Menschen statt Kühe

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Mehr Kühe als Menschen Landbesitz ist in Kolumbien stark konzentriert (Foto: Aris Gionis via Flickr (CC BY-NC 2))

Eine der erklärten Prioritäten der Regierung unter Präsident Petro ist es, eine Agrarreform durchzusetzen, die im ersten Punkt des Friedens­abkommens zwischen der FARC-Guerrilla und der Santos-Regierung 2016 beschlossen wurde. Laut dem Abkommen sollen drei Millionen Hektar von Großgrundbesitzer*innen umverteilt und Landtitel über sieben Millionen Hektar Land an die landlose kleinbäuerliche Bevölkerung vergeben werden. „Die Agrarreform ist der Weg, um die Gewalt auf dem Land zu vermeiden”, schrieb Petro im Juni auf der Plattform X. Dabei geht es nicht nur oder vorrangig um die Landrückgabe an intern Vertriebene. Dafür ist das Landrückgabeprogramm des 2011 verabschiedeten Opfergesetzes zuständig. „Landrückgabe ist keine Landreform. Sie ist einfach nur Gerechtigkeit“, so Petro. „Bei der Landreform geht es darum, dass Landlose oder Bauern mit zu wenig Land Landtitel bekommen. Und das geschieht durch eine Änderung der Grundbesitzverhältnisse.”

Um die ambitionierten Pläne der Regierung besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die Geschichte der ungleichen Landverteilung in Kolumbien, die ein Erbe der spanischen Kolonialzeit ist. „Der König oder sein Delegierter vergaben die Ländereien an die Kolonisatoren. Diese wurden von Generation zu Generation weitergegeben und bleiben so in den gleichen Händen”, erklärte der Lateinamerikaforscher Juan Guillermo López von der Freien Universität Berlin den LN. „Wir haben es in Kolumbien noch nicht geschafft, ein Kataster (Register über die Landbesitzverhältnisse, Anm. d. Red.) einzurichten. Oft haben Kleinbauern informell Land gekauft, sie haben keine Eigentumstitel. Es ist also sehr schwierig nachzuweisen, welches Land wem gehört, wenn es um die Agrarreform geht. Das ist das große Landproblem”, so López. Diese unklaren Besitzverhältnisse führten im Zusammenspiel mit einer gescheiterten Agrarpolitik im 20. Jahrhundert, dem bewaffneten Konflikt und illegalem Landkauf infolge paramilitärischer Gewalt zu einer stetig größer werdenden Landkonzentration. Die Folge: Millionen von landlosen Bäuer*innen. Die Bemühungen um die Umverteilung von Land begannen vor fast einem Jahrhundert mit den liberalen Reformen von Präsident Alfonso López Pumarejo im Jahr 1936 und jenen von Präsident Alberto Lleras Camargo im Jahr 1961. Wären sie umgesetzt worden, hätten sie einen bedeutsamen Einfluss auf die Landverteilung gehabt. Ihr Erfolg war jedoch sehr begrenzt – teils aus konzeptionellen Gründen und teils, weil sie auf den erbitterten Widerstand jener gesellschaftlichen Gruppen stießen, die bis heute von diesen Ungleichheiten profitieren. Eine weitere Reform sah 1994 mit einer staatlichen Deregulierung und verschiedenen Freihandelsabkommen die neoliberale Wirtschaftsöffnung im Land vor. Diese ließ den Agrarsektor schutzlos zurück und Kolumbien entfernte sich mehr und mehr von einer Produktions- und Subsistenzwirtschaft. Es folgten ein rasanter Anstieg im Bergbau- und Wasserstoffsektor, ebenso wie beim Import von Agrarprodukten, die die kleinbäuerliche Bevölkerung größtenteils selbst hätte produzieren können. Diese konnten im freien Markt nicht mithalten, auch angesichts der fehlenden Infrastruktur, der Gewalt im Land und dem fehlenden staatlichen Schutz. Auf jeden Versuch einer Agrarreform folgte eine (gewaltvolle) Gegenreform, die zu mehr Landkonzentration führte.


