeinden zu ignorieren und die Veranstaltung zu beenden. Die Entscheidung war bereits getroffen worden.

US-Militärpräsenz in Kolumbien verfestigt sich auch unter Petro

Am 12. Februar 2024 gab die Regierung auf einer Pressekonferenz in Anwesenheit von Umweltministerin Muhammad und Verteidi­gungs­­­­­minister Iván Velásquez bekannt, dass sie mit dem Bau des Projekts in Gorgona beginnen werde. Sowohl die Minister*innen als auch der Präsident haben sich darum bemüht, das Ganze als ein Projekt für Forschung und Tourismusförderung zu rahmen.

Es wurde versichert, dass die Bauarbeiten nicht während der Walbeobachtungssaison stattfinden und unter großer Rücksicht auf die Umwelt durchgeführt werden würden. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies wirklich so umgesetzt wird, ist allerdings gering. Außerdem blieben die Pläne für das Radar und die militärischen Elemente der Küstenwachstation unverändert, wie der Kommandeur der Küstenwache, Javier Bermudez, erklärte. Bezüglich der US-Finanzierung des Projektes gab Verteidigungsminister Velásquez bekannt, dass das Geld nach Gesprächen mit der US-Botschaft nun nicht für die Küstenwache oder das Radar, sondern für ein geplantes Forschungszentrum verwendet werden würde. Andrés Pachón, Sprecher von Salvemos Gorgona, hält diese Ankündigung für irreführend, da „die Umweltlizenz, alle durchgeführten Beratungsstudien und die früheren Umweltverträglichkeitsstudien bereits mit US-Geldern bezahlt worden sind“. Außerdem wurde nicht nur das Radar schon 2019 gekauf. Die bestehende Baulizenz sieht auch keine der von der Regierung erwähnten wissenschaftlichen Konstruktionen vor, sondern nur militärische Einrichtungen. Die US-Militärpräsenz in Kolumbien hat sich während der aktuellen Regierungsperiode entgegen allen Erwartungen weiter verfestigt. Die US-Generälin Laura Richardson hat das Land regelmäßig besucht und hochrangige Treffen mit Militärchefs, Präsident Petro und Vizepräsidentin Márquez abgehalten. Diese wurden von Ankündigungen, etwa über Pläne zur Militarisierung des Amazonasschutzes und der grundsätzlichen Stärkung der militärischen Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern begleitet.

Die Fortführung von geostrategischen Interessensprojekten der USA wie auf Gorgona und des alten „Kriegs gegen die Drogen“ hat Richardson selbst zu der Bemerkung veranlasst, die Beziehungen zwischen den Ländern „könnten nicht besser sein“. Trotz mangelndem Interesse in der Regierung setzen die Organisationen ihre Protestaktionen gegen das Projekt fort.

Neben nationalen Aufrufen zur Mobilisierung zur Verteidigung der Insel und der Souveränität gründete sich die Bancada en Defensa de Gorgona („Fraktion zur Verteidigung von Gorgona“) mit mehr als 15 Abgeordneten verschiedener Parteien, die versuchen wird, die Debatte auf die legislative Ebene zu bringen. Die Basisorganisation und Mobilisierung ist das Einzige, was La Gorgona vor dem Schwert des Perseus retten kann.

„Es ist keine Klimakrise, sondern eine koloniale Krise“

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Demonstrieren auch in Deutschland Juan Pablo Gutiérrez (vorne rechts) mit anderen Demonstrierenden vor der kolumbianischen Botschaft in Berlin
(Foto: Klaus Sparwasser)

Das Verfassungsgericht hat im Jahr 2009 erklärt, dass die Gemeinschaft der Yukpa unmittelbar von physischer und kultureller Auslöschung bedroht sei. Was sind die Gründe dafür?
Das hängt mit dem Verlust unseres angestammten Territoriums zusammen. Der Betrieb der Minen (siehe Infokasten unten) war nur möglich, weil paramilitärische Gruppen dieses Gebiet Bäuer*innen, Indigenen und Afrokolumbianer*innen gewaltsam entrissen haben, die dort seit langem gelebt haben. Diese Gruppen haben viele Menschen vertrieben und ermordet.
Als Halbnomad*innen konnten wir Yupka uns von jeher durch Jagd und Fischfang ernähren, aber die Bergbauunternehmen haben die Flüsse umgeleitet und verschmutzt. Jagd und Fischfang werden immer schwieriger, da wir immer weitere Entfernungen zurücklegen und Tage unterwegs sein müssen, um noch Tiere zu finden. Die Anstrengung lohnt sich immer weniger. Daher wachen bei den Yukpa heute häufig nachts die Kinder auf und weinen vor Hunger. Der Hunger und der in der Luft vorhandene Kohlenstaub verursachen jedes Jahr den Tod von etwa 40 Kindern. Da das Territorium auch unsere Kultur und Kosmovision prägt, sind diese ebenfalls bedroht. Viele Pflanzen und Tiere verschwinden aus unserem Wortschatz, weil sie aufgehört haben zu existieren. All das konnte nur geschehen, weil der Staat uns vernachlässigt und vergessen hat und aufgrund der Komplizenschaft der früheren Regierungen mit den Bergbaukonzernen, gestützt auf den Begriff „Fortschritt“ – unseres Erachtens nach das neue Gesicht des Kolonialismus.

Die Yukpa bemühen sich derzeit um die Abgrenzung ihres angestammten Territoriums, die auch das kolumbianische Verfassungsgericht seit 2017 fordert. Warum ist das so wichtig?
Sobald die dafür zuständige Nationale Landbehörde (ANT) die Urteile des Verfassungsgerichts umsetzt und unser Territorium abgrenzt, wird damit auch offiziell festgehalten, dass die Kohletagebaue auf Yukpa-Gebiet liegen. Das ist ein wichtiger, mächtiger Baustein für unsere juristische Strategie (siehe Infokasten unten). Es wird uns erlauben, nachträglich unser Recht auf eine vorherige Anhörung einzufordern, die vor Beginn des Minenbetriebs nicht stattgefunden hat. Es wird uns auch ermöglichen, unser Recht auf eine Nachkonsultation durchzusetzen, um eine Wiedergutmachung für die entstandenen Schäden zu bekommen. Die Umsetzung der Abgrenzung ist also der Schlüssel für die Lösung der Probleme der Yukpa.

Was stellen sich die Yukpa unter Wiedergutmachung vor?
Wir in Kolumbien bemühen uns seit 2016 (Abschluss des Abkommens mit der FARC-Guerilla, Anm. d. Red.) um Frieden. Dabei haben wir gelernt, dass dafür drei Dinge nötig sind: Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. Die Autoritätspersonen der Yukpa vor Ort werden sich zu gegebener Zeit zum Thema Wiedergutmachung äußern. Persönlich glaube ich, dass die Behebung der Umweltschäden dabei zentral wäre: die Befreiung und Säuberung der Flüsse, die Wiederansiedlung von Fischen, anderen Tieren und Pflanzen. Letzten Endes würde das auch das Hungerproblem angehen.

Wie ist es zu erklären, dass der Konzern Glencore 2021 seine Bergbaulizenen in der Region Cesar an die Regierung zurückgegeben hat, während er die große und bekanntere Cerrejón-Mine in der Region La Guajira weiter ausbeutet?
Nachdem das Verfassungsgericht uns im Jahr 2021 zum zweiten Mal Recht gab, hat Glencore seinen vollständigen Rückzug aus unserem Gebiet angekündigt. Als Begründung nannten sie den gefallenen Kohlepreis. Dass gleichzeitig die Cerrejón-Mine auf dem Gebiet der indigenen Gemeinschaft der Wayuu noch in Betrieb ist, zeigt jedoch, dass das nicht der wahre Grund ist. In Wirklichkeit haben sie Angst bekommen, da wir Yukpa sie durch unsere juristische Arbeit in die Ecke getrieben haben. Sie haben gemerkt, dass sie gehen müssen, um der Verantwortung zu entgehen.

Die linke Regierung von Gustavo Petro respektiert die indigenen Rechte und möchte aus der Kohlegewinnung aussteigen. Warum habt ihr euch dafür entschieden, gemeinsam mit Vertreter*innen der Zivilgesellschaft in kolumbianischen Botschaften einen offenen Brief zu übergeben?
Die Verantwortung für die Probleme, die wir in dem Brief ansprechen, liegt bei den früheren Regierungen, nicht bei der von Petro. Seine Regierung entstand auch aus sozialen und indigenen Bewegungen heraus. Wir Yukpa unterstützen die Regierung, die indigenen Gemeinschaften regieren zum Teil sogar in den Institutionen mit. Wir haben Organisationen aus verschiedenen Ländern zur Übergabe des offenen Briefes aufgerufen, um die Regierung daran zu erinnern, dass es dieses Urteil gibt. Wir sind uns nämlich sicher, dass sie das Urteil gar nicht kennt, denn es ist nur eins von sehr, sehr vielen Gerichtsurteilen, die von früheren Regierungen nicht umgesetzt wurden.
Ich spreche manchmal mit Regierungsbeamten und mit Petros Ministern und ihnen ist ganz klar, dass die Herausforderung darin besteht, die Abhängigkeit Kolumbiens von fossilen Energien zu beenden. Für uns heißt es daher: jetzt oder nie.

Deutschland importiert aufgrund des Kriegs gegen die Ukraine nun mehr Kohle aus Kolumbien als zuvor. Was erwartest du von den Aktivist*innen in Europa?
Der Kohleexport aus Kolumbien ist infolge des Kohleembargos der EU gegen Russland um über 200 Prozent angestiegen, ohne dass die sterbenden Kinder der Yukpa oder der Wayuu von den Einnahmen etwas hätten. Deutschland wird Kolumbien unter Druck setzen, nicht aus der Kohle auszusteigen. Daher ist es wichtig, dass der Ausstiegswille der kolumbianischen Regierung gestärkt wird. Andererseits sollte die deutsche Zivilgesellschaft auch ihre eigene Regierung an die Notwendigkeit des Ausstiegs aus den fossilen Energien erinnern. Ich fände es sehr wichtig, dass die Aktivist*innen hier ihr Narrativ über die Krise mehr auf das fokussieren, was sie für uns ist: nicht eine Klimakrise, sondern eine koloniale Krise. Lösen muss sie die Handvoll Länder, die sie auch verursacht haben. Wenn weiter nur von einer Klimakrise die Rede ist, wird die zentrale Forderung sein, ein CO2-ausstoßendes Modell der Landausbeutung durch eines zu ersetzen, bei dem kein CO2 freigesetzt wird. Und für uns wird sich dabei nichts ändern, denn die Energiewende wird weiter auf der Ausbeutung unserer Territorien beruhen, nur in Zukunft dann eben mit grünem Wasserstoff oder Solarzellen anstatt mit Kohle.
Ein anderer Punkt ist, dass der Kampf ums Klima hier noch aus verschiedenen Nischen und Gruppen heraus geführt wird. Das kommt der Regierung und den Unternehmen entgegen. Eine Masse von Menschen, die entschieden und entschlossen sind, die Dinge zu verändern, ist unaufhaltsam. Daran fehlt es hier noch. 2024 sollte das Jahr sein, um eine Bewegung von Bewegungen zu schmieden, unter Einschluss der Gewerkschaften – auch angesichts der Tatsache, dass der Faschismus in Europa auf dem Vormarsch ist.
Das sage ich aus der Perspektive der organisierten indigenen Gemeinschaften in Kolumbien heraus. Seitdem wir uns auf nationaler Ebene als ONIC organisiert haben, sind wir Indigene ein Machtfaktor. Hätten wir Yukpa allein weitergemacht, wären wir längst verschwunden.

STOCKENDE REFORMEN

Steht vor großen Herausforderungen Petro bei seiner Amtseinführung (Foto: Raúl Ruiz-Paredes via Flickr, CC BY-SA 2.0)

„Der kürzlich veröffentlichte Index für ungewöhnliche Arbeitsbedingungen bezüglich der Arbeitszeiten in den OECD-Ländern (Länder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) zeigt bedauerlicherweise, dass Kolumbien zusammen mit der Türkei auf dem letzten Platz liegt. Im Vergleich zu den anderen Ländern in der OECD sind wir Gesellschaften, die ihre Arbeitnehmer am meisten ausbeuten, obwohl sie den Reichtum produzieren“ – sagte Präsident Petro vom Balkon des Regierungspalast aus, in einer langen Rede am 14. Februar.

In seiner Rede versuchte er die Menge seiner Anhänger*innen zu begeistern, und somit seiner Arbeitsreform breite Unterstützung zu verschaffen. Seine Absicht ist es, einen Großteil der Maßnahmen zur Flexibilisierung der Arbeit umzukehren, die von Präsident Álvaro Uribe im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ergriffen wurden. Damit soll die Prekarisierung der Arbeit bekämpft und Arbeit würdevoller gestaltet werden.

Obwohl der Entwurf der Reform noch nicht vorliegt, hat die Regierung bereits begonnen, erste Schritte in diese Richtung zu unternehmen. Ende 2022 schlug Petro vor, den öffentlichen Dienst in Rekordzeit zu professionalisieren. Sein Plan sieht vor, die Verträge zur Erbringung von Dienstleistungen – kurzzeitige Werkverträge – im öffentlichen Dienst abzuschaffen. Mit diesen Verträgen kann eine Person nur für ein paar Monate eingestellt werden, also nur für eine kurze Zeit ohne Anrecht auf soziale Leistungen. Dadurch erspart sie dem Arbeitgeber, Urlaub zu bezahlen oder das Gehalt aufgrund von Betriebszugehörigkeit zu erhöhen. Wenn diese Regelung abgeschafft wird, müssen Arbeitskräfte nicht befürchten, ihren Job nach einigen Monaten zu verlieren, wenn sie sich einer Gewerkschaft anschließen oder Urlaub fordern.

Laut dem Plan der Regierung sollen alle Staatsangestellten innerhalb weniger Monate eine feste Anstellung bekommen. Allerdings haben Stimmen innerhalb derselben Regierung diesen Plan in Frage gestellt. Zum Beispiel glaubt César Manrique, Direktor der Verwaltungsabteilung des öffentlichen Dienstes, dass dieser Wechsel sehr viel langsamer sein wird, da sechs von zehn öffentlichen Angestellten über diese Form der Anstellung verfügen – fast eine Million Arbeiter*innen. „Außerdem werden viele dieser Werkverträge verwendet, um politische Gefälligkeiten zu bezahlen“, sagte Manrique dem Magazin Cambio. Die Arbeitsministerin Gloria Inés Ramírez, ehemalige Gewerkschafterin und Mitglied der kommunistischen Partei, sagte ebenfalls, dass die Reform in wenigen Monaten „unmöglich umzusetzen ist“ und warnte davor, dass Eile in dieser Angelegenheit zu einer Lähmung des Staates führen kann. Trotzdem teilt auch Ramírez Petros Ambitionen. Im Februar sagte sie der Zeitung El Tiempo: „Alle Verträge müssen unbefristet und mit Sozialversicherung sein. Wir müssen die Prekarisierung der Arbeit beenden.“ Verträge mit befristeter Laufzeit sollten nur in Ausnahmefällen abgeschlossen werden, so die Ministerin. In Kolumbien arbeiten rund 2,5 Millionen Menschen, etwa 20 Prozent der Arbeitskräfte des Landes (laut dem staatlichen Statistikamt DANE), im Rahmen dieser Regelung.

