Aktuell | Editorial | Kolumbien | Nummer 577/578 - Juli/August 2022

// BRUCH NACH 500 JAHREN

Die Redaktion

Kolumbien erhält am 7. August die erste linke Regierung seiner Geschichte: Dann treten der Ex-Guerillero Gustavo Petro mit seiner afrokolumbianischen Vizepräsidentin Francia Márquez an die Spitze eines Staates und eines Landes, das bisher ungebrochen von der Rechten und der gewalttätigen Rechten kontrolliert wurde. „Der Sieg von Petro und Márquez ist auch das Ergebnis des Kampfes und der Mobilisierung durch die sozialen Bewegungen, insbesondere der afrokolumbianischen und indigenen Bewegungen, die sich seit Beginn des Kolonialismus vor über 500 Jahren zur Wehr gesetzt haben – gegen die rassistische, koloniale und patriarchale Weltordnung.“ Das sagt die afrokolumbianische Wissenschaftlerin Edna Martínez, eine Mitstreiterin von Francia Márquez, im LN-Interview.

Vertreter*innen der sozialen Bewegungen zogen vor der Stichwahl am 19. Juni von Haus zu Haus, um die Menschen von der historischen Chance zu überzeugen. Ihr Argument: Petro ist kein Messias, aber er kann die Weichen für eine sozialere, gerechtere, menschlichere Gesellschaft stellen. Und der Wunsch, einen neuen politischen Kurs einzuschlagen, zeigte sich nicht nur an der höchsten Wahlbeteiligung seit 1998 (57,5 Prozent), sondern auch am Verhalten vieler traditioneller Nichtwähler*innen, die vor Jahrzehnten ihren Glauben an Politik und Institutionen verloren hatten und diesmal, sogar oft zum ersten Mal, wählen gegangen sind.

Seit seiner Wahl ist Petro auf der Suche nach Kompromissen: mit der politischen und ökonomischen Elite des Landes, mit Unternehmer*innen, Großgrundbesitzer*innen und all denjenigen, die über genügend Macht verfügen, um ihm alle möglichen Steine in den Weg legen zu können. Petros Aufgabe ist nicht einfach. Er hat sich bereits mit mehreren führenden Politiker*innen getroffen, unter anderem auch dem Ex-Präsidenten Álvaro Uribe – fraglos einem Kriminellen, aber auch der wichtigste Oppositionsführer –, um im Rahmen seines vorgeschlagenen Acuerdo Nacional gemeinsame Lösungen für die Probleme des Landes zu finden.

Moderat geht Petro auch bei der Besetzung seines Kabinetts vor. Die Fachkompetenz der Mitglieder ist sein Hauptkriterium. Sein Versprechen: ein paritätisches Kabinett. Und er hält Wort. Von den sieben bisher designierten Minister*innen sind vier Frauen.

Der Kurs von Petro steht schon vor der Amtseinführung: Im Land sollen Räume geschaffen werden, um den versprochenen Wandel in Taten umzusetzen. Dem erwartbaren Widerstand der Rechten gegen notwendige Reformen wie die Agrarreform, einer Reform der Streitkräfte und einer Neuausrichtung der Umwelt- und Drogenpolitik soll schon vorab der Wind aus den Segeln genommen werden. Es sind genau diese Themen, die im Bericht der Wahrheitskommission vordringlich erwähnt wurden, der am 28. Juni in Bogotá und am 6. Juli in Berlin der Öffentlichkeit präsentiert wurde.

Derweil steht eine Überarbeitung der deutsch-kolumbianischen Beziehungen an. Im Deutschen Bundestag wurde zwar Anfang Juli erneut beschlossen, den Friedensprozess in Kolumbien stärker zu unterstützen, doch konkrete Verantwortlichkeiten blieben ausgespart. Das gilt auch für einen weiteren Konfliktpunkt: Die deutsche Bundesregierung möchte weiterhin mehr kolumbianische Kohle importieren, um den Verzicht auf russische Kohle zu kompensieren. Die Regierung von Petro hingegen möchte einen neuen Kurs in der Umweltpolitik einschlagen und sukzessive von einer „extraktivistischen“ auf eine produktive Umweltpolitik umsteigen, bei der keine natürlichen Ressourcen ausgebeutet werden. Und kurzfristig sollen die Rohstoffe nicht zu Schleuderpreisen verkauft werden, sondern zu Preisen, die Raum für soziale Umverteilung schaffen. Fraglich, ob diese Pläne beim rohstoffarmen Deutschland auf Gegenliebe stoßen. Nicht nur in Kolumbien, auch in Deutschland sind die sozialen Bewegungen gefordert, damit es mit einer sozial-ökologischen Erneuerung endlich vorangeht.


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