„Strukturelle Veränderungen von der Basis vorangetrieben”

Du bist nun seit einigen Monaten im Exil in Spanien. Warum bist du ins Exil gegangen?

Gemeinsam mit meinem Sohn sind wir in einem Schutzprogramm für Menschenrechtsverteidiger*innen, um für eine gewisse Zeit unsere Heimat zu verlassen. Im März 2022 wurde mein Partner, José Miller Correa, ermordet. Er war eine wichtige politische Autorität in der indigenen Autonomie und hatte verschiedene politische Posten inne. Seine Ermordung hatte schlimme Folgen für uns als Familie, aber auch für unsere gesamte Gemeinschaft, aufgrund der Verantwortung, die er für die Gemeinschaft getragen hatte. Wir mussten unsere Heimat verlassen und wollten aus dem Exil für Gerechtigkeit und Aufklärung kämpfen.

Wenn man aus solchen Gründen die Heimat verlassen muss, ist das extrem schwierig. Ganz anders, als wenn man ins Ausland geht, um zu studieren, zu arbeiten oder einen Austausch zu machen. Trotzdem habe ich hier viel gelernt und konnte Kollektive kennenlernen, die Verbündete sind und mit denen wir gemeinsam auf die Situation im Cauca aufmerksam machen und uns für die Aufklärung des Mordes an Miller einsetzen. Es ist aber auch wichtig, im Blick zu haben, dass er nicht die einzige Person von uns ist, die ermordet worden ist, sondern einer von vielen. In keinem dieser Fälle hat es wirklich Aufklärung und Gerechtigkeit gegeben. Deswegen geht es darum, einen Schritt in Richtung Ende der Straflosigkeit zu machen und dafür zu sorgen, dass sich diese Gewalt nicht fortsetzt.

Darüber habe ich hier viel gelernt und hoffe, dieses Wissen bei der Rückkehr in meine Heimat mit anderen zu teilen. Zudem bin ich dankbar für die Ruhe, mit der mein Sohn und ich hier leben und diese schwierige Zeit gemeinsam durchstehen konnten.

Wie ist der aktuelle Stand bei der Aufklärung des Mordes an José Miller Correa?

Aktuell ermittelt die Staatsanwaltschaft in Popayán, Cauca. Unser Eindruck als Familie ist, dass es kaum Fortschritte gegeben hat. Wir erhalten kaum Informationen darüber, welche Schritte die Ermittlungsbehörden unternehmen.

Es gab zwei Festnahmen, aber die verdächtigten Personen sind erst einmal wieder frei, auch wenn wohl weiter gegen sie ermittelt wird. Zwei Jahre später ist der Mord immer noch unaufgeklärt. Dazu kommen einige Unregelmäßigkeiten, zum Beispiel wurde die zuständige Staatsanwältin zwischenzeitlich ausgetauscht. Darüber wurden wir als Familie auch nicht informiert.

Wir fordern, dass die Ermittlung an eine spezialisierte Staatsanwaltschaft auf nationaler Ebene übergeben wird, die dafür gegründet wurde, Morde an Aktivist*innen aufzuklären. Die Behörden im Cauca erwecken kaum Vertrauen und nur mit viel Druck aus der Bewegung und aus dem Ausland scheint sich überhaupt etwas zu bewegen.

Der Mord an Miller ist Teil einer sich seit Jahren intensivierenden Gewalt gegen die indigene Bewegung im Cauca. Wie würdest du den heutigen Moment, den aktuellen Zustand der Bewegung beschreiben?

Es ist ein sehr schwieriger Moment für den indigenen Autonomieprozess im Cauca. Die Mayores, die Älteren, erzählen, dass der Kampf der indigenen Bewegung nie einfach gewesen ist und immer viele Leben gekostet hat. Es gab immer wieder Phasen in der 500-jährigen Geschichte des Widerstands, in der die Repression und Gewalt besonders heftig waren und ich glaube, jetzt gerade erlebt die indigene Bewegung wieder eine solche Phase.

Im Prinzip haben sich die Verhältnisse nach dem Friedensvertrag mit den FARC 2016 nicht wesentlich verändert. Mit immenser Gewalt versuchen legale und illegale bewaffnete Gruppen bestimmte Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen, um die dortigen Ressourcen ausbeuten zu können. Diese Gewalt richtet sich aber eben auch gegen die indigene Bewegung, die – im Gegensatz zu den bewaffneten Gruppen – die Natur nicht als eine Ware, als Teil eines Marktes, betrachtet.

Für uns ist die Natur eine Mutter, ein großes Zuhause, letztlich der Existenzgrund unserer Gemeinschaften. Wir sollten sie schützen und gegen extraktivistische Politik verteidigen, gegen jede Gier – sei es von Einzelpersonen, von Firmen oder von staatlicher Politik.