Darüberhinaus begeisterte Petro in seiner Ansprache die Menge mit der Forderung, dass „der Arbeitstag um 18 Uhr enden sollte, nicht um 22 Uhr.“ So wird erwartet, dass Arbeitskräfte ab 18 Uhr Nachtzuschläge erhalten. Dies würde auch für die Arbeit an Samstagen oder Sonntagen gelten, Tage, die laut Petro „als Ruhezeit betrachtet werden sollten.“ Diese Maßnahmen würden auch Änderungen rückgängig machen, die Uribe vor 20 Jahren einführte, welche die Arbeitgeber*innen von Überstundenzahlungen bis 21 Uhr befreite. Außerdem soll die Reform unter anderem die Beschäftigung bei digitalen Plattformen wie Uber reglementieren. Voraussichtlich sind dadurch keine großen Maßnahmen zur Lösung der informellen Beschäftigung zu erwarten. Denn 58,2 Prozent der kolumbianischen Arbeitnehmer*innen haben keinen Arbeitsvertrag oder ein festes Gehalt, und zahlen auch keine Sozialabgaben. Dabei handelt sich meistens um Menschen wie beispielsweise Straßenverkäufer*innen und Schwarzarbeitende.

Das Reformpaket stellt Petro und seine VErbündeten vor Herausforderungen

Die Arbeitsreform ist nur eine von vielen Reformen, die die Regierung in der ersten Hälfte des Jahres 2023 vorlegen will. Eine Reform des Gesundheitssystems soll die enormen Korruptionsprobleme der privaten Krankenkassen (Empresa Prestadora de Servicios, EPS) angehen. Eine Reform des Rentensystems soll das private individuelle Sparmodell reduzieren, und ein öffentliches, solidarisches System stärken.

Am Tag von Petros Rede wurde dem Kongress auch der Entwurf für die Gesundheitsreform vorgelegt. Diese Reform sieht vor, dass der Staat die Verwaltung des Gesundheitsbudgets wieder übernimmt. Die Kritik sowohl aus der Regierungskoalition als auch von der Opposition ließ nicht lange auf sich warten. Einen Tag nach Petros Rede sprach sich die Opposition mit Demos gegen die Reformen aus. Sogar Roy Barreras, der Präsident des Kongresses und ein Verbündeter von Petro, hat den Vorschlag der Ministerin heftig kritisiert: der Staat habe nicht die Kapazität, eine Milliarde Vorgänge wie Arztbesuche und Rezepte pro Jahr zu kontrollieren und zu verwalten, deshalb sei ein privater Vermittler notwendig.

Dieser Entwurf hat auch die erste Krise im Kabinett verursacht, denn Alejandro Gaviria, zwischen 2012 und 2018 Gesundheitsminister und heute Bildungsminister unter Petro, hat in zwei vertraulichen Dokumenten die Reform unter scharfe Kritik gestellt. Diese Dokumente wurden geleakt, was das Misstrauen des Präsidenten Gaviria gegenüber weckte. Am 27. Februar, nach etwa einem Monat Krise, kündigte Petro den Rücktritt Gavirias an. Auch die geplante Rentenreform hat zu Konflikten zwischen dem Präsidenten und seinem Finanzminister José Antonio Ocampo geführt. Die Dissonanz beruht darauf, dass Petro will, dass nur Personen mit hohen Einkommen privat für ihr Alter sparen. Ocampo hingegen ist der Meinung, dass individuelles Sparen nicht zu sehr eingeschränkt werden sollte. Laut Ocampo könnten durch die Gesetzesänderung und den Wegfall ihrer jetzigen Klient*innen, die Privatfonds gefährdet werden. Nicht zu vergessen ist hierbei, dass die privaten Rentenfonds zu den größten Kreditgebern des Staates gehören. Petro und Ocampo sind sich jedoch darin einig, dass Geringverdiener*innen in einem öffentlichen und solidarischen Rentensystem besser geschützt wären.

Es wird Regierbarkeit benötigt, aber es ist Wahlzeit

Petro plant, dieses umfangreiche Reformpaket vor Mitte des Jahres zu verabschieden. Aber die Kongresskoalition, die er zu Beginn seiner Regierung aufgebaut hat und die sich gegen die extreme Rechte durchsetzen konnte, besteht nicht nur aus Sympathisant*innen. Auch die Konservativen und die Liberalen gehören dazu: etablierte Parteien, die bis zum letzten Jahr auf einer anderen Seite als Petro standen. Diese fragile Allianz scheint zuweilen zu schwanken. Einerseits hat die Konservative Partei eine neue Führung gewählt: Efraín Cepeda, der ein harter Kritiker von Petro war. Andererseits hat der Präsident der Liberalen Partei, Cesar Gaviria, ein umfangreiches Dokument veröffentlicht, in dem er das von der Regierung vorgeschlagene Reformpaket kritisiert.

Vielleicht liegt hier der Grund, warum die Regierung es mit ihrem Reformpaket so eilig hat: Sie will um jeden Preis vermeiden, dass die Debatten im Kongress mit den im August beginnenden Wahlkämpfen zusammenfallen. Im Oktober 2023 werden in ganz Kolumbien Bürgermeister*innen und Gouverneur*innen gewählt. Es ist vorhersehbar, dass die Parteien der Koalition versuchen könnten, sich im Wahlkampf voneinander abzugrenzen, um ein gutes Ergebnis bei den Wahlen zu erzielen.

Laut Umfragen verliert Petro an Popularität, da im Februar nur noch 39 Prozent der Kolumbianer*innen seine Regierung unterstützten, während es im Oktober noch etwa 51 Prozent waren. Wenn die Beliebtheit von Petro weiter sinkt, ist ungewiss, was für seine Koalitionsparteien wie die Konservativen und die Liberalen wichtiger ist: die Zukunft der Reformen oder sich von der Regierung zu distanzieren, um bei den lokalen Wahlen im Oktober gut abzuschneiden.

Bei all diesen Risiken ist es immer noch zu früh, zu beurteilen, was mit den geplanten Reformen passieren wird. Bisher hat die Regierungskoalition in den vergangenen Monaten trotz schlechter Aussichten solide Mehrheiten für andere wichtige Gesetze sichern können, wie zum Beispiel beim „Gesetz des totalen Friedens” (LN 584) und für eine progressive Steuerreform. Schon bald wird der Ball erneut auf Seiten des Kongresses sein. Dort scheint es ein grundsätzliches Verständnis für die Notwendigkeit der Reformen zu geben. So hat es zumindest der Präsident des Kongresses, Roy Barreras, deutlich gemacht, indem er sagte, dass die Reformen verabschiedet werden müssen¸ weil „der Wandel nicht aus Reden besteht, Wandel besteht aus Reformen.“ Sicher ist eines: Zum Erfolg der Reformen wird Petro jetzt – mehr denn je – sein kompromissbereitestes Gesicht zeigen müssen.

NOCH EIN WEITER WEG

Dezentral organisiert Die ELN verfügt über acht relativ autonom agierende Fronten (Foto: Brasil de Fato, CC BY-NC-SA 2.0)

Eine Krise? Gebe es nicht, beteuerte der Hochkommissar für Frieden der neuen Regierung Kolumbiens, Iván Danilo Ruedas, im Interview mit der spanischen Tageszeitung El País am 8. Januar. Vielmehr würden weiter Fortschritte in den Friedensverhandlungen mit der Guerilla „Nationale Befreiungsarmee“ (ELN) gemacht. „Die Dinge laufen gut“. Die Message war eindeutig: Trotz des vorherigen Lapsus’ Bogotás sei Zuversicht angesagt.

Was war passiert? Per Twitter hatte Präsident Gustavo Petro am Neujahrstag die vermeintlich frohe Botschaft verkündet, man habe sich unter anderem mit der ELN auf einen bilateralen Waffenstillstand geeinigt. Dieser dauere bis zum 30. Juni und könne dann – „je nach Fortschritten bei den Verhandlungen“ – verlängert werden. Indes: Es dauerte nur drei Tage bis die Delegation der ELN Petro öffentlich widersprach. In einer Erklärung heißt es, beim Waffenstillstand handle es sich um „einen Vorschlag, der geprüft werde“: „In dieser Frage ist noch keine Einigung erzielt worden“, ein „einseitiger Regierungserlass“ könne „nicht als Vereinbarung akzeptiert werden“. Die kolumbianische Regierung in Gestalt von Innenminister Alfonso Prada musste das entsprechende Präsidialdekret zurückziehen, mehrere Beobachter*innen sprachen von der bislang schwersten Krise für die noch junge Petro-Regierung.

Für Bogotá ist der Vorgang mindestens unangenehm, möglicherweise hat die Regierung durch ihr Vorgehen auch Vertrauen bei der Guerilla verspielt. In einer am 9. Januar verbreiteten Erklärung der ELN klingt es zumindest so. Dort heißt es, die Friedensgespräche befänden sich in einer Krise, „da die Regierung sich nicht an die Diskussionsprozesse hält“. Trotzdem versicherte die Gruppe ihre Bereitschaft, die Verhandlungen fortzuführen, wobei „zunächst die jüngsten Ereignisse aufgearbeitet werden müssen“. Um wirklich von Erfolg gekrönt zu werden, müssten die Gespräche partizipativ und nach dem Konsensprinzip gestaltet werden.

Seit Ende November 2022 führen Vertreter*innen der kolumbianischen Regierung und der ELN Verhandlungen über einen möglichen Friedensvertrag. Eine erste Dialogrunde wurde am 12. Dezember nach 20 Tagen in der venezolanischen Hauptstadt Caracas beendet. Neben einer Einigung über das weitere Vorgehen konnten Maßnahmen beschlossen werden, die dem Schutz der Zivilbevölkerung in besonders vom bewaffneten Konflikt betroffenen Regionen dienen sollen.

Eigentlich sollten die Gespräche erst Mitte Februar wieder aufgenommen werden, diesmal in Mexiko. In Folge des öffentlich ausgetragenen Disputs über den bilateralen Waffenstillstand legten beide Seiten jedoch eine Extrarunde ein: Am 17. Januar trafen sie sich für ein „außerordentliches Treffen“, erneut in Caracas, bei dem das weitere Vorgehen besprochen wurde. Gegenüber der kolumbianischen Tageszeitung El Espectador erklärte María José Pizarro von der Regierungsdelegation, man wolle „[den] Friedenswillen bekräftigen, Arbeits- und Kommunikationsmechanismen zwischen beiden Delegationen und vor allem für die Zeit zwischen den Gesprächsrunden schärfen und drittens Fortschritte beim bilateralen Waffenstillstand machen“.

Die ELN fordert von der Regierung eine Garantie, dass Ähnliches nicht noch einmal geschehe. Bogotá hingegen sieht sich keiner Schuld bewusst. So verteidigte sich Präsident Petro zuletzt erneut: Es habe sich nicht um eine „unilaterale Entscheidung der Regierung“ gehandelt. Gleichzeitig erhöht Bogotá den öffentlichen Druck auf die Guerilla. Beispielhaft dafür steht die wiederholte Forderung, die Organisation solle die Tatsache nutzen, dass sie es mit einer „progressiven Regierung“ zu tun habe, was den Abschluss eines Friedensabkommens erleichtern würde.

Trotz der Schwierigkeiten geht es tatsächlich voran – wenn auch im Kleinen: So werden erste getroffene Übereinkünfte umgesetzt. Mitte Januar startete eine „humanitäre Karawane“, um die Situation in Bajo Calima und Medio San Juan zu untersuchen – laut Vertreter*innen beider Seiten zwei Orte, die „in den letzten Monaten Schauplatz einer Verschärfung des bewaffneten Konflikts gewesen sind“. In einer Erklärung heißt es, Ziel sei, „der Bevölkerung zuzuhören und mit ihr in einen Dialog zu treten, Aussagen und Vorschläge von Frauen, vertriebenen Familien und sozialen Anführern anzuhören“.

In den beiden Regionen Valle del Cauca und Chocó an der Pazifikküste kämpfen mehrere Akteure um Einfluss. Im Rahmen der ersten Runde der Friedensgespräche hatten sich Regierung und ELN in einem Teilabkommen auf „Sofortmaßnahmen“ zur Reduzierung der dort grassierenden Gewalt geeinigt. Bei einer Pressekonferenz am 12. Dezember erklärte Pablo Beltrán, Leiter der ELN-Delegation bei den Verhandlungen, der Schritt könne nur der Anfang sein. Ausgehend von den im Valle del Cauca und Chocó gemachten Erfahrungen sollten schon bald auch in anderen Regionen ähnliche Maßnahmen umgesetzt werden. Unterdessen hält die Gewalt jedoch an. So kam es nach Angaben von El Espectador Mitte Januar erneut zu Gefechten in Bajo Calima.

Fest steht: Die Regierung hat es eilig. Präsident Petro, der seit dem 7. August die erste progressive Regierung Kolumbiens anführt, verfolgt das Ziel eines „totalen Friedens“. Um einen solchen zu erreichen ist die ELN von zentraler Bedeutung. Nach der Demobilisierung der FARC-EP im Rahmen der Friedensvereinbarung von 2016 ist sie die größte weiter aktive Guerilla in dem südamerikanischen Land. Die Zahl der Kämpfer*innen in ihren Reihen wird auf 3.000 bis 5.000 geschätzt. Diese verteilen sich auf relativ autonom agierende Fronten. Laut dem investigativ-journalistischen Projekt InSight Crime, das unter anderem von der US-amerikanischen Open Society Foundation finanziert wird, existieren acht Fronten. Die kolumbianische Ombudsstelle geht davon aus, dass die Guerilla in 22 der insgesamt 32 Departamentos des Landes aktiv ist.

Die dezentrale Organisation der ELN macht die Verhandlungen mit der Guerilla komplizierter. Mit anderen bewaffneten Gruppen hingegen konnte sich Bogotá bereits auf einen bilateralen Waffenstillstand einigen. So erklärte Innenminister Prada am 4. Januar, der aus der demobilisierten Guerilla hervorgegangene Estado Mayor Central sowie die paramilitärischen Organisationen Autodefensas Gaitanistas de Colombia (AGC) und Autodefensas de la Sierra Nevada hätten einem solchen für die Dauer von sechs Monaten zugestimmt. Die Guerilla Segunda Marquetalia, die von ehemaligen FARC-Kämpfer*innen um den Comandante Iván Márquez 2019 ins Leben gerufen worden war, habe demnach Bereitschaft signalisiert, über einen solchen zu verhandeln.

Grundlage für die Verhandlungsoffensive der Regierung ist das sogenannte Gesetz des totalen Friedens, das Präsident Petro Anfang November unterzeichnet hat. Es erhebt den Frieden zum Staatsziel. Um ihn zu erreichen, ermöglicht das neue Gesetz zwei Vorgehensweisen: erstens, Verhandlungen mit bewaffneten Gruppen politischen Charakters, an deren Ende ein Friedensabkommen steht; und zweitens, Gespräche mit bewaffneten Gruppen oder Strukturen, die in schwerwiegende Straftaten verwickelt sind. Das Ziel Letzterer ist die Unterwerfung unter die Justiz und die Zerschlag der kriminellen Strukturen. An den Prozessen beteiligt sein sollen immer die jeweils betroffenen Gemeinschaften. Notwendige Finanzmittel werden gesetzlich als Teil des Haushalts festgeschrieben.

Neu ist dabei vor allem, dass nunmehr Verhandlungen mit allen bewaffneten Akteuren möglich sind – also beispielsweise auch mit Drogenkartellen oder mit diesen zusammenarbeitenden, rechten Paramilitärs. Laut der NGO Indepaz existieren in Kolumbien mehr als 25 illegale, bewaffnete Gruppen, die insgesamt über rund 15.000 Mitglieder verfügen. Von diesen erklärte bereits eine Reihe, an Gesprächen mit der Regierung interessiert zu sein – darunter auch Narcos wie der Clan del Golfo. In besonders von Gewalt betroffenen Städten wie Medellín, Cali und Buenaventura konnten zudem Übereinkünfte mit lokal agierenden Banden geschlossen werden.