Landbesitz bedeutet wirtschaftliche und politische Macht

In Kolumbien bedeutet Landbesitz vor allem eines: wirtschaftliche und politische Macht. Wer nach feudaler Art landlose Arbeiter*innen die eigenen Ländereien bewirtschaften lässt, hat die Kontrolle über sie. Großgrundbesitzer*innen beeinflussen daher unter anderem Wahlergebnisse und die regionale Politik. Eben deshalb steht die Landfrage im Mittelpunkt des jahrzehntelangen Konflikts in Kolumbien.

Dabei wird der größte Teil der potenziellen Anbauflächen gar nicht genutzt – und wenn, dann hauptsächlich für den Export: Kolumbien verfügt über 11,9 Millionen Hektar Agrarfläche. Davon werden nur 3,9 Millionen Hektar bewirtschaftet. Ein Großteil liegt dagegen brach, ist nicht wirtschaftlich ertragreich und wird für die extensive Rinderzucht genutzt. Im Durchschnitt steht auf einem Hektar Land in Kolumbien etwas mehr als eine halbe Kuh. Denn Reichtum entsteht hier nicht durch Landwirtschaft, sondern durch Spekulation: Landbesitz ist eine Kapitalanlage – das reale Geschäft der Großgrundbesitzer*innen.

Eben diesen „unproduktiven Ländereien“ will die Petro-Regierung entgegentreten – und macht sich damit mächtige Feinde. Eine Agrarreform widerspricht den Interessen der herrschenden Klasse in Kolumbien, traditionell Besitzerin des Landes und bis vor kurzem mit ihren Vertreter*innen stets an der Spitze des Staates. Während dem Präsidentschaftswahlkampf verbreitete die heutige Opposition die Lüge, Gustavo Petro würde Land, Eigentum, Häuser und Unternehmen der gesamten Bevölkerung enteignen.

Dabei steht der gesetzliche Rahmen schon seit fast einem Jahrhundert. Rechtlich gilt: Wer in Kolumbien Land besitzt, muss dieses produktiv nutzen, es muss eine „öffentliche Funktion“ erfüllen und darf kein Spekulationsobjekt sein. Ist das nicht der Fall, hat der Staat das Recht, diese Ländereien zu enteignen. Aus eben diesem Grund betreiben Großgrundbesitzer*innen Viehzucht. „Wenn ein Großgrundbesitzer eine Kuh hält, gilt er bereits als Viehzüchter. Das Problem ist also, dass sie eine einzige Kuh auf fünf Hektar stellen können und damit zeigen, dass sie das Land produktiv nutzen”, erklärt der Forscher Juan Guillermo López. Die Funktion der Rinder ist also nicht vorrangig deren Vermarktung. Sie erfüllen lediglich die Rolle der Platzhalter und Wächter über den Landbesitz.

Die Bemühungen der Regierung um eine umfassende Agrarreform begannen mit einer politischen Vereinbarung mit dem Viehzüchterverband (Fedegán) im Oktober 2022. Die Vereinbarung über den Staatsankauf von drei Millionen Hektar zu Marktpreisen ist ein wichtiger Meilenstein, denn seit jeher stellt sich der mächtige Verband gegen jede Landreform. Jose Felix Lafaurie, Präsident des Verbands, und Petro sind seit Jahren erbitterte Gegner. Fedegán steht zudem historisch in Verbindung mit Anti-Restitutionsarmeen und rechten paramilitärischen Gruppen.

Mit dem millionenschweren Verkauf würde Fedegán zum ersten Mal eine Agrarreform unterstützen. Zwar entbindet die Vereinbarung den Verband von seiner historischen, sozialen und rechtlichen Verantwortung, das Land zurückzugeben. Sie könnte jedoch relativ schnell greifbare Ergebnisse garantieren und das Risiko gewaltsamer Opposition reduzieren. Ihre Umsetzung gestaltet sich allerdings schleppend: Seit der Unterzeichnung der Vereinbarung bis Mai 2024 hat Fedegán erst 821.114 Hektar Land zum Kauf angeboten, von denen nur 208.512 brauchbar sind – das entspricht etwa sieben Prozent des Gesamtziels. In vielen Fällen sind die angebotenen Grundstücke unfruchtbar, schwer zugänglich und abgelegen, oder die Legitimität des Erwerbs ist nicht gewährleistet. Und auch nach dem Kauf gibt es weiterhin Verzögerungen bei der Übergabe der Ländereien.