Wegen unserer Haltung sind wir mit einer alltäglichen Gewalt diverser bewaffneter Gruppen konfrontiert, mit Zwangsrekrutierungen, Bedrohun­gen oder der Ermordung unserer traditionellen Autoritäten, Aktivist*innen, Mitgliedern der Guardia Indígena oder Menschen, die eine wichtige spirituelle Rolle innehaben. Die Zwangsrekrutierung von Jugendlichen ist besonders gefährlich, weil sie auf unsere Zukunft zielt. Sie sind es, die unseren Kampf und Widerstand in Zukunft weiterführen müssten.
Was mich sehr besorgt ist, dass kaum Alternativen greifbar sind, die etwas an diesen gewaltvollen Strukturen ändern könnten. Wir haben viel versucht, interne Dialoge und Debatten geführt, unsere Autonomie und unsere Selbstverwaltung verstärkt. Das hat letztlich zu noch mehr Gewalt gegen unsere Führungspersönlichkeiten geführt.

Du sprichst – aus der Perspektive der indigenen Gemeinschaft – von internen und externen Gründen für die Gewalt.

Ja, ich glaube, das sind im Prinzip externe Faktoren, die mittlerweile zu internen Problemen geworden sind. Zum Beispiel die Denkweise, dass die Reichtümer der Mutter Erde ausgebeutet werden sollten. Dass das Gute Leben sich lediglich durch wirtschaftliche Aspekte auszeichnet.

Diese Denkweise wurde von außen in die Gemeinden getragen und einige Leute verlieren damit unsere eigenen Prinzipien. Dabei spielt natürlich eine große Rolle, dass unsere Gemeinden kaum eigenes Land zur Selbstversorgung haben und es somit eigentlich keine Existenzgarantie gibt, wie unsere Älteren sagen. Die Familien wachsen, aber das verfügbare Land nicht. Dass noch nicht einmal Grundbedürfnisse befriedigt werden können, sorgt für Unruhe in der Gemeinschaft. Der Anbau von Koka oder Marihuana oder die Verwicklung in den Drogenhandel erscheint dann als ökonomische Alternative. Das ist aber keine Lösung, sondern schafft viele Probleme.

Neben der Gewalt der bewaffneten Gruppen sorgt so auch der Drogenkonsum, Alkoholismus, der Besitz von Waffen und interfamiliäre Gewalt zum Verlust unserer Werte. Das ist eine Folge von Extraktivismus, ob Goldbergbau im Cauca, der Bau von Staudämmen, die Monokulturforstwirtschaft mit Kiefern und Eukalyptus oder Zuckerrohrplantagen. Die Umweltverschmutzung, die Konzentration von Land in den Händen einiger Weniger und die ökonomische Abhängigkeit der anderen, all das dringt mit großer Gewalt in indigene Territorien ein.

Nun gibt es seit einem Jahr in Kolumbien eine progressive Regierung, die sich kritisch gegenüber dem Extraktivismus positioniert. Sie hat ihre Wurzeln in den sozialen Bewegungen, die entscheidenden Anteil am Wahlerfolg hatten. Auch die indigene Bewegung unterstützte sie. Wie ist aktuell das Verhältnis zur neuen Regierung?

Ein großer Teil der indigenen Bewegung unterstützt die Regierung von Gustavo Petro. Wir sind jetzt stärker eingebunden in den Institutionen, auf kommunaler Ebene, auf Landes- oder auf nationaler Ebene. Wir haben eigene Kandidat*innen im Regierungsbündnis Pacto Histórico aufgestellt, um so als indigene Bewegung auch diese Räume zu besetzen, in denen Entscheidungen getroffen werden.

Wir stehen der Regierung sicher näher als allen vorherigen. Trotzdem hat es bisher noch keine strukturellen Veränderungen gegeben. Vielleicht ist es auch noch zu früh dafür. Im ersten Jahr hat die Regierung von Gustavo Petro wichtige Reformen angestoßen, aber vieles scheitert im Kongress, wo sie keine Mehrheit hat. Wir sehen die Bemühungen der Regierung, aber wir wissen auch, dass es sehr schwierig ist, in vier Jahren eine lange Geschichte des Kriegs, der Ungleichheit zu überwinden. Unsere Lehre daraus ist, dass die strukturellen Veränderungen von der Basis vorangetrieben werden müssen und die Selbstorganisation im Lokalen gestärkt werden muss. Dort liegt die Macht des Volkes.

Du berichtest von vielen Problemen, Gewalt und Trauer. Was macht dir in diesem Moment Hoffnung?

Was wir uns immer erhalten haben, ist unsere Bereitschaft zu kämpfen, das Leben zu verteidigen, obwohl um uns herum viele Tode gestorben werden. Eine der Formen unseres Kampfes, die Hoffnung macht, ist die Guardia Indígena, die Organisationen von Jugendlichen, von Frauen, im Gesundheitsbereich, unser eigenes Bildungssystem, unsere eigenen Medien und die Stärkung unserer kulturellen Identität, das Wiederbeleben unserer Sprache und die Liberación de la Madre Tierra (dt.: Befreiung der Mutter Erde) als ein Prozess der Selbstorganisation, der sich wieder auf den Ursprung der Bewegung besinnt und Landbesetzungen initiiert.