Doch das „Gesetz des totalen Friedens“ blickt nicht nur in die Zukunft, die „Friedenspolitik als staatliche Politik“ bezieht sich auch auf bereits unterzeichnete Abkommen. Im Fokus steht dabei der 2016 mit der ehemaligen Guerilla FARC-EP unterzeichnete Vertrag – wobei die Regierung im Einklang mit den im Juli 2022 vorgestellten Empfehlungen aus dem Abschlussbericht der Wahrheitskommission steht (siehe LN 577/578). Dessen Umsetzung wurde von der Duque-Regierung aktiv torpediert – mit tödlichen Folgen sowohl für ehemalige Kämpfer*innen als auch für Zivilist*innen. Anschaulich zeigt das ein Bericht der NGO Indepaz vom 31. Dezember 2022. Laut diesem wurden in Kolumbien im vergangenen Jahr insgesamt 189 soziale Anführer*innen nachweislich ermordet, die Zahl der getöteten Exguerillerxs belief sich demnach auf 42. Auch im noch jungen Jahr 2023 vergeht kaum ein Tag ohne Meldung über Gewalttaten gegen Aktivist*innen und die Zivilbevölkerung.

Frieden ist wieder zu einem zentralen Thema der Politik des Landes geworden

Die Vereinten Nationen drängen auf eine vollständige Umsetzung des Friedensvertrags von 2016. Nichtsdestotrotz sieht der am 28. Dezember 2022 veröffentlichte Bericht der UN-Überprüfungsmission des Friedensprozesses, der den Zeitraum zwischen dem 27. September und dem 26. Dezember abdeckt, die Petro-Regierung in Sachen Frieden auf einem guten Weg. So seien „wichtige Schritte“ unternommen worden, um „der Gewalt Einhalt zu gebieten und den Frieden zu festigen“.

Eines steht zumindest fest: Nach knapp sechs Monaten erster Linksregierung in Kolumbien ist der Frieden wieder zu einem zentralen Thema der Politik des Landes geworden. Dass der Weg zu einem solchen noch ein weiter ist, zeigt nicht zuletzt die Episode um die angebliche Einigung auf einen bilateralen Waffenstillstand mit der ELN. Der Beginn der nächsten Runde in den Verhandlungen mit der Guerilla ist für den 13. Februar in Mexiko geplant. Das ist eine gute Nachricht. Für wirklichen Frieden bedarf es jedoch mehr als Abkommen mit bewaffneten Gruppen.

“FÜR DIE MENSCHEN, MIT DEN MENSCHEN”

Plant gemeinsam mit Präsident Gustavo Petro Großes Kolumbiens Vize Francia Márquez steht nicht nur bei der COP27 für einen Paradigmenwechsel (Foto: Midia Ninja via Flickr, CC BY-NC 2.0)

Die erste linke Regierung Kolumbiens unter Präsident Gustavo Petro und Vizepräsidentin Francia Márquez ist gut 100 Tage im Amt. Wie beurteilen Sie den Start im Allgemeinen?

Die Übergabe der Regierungsmacht an Petro und Márquez war und ist mit Hoffnung für die kolumbianische Bevölkerung und auch darüber hinaus in Lateinamerika verbunden, wo einige linke Regierungen in jüngster Zeit gewählt wurden. In Kolumbien gibt es seit der Unabhängigkeit im Jahre 1810 diesen Traum, dass es eine Regierung der Leute für die Leute mit den Leuten gibt, eine Regierung, die für die Mehrheit regiert und sie beteiligt. Die Regierung Petro/Márquez ist die erste, die dieses Vorhaben angeht. Das hat sich schon in den ersten drei Monaten gezeigt. Die Regierung befragt die Bevölkerung nach ihren Vorstellungen. Das wurde bei der Ausarbeitung des Nationalen Entwicklungsplans 2022-2026 gemacht, wo mehr als 200.000 Kolumbianer aus den unterschiedlichen Regionen beteiligt waren und ihre Anliegen einbringen konnten. Der Start der Regierung ist gelungen, die Beteiligung der Bürger ist real und nicht dekorativ wie bei den Vorgängerregierungen.

Worum geht es beim Entwicklungsplan?

Im Mittelpunkt stehen menschliche Sicherheit und soziale Gerechtigkeit, der Zugang zu Wasser, Umweltgerechtigkeit, Klimaschutz und die produktive Transformation für ein besseres Leben und die Förderung der Angleichung der Lebensumstände in den Regionen.

Sie kommen aus Buenaventura an der Pazifikküste, dem bedeutendsten Exporthafen Kolumbiens. Die Stadt ist von der Gewaltherrschaft krimineller Banden geprägt. Hat sich da bereits etwas getan?

Ja, es gibt positive Anzeichen. Es gibt realen Wandel. In Buenaventura wurden sogenannte einheitliche Kommandoposten für das Leben (PMUV) eingerichtet, bei denen die bewaffneten Gruppen ihre Waffen niederlegen und sich der Demobilisierung anschließen können. Das kommt an. In Buenaventura gab es über einen Monat keinen einzigen Mord. Auch bei den kulturellen, sozioökonomischen Rechten sowie bei den Umwelt- und Landrechten gibt es schon Fortschritte zu verzeichnen. Die Regierung Petro hat den Integralen Spezialplan für die Entwicklung von Buenaventura unterzeichnet, was die Vorgängerregierung von Iván Duque verweigert hatte. Dafür werden 600 Milliarden kolumbianische Pesos (umgerechnet rund 120 Millionen Euro) zur Verfügung gestellt. Das ist wunderbar. Es handelt sich um eine Regierung des Übergangs und der wurde bereits begonnen.

Die Regierung hat bereits Strukturveränderungen wie eine progressive Steuerreform eingeleitet. Diese Mittel sollen in soziale Investitionen fließen und der Pflege sowie der Wiederherstellung der Kulturlandschaften dienen. Eine gute Strategie?

Ich halte das für eine exzellente Strategie. Bisher war es so, dass die untere und die mittlere Klasse mit ihren Steuern die Unternehmerklasse unterstützten und auch die multinationalen Unternehmen, die kaum Steuern gezahlt haben. Das ändert sich jetzt durch die Steuerreform. Die, die viel Geld haben, werden jetzt zur Kasse gebeten, und die Mittel sollen in die Sektoren fließen, wo sich die Verletzlichsten der Gesellschaft befinden, die oft ethnischen Minderheiten angehören.

Die Steuerreform soll mindestens vier Milliarden US-Dollar Mehreinnahmen pro Jahr bringen. Reicht das?

Das ist ziemlich gut für den Anfang. Es versetzt die Regierung in die Lage, den Plan der sozialen Investitionen in Gang zu setzen. So kann begonnen werden, die soziale Schuld gegenüber der armen Mehrheit der Bevölkerung abzutragen. Dazu hat sich die Regierung verpflichtet.

Die Regierung hat es nachvollziehbarer Weise in gut drei Monaten noch nicht geschafft, die soziale Krise zu bewältigen, noch die Vertreibungen zu beenden. Haben Sie die Hoffnung, dass die Regierung ihr Ziel des „Totalen Friedens“ erreicht?

Das ist ein ziemlich großes Ziel, eine große, wichtige Herausforderung. Es ist noch viel zu früh, das abzuschätzen. Kolumbien hat eine jahrhundertelange Geschichte der systematischen Gewalt und der Landvertreibungen. Das kann keine Regierung in drei Monaten beilegen, dafür bedarf es eines sehr langen Prozesses. Ich habe die Überzeugung und den Glauben, dass diese Transformation stattfinden wird. Petro kann als Präsident nicht wiedergewählt werden und so in vier Jahren nur das Fundament legen und Fortschritte auf vielen Ebenen erreichen. Danach muss es weitergehen. Wir brauchen mindestens fünf Linksregierungen, um den „kompletten Frieden“ erreichen zu können. Aber der Prozess hat begonnen, einen Monat ohne einen Mord in Buenaventura … Das war lange unvorstellbar.

Wie viele Morde waren in Buenaventura früher üblich?

An einem Wochenende gab es im Schnitt sieben Morde und die Getöteten hatten ein Durchschnittsalter von 26 Jahren. Die jungen Männer gingen in die Falle derjenigen, die ihnen versprochen haben, mit dem Griff zu den Waffen könnten sie ihr Leben verbessern. Sie wurden von bewaffneten Gruppen geködert und getäuscht. 74 Prozent der Bevölkerung in Buenaventura lebt in Armut. Organisierte Kriminalität ist kein Ausweg, sondern eine Falle.

Was steckt hinter der Gewalt?

Letztlich die Idee der neoliberalen Entwicklung, getragen von der unternehmerischen Elite und der rechten politischen Klasse. Land wird nicht geachtet, sondern nur ausgebeutet. Die Gewalt ist dort am stärksten, wo sich die Gebiete befinden, die für die Ausbeutung, den Extraktivismus, am attraktivsten sind. Diese Gebiete sind ein Schlachtfeld. Einst war Buenaventura ein friedlicher Ort, ein Ort des würdigen Zusammenlebens. Das hat sich durch die Logik des Extraktivismus geändert, rauszuholen aus dem Boden, was rauszuholen ist, Gold, Mangan, Coltan … Und die Leute, die auf dem Land leben, werden vor dem Abbau einfach mit Gewalt vertrieben. Wir sind hier auch reich an Biodiversität, aber wir wurden verarmt durch die Politik des Raubbaus. In Buenaventura leben 500.000 Menschen und die meisten haben keinen Zugang zu Basisdienstleistungen wie fließend Wasser und Strom. Vertreiben und Ausrauben hieß bisher die Devise seitens der Elite. Die neue Regierung will das stoppen.

Neben dem Extraktivismus ist der Drogenhandel ein weiterer großer Brandherd des Konfliktes in Kolumbien. Präsident Petro versprach einen „Paradigmenwechsel“ und eine Lösung für das Problem der illegalen Drogen im weltweit größten Kokainproduzentenland. Kann der Drogenhandel eingedämmt werden?

Der Drogenhandel ist in der Tat eine weitere große Herausforderung. Die Koka-Pflanze an sich ist ja kein Problem, sie ist eine heilige Pflanze, harmlos. Nur die Herstellung von Kokain und das darauf aufbauende Geschäft ist ein Riesenproblem. In Buenaventura wird Land geraubt, um den Anbau der Koka-Pflanze für den Drogenhandel auszubauen, aber auch für Monokulturen wie die Ölpalme, den Kautschuk oder den Kakao. Für uns Bewohner von Buenaventura ist klar: Für ein friedliches Zusammenleben taugt keine Monokultur, weder eine illegale noch eine legale. Was auch nicht funktioniert, sondern große Schäden verursacht hat, war der Versuch vergangener Regierungen, die Kokapflanzungen mit dem Herbizid Glyphosat aus der Luft zu besprühen. Denn das Glyphosat hat auch die Nahrungsmittelproduktion getroffen.

Welche Alternativen sehen Sie?

Die Bewohner in Buenaventura, die indigenen und afrokolumbianischen Gruppen, haben zwei mögliche Auswege vorgeschlagen: Die Kokapflanze ausschließlich für medizinische und kosmetische Zwecke zu nutzen oder die Kokapflanzen zu vernichten, aber indem wir sie per Hand eine nach der anderen ausreißen. Ohne Chemie. Zu letzterem hat sich beispielsweise der Gemeinschaftsrat des Yurumanguí-Flussgebiets im Departamento Buenaventura entschlossen. Dieses afro-kolumbianische Territorium gehört nun zu den Regionen mit den wenigsten Koka-Pflanzungen im ganzen Land. Staatliche Unterstützung gab es dafür nicht, auch keinen Schutz. Die sozialen Anführer dieser Region gehören zu den von den kriminellen Banden am meisten Verfolgten. Einer ist mit seiner ganzen Familie wegen Morddrohungen nach Madrid geflohen, vier Anführer, zwei Männer und zwei Frauen, sind in den vergangenen Wochen dort ermordet worden. Und das nur, weil sie offen gesagt haben: kein Koka-Anbau mehr, kein Bergbau mehr und den Widerstand dagegen organisiert haben. Auch den Drogenhandel zu bekämpfen, das ist ein langwieriger Prozess. Zuerst muss die Intensität gesenkt werden, der Druck der Drogenbanden auf die Bauern, Koka anzubauen, ihnen Land zu nehmen. Aus meiner Sicht hat Präsident Petro die Dynamik und die Mechanismen dieses Geschäfts gut verstanden. Die Regierung hat begonnen, einen Prozess weg vom Kokain einzuleiten. Wir sehen das mit Hoffnung. Allerdings ist die Aufgabe sehr schwierig, aber nicht unmöglich. Man darf nicht vergessen, dass die Strukturen der Gewalt auf der großen Ungleichheit in der Gesellschaft beruhen. Wird der Reichtum besser verteilt, wie es die Regierung angeht, wird die soziale Gerechtigkeit wachsen und die Gewalt zurückgehen.

Sie sind Mitbegründerin der sozio-ökologischen Stiftung ARIBÍ, die die Organisationsprozesse lokaler afro-kolumbianischer Gemeinschaften unterstützt, sich für eine nachhaltige Entwicklung einsetzt und das Gleichgewicht des Ökosystems und den Schutz der Umwelt anstrebt. Francia Márquez träumt davon, die Energiewende zu schaffen, um künftigen Generationen eine mögliche Welt zu hinterlassen. Sind das auch ihre Träume?

Diese Träume teile ich selbstverständlich. Das Umweltthema ist jedoch ein Thema, das die ganze Welt angeht. Es geht schlicht um die künftigen Lebensbedingungen für die ganze Menschheit. Papst Franziskus hat gesagt, dass die Menschen den Planeten als Heimat begreifen müssen, den die Menschheit als ein gemeinsames Haus bewohnt, das wir gemeinsam pflegen müssen. Praktisch ist es aber so, dass eine Minderheit sich auf Kosten der Mehrheit bereichert und den Planeten unverantwortlich ausplündert und die Umwelt schädigt. Wir erleben das hier mit den von Chemikalien verschmutzten Flüssen, die Chemie landet in den Fischen und die Fische auf dem Teller. Missbildungen wie das Fehlen einer Hand bei Neugeborenen, eine steigende Zahl von an Krebs Erkrankten sind Folgen davon. Die Umwelt zu schützen, die Biodiversität zu erhalten, die Pflanzenarten, die Tiere, das Wasser, ist unerlässlich. Francia Márquez kämpft an unserer Seite für dieselbe Sache.

Wie sieht der Ansatz von ARIBÍ aus?