Für die Reform greift Petro auch auf Mechanismen zurück, die bereits seit 30 Jahren festgelegt, jedoch nie umgesetzt wurden. Dazu gehört das Nationale System für Agrarreformen. Darin sind Ziele verankert, die weit über die Landverteilung hinausgehen. Es handelt sich um ein umfassendes Projekt zur ländlichen Produktivität, das auf einer gerechten Struktur des Besitzes von Land und Produktionsmitteln basiert: Durch Ausbau der Infrastruktur, Industrialisierung und Wertschöpfung vor Ort, Anbindung an die Märkte, freiwillige Substitution von Koka-Anbaukulturen durch Nahrungsmittelproduktion, Investitionen in Bildung und Gesundheit sowie Zugang zu Krediten sollen die Bedingungen geschaffen werden, damit Bäuer*innen Subsistenzwirtschaft betreiben und Überschüsse verkaufen können. Dadurch soll ein produktiver und technologischer Schwung in den kolumbianischen Agrarsektor gebracht werden, damit das Land seine Ernährungssouveränität wiedererlangt.

Eine Grundlage dafür existiert bereits: Die Bauernschutzzonen (ZRC) sind selbstverwaltete Gebiete, in denen der Staat die kleinbäuerliche Bevölkerung als Rechtssubjekte anerkennt und die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse und so auch ihrer traditionellen Lebensweise garantiert. In diesen Zonen sind Obergrenzen für Landbesitz festgelegt, die je nach Bodenbeschaffenheit und Marktanbindung variieren. Der rechtliche Rahmen für die ZRC wurde im Gesetz 160 von 1994 festgelegt. „Die Zonen wurden während der Uribe-Regierungen als Guerrilla-Hochburgen stigmatisiert und blockiert. Auch während der Duque-Regierung hatten sie keine echte Unterstützung. Die haben sie erst mit Petro erfahren”, so Juan Guillermo López. Gegenwärtig gibt es 14 solcher Schutzzonen, sieben davon wurden erst in Petros Regierungszeit anerkannt

Kampf gegen die Ungleichheit Auch Kleinbäuer*innen sollen eine Chance gegen Großgrundbesitzer*innen haben (Foto: MinAgricultura y Desarrollo Rural retrieved from Presidencia)

Bedeutende Schritte nach vorn, aber Gegenwind im Kongress

Trotz gewaltigen Widerstands sind bereits bedeutende Fortschritte in der Agrarreform zu beachten. Im Juni 2024 wurde die Anerkennung von Kleinbäuer*innen als Rechtssubjekte im Kongress beschlossen. Diese Gesetzesänderung hebt ihre Rolle als zu schützende politische Subjekte hervor, die eine aktive Rolle in der Agrarreform spielen. „Die bäuerlichen Gemeinschaften haben eine besondere Beziehung zum Land, die auf der Nahrungsmittelproduktion beruht”, so das Gesetz. Auch sollen sie dadurch Rechte auf vorherige Befragungen bekommen, die zuvor nur Angehörigen indigener Gemeinschaften galten.

Am selben Tag stimmte die Senatskammer der Einrichtung einer Agrar- und Landgerichtsbarkeit (JAR) zu. Die Entscheidung gilt nach sechs Jahren als bedeutendster Fortschritt bei der Umsetzung des Friedensabkommens. Die JAR soll spezialisierte Richter*innen in konfliktträchtigen Gebieten installieren und den Zugang der Landbevölkerung zur Justiz verbessern. Solle der Frieden auf dem Land durch den Rechtsweg erreicht werden. „Somit können alle Streitigkeiten, die wir über Landrechte, Brachland und öffentliches Eigentum haben, bearbeitet werden“, so die inzwischen ehemalige Agrarministerin Jhenifer Mojica. Allerdings muss dafür noch ein weiteres Gesetz durch den Kongress gebracht werden, welches die Zuständigkeiten der Agrargerichte definiert und schnellere Verfahren zur Streitbeilegung festlegt. Das Projekt trifft momentan auf starken politischen Widerstand. Die taktischen Verzögerungen der Opposition könnten das Projekt letztlich scheitern lassen, was das Vertrauen der ländlichen Bevölkerung in die Institutionen erschüttern würde.