Auch unser traditionelles Wissen und unsere Spiritualität geben uns Hoffnung. Wir indigenen Völker waren trotz der Repression immer widerständig, im Kampf für die Würde und wir ziehen unsere Kraft aus der Mutter Erde.

„WIR SIND SICHTBARER“

DORA MUÑOZ
arbeitet seit rund zwanzig Jahren in der Öffentlichkeitsarbeit bei ACIN. ACIN ist der Verband der indigenen Räte des Nord-Cauca und vertritt 22 Territorien der indigenen Ethnie der Nasa. Dora Muñoz stammt aus der Region von Corinto im Cauca.
(Foto: Privat)

Ihr Ehemann José Miller Correa wurde am 14. März in der Nähe von Popayán ermordet.
Ich habe den Mord an vielen Freunden und Freundinnen erlebt, aber nie an einer Person, die mir so nahestand wie José Miller Correa, meinem Ehemann und compañero. Das Maß an Ungerechtigkeit ist kaum zu erklären – es ist ein Albtraum. Mein Freund für das Leben, mein Ehemann ist nicht mehr da – ich mag kaum aufwachen. Er wurde mir entrissen von einem Moment zum anderen. Nichts rechtfertigt die Ermordung eines Menschen, ich verstehe es nicht. Wir können uns doch nicht an den Tod, an die Morde an unseren Repräsentanten gewöhnen – das darf nicht sein.

Wir können uns nicht mit Sätzen zufrieden geben wie dass wir uns im Post-Konflikt bewegen, dass es eine Folge der Landkonflikte sei oder des wachsenden Drogenhandels oder derartige Argumente – das kann nicht sein. Der Tod lässt sich nicht rechtfertigen.

Ich kann nicht sagen, was meine Situation ist. Es ist ein Moment der Unsicherheit, auch ein Verlust von Hoffnung. Es ist eine Zäsur, denn die Konsequenz ist, dass ich nicht weiß, wie es weiter geht – es ist eine Leere in mir. Ich warte, dass dieser Schmerz sich in Kraft verwandelt, denn ich habe ein Kind, um das ich mich kümmern muss.

Hier bei ACIN hat sich in den letzten Jahren viel verändert, es wurde viel aufgebaut, so wie das Gebäude, in dem wir uns gerade befinden. Hilft das, um Strukturen zu erhalten und Perspektiven für eine neue Generation aufzubauen?
Es ist richtig, dass der ACIN und seine Strukturen deutlich kräftiger sind. Ökonomisch steht die Organisation auch anders da, sie bietet mehr Perspektiven, das Niveau ist gestiegen und wir sind vor allem durch Projekte gewachsen. Projekte mit internationalen Organisationen, aber auch mit staatlichen. Das hat dazu geführt dass es einige Familien gibt, die heute deutlich besser dastehen als früher. Allerdings denke ich, dass der politisch-organisatorische Prozess stärker sein könnte. Wir könnten klarer, strukturierter und politischer sein – unsere Identität als Nasa, unsere Sprache, unsere Wurzeln stärker herausarbeiten.

Gibt es Widersprüche, eine Fraktionierung innerhalb der Organisation?
Ja, die gibt es – und es gibt Interessen. Die sind auch ökonomischer Art. Ich frage mich, ob wir vom Weg abgekommen sind, ob wir zurück zu den Wurzeln müssen. Das sind Fragen, die innerhalb des ACIN im Raum stehen und die ich, aber auch andere stellen. Sind wir zu materialistisch geworden, spielt der Konsum eine zu große Rolle, sind wir noch so nah dran an der Mutter Erde? Oder ist die Mutter Erde für einige unter uns zu einer Ware geworden, die Koka produziert. Beeinflusst der Drogenhandel und –schmuggel unsere Realität, hat er zu viel Einfluss gewonnen, verlieren wir unsere Jugend an Drogenbanden oder an den Anbau der Koka?

Droht der ACIN in Ihren Augen den Weg, den klaren Kurs zu verlieren?
Ja, das denke ich. Die Verhandlungen mit und der Erhalt von Mitteln durch die Regierung hat einen korrumpierenden Effekt. Ich bin mir sicher, dass die Regierung niemals das Ziel hatte, uns als indigene Organisation zu unterstützen. Das Interesse liegt viel mehr darin, eine Fraktionierung herbeizuführen und die Mittel, die wir erhalten, unterliegen natürlich immer Bedingungen. Das ist sicherlich nicht immer erkannt worden und deshalb haben wir auch zu wenig nach Alternativen gesucht.

Die Kokaanbau-Quote steigt, auch in indigenen Territorien – ein Risiko?
Ja, denn es gibt in den comunidades große ökonomische Probleme und die Drogenbanden offerieren der jungen Generation Geld, versuchen Einfluss zu gewinnen – das ist ein immenses Risiko. Das ist ein zentraler Grund, weshalb die ACIN ebenfalls nach ökonomischen Optionen sucht, aber welches Produkt kann es mit dem Potential von Koka und Marihuana aufnehmen? Wir haben innerhalb des ACIN und des indigenen Rates CRIC (siehe auch LN 563 und LN 564) wirtschaftliche Projekte, die im Einklang mit der Natur funktionieren, die versuchen, die natürlichen Ressourcen zu erhalten, sie zu schützen und zu regenerieren, zu erweitern. All das ist sehr wichtig und da sind auch Fortschritte gemacht worden.