Wir von ARIBÍ leisten unseren Beitrag für den Erhalt des Ökosystems. Zentral ist für uns dabei, Wissen aus der Tradition der afrokolumbianischen Kultur – zum Beispiel über Heilpflanzen, Anbaumethoden, Saatgut – mit dem afrokolumbianischen „vivir sabroso“ zu verbinden, ein würdiges, gehaltvolles Leben ohne Überfluss und Verschwendung. So wollen wir die verheerenden Folgen des extraktivistischen Wirtschaftsmodells in unserer Region Schritt für Schritt überwinden. Wir fühlen unsere Verantwortung, die Lebensbedingungen für die künftigen Generationen zu erhalten, wir fühlen das als ein Mandat, eine Verpflichtung, der wir uns stellen müssen. Die Doppelmoral der Industriestaaten, die die höchsten Emissionen haben und die die Länder im Globalen Süden mit ein paar Klimahilfsgeldern abspeisen wollen, damit sie ihre Umwelt bewahren, ist inkohärent. Kolumbien hat nur 0,7 Prozent Anteil an den Emissionen weltweit, stellt aber zehn Prozent der Biodiversität. Die Pazifikregion um Buenaventura und das kolumbianische Amazonasgebiet ist nach Brasilien die zweitgrößte Lunge der Welt. Sie zu bewahren, liegt in aller Interesse und der Globale Norden muss dafür solidarische Unterstützung leisten, uns großzügig beim Erhalt der Umwelt helfen, statt die Ausbeutung zu befördern wie bisher. Die Regierung Petro und Márquez liegt mit dem Ansatz einer grundlegenden Energiewende und dem angestrebten Ausstieg aus der fossilen Wirtschaft und der Kohlenwasserstoffförderung auf dieser Linie. Wir unterstützen diesen Weg.

In einem Gespräch mit El País betonte Francia Márquez, dass Frauen Räume öffnen und dass die Präsenz von Frauen in der Politik auf globaler Ebene, neue Diskussionen, neue Wege der Politikgestaltung und der Veränderung von Realitäten eröffneten. Sehen Sie das auch so?

Total. In der Politik eröffnen sich inzwischen mehr Räume für Frauen, Entscheidungen zu treffen, die die Gesellschaft von Grund auf verändern. Ich bin überzeugt davon, dass Frauen verstärkt versuchen sollten, sich um politische Posten zu bemühen, um gestalten zu können. Das ist nicht einfach, das ist ein langwieriger Prozess. Und dafür brauchen wir auch progressive Männer, die diesen Prozess unterstützen. Wir haben diesen Prozess der Transformation begonnen, wir müssen ihn fortsetzen. Für eine Gesellschaft der Solidarität, für eine Gesellschaft gegenseitigen Respekts. Deswegen überlege ich, 2023 für das Bürgermeisteramt in Buenaventura zu kandidieren.

100 TAGE PETRO

Neuanfang Feier nach dem Wahlsieg von Gustavo Petro (Foto: Fredy Henao)

Der Regierungsplan stellte eine lange Liste an Verbesserungen mit Schwerpunkt auf der Stärkung des staatliche Renten- und Gesundheitssystems, der Einleitung der Energiewende und der Umsetzung der Agrarreform vor. Allesamt Pläne, die eine umfangreiche Finanzierung benötigen. Deshalb war es für die Regierung oberste Priorität, mit der Steuerreform durchzustarten. Anfang November wurden die Hauptinhalte der Reform diskutiert: die Einführung von Steuern auf gesundheitsschädliche Lebensmittel mit hohem Zuckergehalt, auf den Export von Öl und Kohle, die Steuer auf Renten und auf die Kirche. Die Reform zielte zunächst darauf ab, 25 Milliarden kolumbianische Pesos zu sammeln.

„Die zentrale Philosophie der Steuerreform als solche besteht aus zwei Aspekten: erstens, die Zahlungsfähigkeit des Landes zu erhöhen und zweitens, die soziale Gerechtigkeit in Kolumbien zu steigern “, teilte Präsident Gustavo Petro CNN mit, nachdem über die Reform in der Senatskammer abgestimmt wurde. Dafür soll in die Beseitigung von Armut und Ungleichheit investiert werden – beginnend mit einer Umverteilung der steuerlichen Last. Im Unterschied zur Politik unter der vorherigen Regierung sollen diejenigen mit einem höheren Einkommen nun auch mehr Steuern zahlen. Des Weiteren sollen Steuervergünstigungen für Unternehmen abgeschafft und Steuerhinterziehung stärker bekämpft werden.
In zwei parallelen Plenarsitzungen verabschiedete der Kongress die meisten der Artikel, die eine Steuererhöhung ausmachen. Die Regierung rechnet damit, ab 2023 mit rund 20 Milliarden Pesos etwa 1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zusätzlich an Steuern einzunehmen. Kolumbien ist eines der Länder, das unter den mittleren und großen Volkswirtschaften Lateinamerikas am wenigsten Steuern erhebt: laut OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, erhält der Staat Kolumbien auf diesem Weg 13 Prozent des BIP, während der Durchschnitt in Lateinamerika bei 16 Prozent liegt.

Dennoch traf die Reform bereits während der Verhandlungen auf Kritik von der Opposition, besonders in Bezug auf die zunehmende Versteuerung von Einwegplastik beim Verkauf von Nahrungsmitteln. Die Parteien Centro Democrático und Liga Anticorrupción sehen die Steuer als eine unnötige und weitere finanzielle Last für Kolumbianer*innen, die bereits durch die Inflation von hohen Lebensmittelpreisen betroffen sind.

Die Agrarreform und der „allumfassende Frieden“

Unter anderem soll die neue Steuerreform die Finanzierung von einem der wichtigsten Projekte der Regierung sichern: die Agrarreform. Petro setzt dafür auf den Kauf von ungenutzten Ländereien von Großgrundbesitzer*innen. Das erworbene Land ist für Bauern und Bäuerinnen ohne eigenen Grundbesitz vorgesehen und soll den Landfonds, der im Rahmen des Friedensabkommens geschaffen wurde, teilweise aufstocken. So soll die Reform der Steigerung der Agrarproduktion dienen und gleichzeitig den Friedensprozess fördern.

Nach einer Studie des Wohlfahrtsverbands Oxfam besitzt in Kolumbien derzeit ein Prozent der Bevölkerung über 80 Prozent der privaten Agrarflächen. Die Notwendigkeit einer Agrarreform, die eine gerechte Umverteilung des Landbesitzes wurde bereits im Friedensabkommen im Jahr 2016 festgehalten. Hinzu kommt das 2011 verabschiedete Gesetz für Opfer und Landrückgabe, welches die Rückgabe der Ländereien an Bauern und Bäuerinnen vorsieht, die von Landraub und gewaltsamer Vertreibung betroffen sind. Die Landrückgabe schreitet jedoch nur langsam und keineswegs konfliktfrei voran. Unter anderem wurden mehrere Grundstücksbesitzende, die ihr Land einforderten, bedroht, erneut vertrieben oder gar ermordet. So bleibt die Reform auch in Hinsicht auf den bewaffneten Konflikt und die dadurch verursachte Enteignung von Kleingrundbesitzer*innen ein aufgeladenes Thema, das über reine Wirtschaftsbedenken hinausgeht.

Bereits in der letzten Ausgabe (LN 580/581) berichteten LN über die gelungene Kooperation mit der Föderation von Viehzüchtern Fedegán. Die Föderation erklärte sich bereit, drei Millionen Hektar Weideland an die Regierung zu verkaufen. Hierfür wurden drei Milliarden kolumbianische Pesos (645 Millionen Euro) bereitgestellt. An sich verheißt dieses Abkommen den Auftakt einer lang erwarteten Reform. Diana Salinas, Mitgründerin des Onlinemediums Cuestión Pública, betrachtet im Interview mit der Heinrich-Böll-Stiftung diesen historische Pakt jedoch mit Skepsis. Fedegán sei eine der wichtigsten Lobbyorganisationen Kolumbiens, die sich weigerte an den Friedensgesprächen von 2013 teilzunehmen. Die Zusammenarbeit könne sich daher als eine für alle Seiten pragmatische, vorteilhafte Strategie erweisen. Dennoch bleibe sie problematisch, da Fedegáns Rolle in der Fortsetzung des Konflikts umstritten ist. „Das kann sich als sehr intelligente Strategie erweisen, aber auch zum Bumerang einer Amnestie durch die Hintertür werden“. Nun stellt sich die Frage, wie sich die Regierung dahingehend positionieren wird. In einem Bericht von amerika21 hat sich Landwirtschaftsministerin Cecilia López dazu geäußert: Viehzüchter*innen von Fedegán müssen vor der Übergabe ihrer Grundstücke beweisen, dass sie die legitimen Besitzer der Ländereien seien. Das soll verhindern, dass enteignete Grundstücke zum Verkauf gestellt werden.

Es bleibt also abzuwarten, was für Entwicklungen die Agrarreform wirklich mit sich bringen wird. Doch laut Salinas könnte die Zusammenarbeit mit Fedegán mehr Bewegung in die Verhandlungen mit paramilitärischen Akteuren bringen – ein Vorteil zugunsten des Friedensprozesses. Denn im Rahmen des Gesetzes „Ley de Paz Total“ möchte die Regierung den Kontakt mit allen noch aktiven bewaffneten Gruppen und mögliche Friedensverhandlungen mit diesen (wieder-)aufnehmen.

Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens mit den FARC im Jahr 2016 war die Gewalt im Rahmen des Konflikts drastisch zurückgegangen. Nach Angaben des Instituts für Entwicklungs- und Friedensstudien Indepaz ging die Zahl der Morde von 12.665 im Jahr 2012 auf 1.238 im Jahr 2016 zurück – eine fragile Entwicklung, die für viele kein Ende der Gewalt verheißt: „Die ging auch nach dem Friedensabkommen mit der FARC weiter“, erklärte Aktivist José Roviro López Rivera im Interview mit LN. Die Situation hat sich seitdem nur verschlimmert. Denn seit zwei Jahren haben paramilitärische Gruppen und kriminelle Organisationen ihre Präsenz in verschiedenen Regionen Kolumbiens ausgebaut. Dem UN-Bericht von 2022 zu Folge seien diese häufig in illegale Aktivitäten wie Drogenhandel und illegalen Bergbau verwickelt. Mord, sexuelle Gewalt, Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen und Erpressung sind einige der Mechanismen, die sie nutzen, um die Bevölkerung zu unterdrücken. Hinzu kommen die Vertreibungen und die Enteignungen, die weiterhin in den ländlichen Gebieten stattfinden. Indigene und afrokolumbianische Gemeinden machen nach Einschätzungen des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten UNOCHA 57 Prozent der vertriebenen Bevölkerung aus.

Paradigmenwechsel im Kabinett

Weitere Entscheidungen in der Besetzung des Kabinetts richteten sich nach den sozialen Aspekten des Regierungsplans. Schon im ersten Kapitel des Wahlprogramms kündigte Petro an, sich für die Rechte der kolumbianischen Frauen einzusetzen und ihre Teilhabe in politischen Prozessen zu erhöhen. Mit einem intersektionalen Fokus soll Diskriminierung sowohl auf der politischen, als auch der wirtschaftlichen Ebene bekämpft werden. Deshalb sollen bei der Repräsentation nicht nur Frauen, sondern auch andere ausgegrenzte Gruppen wie Jugendliche, indigene Gemeinschaften, Afrokolumbianer*innen, die LGBTIQ+ Community und die kleinbäuerliche Bevölkerung stärker miteinbezogen werden.

Der Grundstein dafür wurde mit der Besetzung seines Kabinetts gelegt. Zum ersten Mal sind indigene Frauen im Kabinett vertreten: Arhuaco-Aktivistin Leonor Zalabata Torres als Botschafterin bei den Vereinten Nationen und Anwältin Patricia Tobón Yagari als Direktorin der nationalen Opfereinrichtung sowie als Leiterin der Einrichtung für Landrückgabe. Ein weiteres Anliegen, das in Zukunft dem Schutz ausgegrenzter Bevölkerungsgruppen dienen soll, ist die Schaffung eines Gleichberechtigungsministeriums. Der Gesetzentwurf dafür wurde am 18. Oktober vorgelegt und Vizepräsidentin Francia Márquez soll das neu zu schaffende Gleichberechtigungsministerium leiten. Das neue Ministerium soll unter anderem auch die Organisationstruktur der Regierung ändern. Der Frauen- und der Jugendrat, die bisher dem Präsidenten unterstanden, werden abgeschafft und gehen in die Zuständigkeit des neuen Ministeriums über. Während sich die Regierungsstruktur ändert, scheint die Opposition auf der Strecke zu bleiben. Momentan schafft sie es nicht, eine geschlossene Front zu bilden, berichtet El País. In der Senatskammer haben sich die Handlungen des Centro Democrático darauf begrenzt, den Vorschlägen der Regierung entgegenzuwirken. Dafür zeigt Gustavo Petro eine gewisse Kompromissbereitschaft mit der Opposition, und der Ex-Präsident Álvaro Uribe fungiert hierfür als Sprachrohr. Uribes Position ist durch seine Justizprobleme, den politischen Linksruck des Landes und seine von vielen Bürger*innen abgelehnte Nähe zur traditionellen politischen Klasse geschwächt. Sein positives Image erreicht laut der letzten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Invamer keine 25 Prozent. Im Kontrast dazu hat Petro nach seinen 100 Tagen im Amt bei den Kolumbianer*innen mit einem positiven Image von 61 Prozent in der letzten Umfrage vom Nationalen Beratungszentrum Uribe klar an Beliebtheit übertroffen.

Er war nicht in der Lage, seine Partei so zu organisieren, dass sie eine solide Opposition bildet, berichtete El Espectador. In gewisser Weise sei er für die Spaltung verantwortlich, indem er Miguel Uribe Turbay zum Listenführer des Senats wählte, anstelle langjähriger Persönlichkeiten der Partei Centro Democrático. „Es gibt immer noch keine klare Führung“, sagt Andrés Forero, Vertreter des Centro Democratico für die Zeitung El País „Und ich weiß nicht, ob es in den nächsten vier Jahren eine geben wird“. Und doch kann sich das in Zukunft ändern. Der wachsende Wirtschaftsdruck stellt die neue Regierung vor eine noch härtere Probe, aus der die Opposition neue Kraft ziehen könnte.

GENOSSIN FRANCIA, PRÄSIDENT PETRO

Gustavo Petro und Francia Márquez Linke Hoffnung für das Land (Foto: Casa Rosada via Wikimedia Commons , CC BY 2.5 AR )

Wird jetzt alles besser in Kolumbien? Mit einem riesigen Volksfest wurde die Amtseinführung der neuen Regierung am 7. August gefeiert. 1819 wurden an diesem offiziellen Feiertag die spanischen Invasoren in der Schlacht von Boyacá geschlagen. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes ist nun ein linkes Bündnis an der Regierung.

Der Sieg von Gustavo Petro und Francia Márquez bei der Präsidentschaftswahl am 19. Juni hat in den emanzipatorischen sozialen Bewegungen Hoffnung geweckt und Euphorie ausgelöst. Tagelang wurde gefeiert, vor allem in den ärmeren Departamentos, wo Petro und Francia bis zu 80 Prozent der Wähler*innen hinter sich haben. Dann begann die Arbeit an einem linken Regierungsprojekt. Bis zum offiziellen Amtsantritt am 7. August wurden Hunderte Treffen mit Vertreter*innen der unterschiedlichen Sektoren durchgeführt, der Regierungsplan ausgearbeitet, Staatsbesuche gemacht.

Parallel zur Hochstimmung macht sich aber auch Angst breit, bis kurz vor der Amtsübergabe wurde sogar vor einem möglichen Staatsstreich gewarnt. Tatsächlich lag die Befürchtung in der Luft, dass Petro oder Márquez ermordet werden könnten. Die neue Vizepräsidentin und Umweltaktivistin hatte erst vor wenigen Jahren einen Anschlag überlebt. Die kolumbianische Rechte betont, dass Gustavo Petro und Francia Márquez bei der Stichwahl mit 50,6 Prozent der Stimmen lediglich einen knappen Sieg gegen den konservativen Rodolfo Hernández (47,2 Prozent) errungen hätten. Aber auch eine andere Lesart ist möglich: Noch nie hat ein Kandidat so viele Stimmen mobilisiert wie Gustavo Petro.