Insgesamt wurden bis Mai 2024 laut dem Agrarministerium 1.065.109 Hektar Land für die Agrarreform gewonnen. Diese Fläche setzt sich aus gekauftem Land, formalisierten Landtiteln sowie Land zusammen, das der Staat von Drogenhändlern beschlagnahmt hat. Kritiker*innen der Regierung heben die langsame Umsetzung der Umverteilung von Land und der Vergabe von Landtiteln hervor. Fakt ist jedoch auch, dass die landlose kleinbäuerliche Bevölkerung, historisch Opfer des Konflikts, zum ersten Mal von einer Regierung anerkannt wird und sich ein neues Narrativ in Bezug auf die extrem ungerechte Realität der Akkumulation von Land durchsetzt.

Petro-Regierung legt Grundsteine

Dafür gibt es zahlreiche Beispiele. Im Juni 2024 wurden Landtitel von 800 Hektar an 35 Familien in El Aro in der Region Ituango vergeben. Am 27. Oktober 1997 hatte das Paramilitär in der Gemeinde ein Massaker verübt, das die Vertreibung von mehr als tausend Kleinbäuer*innen zur Folge hatte. Der Interamerikanische Menschenrechtshof verurteilte den kolumbianischen Staat 2006 und verpflichtete ihn dazu, die Opfer von El Aro zu entschädigen. Das Urteil war bis jetzt von allen Regierungen ignoriert worden. Weitere über 2.000 Hektar Land, die zuvor von der Mafia beschlagnahmt wurden, wurden im Juni an 181 Familien in den Regionen Bolívar, Sucre und Cesar übergeben. Die Gebiete, die stark unter Gewalt und Landraub gelitten haben, sollen nun den Landwirt*innen und Friedensunterzeichner*innen zugutekommen. Im Mai 2024 hat die Regierung in sieben Departamentos über 3.000 Hektar kollektive Landtitel an afro-kolumbianische Gemeinschaften formalisiert. 1.046 Familien profitierten von dieser Maßnahme. In Santa Bárbara de Punto im Departamen­­to Magdalena vergab die Regierung Kleinbäuer*innen 658 Hektar Land, das sie zuvor von einem Viehzüchter gekauft hatte. Zweifellos steht die Landfrage im Mittelpunkt des Konflikts in Kolumbien. Deshalb ist die Agrarreform eine Voraussetzung für einen zukünftigen Frieden. Es wird immer deutlicher, dass die Petro-Regierung in ihrer Amtszeit lediglich die Grundsteine für die Agrarreform legen kann. Ihr langfristiger Erfolg oder Misserfolg hängt von der Kontinuität eines progressiven politischen Projekts ab. Selbst wenn alle im Friedensabkommen festgelegten Ziele der Agrarreform erreicht werden würden, hätte die kleinbäuerliche Bevölkerung noch nicht genug Land pro Kopf, um davon würdevoll leben zu können. Eines steht zumindest fest: Kolumbiens aktuelle Regierung macht nach Jahrzehnten der negativen Entwicklungen einen ersten Schritt, damit in Zukunft Menschen statt Kühe über die Felder verfügen.

SOZIALER PROTEST ZWISCHEN HOFFNUNG UND POLARISIERUNG

Gefährlicher Einsatz Politische Opposition fordert in Kolumbien viele Menschenleben (Foto: Comunicaciones CRIC)