Welche Rolle spielt dabei der Zugang zu Land, die Landfrage, Ursache für den Bürgerkrieg, der spätestens 1964 begann und in dieser Region um Santander de Quilichao weiterhin präsent ist?
Wir klagen unser Recht auf traditionelle Territorien ein. Es gibt mehr als 1.000 Verträge mit der Regierung, die nicht erfüllt wurden – nur im Kontext der Landfrage. Die Älteren sagen, die Bevölkerung wächst, das Land nicht. Das bringt die Situation auf den Punkt. Im Norden des Cauca wird auf Territorien, auf die wir Anspruch erheben, Zuckerohr für die Produktion von Ethanol angebaut, obwohl es ein alarmierendes Defizit an Nahrungsmitteln gibt – das ist ein Widerspruch, den wir anprangern.

Im November 2016 wurde das Friedensabkommen mit der FARC-Guerilla unterzeichnet. Was hatten Sie damals für Hoffnungen und was ist geblieben?
Wir hatten die Hoffnung, dass das Morden endet, dass die permanente Bedrohung Vergangenheit ist, dass wir uns in unseren Territorien sicher bewegen können. Anfangs erfüllte sich diese Hoffnung zumindest teilweise, es gab eine relative Ruhe, eine relative Sicherheit. Die Gewehre schwiegen, die Flugzeuge überflogen nicht mehr unsere Dörfer – es waren Monate der Hoffnung. Dann ereigneten sich die ersten Morde an demobilisierten FARC-Guerilleros und -Guerilleras, die ersten Angriffe auf soziale Anführer und Anführerinnen kamen hinzu und die ersten bewaffneten Banden tauchten auf. Nicht eine oder zwei, es sind etliche Gruppen. Für uns ist es schwer, uns zu orientieren, wer in welchem Gebiet aktiv ist – wir stehen zwischen allen Fronten. Schlimmer noch, es kursieren immer wieder Pamphlete, die uns und vor allem unsere Anführerinnen und Anführer bedrohen. Die Kontrollposten auf den Straßen nehmen zu, erst einer von dieser, dann von jener Gruppe – das wechselt und die Armee mischt immer mit.

Ein weiterer Widerspruch ist, dass in der Nähe von Militär-Camps auch offen Koka oder Marihuana angebaut wird. Wie denken Sie darüber?
Offensichtlich ist, dass die Armee nicht gegen den Anbau vorgeht. Doch die Frage „warum nicht?“ ist schwierig zu beantworten und ich denke, dass die Regierung selbst oder einzelne Ministerien involviert sind. Die Regierung ist Teil des Drogengeschäfts, denn zum Anbau und zur Weiterverarbeitung ist so einiges nötig, was ohne die Mitwisserschaft der Regierung oder einzelner Regierungsstellen gar nicht in die Regionen gelangen könnte. Später müssen die verarbeiteten Drogen wieder aus den Regionen heraus und auch das klappt reibungslos. Warum? Die Antwort liegt auf der Hand.

Wie soll das funktionieren, auf nationaler und internationaler Ebene, wenn nicht im- und exportiert werden kann – Chemikalien, Drogen, Geld passieren die Grenzen. Wie soll das funktionieren, wenn die ökonomischen Eliten nicht involviert sind? Was sollen wir von Regierung und Militär erwarten?

Haben Sie Hoffnung, dass sich daran mit einer neuen Regierung etwas ändern könnte?
Das ist sehr schwer, denn wir haben es mit Strukturen zu tun, die über Jahre aufgebaut wurden und die sich verfestigt haben. Kleine Änderungen sind mit einer neuen Regierung sicher möglich, aber strukturelle Veränderungen – da bin ich skeptisch.

Welche Rolle spielen Frauen wie Sie in den indigenen Prozessen, beim Aufbau neuer Strukturen?
Eine zunehmend wichtige. Wir sind sichtbarer und werden anerkannt. Auf territorialer, auf organisatorischer und auf familiärer Ebene übernehmen wir mehr Verantwortung und geben die auch an unsere Kinder weiter – die indigenen Gesellschaften wandeln sich. Ich bin als Kommunikationsspezialistin dafür ein Beispiel, Kommunikation nach innen und außen ist wichtig und die Aus- und Weiterbildung spielt eine zentrale Rolle in unseren Strukturen. Wichtig dabei ist, dass diese Prozesse von den Männern oder zumindest von vielen mitgetragen werden. Meine Beziehung mit Miller war dafür ein gutes Beispiel: Wir haben uns gegenseitig beraten und unterstützt. Wir sind gemeinsam gewachsen und nun fehlt er mir.