Petro hatte bereits vor vier Jahren als Präsident kandidiert. Seitdem ist viel passiert in dem lateinamerikanischen Land: Die Pandemie hat die Hälfte der Bevölkerung ins Elend gestürzt, 50 Prozent leben unter der Armutsgrenze. Die Gewalt hat zugenommen, Hunderte Aktivist*innen wurden ermordet, der Friedensprozess mit der FARC, der ehemaligen größten Guerillagruppe im Land, kann als gescheitert gelten. Die 2017 gegründete FARC-Partei hat sich bereits mehrmals gespalten, erreichte bei der Parlamentswahl 2018 nicht einmal ein Prozent der Stimmen, 300 ihrer ehemaligen Mitglieder wurden seit der Demobilisierung bereits umgebracht. Die Verhandlungen mit der ELN, der anderen linken Guerilla Kolumbiens, wurden abgebrochen.

Die landesweiten Proteste 2021 haben das Land wochenlang lahmgelegt, bis heute wird mit den Demonstrant*innen verhandelt. Francia Márquez hat damals am Protest teilgenommen und ist nicht nur daher vielen Genoss*innen von der Straße bekannt. Vielleicht überwiegt vor allem wegen ihr die Hoffnung auf bessere Zeiten. Denn der Erfolg geht zu einem großen Teil auf ihr Konto, sie gibt den „Niemanden“ eine Stimme und ein Gesicht, den Millionen von marginalisierten Menschen in Kolumbien.

Kurz vor den massiven Protesten im Mai und Juni 2021 war Francia Elena Márquez Mina noch eine wenig bekannte Schwarze Umweltaktivistin, die meist afrikanische, traditionelle Kleidung trägt, bunte Tücher zum Turban gewickelt um den Kopf, Armreifen aus Perlen und Muscheln. Zum Gruß, beim Sprechen oder Singen hebt sie immer wieder die linke Faust. Jetzt ist sie eine Herausforderung für die traditionelle politische Klasse. Ihr Ziel ist in eigenen Worten, „die hegemoniale patriarchalische Politik zu brechen“. Und tatsächlich hat sie das Potenzial dazu hauptsächlich aufgrund ihrer zutiefst demütigen Haltung gegenüber kollektiven Prozessen. Ihr politischer Leitsatz lautet: „Ich bin, weil wir sind.“

Francia Márquez wurde 1981 geboren und ist in einer kleinen Dorfgemeinschaft mit kaum 100 Einwohner*innen im südlichen Department Cauca aufgewachsen. Das Haus der Familie ist aus Lehm gebaut, ihr Großvater versammelte an den Abenden die Gemeinschaft und galt als ihr Sprecher. In demselben Haus begleitete sie ihre Großmutter im Sterben. Schon als junges Mädchen schürfte sie am Fluss Gold und half beim Anbau von Kaffee, Kochbananen und Yuca. Francia Márquez hat 2021 an den Protesten teilgenommen und ist vielen Genoss*innen von der Straße bekannt.

Das Department Cauca ist eines der gefährlichsten und gewalttätigsten Gebiete des Landes. Allein im Jahr 2021 wurden 70 Menschen aufgrund ihres Aktivismus für den Umweltschutz und die Menschenrechte umgebracht. Schon in ihrer Jugend erkennt Márquez den Zusammenhang zwischen der Zerstörung der Umwelt und der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit in den Bergbaugebieten. 2019 muss die Aktivistin aufgrund von Morddrohungen ihr Dorf verlassen. In Cali trifft sie auf Schwarze Aktivistinnen, die sie in ihrem sozialen Zentrum Casa Chontaduro aufnehmen.

Weniger radikale Linke setzten auf Petro

In diesem neuen Zuhause begegnen ihr zahlreiche Lebensgeschichten, die ihrer eigenen sehr ähneln. „Meine Biografie ist nur deswegen relevant, weil viele das Gleiche durchgemacht haben: Kinderarbeit, von klein an, auf dem Land und im Bergbau, sexueller Missbrauch und Belästigung, sklavenähnliche Arbeitsbedingungen bei reichen Familien.“ Francia hält auch als Vizepräsidentin engen Kontakt zu ihrer Herkunft und zur Bewegungslinken. Ihren Sieg feierte sie in ihrem Wohnviertel in Cali, ohne Sicherheitspersonal und schusssichere Weste. Sie kommt weiterhin zu Veranstaltungen, und am Montag nach der Amtsübergabe hat sie in ihrem Heimatdorf die Einführung gefeiert.

Weniger „radikale“ Linke setzten ihre Hoffnung eher auf Petro, denn er provoziert weniger und versucht, seine Regierung als offen in alle Richtungen zu positionieren. Bei seiner ersten Rede nach der Wahl machte er klar: Der Präsidentenpalast stehe jederzeit auch für die Opposition offen. Er werde auf Versöhnung setzen. So traf er sich nach der Wahl bereits mit seinen politischen Gegner*innen aus dem ultrarechten Lager. Diese gemäßigte Politik passt auf den ersten Blick nicht unbedingt zur Vergangenheit Petros und zur Darstellung seiner Person in den traditionell konservativen Medien. Petro war Mitglied in der M19-Guerilla, und das rechte Lager warnte stets vor seinem Versuch, den Sozialismus einzuführen. Allerdings sind in Kolumbien bewaffnete oppositionelle Gruppen nicht auch selbstverständlich sozialistische Bewegungen. Die M19-Guerilla gehört politisch eher zum sozialdemokratischen Lager. Trotzdem ist seine Vergangenheit in vielen Kreisen ein Stigma.

Francia Márquez gibt den „Niemanden“ eine Stimme

Sein diplomatisches Geschick lässt allerdings erwarten, dass Petro nicht nur zu den emanzipatorischen und fortschrittlichen Regierungen der Region enge Beziehungen aufbauen wird. Bereits in den ersten Wochen nach der Wahl hat er Francia Márquez auf eine Südamerikareise geschickt, auf der sie die Präsidenten und Regierungsmitglieder Argentiniens, Chiles und Boliviens sowie in Brasilien den linken Präsidentschaftskandidaten Luiz Inácio „Lula“ da Silva besuchte. Das Verhältnis zu den USA wird sich sicherlich verändern, denn Petro wird die traditionelle Rolle Kolumbiens in der US-Außenpolitik anfechten: Kolumbien wird nicht weiter der Damm gegen linke Regierungen sein.

Auch für das Nachbarland Venezuela ist die Wahl Petros eine gute Nachricht. Die politische Rechte Kolumbiens war unter anderem am versuchten Putsch in Venezuela 2019 beteiligt, bei dem sich der venezolanische Politiker Juan Guaidó selbst zum Interimspräsidenten ernannte und sogar von der deutschen Bundesregierung anerkannt wurde. Kolumbianische Paramilitärs und Militärs hatten ihn damals unterstützt. Nun werden nach Jahren der Funkstille zwischen Kolumbien und Venezuela die diplomatischen Beziehungen wieder aufgenommen. Der venezolanische Außenminister Carlos Farías und sein zukünftiger kolumbianischer Amtskollege Álvaro Leyva Durán haben dazu bereits Ideen vorgelegt. Der Wirtschaftswissenschaftler Petro wird als erste Priorität eine Reform der Steuer- und Rentenpolitik angehen. Denn das primäre Ziel der neuen Regierung ist die Bekämpfung von Armut und Ungleichheit. Für die ersten 100 Tage kündigte Petro daher bereits konkrete Reformpläne an. Außerdem will die neue Regierung auch das Freihandelsabkommen mit den USA neu verhandeln. Im Wahlkampf hatten Gustavo Petro und Francia Márquez zahlreiche Forderungen der Bewegungen aufgegriffen: Im Zentrum der Wahlversprechen stand der Schutz der Aktivistinnen vor Gewalt und Verfolgung. Seit der Unterzeichnung des Friedensvertrags sind über 900 Aktivistinnen ermordet worden, Kolumbien gilt als eins der weltweit gefährlichsten Länder für die politische Linke. Zudem sollen die Friedensverhandlungen mit der immer noch aktiven ELN-Guerilla aufgenommen und der Friedensvertrag mit der FARC umgesetzt werden.

Zu Petros Wahlversprechen zählen zudem strukturelle Reformen in Polizei und Armee. Die Polizei soll aus dem Verteidigungsministerium ausgegliedert werden. Dies ist vor allem mit Blick auf die Sozialproteste ein wichtiges Thema für linke Bewegungen – alleine bei den Protesten 2021 wurden über 80 Menschen von der Polizei getötet. Bisher wurde niemand zur Rechenschaft gezogen. Bereits vor der offiziellen Amtseinführung hat die neue Regierung aus diesen Wahlkampfversprechen einige konkrete Vorschläge erarbeitet, darunter die Freilassung der politischen Gefangenen, die seit ihrer Teilnahme an den Protesten in Haft sind.

Weniger vielversprechend sieht es in der Klimapolitik aus. Obwohl das Thema im Wahlkampf eine Rolle gespielt hatte, kündigte Petro nun an, vorerst nicht aus dem Kohleabbau auszusteigen. Zwar will er perspektivisch weg von Öl und Kohle, doch wegen des Ukraine-Kriegs steigen derzeit die deutschen Kohleimporte aus Kolumbien wieder an. Und das Entwicklungsland kann es sich nicht leisten, sich dieses Geschäft entgehen zu lassen. So plant die neue Regierung, den Abbau von Bodenschätzen weiterhin zu ermöglichen, allerdings mit sozial- und umweltverträglichen Beschränkungen. Und zumindest die derzeit laufenden Pilotprojekte im Fracking werden ausgesetzt.

Weniger vielversprechend sieht es in der Klimapolitik aus

Außerdem wird in den kommenden Jahren in den Ausbau der sozialen Infrastruktur investiert. Das ist unglaublich notwendig in einem Land, in dem Menschen an heilbaren Krankheiten oder Kleinkinder an Unterernährung sterben. Und bis 2023 werden die öffentlichen Unis keine Einschreibungsgebühr nehmen. Grund zur Freude geben vor allem zwei neue Ministerien: Das Ressort für Gleichstellung wird von niemand geringer als Francia Márquez selbst geführt; sie wird sich um die Rechte von Frauen, LGBTIQ+ und gefährdeten Bevölkerungsgruppen kümmern und für die soziale und wirtschaftliche Gleichstellung ausgegrenzter Teile der Bevölkerung kämpfen. Zudem wird ein Ministerium für Frieden, Sicherheit und Zusammenleben eingeführt.

Das Kabinett der neuen Regierung entspricht Petros integrativem Politikstil. Das Außenministerium geht ans konservative Lager, an die eher liberale Strömung gehen die Ressorts Wohnen und Landwirtschaft. Aus dem eher linken Lager kommen der neue Bildungsminister, der Verteidigungsminister sowie die drei Frauen in den Ressorts Umwelt, Gesundheit und Kultur, María Susana Muhamad von der linken Partei Colombia Humana, Carolina Corcho und Patricia Ariza Flórez aus der Unión Patriótica. Insgesamt gibt Petro mit seinen Ernennungen vielen unterschiedlichen Lagern eine Repräsentation in der Regierung.

Trotz unterschiedlicher Einschätzungen seitens der linken Bewegung wird diese Regierung für mehr Einheit unter den Linken sorgen, für mehr Austausch und direkte Beteiligung vieler marginalisierter und ausgeschlossener Bevölkerungsgruppen. Ihr ständiger Bezug auf Protest und Bewegung, ihre direkten Kontakte zu Aktivist*innen und linken Intellektuellen lassen auf eine wirkliche Veränderung hoffen.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

„PETRO WILL DAS LAND AUFRICHTEN“

Ist der Friedensprozess in Kolumbien, den die seit dem 7. August amtierende Regierung von Gustavo Petro und Francia Márquez auf den Weg gebracht hat, schon in San José de Apartadó angekommen?
Leider nein. Auf dem Land üben die Paramilitärs, wie unter Petros Vorgänger Iván Duque, weiter die Kontrolle aus. Es ist ein raffinierter und moderner Paramilitarismus, der von Unternehmen eingesetzt wird, um Gebiete zu übernehmen, aber auch von lokalen Regierungen. Dort wird weiter eine Politik zu Gunsten der Unternehmer und Großgrundbesitzer ausgeübt – sie dient nicht dem Allgemeinwohl. So sagen sie zum Beispiel: „Wenn du mir das Land nicht verkaufst, wird es deine Witwe tun.“ Diese verbale und anmaßende Gewalt treibt die Landflucht weiter an. Bisher ist eine Staatsgewalt, die für einen Wandel und Sicherheit sorgen könnte, nicht in den Regionen aufgetaucht. Die immense Korruption in den lokalen Verwaltungen ist ungebrochen und die Paramilitärs bedrohen uns. Wir können uns ohne ihre Erlaubnis nicht in der Region bewegen, sie kontrollieren was angebaut wird, sie kontrollieren einfach alles.

San José de Apartadó hat sich 1997 zu einer Friedensgemeinde erklärt, seitdem wurden mehr als 300 ihrer Mitglieder getötet. Es heißt, die FARC-Guerilla sei für 20 Prozent und das Militär und die Paramilitärs für 80 Prozent der Morde verantwortlich. Sind diese Zahlen valide?
Ja, das kommt in etwa hin. In der Region Urabá im Nordwesten Kolumbiens, wo San José de Apartadó liegt, tobte über Jahrzehnte ein brutaler Konflikt zwischen Militär, Paramilitärs und der FARC-EP – dabei ist zu verzeichnen, dass die klare Mehrheit der Menschenrechtsverletzungen dabei auf das Konto von Militär, Polizei und Paramilitärs geht. Wir sprechen hier nicht nur von Morden, auch Folter und die Praxis des Verschwindenlassens waren keine Seltenheit. Wichtig zu betonen ist, dass Paramilitärs einen großen Anteil hier ausmachen. Sie sind im Auftrag von Unternehmern tätig, um für sie erst Land zu rauben und es anschließend zu sichern. Und die mehr als 300 Morde in den vergangenen 25 Jahren beruhen auf korrekten Angaben – das ist die traurige Wahrheit.

Auf dem Gebiet der Friedensgemeinde sind der Besitz von Waffen, die Weitergabe von Informa-tionen und der Anbau illegaler Pflanzen verboten. Ist mit dem Amtsantritt von Gustavo Petro ein wirklicher Friedensprozess denkbar, auch wenn dessen Ansatz nicht so weitreichend wie der der Friedensgemeinde ist?
Es wurde eine neue Regierung aufgestellt, um Auswege aus den Krisen des Landes zu finden: Die endemische Korruption die Armut und die Gewalt sollen bekämpft werden – das steht an erster und wichtigster Stelle. Dabei sollen die Geschehnisse der Hinterlassenschaften der rechten Regierungen von Álvaro Uribe (2002-2010), Juan Manuel Santos (2010- 2018) und Iván Duque (2018 – 2022) aufgearbeitet und priorisiert werden. Petro geht dabei sehr konsequent vor: Dutzende Generäle mussten ihren Dienst in der Armee bereits quittieren, weil ihnen Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Bei der Kabinettsbildung hat Petro einige bekannte und renommierte Personen ins Verteidigungs-, Außen- oder Agrarministerium berufen. Ihre Verdienste aus der Vergangenheit lassen darauf hoffen, dass sie Kolumbien wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich nach vorne bringen. Das gilt auch für Danilo Rueda, den Friedensbeauftragten. Er war Direktor der ökumenischen Kommission für Gerechtigkeit und Frieden (CIJP), einer Organisation, die sich für die Sichtbarmachung von Menschenrechtsverletzungen im kolumbianischen Konflikt einsetzt. Rueda war oft in unserer Friedensgemeinde. Die Regierung Petro verfolgt offensichtlich gute Absichten. Sie wird allerdings nicht viel Zeit haben, sondern nur vier Jahre. Eine Wiederwahl von Petro ist durch die Verfassung ausgeschlossen. Allerdings kann die Regierung den Anfang für ein anderes Kolumbien schaffen. Besorgniserregend ist allerdings, dass wir bisher nur einen Friedensprozess von oben erleben, unten in den Regionen ist er noch nicht angekommen.