Der Begriff Minga bezeichnet einen kollektiven Arbeitseinsatz und wird in Kolumbien inzwischen auch für politische Versammlungen verwendet. Die derzeit wichtigste heißt „Minga für die Verteidigung des Lebens, des Territoriums, der Gerechtigkeit und des Friedens“. Nach und nach haben sich der Minga-Blockade auf der Panamericana ebenfalls Bauern und Bäuerinnen, Afro-Kolumbianer*innen und indigene Gruppen aus anderen Regionen angeschlossen. Trotz abwechselnd schwerer Regenfälle und brennender Sonne, nahm die Zahl der Protestierenden seit Mitte März eher zu als ab. Die Hauptforderung: Präsident Iván Duque soll in den Cauca kommen, um Rechenschaft abzulegen – über die mehr als tausend vom kolumbianischen Staat nicht erfüllten Abkommen mit den Gemeinden und ihren Organisationen, seine als Unterminierung wahr­­genommene Haltung gegenüber dem Friedensprozess mit der demobilisierten FARC-Guerilla sowie den immer weiter zunehmenden Morden an lokalen Führungspersönlichkeiten und Menschenrechtsverteidiger*innen. 556 solcher gezielten Tötungen verzeichnet das Forschungsinstitut für Entwicklung und Frieden (INDEPAZ) zwischen Januar 2016 und Januar 2019 in Kolumbien, mit einem stetigen Anstieg. Die meisten Morde wurden mit 252 an der Zahl im Jahr 2018 verübt. Die Region Cauca ist in dieser Statistik mit einem Anteil von mehr als einem Fünftel trauriger Spitzenreiter. Aber die Fronten sind verhärtet. Der Präsident weigerte sich wochenlang direkt mit den Protestierenden zu verhandeln und entsendete nur Stellvertreter*innen. „Mit Blockaden verhandeln wir nicht“, wiederholte er immer wieder in einer offensichtlichen Paraphrasierung der gleichen Aussage in Bezug auf Terrorist*innen. Erst am 5. April kam es zu einem Durchbruch bei den Verhandlungen. Die Regierung stellte ein über 230 Millionen Euro schweres Investitionspaket im Rahmen des Nationalen Entwicklungsplanes sowie die direkte Präsenz des Präsidenten in der Folgewoche in Aussicht. Im Gegenzug erklärten sich die an der Minga beteiligten Organisationen bereit, zwar nicht die Minga zu beenden, aber zumindest die Blockade der Panamericana bis auf weiteres aufzuheben.

„Gegen die Minga wird mit militä-rischen Mitteln vorgegangen.“

Bisher setzte Präsident Duque auf die Strategie der Kriminalisierung sozialer Proteste, die sein Verteidigungsminister Guillermo Botero im letzten Jahr mit der Behauptung, alle indigenen Proteste seien vom Drogenhandel finanziert, auf die Spitze trieb. Der Vorwurf, der Protest sei von bewaffneten Gruppen unterwandert oder politisch von der demobilisierten Guerilla FARC kontrolliert, wird seitdem laufend wiederholt. Mitglieder der Regierungspartei Centro Democrático befüttern unter anderem den Twitterkanal #MingaDeLasFarc laufend mit Propaganda. Dass die indigenen Gemeinden seit jeher die Präsenz aller bewaffneten Akteur*innen – egal ob Armee, Guerilla oder Paramilitärs – in ihren Territorien ablehnen und die autonome indigene Justiz regelmäßig Waffen und anderes Kriegsmaterial beschlagnahmt und ausnahmslos vernichtet, wird ignoriert.  Das befördert einerseits die von einigen Vertreter*innen des Regierungslagers betriebene politische Polarisierung der kolumbianischen Gesellschaft, mit fortwährenden Anschuldigungen und Beleidigungen gegen jede Opposition und rechtfertigt andererseits nach außen ein hartes Vorgehen gegen die Blockade. „Gegen die Minga wird mit militärischen Mitteln vorgegangen“, stellt Omar Quirá vom Menschenrechtsprogramm des Indigenen Regionalrats des Cauca (CRIC) fest, welcher als Zusammenschluss von 90 Prozent der indigenen Gemeinden des Cauca maßgebliche Kraft hinter der Minga ist. „Es ist besorgniserregend, dass unter den zur Kontrolle der Minga entsandten Kräften nicht nur Polizisten, sondern auch Soldaten sind. Außerdem gab es mehrere Versuche, die Minga zu infiltrieren. Wir haben ungefähr zehn Militärangehörige identifiziert und an die Defensoría del Pueblo [nationale Ombudsbehörde, Anm.d.Verf.] sowie die UNO übergeben,“ ergänzt Quirá.