Miller war ein Kind der cátedra Nasa, geschult unter anderem in den Seminaren des ersten indigenen Priesters Álvaro Ulcué Chocué, der 1988 von Paramilitärs ermordet wurde.
Ja, da beginnt unser Prozess des Eigenen, der Rekonstruktion unserer Geschichte, unserer Identität, unserer cosmovisión (dt. Weltanschauung), unsere Kultur, das Ziel der Wiedergewinnung unseres Landes. Er hat daran teilgenommen, die Jugendorganisationen der Nasa durchlaufen, er stand für Werte, im Diskurs und in der Praxis.

Wie beurteilen Sie die Arbeit der Guardia Indígena (Indigene Selbstverteidigung, Anm. d. Red.)?
Ich bewundere die Arbeit und die Konsequenz der Guardia Indígena. Sie ist ein Beispiel für Aufrichtigkeit, für die grundlegende Verpflichtung für das Gemeinsame, dieses Bewusstsein für gemeinsame Ziele und Werte einzutreten, sie weiterzutragen, zu unterrichten. Sie ist fundamental für den Prozess, sie lebt den Prozess und treibt ihn voran, bildet die Anführerinnen und Anführer von Morgen aus. Die Guardia Indígena hat eine Schlüsselfunktion, sie ist eine Schule und auch eine Lebenseinstellung. Die Guardia Indígena ist eine Verpflichtung, das indigene Territorium und das indigene Leben in allen seinen Facetten zu verteidigen und das ohne Waffen – rein pazifistisch.

DER KAMPF UM HARMONIE

CRIC „Wir befreien das Land für alle Lebewesen“ (Foto: Katherine Rodriguez)

Für die Sicherheit in der Gemeinschaft ist die Guardia Indígena (indigene Selbstverteidigung) zuständig, die in den indigenen Gemeinden die Polizei ersetzt: Die Guardia ist unbewaffnet und gewaltfrei, viele ihrer Mitglieder sind Kinder und Jugendliche, die auch unter den Älteren große Autorität genießen. Jede Familie stellt ein Mitglied, so dass der CRIC 20.000 Guardias zählt.

Bei der Jubiläumsveranstaltung schickt die Guardia nachts die Partygäste ins Bett, damit der Lärm die Ruhebedürftigen nicht stört und morgens um sechs Uhr weckt sie die gesamte versammelte Gemeinde mit Musik und lauten Rufen. Die Guardia steht als erstes auf und geht als letztes ins Bett, sie ist ein Vorbild an Disziplin und Einsatz für die Gemeinschaft.

Das Geld aus der Schattenökonomie ist der Treibstoff des Konflikts in Kolumbien

Die Guardia ist auch für die Verteidigung der Gemeinde nach außen zuständig: Im Cauca streiten sich das staatliche Militär, paramilitärische Gruppen und Deserteur*innen der FARC-Guerrilla, die sich wieder bewaffnet haben, um die Kontrolle der für den Drogenhandel strategisch wichtigen Region. Zum einen eignen sich die klimatischen Bedingungen hervorragend zum Anbau von Koka, Marihuana und Mohn, zum anderen ist besonders der nördliche Cauca ein wichtiger Schmuggelkorridor zum Hafen von Buenaventura, über den die Drogen in die Welt exportiert werden.

Das Geld aus der Schattenökonomie ist der Treibstoff des Konflikts in Kolumbien. Alle Konfliktparteien sind auf der Suche nach jugendlichen Kämpfer*innen, die sie auf aggressive Weise in den ländlichen Gemeinden rekrutieren – teilweise mit Zwang, teilweise mit Geld. Der Hunger und mangelnde Perspektiven treiben Massen von Minderjährigen und jungen Erwachsenen in die Hände der Todeskommandos.

Die unbewaffnete Guardia Indígena ist der radikalste Versuch, der Gewalt entgegenzutreten. Mit einem Holzstab gegen eine AK-47.

Die Menschen im CRIC sterben für ihre Überzeugung zur Gewaltfreiheit: 107 ihrer Anführer*innen wurden allein 2020 ermordet.

Während der Geburtstagsfeier des CRIC kreisen Hubschrauber der kolumbianischen Armee über dem Gelände und vor der nächstgelegenen Polizeistation stehen Panzerfahrzeuge der Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD; so als seien die unbewaffneten Indigenen die Bedrohung.

Stattdessen ist die Rolle des Staates fraglich: Wie kann es sein, dass täglich tausende Kilo Marihuana unbehelligt über die Landstraße an den Militär- und Polizeistationen vorbei transportiert werden?

Stück für Stück droht der Drogenanbau und die damit verbundene Gewalt das autonome indigene Projekt von innen auszuhöhlen. Besonders schmerzhaft ist, dass manche Anführer der bewaffneten Gruppen selbst Nasa sind, die in den Gemeinden aufwuchsen. Nachts leuchten an den Hängen in den Reservaten hunderte Laternen zur künstlichen Belichtung der Cannabisplantagen.