Petro verfolgt einen umfassenden Ansatz für die Umsetzung von Frieden im Land. Das Maßnah-menpaket richtet sich an alle, die einen Verhandlungsprozess mit der kolumbianischen Justiz zur Zerschlagung krimineller Organisationen wünschen. Im Kongress liegt bereits ein Gesetzentwurf für den Umgang mit den Kämpfern der kriminellen Gruppen vor. Wenn sie die Waffen niederlegen und sich stellen, könnten sie demnach mit einer Reduzierung ihrer Strafe um 60 Prozent rechnen und zehn Prozent ihres Vermögens behalten. Eigentlich ein guter Vorschlag, oder?
Der erste wichtige Schritt ist, die bewaffneten Gruppen dazu zu bewegen, darüber nachzudenken, ihre Waffen niederzulegen. Dazu könnte dieses Angebot dienen. Der zweite Schritt wäre, dass der Staat den Demobilisierten Garantien für ein auskömmliches Dasein ohne Waffen verschafft. In der Frage der juristischen Aufarbeitung muss differenziert vorgegangen werden. Diejenigen, unter den Kommandanten, die sich schwere Menschenrechtsverletzungen haben zuschulden kommen lassen – egal ob aus Reihen der Paramilitärs, Militär oder Guerilla – sie müssen Gefängnisstrafen erhalten. Die einfachen Kämpfer nicht, sofern sie nicht an Massakern, Verschwindenlassen und Folter beteiligt waren. Bei der Frage nach Gefängnisstrafen muss sich die Regierung gut überlegen, wie sie es schafft, die Bewaffneten zu überzeugen: Wenn Guerilleros der ELN 30 oder 40 Jahre Haft drohen, werden sie kaum ihre Waffen niederlegen. Es muss eine Perspektive der Reintegration in die Gesellschaft geben. Nach dem Friedensabkommen mit der FARC-EP 2016 wurden ihre Mitglieder in sogenannten Übergangszonen versammelt und sollten dort auf die Wiedereingliederung in die Gesellschaft vorbereitet werden. Das hat aber nur ansatzweise funktioniert, weshalb sich einige ehemalige Kämpfer der FARC wieder zu bewaffneten Gruppen zusammengeschlossen haben.

Bereits zehn Gruppen haben einen einseitigen Waffenstillstand erklärt. Nach Angaben der Denkfabrik Indepaz wollen sich mindestens 22 Gruppen an dem Prozess beteiligen, darunter die ELN, wiederbewaffnete Gruppen der ehemaligen FARC und Banden aus dem Drogenhandel.
Ja, sehr viele haben ihre Bereitschaft bekundet und wenn sie sehen, dass bei den anderen die Demobilisierung und Reintegration gut läuft, werden sie sich auch anschließen. Entscheidend ist, dass die Kämpfer zivile Perspektiven sehen. Sie haben teilweise 30 bis 40 Jahre in der Guerilla verbracht, haben keine Ausbildung und nur gelernt zu kämpfen. Auch die Unternehmen müssen ihrer Verantwortung nachkommen. Bisher weigern sich viele, ehemalige Kämpfer anzustellen, weil sie als Mörder gelten. Die Regierung muss den Friedensprozess behutsam gestalten, es gibt viele Fallstricke.

Mit einer Demobilisierung alleine ist es nicht getan, oder?
Nein. In den Friedensprozess müssen nicht nur die bewaffneten Gruppen einbezogen werden, sondern auch die Gemeinden. Denn paradoxerweise hat bisher die Präsenz bewaffneter Gruppen und der interne Konflikt in manchen Ecken auch dazu geführt, dass bestimmter Raubbau nicht betrieben wurde, weil die Geschäftsgrundlage zu unsicher war. Wenn jetzt bewaffnete Gruppen abziehen, könnte das neuen Bergbauaktivitäten den Weg eröffnen, ohne dass die Interessen der Bewohner auf eine intakte Umwelt berücksichtigt werden. Es wird wichtig sein, dass das im Friedensprozess konkret berücksichtigt wird. Dem rücksichtslosen Profitstreben multinationaler Unternehmen muss Einhalt geboten werden.

Hat sich in ihrer Region durch das Friedensabkommen mit der FARC-Guerilla 2016 etwas verändert?
Die Gewalt ging auch nach dem Friedensabkommen weiter aber jetzt ziehen keine FARC-Kämpfer mehr durch unsere Gegend, sondern nur noch das Militär und das Paramilitär. Ich selbst hatte eine Waffe an meinem Kopf, als fünf bewaffnete Paramilitärs uns am 29. Dezember 2016 überfielen. Zum Glück gelang es Dorfbewohnern, zwei der Männer zu entwaffnen und festzuhalten, die anderen flohen. Wir übergaben die Täter der örtlichen Polizei. Am nächsten Tag wurden sie auf richterliche Anordnung freigelassen. Wir haben in diesen sechs Jahren hunderte Übergriffe durch die Paramilitärs erlitten. Führungspersonen wurden in der Zeit nicht ermordet, aber einzelne Dorfbewohner, die sich gegen das Geschäftsmodell gewehrt haben. Die Paramilitärs bestimmten alles. Erst vor wenigen Tagen wurde ein 19-Jähriger ermordet, der sich Anordnungen der Paramilitärs widersetzte. Wir hoffen, dass der kommende Friedensprozess erfolgreicher verläuft als der derzeitige von 2016. Die Repression ist unter den Paramilitärs noch stärker geworden als zur Zeit der Vorherrschaft der FARC-EP.

Gewalt gibt es auch im Zusammenhang mit dem Drogenhandel. Petro hat einen „Paradigmen-wechsel“ versprochen. Er will den Anbau von Koka ersetzen und das Sprühen mit Glyphosat aus der Luft verbieten. Ist der Drogenhandel unter Kontrolle zu bringen?
Es wird schwer. Petro hat wohl vor, Marihuana zu legalisieren. Bei der Koka-Pflanze, von der Kolumbien der größte Produzent der Welt ist, geht es vor allem um Einkommensalternativen. Wenn die Kleinbauern für andere Agrarprodukte Preise bekommen, von denen sie leben können, werden sie den Kokaanbau herunterfahren, aber derzeit sind Mais, Yucca oder Bananen so gut wie nichts wert. Solange es für Lebensmittel so schlechte Marktpreise gibt, haben die Kleinbauern gar keine andere Option, als vorrangig Koka anzubauen. Zumal es keine Subventionen für Kleinbauern gibt wie in Europa. Wenn die Regierung Programme auflegt, die es den Bauern ermöglichen, umzusteigen, werden sie den Anbau sicher reduzieren. Was nicht funktioniert, ist wie in der Vergangenheit aus der Luft die Kokafelder mit Glyphosat zu besprühen, um den Anbau zu bekämpfen. Das macht die Umwelt kaputt, trifft auch die angrenzenden Felder mit Nahrungsmitteln und hat den Koka-Anbau selbst nie dauerhaft zurückgedrängt. Petro wird da andere Wege gehen, er ist dem Umweltschutz stark verpflichtet. Die Regierung wird sicher auch um finanzielle Hilfen aus dem Ausland ersuchen. Sowohl für den Friedensprozess und die Reintegration der vielen Kämpfer aus den bewaffneten Gruppen als auch für die Substitution des Koka-Anbaus werden viele Mittel benötigt. Petro hat ein armes Land geerbt, das von seinen Vorgängern ausgeraubt wurde.

Wie sehen Sie die USA in diesem Kontext? Ist von der Regierung unter Biden Unterstützung zu erwarten?
Das müssen wir abwarten. In der Vergangenheit hat die US-Regierung die kolumbianischen vor allem mit militärischer Hilfe bei der Bekämpfung des Drogenhandels unterstützt. Kolumbien hat eine hohe Auslandsverschuldung gegenüber den USA aus den Zeiten der rechten Regierungen. Petro hat nun die Beziehungen zu Venezuela wieder aufgenommen. Venezuela ist aber aus Sicht der USA ein Feind. Welchen Weg die USA gegenüber Kolumbien einschlagen werden, ist noch offen. Immerhin hat US-Außenminister Antony Blinken bei einem Treffen mit Petro Unterstützung für dessen umfassenden Ansatz signalisiert.

Petros Reformpläne umfassen eine Steuererhöhung für die wohlhabende Schicht, ein Programm gegen den Hunger und mittelfristig eine Abkehr von Öl und Gas und eine Hinwendung zu erneuerbaren Energien. Am 26. September dieses Jahres gab es die ersten Proteste gegen die Regierung Petro, die von der kolumbianischen Rechten und Geschäftsleuten angeführt wurden. Was glauben Sie, wie stark der Widerstand gegen das fortschrittliche Projekt von Petro sein wird?
Er wird groß sein. Schon jetzt setzen viele Unternehmen ihre Beschäftigten unter Druck, weil ihnen die progressive Steuerreform ein Dorn im Auge ist, deswegen drohen sie mit Entlassungen und versuchen die Beschäftigten gegen Petro aufzubringen. Petros rechter Vorgänger Iván Duque musste seine Steuerreform 2021 wegen der starken Proteste von Gewerkschaften und sozialen und indigenen Bewegungen im ganzen Land zurückziehen. Petros Steuerreform geht zu Lasten der reichen Bevölkerungsschicht und kommt der ärmeren zugute – während Duques Regierung war es genau umgekehrt.

Petros Slogan ist der totale Frieden. Mehr als eine Utopie?
Es ist ein Slogan. Jeder Präsident gibt einen Slogan aus. Petro den des totalen Friedens. Es ist ein Traum. Totalen Frieden gibt es nirgendwo auf der Welt, schon gar nicht in Kolumbien. Aber eine Gesellschaft braucht auch Träume. Petros Traum ist die Befriedung des Landes. Millionen Kolumbianer teilen diesen Traum. In vier Jahren wird er das nicht schaffen können. Er kann Weichen stellen, einen echten Friedensprozess einleiten. Wenn er das nicht schafft, wird er in vier Jahren kritisiert werden. Wieder antreten kann er ja nicht. Kolumbien liegt am Boden und Petro will das Land aufrichten. Er wagt es und macht den Anfang.

Und dann kommt Francia Márquez, seine Vizepräsidentin, als Präsidentschaftskandidatin ins Rennen?
Das kann sein, ich tippe eher auf den Bürgermeister von Medellín, Daniel Quintero. Aber bis dahin ist es noch hin. Petro hat gerade erst seine Amtszeit begonnen. Und er hat den Rückhalt der einfachen Bevölkerung und der Mehrheit der Bevölkerung. Aber in Kolumbien ist Zurückhaltung bei den Prognosen angebracht. Die Gefahr eines Staatsstreichs sollte man nicht unterschätzen. Gerade weil Petro den Militärs, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, den Kampf angesagt hat. Petro ist sehr intelligent, er geht strategisch vor. Das gibt uns Hoffnung.

// BRUCH NACH 500 JAHREN

Kolumbien erhält am 7. August die erste linke Regierung seiner Geschichte: Dann treten der Ex-Guerillero Gustavo Petro mit seiner afrokolumbianischen Vizepräsidentin Francia Márquez an die Spitze eines Staates und eines Landes, das bisher ungebrochen von der Rechten und der gewalttätigen Rechten kontrolliert wurde. „Der Sieg von Petro und Márquez ist auch das Ergebnis des Kampfes und der Mobilisierung durch die sozialen Bewegungen, insbesondere der afrokolumbianischen und indigenen Bewegungen, die sich seit Beginn des Kolonialismus vor über 500 Jahren zur Wehr gesetzt haben – gegen die rassistische, koloniale und patriarchale Weltordnung.“ Das sagt die afrokolumbianische Wissenschaftlerin Edna Martínez, eine Mitstreiterin von Francia Márquez, im LN-Interview.

Vertreter*innen der sozialen Bewegungen zogen vor der Stichwahl am 19. Juni von Haus zu Haus, um die Menschen von der historischen Chance zu überzeugen. Ihr Argument: Petro ist kein Messias, aber er kann die Weichen für eine sozialere, gerechtere, menschlichere Gesellschaft stellen. Und der Wunsch, einen neuen politischen Kurs einzuschlagen, zeigte sich nicht nur an der höchsten Wahlbeteiligung seit 1998 (57,5 Prozent), sondern auch am Verhalten vieler traditioneller Nichtwähler*innen, die vor Jahrzehnten ihren Glauben an Politik und Institutionen verloren hatten und diesmal, sogar oft zum ersten Mal, wählen gegangen sind.

Seit seiner Wahl ist Petro auf der Suche nach Kompromissen: mit der politischen und ökonomischen Elite des Landes, mit Unternehmer*innen, Großgrundbesitzer*innen und all denjenigen, die über genügend Macht verfügen, um ihm alle möglichen Steine in den Weg legen zu können. Petros Aufgabe ist nicht einfach. Er hat sich bereits mit mehreren führenden Politiker*innen getroffen, unter anderem auch dem Ex-Präsidenten Álvaro Uribe – fraglos einem Kriminellen, aber auch der wichtigste Oppositionsführer –, um im Rahmen seines vorgeschlagenen Acuerdo Nacional gemeinsame Lösungen für die Probleme des Landes zu finden.

Moderat geht Petro auch bei der Besetzung seines Kabinetts vor. Die Fachkompetenz der Mitglieder ist sein Hauptkriterium. Sein Versprechen: ein paritätisches Kabinett. Und er hält Wort. Von den sieben bisher designierten Minister*innen sind vier Frauen.

Der Kurs von Petro steht schon vor der Amtseinführung: Im Land sollen Räume geschaffen werden, um den versprochenen Wandel in Taten umzusetzen. Dem erwartbaren Widerstand der Rechten gegen notwendige Reformen wie die Agrarreform, einer Reform der Streitkräfte und einer Neuausrichtung der Umwelt- und Drogenpolitik soll schon vorab der Wind aus den Segeln genommen werden. Es sind genau diese Themen, die im Bericht der Wahrheitskommission vordringlich erwähnt wurden, der am 28. Juni in Bogotá und am 6. Juli in Berlin der Öffentlichkeit präsentiert wurde.

Derweil steht eine Überarbeitung der deutsch-kolumbianischen Beziehungen an. Im Deutschen Bundestag wurde zwar Anfang Juli erneut beschlossen, den Friedensprozess in Kolumbien stärker zu unterstützen, doch konkrete Verantwortlichkeiten blieben ausgespart. Das gilt auch für einen weiteren Konfliktpunkt: Die deutsche Bundesregierung möchte weiterhin mehr kolumbianische Kohle importieren, um den Verzicht auf russische Kohle zu kompensieren. Die Regierung von Petro hingegen möchte einen neuen Kurs in der Umweltpolitik einschlagen und sukzessive von einer „extraktivistischen“ auf eine produktive Umweltpolitik umsteigen, bei der keine natürlichen Ressourcen ausgebeutet werden. Und kurzfristig sollen die Rohstoffe nicht zu Schleuderpreisen verkauft werden, sondern zu Preisen, die Raum für soziale Umverteilung schaffen. Fraglich, ob diese Pläne beim rohstoffarmen Deutschland auf Gegenliebe stoßen. Nicht nur in Kolumbien, auch in Deutschland sind die sozialen Bewegungen gefordert, damit es mit einer sozial-ökologischen Erneuerung endlich vorangeht.