Foto: Miguel Boller

Inzwischen sind mehrere Videos veröffentlicht worden, auf denen zu sehen ist, wie Soldaten mit auf Dauerfeuer geschalteten Waffen in Richtung der Protestierenden schießen. Mehrfach wurden auch die Zeltlager der Mingueroas angegriffen, obwohl sie abseits der Panamericana liegen. Militärflugzeuge, Drohnen und Hubschrauber überflogen trotz anders lautender Abmachungen immer wieder die Protestlager und warfen Propagandamaterial oder Leuchtkörper ab. Gleichzeitig versuchten anscheinend auch illegale bewaffnete Gruppen, die Situation zu nutzen, um ihre Positionen zu stärken oder gegen die autonomen Gemeinden vorzugehen, die für sie ein Hindernis bei der Durchsetzung ihres Machtanspruchs darstellen.

Die bisherige Bilanz: Über 100 Verletzte und 11 Tote auf Seiten der Mingueroas, darunter mehr als ein Dutzend durch Schusswaffen Verwundete. Außerdem wurde ein Polizist durch nicht identifizierte Heckenschützen erschossen. Die meisten Toten gab es bei einer noch ungeklärten Explosion in einer Hütte, in der sich mehrere Indigene ausruhten. Laut einem Überlebenden hatten Unbekannte einen Sprengsatz in die Hütte geworfen. Von der Regierungsseite wurden sofort Anschuldigungen laut, die Opfer hätten selbst mit Sprengstoff hantiert.Vom 3. auf den 4. April kam es in Popayán, der Hauptstadt des Cauca, zu massiven Übergriffen auf Gebäude und Installationen des Regionalrats des CRIC als wichtigste Kraft hinter der Minga. Außerdem wurden die Bauernorganisation CIMA und die nationale Ombudsbehörde angegriffen. Mehrere Menschen wurden teils schwer verletzt (siehe Kurznachrichten S.54).
Oberflächlich betrachtet ist der wichtigste Faktor hinter diesen Auseinandersetzungen die in Kolumbien allgegenwärtige Frage nach Landbesitz und einer Agrarreform. Die Bedeutung der Landfrage spiegelt sich auch darin dass die „Integrale Reform des ländlichen Raums“ der erste Punkt der Friedensabkommen von Havanna ist. Laut Daten von Oxfam ist die Ungleichheit in der Landverteilung in Kolumbien weiterhin extrem und hat seit den 1990er Jahren sprunghaft zugenommen: Nur ein Prozent der landwirtschaftlichen Produktionseinheiten kontrollieren über 70 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche.

Hier prallen Welten aufeinander

Im Cauca werden diese Gegensätze besonders deutlich: Auf der einen Seite stehen traditionelle Großgrundbesitzer*innen wie die Zuckerrohrbaron*innen im Norden des Departements, deren Felder sich über tausende Hektar in den am einfachsten zu bewirtschaftenden Ebenen vom Norden des Cauca bis in das Nachbardepartement Valle del Cauca erstrecken. Auf der anderen Seite finden sich tausende Kleinproduzent*innen in den indigenen, afrokolumbianischen und Campesino-Gemeinden, deren Ländereien häufig an den schwer zu bearbeitenden Andenhängen liegen und in vielen Fällen nicht einmal die Größe erreichen, die nach offiziellen Daten für den Unterhalt einer Familie ausreicht. Hinzu kommen relativ neue Akteur*innen wie Cartón Colombia, eine Tochterfirma der europäischen Smurfit Kappa mit Sitz in Irland. 2015 besaß Smurfit Kappa, unter anderem auch Deutschlands größter Hersteller von Kartonverpackungen, in Kolumbien knapp 68.000 Hektar. Mit Slogans wie „Better Planet Packaging“ bastelt die Firma in Europa an ihrem Nachhaltigkeitsimage und schafft es sogar noch, für völlig sterile Fichten- und Eukalyptus-Monokuturen Aufforstungs- und Klimaboni einzustreichen. Hier prallen nicht nur Welten aufeinander, sondern auch Produktionsmodelle: Agrarindustrie und kleine, diversifizierte Produktionsflächen, die neben der Produktion für den Verkauf auch der Selbstversorgung dienen.