Fredy Campo hat die Nase voll und ruft mit seiner Gemeinde zur Selbstverteidigung und zu einer klaren Haltung gegen den Drogenhandel auf. Sein Territorium Sa’th Tama Kiwe hat sämtliche Cannabispflanzen zerstört und damit den Zorn der Bewaffneten auf sich gezogen. Gemeindemitglieder wurden bedroht, verfolgt und ermordet, aber sie haben sich gewehrt. „Wenn ein bewaffneter Akteur unser Gebiet betritt, dann kommt er nicht mehr heraus“, erklärt Ex-Gouverneur Fredy Campo kämpferisch. Als zuletzt ein Gemeindemitglied ermordet wurde, ermittelte die Guardia Indígena den Täter und nahm ihn fest, so dass er von der Gemeinde verurteilt werden konnte. Ein anderes Mal verfolgte die gesamte Gemeinde – knapp 1.000 Menschen – eine Gruppe von acht bewaffneten FARC-Deserteur*innen, die sich gegenüber der Masse ergaben. Die Gemeinde schmolz ihre Waffen ein und schickte die Indigenen unter ihnen in ein eigenes Rehabilitationszentrum, wo sie Gemeinschaftsarbeit leisten müssen und Impulse für eine politische und spirituelle Orientierung erhalten, um sich später wieder in die Gemeinschaft integrieren zu können. Die anderen Festgenommenen übergab die Gemeinde an staatliche Gefängnisse.

Die Rolle des Staates ist fraglich

„Wenn jemand schießt, erschrecken wir uns nicht, sondern begehren umso mehr auf, die Kraft liegt in der Basis“, beschreibt Campo die Selbstverteidigung. Er selbst wurde bereits zehnmal mit Pamphleten offen von verschiedenen illegalen Gruppen mit dem Tod bedroht.

So sehr sich die Menschen in Sa’th Tama Kiwe wehrten, so alleingelassen fühlten sie sich vom Dachverband CRIC.

„In anderen Reservaten wurden Anführende umgebracht und es gab quasi keine Reaktion. Andere wurden bedroht und flohen. Wie kann es sein, dass Anführende ihre Gemeinde und ihr Land verlassen?“, kritisiert Campo. „Viele haben heute Angst und lassen zu, dass die bewaffneten Gruppen die eigentlichen Herrscher des Territoriums sind. Das darf nicht sein.“ Mit einem offenen Brief wandte sich Campos Gemeinde an den CRIC und rief zu einer Reflexion über die eigenen Werte auf. Zu viele indigene Autoritäten tolerierten den Drogenanbau in ihren Gemeinden oder seien im Zuge der Institutionalisierung zu bequem geworden, um für ihr Territorium zu kämpfen.

Campo und seine Leute wollten bei einer Sitzung die höchsten CRIC-Autoritäten vom geschlossenen Kampf gegen den Drogenanbau überzeugen.

Doch stattdessen wurden zwei der Anwesenden, die eine besonders radikale Position gegen den Drogenhandel bezogen, nach dem Treffen von Unbekannten bedroht. Ein Hinweis darauf, dass die Infiltration durch bewaffnete Gruppen bis in die Führungsebene des CRIC hineinreicht.

Für Fredy Campo läuft der CRIC damit Gefahr, seine eigenen Werte zu verraten – in einer Zeit, in der die Einheit der Bewegung für die Verteidigung der Autonomie elementar wichtig ist. Mit den jüngsten Entdeckungen von Gold, Nickel und Coltanvorräten auf dem Empera Gebiet der Nasa und dem staatlichen Interesse an der Förderung des Bergbaus ist eine weiteres Schlachtfeld hinzugekommen.

Abseits der zunehmend institutionalisierten Strukturen des CRIC hat sich eine weitere Gruppe gebildet, die mittlerweile große Teile der Bewegung vereint: La Liberación de la Madre Tierra (Die Befreiung der Mutter Erde). Während die CRIC-Führungsebene mittlerweile vor allem auf Verhandlung zur Landrückgewinnung setzt, orientieren sich die Mutter-Erde-Befreier*innen an den Anfängen der Bewegung und besetzen Land, das einst den Nasa gehörte und heute von der Zuckerrohrindustrie ausgebeutet werden. Denn die fruchtbare Erde im Caucatal muss riesige Monokulturen aushalten, die so groß sind, dass sie mit Kleinstflugzeugen aus der Luft mit Pestiziden bespritzt werden. Wenige Großgrundbesitzer*innen scheffeln hier Gewinne mit dem Export von Ethanol für Biosprit. Die harte Arbeit auf den Feldern verrichtet im Wesentlichen die afrokolumbianische Bevölkerung zu Niedriglöhnen. Die Agrarindustrie verschmutzt das Wasser und vertreibt Tiere und deswegen erklärt Ana* von der Liberación: „Wir befreien das Land für alle Lebewesen.“

Angefangen haben sie damit 2014 auf einer geschichtsträchtigen Finca in der Nähe von Caloto im Norden des Caucas mit dem Namen La Empera Triste. Von hier starteten Paramilitärs im Dezember 1991, um im Auftrag von Großgrundbesitzer*innen auf der benachbarten Finca El Nilo 21 Nasa zu massakrieren, die dort Land besetzt hatten.