HER MIT DEM GUTEN LEBEN

Viele Analyst*innen hatten nach der ersten Wahlrunde behauptet, Petro habe sein gesamtes Potenzial ausgeschöpft. Ein linker Kandidat in Kolumbien könne kaum mit mehr als den in der ersten Runde erhaltenen 8 Millionen Stimmen und dem Rückhalt von 40,3 Prozent der Wähler*innen rechnen. Dennoch gewann Petro in der Stichwahl überraschend 2,7 Millionen dazu und fuhr dadurch mit 50,4 Prozent der Stimmen einen knappen Wahlsieg gegen eine vereinte Rechte ein.

Hernández versuchte dieses Streben nach einem Neuanfang in einem für seine 77 Jahre sehr hippen TikTok-Wahlkampf mit harscher Kritik am Establishment und an Korruption zu verkörpern. Allerdings erschien dieses Versprechen im Vergleich zu Petro und Márquez deutlich unglaubwürdiger. Der in der internationalen Presse oft mit Donald Trump verglichene Hernández war auch wegen eines während des Wahlkampfs laufenden Korruptionsprozesses aus seiner Zeit als Bürgermeister von Bucaramanga aufgefallen. Weitere Skandale betrafen ein Lob für Adolf Hitler als großen deutschen Denker, Schläge gegen einen Abgeordneten der Opposition aus seiner Zeit als Bürgermeister, misogyne und xenophobe Äußerungen über venezolanische geflüchtete Frauen (sie seien „Gebärfabriken armer Kinder”), sowie über Frauen, die im Idealfall nicht arbeiten, sondern zu Hause die Familie versorgen sollen. Nicht zuletzt wird auch seine Weigerung, Petro in einer Debatte vor laufenden Kameras gegenüberzutreten, bei einem großen Teil der unentschlossenen Wähler*innen dafür gesorgt haben, die Eignung des 77-Jährigen anzuzweifeln.

Es wäre verkürzt, den Wahlerfolg Petros lediglich mit der Schwäche seiner Gegner zu erklären. Zwar ist die Rechte durch die laufenden Prozesse gegen Ex-Präsident Álvaro Uribe und eine negative Regierungsbilanz des Amtsinhabers Iván Duque geschwächt. Entscheidend für den Wahlsieg Petros waren allerdings − ähnlich wie in Chile − die vorangegangenen Proteste im November 2019 und April und Mai 2021. Die paros nacionales (dt. Generalstreiks) richteten sich gegen die neoliberale Austeritätspolitik der Duque-Regierung, darunter die höhere Besteuerung der Mittel- und Unterschicht sowie die Reform des Gesundheitssystems nach US-amerikanischem Vorbild. Die monatelangen Proteste wurden mit massiver Polizeigewalt und Militarisierung von Seiten des Staates unterdrückt und veränderten die Stimmung im Land.

„Wie konnten wir erlauben, dass das geschehen ist”

Zusätzlich spielten die besonders durch strukturellen Rassismus und Repression betroffenen Gebiete der Schwarzen und indigenen Bevölkerung eine zentrale Rolle, wie beispielsweise das stark indigen geprägte Valle del Cauca nahe der afrokolumbianisch geprägten Stadt Cali. Die Allianz der Bevölkerung in den von staatlicher Gewalt betroffenen, strukturell benachteiligten urbanen Vierteln und der ländlichen Regionen brachte eine neue Solidarität und neue Diskussionen über die Identität des Landes in Gang. Sinnbildlich dafür waren die in Kolumbien so nie dagewesenen Bilder von gestürzten Statuen von Konquistadoren im ganzen Land und von in Cali einfahrenden, mit der indigenen Wiphala- und Mizak-Flagge geschmückten Bussen voller indigener Demonstrant*innen aus dem Umland.

Die Taktik des linken Wahlbündnisses Pacto Histórico (dt. Historischer Pakt), nicht wie in vergangenen Anläufen grüne oder liberale Vize-Präsidentschaftskandidat*innen zu berufen, erwies sich als Erfolgsrezept. Durch die Wahl von Francia Márquez, einer afrokolumbianischen Umweltaktivistin und ehemaligen Goldminenarbeiterin und Hausangestellten, die bei den Abstimmungen innerhalb des Pacto Histórico den zweiten Platz belegt hatte, schaffte es das Bündnis, einer bisher kaum auf nationaler Ebene präsenten Schicht eine Stimme zu verleihen.

Der Wahlsieg steht für viele im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung

So betonte Márquez in der Wahlnacht in ihrer Ansprache, in Anspielung auf Martin Luther Kings I-Have-a-Dream-Rede, dass sie davon träume in einem Land zu leben, in dem Frieden herrscht. Ihr Ausspruch „vivir sabroso” (dt. etwa „gehaltvoll leben“) beschreibt nämlich nicht – wie von Gegner*innen oft behauptet – ein Leben mit Geld, sondern steht sinnbildlich für ihren Traum eines Lebens ohne Angst und eines Kolumbiens, in dem niemand wegen seiner politischen Ansichten in Gefahr lebt. Es ist dieser Traum einer sanften Politik der Versöhnung, der sich nach den jahrelangen Kämpfen und der exzessiven Repression der letzten Jahre mit allein 154 ermordeten sozialen Aktivist*innen im vergangenen Jahr und 80 Toten durch Polizeigewalt während der Proteste, für viele Menschen in Kolumbien wie eine Umarmung voller Hoffnung anfühlt.

Wie sehr die Gewalt das Land in den letzten Jahren geprägt hat, wurde zwei Wochen nach der Wahl im Abschlussbericht der Wahrheitskommission deutlich. „Wie konnten wir erlauben, dass das geschehen ist. Und wie können wir es wagen, es weiterhin zuzulassen”, kommentierte der Vorsitzende der Wahrheitskommission Francisco de Roux die Veröffentlichung des Berichts. 450.664 Tote insgesamt, davon der größte Anteil durch die dem Staat nahestehenden rechten Paramilitärs, waren die Bilanz aus über 60 Jahren Bürgerkrieg in Kolumbien.

Der Sieg Petros und Márquez’ ist angesichts der Geschichte und des Zulaufs von 2,7 Millionen Stimmen zwischen der ersten und der zweiten Wahlrunde nur dadurch zu verstehen, dass sie es geschafft haben ein Angebot zu machen, das sowohl linke als auch liberale Stimmen des Landes vereint. Die Linie, den „Kapitalismus weiterzuentwickeln”, wie es Petro in seiner Rede zum Wahlsieg angekündigt hat, ist aus linker Sicht antikapitalistisch und als Kampfansage an den Neoliberalismus zu verstehen. Gleichermaßen ist sie auch ein Hinweis an Liberale, den Kapitalismus nicht abschaffen zu wollen, sondern ihn ähnlich wie die von den Grünen in Deutschland ausgerufene „sozial-ökologische Transformation” zu reformieren und an neue Herausforderungen sozialer und ökologischer Natur anzupassen. Es bleibt abzuwarten, ob dieser Schachzug, liberale und linke Stimmen zu vereinen, in den nächsten Jahren glücken wird. Zusammen mit dem Freudentaumel des Wahlsiegs und der durchfeierten Wahlnacht, die in den großen Städten des Landes wie ein WM-Sieg gefeiert wurde, ist die mit etwas Skepsis begleitete Hoffnung auf Frieden die vorherrschende Stimmung einer neuen Ära, die in Kolumbien begonnen hat.

„PETRO IST KEIN MESSIAS“

Edna Martínez (Foto: privat)

Welche Erwartungen hegen Sie an diese erste linke Regierung Kolumbiens?
Mit der Regierung Petro/Márquez tritt eine progressive sozialdemokratische Regierung an, mit einem Schwerpunkt auf Menschenrechten, sozialer Gerechtigkeit, Umweltschutz. Das ist das Ergebnis eines über 200 Jahre währenden Kampfes. Kolumbien wurde in seiner ganzen republikanischen Geschichte politisch und ökonomisch von einer Handvoll Familien beherrscht, die das Land als ihren Privatbesitz betrachtet haben, als ihre Finca, als ihre Hacienda. Sie haben sich viel mehr Rechte eingeräumt als den normalen Bürger*innen.

Der Sieg von Petro und Márquez ist auch das Ergebnis des Kampfes und der Mobilisierung durch die sozialen Bewegungen, insbesondere der afrokolumbianischen und indigenen Bewegungen, die sich seit Beginn des Kolonialismus vor über 500 Jahren zur Wehr gesetzt haben – gegen die rassistische, koloniale und patriarchale Weltordnung. Sie stehen für das Recht auf Überleben und auf eine eigene Weltanschauung ein. Sie wenden sich gegen einen unersättlichen, zerstörerischen Kapitalismus. Ein Wirtschaftssystem, das auf Ausbeutung von Menschen setzt, auf die Versklavung von Menschen, auf den Ausschluss von Menschen.

War es vor dem zweiten Wahlgang am 19. Juni zu erwarten, dass Kolumbien 212 Jahre nach der formellen Unabhängigkeit zum ersten Mal ein linkes Duo zum Staatsoberhaupt wählen würde?
Ich denke, dass der Sieg von Petro absehbar war. Vor allem die beiden letzten Generalstreiks 2019 und 2021 waren Anzeichen dafür, dass eine Mehrheit der Kolumbianer*innen einen grundlegenden Wandel einfordert (siehe auch LN 564). Vor allem der Generalstreik 2021 mit der massiven Präsenz der Bevölkerung auf den Straßen mit der Forderung nach einer sozialen, politischen und wirtschaftlichen Transformation war ein starkes Indiz für einen Wechsel.

Ein anderes Element war der Rückschritt im Friedensprozess unter der jetzigen Regierung nach dem Abkommen mit der FARC-Guerilla 2016. Die Reintegration und die Demobilisierung der ehemaligen FARC-Kämpfer*innen kommt nicht wie verabredet voran. Das hat der kolumbianischen Gesellschaft die Einsicht vermittelt, dass es auch an vielen, anderen Ecken soziale Probleme gibt, die seit vielen Jahrzehnten nicht angegangen, sondern zugedeckt wurden. Früher wurde der Kampf gegen die Guerilla und den „Terrorismus“ vorgeschoben, um soziale Probleme unbearbeitet zu lassen. Die Aufstandsbekämpfung war das zentrale Thema in den Medien, die sozialen Probleme, die grundlegenden strukturellen Probleme in der Gesellschaft wurden vernachlässigt. Seit 2016 sind sie stärker in den medialen Fokus gerückt, auch dank der Generalstreiks.

Das Duo Petro/Márquez erhielt im zweiten Wahlgang 11,2 Millionen Stimmen, nachdem es im ersten Wahlgang als einzige linke Option „nur“ 8,5 Millionen Stimmen erhalten hatte. Wie erklärt sich dieser enorme Anstieg?
Die Rolle von Francia Márquez war hier sehr wichtig. Sie hat es geschafft, Wähler*innen zu überzeugen, zu interessieren, zu mobilisieren, die Petro nicht vertrauten, die Petro aus unterschiedlichsten Gründen nicht als gute Option für einen echten Wandel sahen. Márquez hat dem politischen Projekt des Pacto Histórico (dt. Historischen Pakts) mehr Kontur gegeben, mehr inhaltliche Tiefe und Struktur. Sie repräsentiert den ausgeschlossenen Teil Kolumbiens, die Kolumbianer*innen, die unter der sozialen Ungleichheit am meisten zu leiden haben, die, die unter dem bewaffneten, internen Konflikt am meisten gelitten haben. Sie repräsentiert das Kolumbien der Überlebenden. Sie spricht in einer einfachen Sprache, vermittelt aber grundlegende Zusammenhänge. Sie tritt entschieden und radikal für die Verteidigung des Territoriums der indigenen und afrokolumbianischen Gemeinden ein, für die Menschenrechte, für den Umweltschutz. Ein großer Teil des Stimmenzuwachses dürfte auf die Person Francias und ihre schlüssige Position zurückgehen. Márquez hatte ja schon bei der bündnisinternen Vorwahl um die Präsidentschaft ihre Zugkraft gezeigt, bei ihrem ersten Auftritt auf der politischen Bühne überhaupt: Sie wurde im März mit fast 900.000 Stimmen Zweite hinter Petro, dabei hatte sie kaum Geld für Wahlkampf, nur ein kleines Team und auch nur sechs Monate für ihre Kandidatur geworben.

Neben Márquez war sicher auch die gute Organisation der sozialen Bewegungen entscheidend: Sie haben mobilisiert, sie haben unentschiedene Wähler*innen überzeugt, selbst Wähler*innen, die die Absicht hatten, den rechten Rodolfo Hernández zu wählen. Auf den Mingas (kollektiver Arbeitseinsatz oder politische Versammlung, Anm. d. Red.), in der Nachbarschaft, in den Familien – überall wurde Überzeugungsarbeit geleistet. Dort wurde mit Argumenten geworben und versucht, Konfrontationen zu vermeiden. Petro hat ja den Slogan von der „Politik der Liebe“ ausgegeben, statt der vorherrschenden „Politik des Hasses“. So wurde friedfertig für das politische Projekt des Pacto Histórico geworben. Mit Erfolg.

Die Entscheidung Petros, auf Francia Márquez als Vize zu setzen, war demnach entscheidend für den Wahlsieg?
Ja, ich bin sicher, dass Petro seinen Erfolg der Strahlkraft von Márquez verdankt. Alle Analysen belegen, dass die afrokolumbianischen Stimmen, die der Indigenen und der Marginalisierten hauptsächlich auf die Anziehungskraft von Márquez zurückgehen. In den afrokolumbianischen Regionen hat Petro die meisten Stimmen erhalten und ebendort hat Francia ihren Wahlkampf gemacht.

Die Erwartungen der 11,2 Millionen Wähler*innen sind hoch. Petro will das Land befrieden, der rücksichtslosen Ausbeutung von Rohstoffen ein Ende setzen und den Unternehmen höhere Steuern auferlegen, um Mittel für die Sozialpolitik zu generieren. Welchen Widerstand erwarten sie von der kolumbianischen Rechten?
Die Sicht der kolumbianischen Rechten findet sich in den herrschenden Medien. Sie sieht das Land als Privatbesitz. Die politische und ökonomische Elite Kolumbiens wird sich dem Wandel sicher widersetzen. Das ist absehbar. Weniger klar ist noch, wie sich die USA und die Europäische Union zum politischen Projekt von Petro positionieren werden. Die historischen Erfahrungen auf dem amerikanischen Kontinent zeigen, dass die USA und auch die EU maßgeblich entscheiden, inwiefern sozialer Fortschritt zugelassen wird oder nicht. Es ist die Frage, ob die USA und die EU einen sozialen und demokratischen Wandel in Kolumbien unterstützen oder nicht. Ob sie die Entscheidung von 11,2 Millionen Kolumbianer*innen respektieren und unterstützen, ein gerechteres Land haben zu wollen. Tun sie das, wird sich der Spielraum für die extreme kolumbianische Rechte reduzieren. Ansonsten haben sie freie Bahn, wie extreme Rechte in anderen Ländern mit Falschinformationen Panik zu schüren, mit Desinvestitionen die Wirtschaft zu schädigen und so weiter. Meine große Sorge gilt der Haltung der USA und der EU. Diese beiden haben bisher von der kolumbianischen Rohstoffausbeutung profitiert, die Petro nun begrenzen und höher besteuern will. Das trifft multinationale Unternehmen, die sich um Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung in Kolumbien nicht geschert, sondern von der Gewalt sogar profitiert haben, weil sie ihr Geschäftsmodell ermöglichten. Wenn Petro sich durchsetzt, werden Rohstoffe künftig nicht mehr fast verschenkt, sondern teurer.