Dass es gerade im Cauca immer wieder sowohl zu Gewaltausbrüchen als auch zu längeren Auseinandersetzungen zwischen sozialen Bewegungen kommt, hat weitere Gründe. Zum einen haben die unterschiedlichen bewaffneten Gruppen ein hohes Interesse an der Kontrolle sowohl von Anbaugebieten von Koka und Marihuana als auch an den unterschiedlichen Routen in Richtung Pazifik, wo die Drogen zum Export verladen werden. Zum anderen ist wohl nirgendwo in Amerika, mit Ausnahme der zapatistischen Gemeinden in Mexiko, die indigene Autonomie so weit entwickelt wie im Cauca. Der CRIC ist von fünf Gemeinden bei ihrer Gründung 1971 auf inzwischen 126 Gemeinden mit etwa 270.000 Einwohner*innen in der gesamten Region angewachsen. Die indigene Justiz setzt ihre Eigenständigkeit mit viel Selbstbewusstsein durch. Sie beschlagnahmt und zerstört Waffen und Drogen, und große Infrastruktur- oder Bergbauprojekte müssen regelmäßig mit gut organisiertem Widerstand rechnen. Es gibt autonome Schulen, ein eigenes Gesundheitssysstem und die Gemeinden schrecken auch vor Besetzungen von Ländereien der Familien mit Großgrundbesitz nicht zurück. Der Aufbau eigener Strukturen wurde außerdem von Beginn an mit einer juristischen Strategie begleitet. Damit konnten bestehende Normen und sogar Regelungen, die noch aus der Kolonialzeit stammen, subversiv zur Untermauerung von Forderungen und zur Absicherung von Erreichtem genutzt werden. Zusätzlich wurde efolgreich Lobbyarbeit für Gesetzesreformen betrieben, die auch nationale Auswirkungen haben.

Minga ist mehr als eine Blockade

Dadurch haben sich die indigenen Gemeinden des Cauca zu einem Machtfaktor entwickelt, der den bewaffneten Akteuren genauso ein Dorn im Auge ist wie der Regierung und den Großgrundbesitzer*innen. Diese greifen zur Verteidigung ihres Machtanspruchs immer wieder zu Gewalt und Kriminalisierung oder versuchen bei anderen benachteiligten Sektoren Neid auf die politischen und materiellen Errungenschaften der indigenen Bewegung zu schüren und sie gegeneinander auszuspielen. In letzter Zeit ist es dennoch mehrfach gelungen, vor allem die unterschiedlichen Gruppen aus dem ländlichen Raum zu koordinieren und eine gemeinsame Agenda auszuhandeln, so auch bei der aktuellen Minga. José Ildo Pepe, einer der von der Minga benannter Sprecher stellt fest: „Unsere Minga fordert die Umsetzung bestehender Abkommen und Rechte für die afrokolumbianischen Gemeinden, für die Campesinos und für uns Indígenas. Unsere Minga hat nationale Reichweite. Die Themen sind struktureller Art: Land, Schutz des Lebens und der Umwelt, Wasser, nicht nur im Cauca, sondern im ganzen Land. Die Regierung denkt, es geht nur um den von ihr vorgelegten Nationalen Entwicklungsplan. Aber es geht um mehr: Es geht um die Bewahrung des Lebens in seiner Ganzheit.”


(Foto: Comunicaciones CRIC)

 

Diese Sichtweise zeigt sich auch in den anderen Gesichtern der Minga, abseits der Konfrontationen mit der Staatsmacht, von Außenstehenden nur selten wahrgenommen. „Die Kreativität der Menschen, um unter solchen Bedingungen durchzuhalten, ist unglaublich“, erzählt Omar Quirá mit einem breiten Grinsen. „Es wurden zum Beispiel schon Fußballturniere und Unterricht in traditionellen andinen Tänzen mitten auf der Panamericana organisiert. Und ein paar Jugendliche drehen mit einer Kameraattrappe aus Pappe Runden durch die Protestlager, führen Interviews, verbreiten Neuigkeiten und bringen nebenbei die Leute zum Lachen.“ Auch die basisdemokratischen Elemente der indigenen Kultur sind ein wichtiger Bestandteil. „Nach jeder Verhandlungsrunde finden Versammlungen statt, um die Menschen zu informieren, zu hören, was sie denken, politische Themen zu diskutieren sowie Empfehlungen und Anweisungen an die Sprecher*innen und Verhandlungsführer*innen zu vereinbaren“, führt Quirá aus. „All das verwandelt sich in neue Protestformen, stärkt den Zusammenhalt und unsere autonome Kultur.“

 

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