Heute ist La Empera Triste selbst besetzt. Auf einem grün-roten Schild im Eingangsbereich steht: „Wir sind tausendjährige Krieger“, daneben reiten zwei Jungs in Richtung eines kleinen Holzhauses. Sie gehören zu einer der Familien, die das Land besetzt haben und nun hier leben. „Zuckerrohr roden, um Essen zu pflanzen“ ist ihr Motto.

In der härtesten Zeit der Pandemie haben die Landbefreier*innen von hieraus mehrere Busse mit Lebensmitteln in die marginalisiertesten Viertel der Millionenstadt Cali gebracht und sie dort an Bedürftige verschenkt, erzählt Ana stolz. Damit taten sie das, was der kolumbianische Staat nur versprach. Dabei nehmen die Landbefreier*innen im Gegensatz zum CRIC keinerlei externe finanzielle Mittel an.

Dann lädt Ana in ihre Heimatgemeinde ein. Im Eingangszimmer ihres Hauses hat sie große Mengen an Kräutern zum Trocknen ausgebreitet, aus denen sie medizinische Getränke herstellt. „Wenn es einem Kind im Dorf nicht so gut geht, dann schicken sie es zu mir und ich bereite ihnen etwas zu“, sagt Ana, die noch etwas außergewöhnliches über die eigene Wasserversorgung des indigenen Reservats zu berichten hat: „Für fließendes Wasser zahle ich im Monat 50 Pesos (1 Cent)“, so hat es die Vollversammlung beschlossen.

Mit einem Holzstab gegen eine AK-47

Wenige Minuten von Anas Haus entfernt ist ein weiteres befreites Stück Land.

Wo vor fünf Jahren noch genmanipuliertes Zuckerrohr stand, tummeln sich nun zwischen Yucawurzeln und Mais die Insekten, Eichhörnchen und Vögel auf den Feldern. Als sie damals das Land befreiten, erhielten die bedürftigen Familien, die sich in die Befreiung eingebracht haben, jeweils einige Hektar, mit denen sie sich selbst versorgen konnten. Der größte Teil der befreiten Finca ist aber kollektives Land, auf dem wechselnde Arbeitsgruppen Lebensmittel für die Gemeinschaft produzieren. Jeden Samstag steht das gesamte Dorf auf dem Feld und packt gemeinsam an. So ist auch ein kleiner Dorfplatz entstanden und in einem offenen Haus aus Bambus ein Versammlungsort. Vor einem anderen Haus wirft eine Frau ein paar Maiskörner auf den Weg, um die sich Enten, Hühner, Schafe und kleine Schweine streiten, während ihre Mutter zwei Pferde anbindet und ihnen eine Ladung Yuca vom Rücken nimmt.

Dann sagt Ana „Ich zeig euch noch was“ und führt zu einem weiteren riesigen Stück Land, das sie befreit und dann der afrokolumbianischen Gemeinschaft aus dem angrenzenden Dorf übergeben haben. Ein Vorzeigeprojekt. Denn der große Teil der Afrokolumbianer*innen sieht in den Plantagenbesetzer*innen eine Gefahr für ihre Arbeitsplätze; statt Verbündete sind sie Gegner*innen der indigenen Befreiungsbewegung. „Die Regierung erklärt der afrokolumbianischen Community, dass sie Anspruch auf das Land hätte”, sagt Ana. Also versuchen die Befreier*innen auf sie zuzugehen; hier, in der Nähe von Caloto klappt das.

In der Nähe eines kollektiven Yucafeldes ruht sich eine kleine Familie in Hängematten im Schatten eines kleinen Bambushauses von der getanen Arbeit aus. Früher habe er Cannabis angebaut, erklärt der Familienvater. Das sei harte Arbeit gewesen und pro Kilogramm Marihuana habe der Händler ihm 8.000 Pesos, nicht ganz zwei Euro bezahlt. Dann schloss er sich den Mutter-Erde-Befreier*innen an und baut nun auf dem befreiten Land Lebensmittel an. Bald möchte er mit seiner Familie auch hierhin ziehen. Trotz der dauernden Bedrohung durch den kolumbianischen Staat. Für alle befreiten Fincas gibt es Räumungstitel. Jederzeit könnte das Militär oder die polizeiliche Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD auftauchen und mit Gewalt die Menschen von ihren Feldern und Häusern vertreiben. Mehr als 600 Räumungen auf 13 befreiten Fincas im Norden des Caucas gab es bereits, doch die Landbefreier*innen kamen immer zurück. „Und wenn es zehn, 20 oder 30 Jahre dauert – irgendwann ist es unser Land. Wir haben Zeit”, sagt Ana und fügt dann hinzu: „Wir haben in sechs Jahren 4.500 Hektar Land zurückerobert. Es fehlen aber noch weitere 400.000 Hektar Zuckerrohr-Monokulturen, die es in der Region gibt“. Sie schmunzelt.

Der Kampf der Nasa wird weitergehen. Auf der Jubiläumsveranstaltung des CRIC spielte am letzten Abend eine Band die Hymne der Guardia Indígena live. Tausende von Menschen reckten den Holzstab der Guardia Indígena in die Luft und sangen aus voller Seele: „Wir verteidigen unsere Rechte, auch wenn es uns das Leben kostet“ und „Für jeden toten Indio werden 1000 weitere geboren“. Die größtmögliche Liebeserklärung an die Bewegung.