Welche Rolle spielen die sozialen Bewegungen im Pacto Histórico, in dem sich Parteien, Gewerkschaften und soziale Bewegungen zusammengeschlossen haben?
Aus meiner Sicht ist der Pakt vor allem ein Pakt der sozialen Bewegungen. Er ist ein Pakt der Konvergenz vieler politischer Akteur*innen, die den Status quo der kolumbianischen Politik satt haben. Die sozialen Bewegungen sind gewiss der Protagonist dieses Sieges. Die Menschen sind der Institutionen müde, zu denen auch die Parteien und die Gewerkschaften gehören. Es war die organisatorische und mobilisatorische Fähigkeit der sozialen Bewegungen, die den Sieg ermöglicht hat. Die der afrokolumbianischen Bewegung, der indigenen Bewegung, der Frauenbewegung, der Bewegung der Angehörigen von Ermordeten, der Jugend- und Studentenbewegung und der LGBTQ-Bewegung. Sie haben ihre Talente, Kräfte und Energie gebündelt. Das war der Schlüssel zum Erfolg.

In Chile hat der linke Reformer Gabriel Boric im März sein Amt als Präsident angetreten. Die sozialen Bewegungen beschuldigen ihn bereits der Unentschlossenheit. Wie stellen Sie sich eine konstruktive Interaktion zwischen den sozialen Bewegungen und einer linken Regierung in Kolumbien vor?
Was die sozialen Bewegungen in Kolumbien ganz klar kommuniziert haben, ist: Petro ist kein Messias. Sie haben klar kommuniziert, dass die Probleme Kolumbiens auf Jahrzehnten und Jahrhunderten von Fehlentwicklungen beruhen. Die tiefe gesellschaftliche Ungleichheit und institutionelle Krise lässt sich nicht in vier Jahren gerade rücken. Das braucht Zeit und Geduld. Die kommende Regierung repräsentiert jedoch im Gegensatz zu ihren Vorgängern im Großen und Ganzen die Interessen der bisher Vernachlässigten. Das ist ein Wert an sich. Die sozialen Bewegungen können künftig auf die Straßen gehen, ohne eine brutale Repression befürchten zu müssen wie bisher. Sie können für ihre Rechte eintreten und Kritik üben an der Regierung. Ich kann den Fall von Boric in Chile nicht konkret beurteilen. Aber auch da ist klar, dass eine linke Regierung nicht in wenigen Monaten korrigieren kann, was Jahrzehnte schief gelaufen ist. Was wir in der Vergangenheit in Lateinamerika immer wieder beobachten konnten, war, dass progressive Regierungen die sozialen Bewegungen kooptiert haben. Das hat die sozialen Kämpfe deutlich geschwächt. Eine konkrete Antwort auf die Frage nach einer konstruktiven Interaktion von sozialen Bewegungen und linken Regierungen kann ich nicht geben. Die Erfahrungen sind auch von Land zu Land verschieden. Mal sehen, wie es in Kolumbien laufen wird. Klar ist: Der Wahlsieg wurde mit einer progressiven Agenda erzielt, mit Rechten und Menschenrechten im Zentrum. Das ist ein gigantischer Erfolg in einem Land, das immer von der Rechten regiert wurde und das immer mit Billigung und Förderung durch die USA. Die USA standen immer hinter den ultrakonservativen Sektoren Kolumbiens. Nun gibt es in Kolumbien einen Paradigmenwechsel: Verkörpert wird er durch Francia Márquez, der ersten Schwarzen Frau an der zweiten Stelle des Staates. Das hat nicht nur symbolische und emotionale Auswirkungen, sondern verändert auch das Verständnis, was Politik ist und wie sie gemacht wird. Mit Márquez werden die Schwarzen anerkannt, werden die Frauen anerkannt, werden die Umweltschützer anerkannt, werden die Anti-Rassisten anerkannt. Das macht einen gewaltigen Unterschied.

MUT ZUM WANDEL ODER ANGST VOR VERÄNDERUNG?

Foto: Alexa Rochi (@alexarochi__)

Es war ein überraschender Wahlabend in der ersten Runde um die Präsidentschaft in Kolumbien: Die ersten Ergebnisse zeigten am 29. Mai Federico Gutiérrez, Kandidat des Uribismo, noch weit vorne. Doch innerhalb von 15 Minuten nahmen die Ergebnisse eine drastische Wende. Nach knapp einer Stunde war das Ergebnis klar: Bei der Stichwahl erhielt Gustavo Petro etwa 8,5 Millionen Stimmen und lag mit rund 40 Prozent vor Rodolfo Hernández, ehemaliger Bürgermeister von Bucaramanga, der fünfgrößten Metropolregion Kolumbiens. Hernández, ein 73-jähriger Geschäftsmann, wurde durch seinen parteiunabhängigen Wahlkampf auf sozialen Netzwerken wie TikTok oder Facebook vor allem bei den jungen Wähler*innen beliebt und lag mit 28 Prozent der Stimmen direkt hinter Gustavo Petro. Gutiérrez wurde schließlich Dritter, sein konservatives politisches Lager war damit der größte Verlierer des Abends. Die meisten Kolumbianer*innen haben sich für einen Kandidaten entschieden, der nicht für die Politik des Noch-Präsidenten Iván Duque und seines Vorgängers Álvaro Uribe steht. Das heißt jedoch nicht unbedingt, dass sich eine Mehrheit der Bevölkerung einen tiefgreifenden Wandel wünscht.

Denn noch herrscht große Angst vor Themen, die auf der Agenda von Gustavo Petro eine wesentliche Rolle spielen: Beteiligung gesellschaftlicher Minderheiten, Frauenrechte und Genderaspekte, Umwelt und grundlegende Reformen, die die Politik im Land grundlegend verändern würden.

Besonders die Rolle von Frauen spielt bei diesen Wahlen eine große Rolle. Laut dem staatlichen Statistikinstitut DANE machen Frauen 51,2 Prozent der kolumbianischen Bevölkerung aus. Gleichzeitig gehören geschlechtsbezogene Faktoren zu den Hauptgründen für die im Land herrschende Ungleichheit. Nicht ohne Grund steht das Thema Gleichberechtigung der Geschlechter also hoch oben auf der politischen Agenda. Eine Person, die diese Themen in Gustavo Petros Wahlkampf eingebracht hat, ist seine Vizepräsidentschaftskandidatin Francia Márquez (siehe LN 574). Als afrokolumbianische Umweltaktivistin, Feministin und Rechtsanwältin setzt sie sich seit Jahren für den Schutz von Minderheiten ein. Mit ihr an seiner Seite hat Gustavo Petro ein inklusives und partizpatives Wahlprogramm entwickelt.

Dazu gehört unter anderem die Gründung eines Ministeriums für Gleichberechtigung. Laut Petros Wahlprogramm soll es „alle politischen Maßnahmen zur umfassenden Stärkung der Rolle von Frauen, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, der Generationen sowie der ethnischen und regionalen Unterschiede in Kolumbien bündeln.“ So sollen öffentliche Politiken und Ressourcen entwickelt und umgesetzt werden, um die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen in all ihren Ausdrucksformen zu beseitigen. Ebenso sollen gleiche Rechte für alle ethnischen Gruppen sowie unterschiedliche Generationen gewährleistet werden. Der intersektionale Ansatz macht sich auch die Beseitigung jeglicher Gewalt gegen Frauen, LGBTIQ*-Personen, Kinder, Jugendliche und ältere Menschen zum Ziel und sieht Gleichstellungsmaßnahmen in allen staatlichen Bereichen vor. „In diesem Rahmen werden wir gleiche Bedingungen für alle Bevölkerungsgruppen gewährleisten, die von Rechtsverletzungen betroffen sind: Opfer des bewaffneten Konflikts, Menschen mit Behinderungen, Straßenbewohner und andere“, so heißt es.

Tradition gegen den Wunsch nach Wandel

Das Programm des Pacto Histórico ist in Kolumbien etwas gänzlich neues und lässt viele Gemeinsamkeiten mit dem Plan der aktuellen chilenischen Regierung erkennen (siehe LN 573). Tatsächlich zeigen beide Beispiele, dass Ansätze, die vor allem auf gesellschaftliche Gleichberechtigung hinarbeiten, in vielen Ländern des lateinamerikanischen Subkontinents gerade großen Aufwind bekommen. In Kolumbien hoffen daher viele Feministinnen, Aktivist*innen und LGBTIQ*-Gruppierungen, dass ihre Anliegen bei einer möglichen zukünftigen Regierung von Gustavo Petro auf offene Ohren stoßen werden. Bei einer öffentlichen feministischen Debatte mit 30 Organisationen und Vertreter*innen der LGBTIQ*-Community, an der im Vorfeld der Stichwahl nur Gustavo Petro teilnahm (siehe Bild auf S. 23), war die Ansage gegen den Populisten Hernández klar: „Herr Hernández, Ihre Untätigkeit wird Ihnen bei den Wahlen zum Verhängnis werden“, sagte die Moderatorin der Debatte.

Nicht ohne Grund wird Petros Gegenkandidat Hernández von Aktivist*innen und vielen Medien als der kolumbianische Donald Trump bezeichnet: In der Vergangenheit fiel der Geschäftsmann nicht nur im Umgang mit Frauen durch seinen populistischen Diskurs auf. So hatte er in der Vergangenheit seine Bewunderung für Adolf Hitler ausgedrückt, nur um sich Jahre später zu korrigieren – er habe eigentlich Einstein gemeint. Im Wahlkampf hatte er nicht auf die Frage eines Journalisten zum Departamento Vichada antworten können, da er nicht wusste, wo das Verwaltungsgebiet liegt. Hernández‘ Wahlprogramm legt trotz Korruptionsvorwürfen gegen ihn selbst den Schwerpunkt auf den Kampf gegen die Korruption und eine transparente Handhabung des Staatshaushalts. Zu geschlechts- und frauenspezifischen Themen beinhaltet es gerade einmal eine vage Seite voller loser Versprechen, die Gewalt gegen Frauen anzugehen und geschlechtsspezifische Ungleichheiten zu beseitigen. Doch konkrete Pläne liefert Hernández nicht. Stattdessen ist etwa von einer „Ausarbeitung neuer und dem Ausbau bestehender Programme für eine umfassende Ausbildung der Frauen in ländlichen Regionen in Bereichen wie der Prävention häuslicher Gewalt, Stärkung des Unternehmertums sowie der guten land- und viehwirtschaftlichen Praktiken“ die Rede. Hernández: „Es gefällt den Leuten nicht, wenn Frauen in der Regierung sitzen.“ Ohnehin steht die Stärkung der politischen Teilhabe von Frauen im Gegensatz zu zahlreichen Aussagen von Hernández. Im Jahr 2019 war er in einem Interview mit El Tiempo der Meinung, venezolanische Frauen seien eine „Fabrik für arme Kinder“. In einem aktuellen Interview mit dem Radiosender Bésame wurde der Geschäftsmann gefragt, ob er an die Führungsfähigkeiten von Frauen glaube, woraufhin er prompt mit einem klaren „Nein“ antwortete: „Es ist gut, dass die Frau Kommentare macht und sich unterstützend zeigt – von zu Hause aus. Es gefällt den Leuten nicht, wenn Frauen in der Regierung sitzen.“ Zwar ist Hernández‘ Kandidatin für die Vizepräsidentschaft, Marelen Castillo, auch Afrokolumbianerin, allerdings katholischen Glaubens. Falls sie gewählt wird, plant sie eine Überprüfung des Urteils zur Legalisierung von Abtreibungen. Das kolumbianische Verfassungsgericht hatte das Urteil im Februar dieses Jahres gefällt, eine Abtreibung ist seitdem ohne Angabe von Gründen bis zur 24. Schwangerschaftswoche legal. Trotz solcher umstrittenen Äußerungen haben fast sechs Millionen Kolumbianer*innen für Rodolfo Hernández gestimmt. Mit seiner Anti-Establishment-Haltung scheint der Unternehmer einen Nerv getroffen zu haben. Für weite Teile der kolumbianischen Gesellschaft, denen konservative Werte wie Traditionalismus und Katholizismus wichtig sind, ist der progressive Linkskandidat Petro keine Option. Und der Uribismo, zuletzt verkörpert von der Regierung unter Iván Duque, hat sie enttäuscht.

Das Wahlverhalten in den verschiedenen Regionen des Landes zeigt sich allerdings sehr unterschiedlich. In Regionen, in denen Petro deutlich punkten konnte, gab es in der ersten Wahlrunde eine deutlich geringere Wahlbeteiligung als im Rest des Landes. In der Karibik lag die Wahlbeteiligung sogar unter den Werten von vor vier Jahren. Da dieses Gebiet in Richtung Petro schwankt, wird es zur Schlüsselstrategie seiner Kampagne, die Nichtwähler*innen solcher Regionen zu mobilisieren. Kolumbien ist eines der Länder mit der niedrigsten Wahlbeteiligung in Lateinamerika. In der ersten Wahlrunde am 29. Mai lag sie bei etwa 54 Prozent. Für das Ergebnis am 19. Juni wird auch entscheidend, wie viele der 46 Prozent Nichtwähler*innen noch überzeugt werden können.

Petro steht nun vor der dringenden Aufgabe, Wähler*innen der politischen Mitte, vor allem Frauen, Feminist*innen und Mitglieder gesellschaftlicher Minderheiten, für sich zu gewinnen und Nichtwähler*innen an die Wahlurnen zu bringen. Insgesamt müsste er auf etwa 11 Millionen Stimmen kommen, um zu gewinnen. Nachdem der Uribist Federico Gutiérrez dem Zweitplatzierten Rodolfo Hernández öffentlich seine Unterstützung zugesagt hat, kann man davon ausgehen, dass ein Großteil seiner Wählerbasis für den Geschäftsmann aus Bucaramanga stimmen wird. Das wird aber wiederum den Verlust der Stimmen zur Folge haben, die Hernández aus Protest gegen den Uribismo bei der ersten Runde wählten. Der Kandidat Sergio Fajardo aus der Mitte hat seinen Wähler*innen die freie Wahl zwischen beiden Kandidaten offen gelassen, was wieder einmal die Spaltung der politischen Mitte beweist. Mit diesen Stimmen würde Rodolfo Hernández auf mehr als 11 Millionen Stimmen kommen und wäre somit der nächste Präsident des Landes. Für Petro wird es also knapp.

Es hängt vom Erfolg der jeweiligen Wahlkampagnen der kommenden Wochen ab, ob die Kolumbianer*innen einen Populisten zum Präsidenten wählen oder mit Petro den Kurs des tiefgreifenden Wandels einschlagen, der vor allem für die vielen Opfer des bewaffneten Konflikts, Frauen und gesellschaftliche Minderheiten so nötig wäre. Die sozialen Bewegungen des Landes werden dafür auch weiterhin kämpfen, das steht nach der feministischen Diskussionsveranstaltung mit Petro fest: „Unsere Rechte, liebe Kandidatinnen und Kandidaten, unsere Rechte warten nicht, und wir werden eines immer wieder sagen: Die Regierungen kommen und gehen, aber die sozialen Bewegungen bleiben“, hieß es dort.

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