*Name geändert

DER KAMPF UM HARMONIE

50 Jahre CRIC Mehr als 20.000 Menschen kommen zur Jubiläumsveranstaltung zusammen (Fotos: Katherine Rodriguez)

Dort, wo der Dorfweg von El Pital endet, ist das Eingangstor einer riesigen Finca. Über mehrere Hügel erstrecken sich in diesen Tagen kleine und große Zelte mit schwarzem Plastikdach gegen den Regen. Menschen schlendern über die schlammigen Wege dazwischen, die meisten in Richtung des größten Zeltes, das auf dem höchsten Hügel gelegen ist. Dort steht auch eine riesige Bühne mit Veranstaltungstechnik. Auf den ersten Blick sieht es aus wie auf einem Musikfestival. Hier, im kolumbianischen Departement Cauca, wo der bewaffnete Konflikt derzeit so viele Opfer fordert wie in keinem anderen Teil des Landes.

Auf der Bühne steht ein Mann mit braun-beigem Poncho und einem Strohhut, der mit grünem und rotem Stoff umkleidet ist, am Mikrofon. Jetzt ruft er aus voller Kehle in die Menge: „Wo ist das Volk der Yanacona?“ „Hier“ schreit es ihm von hinten rechts im Publikum entgegen. „Wo ist das Volk der Nisak?“ „Hier“ kommt das Echo etwas leiser von der linken Seite. „Und wo ist das große Volk der Nasa?“ Jetzt wird es richtig laut: „Hier!“

Dann tritt eine Band auf die Bühne. Als die Musiker mit grün-rotem Halstuch und Panflöte loslegen, klingt das ein bisschen nach andinem Schlager. Doch der Text hat es in sich: „Wir leisten weiter Widerstand gegen die Invasion und verteidigen unsere Rechte im Kampf gegen die Unterdrückung“, singen sie auf Spanisch.

Es ist die Veranstaltung zum 50-jährigen Jubiläum des Regionalen Indigenen Rates im Cauca, in dem sich die indigenen Gemeinden der Region organisieren, landesweit besser bekannt unter seinem Kürzel CRIC. Dazu sind mehr als 20.000 Menschen gekommen, um die wohl stärkste indigene Autonomiebewegung Südamerikas zu feiern. Diese umfasst unter dem Dach des CRIC zehn indigene Gemeinschaften, unter denen die prägendste die der Nasa sind, die seit 500 Jahren im Südwesten Kolumbiens Widerstand gegen die Kolonialisierung leisten. Damals wollten die spanischen Eroberer den Indigenen der Region Steuern aufzwingen und ermordeten einen Kaziken (höchstrangige indigene Adlige oder Anführer*innen, Anm. d. Red.), der sich widersetzte. Daraufhin führte die Kazikin Gaitana 1539 eine erfolgreiche Revolte gegen die Kolonisatoren an, die den Indigenen ein knappes Jahrhundert Freiheit verschaffte, bevor die Rache der Spanier sie fast vollständig ausrottete. Die Nasa sehen sich heute als Erben der 600 Überlebenden.

Es ist ein Gänsehautmoment, als der Moderator auf der Bühne, der gerade noch die Party animierte, eine Schweigeminute für „die vielen Toten und Ahnen, ohne die wir heute nicht hier wären“ einleitet.

Auch nach der Unabhängigkeit Kolumbiens Anfang des 19. Jahrhunderts wurde den Nasa weiter der Krieg aufgezwungen. Sie lebten in der Region mit der fruchtbarsten Erde Kolumbiens, das die Begierde der Großgrundbesitzer weckte, die die Nasa gewaltsam immer weiter zurück in die Berge in steiles und wenig produktives Land drängten.

Die jüngste Etappe des Widerstands leitete die Gründung des CRIC 1971 ein. Es war die Zeit, in der die kolumbianische Regierung den letzten ernsthaften Versuch einer Agrarreform in einem der Staaten mit der ungerechtesten Landverteilung der Welt ins Leere laufen ließ. Es war aber auch die Zeit, in der die Befreiungstheologie den Samen des Widerstands der Ausgebeuteten säte. So schlossen sich die Indigenen der Region zusammen, um für ihr Recht auf Land und Selbstbestimmung zu streiten. Sie besetzten Land, das einst ihnen gehört hatte, und erkämpften so Hektar für Hektar, stets unter großer Repression, die den Schmerz über ermordete Familienmitglieder dem Gedächtnis der indigenen Gemeinden eingebrannt hat. Dabei verfolgte die Bewegung verschiedene Strategien, um Land und damit die Möglichkeit der Versorgung zurückzugewinnen: besetzen, kaufen, juristisch erstreiten. Letzteres funktionierte besonders gut, seit in der Verfassung von 1991 umfassende indigene Rechte festgeschrieben wurden. So folgte der Legitimität auch die Legalität und die formale Anerkennung indigener Selbstverwaltung.

Das eigene Land ist dabei für die Nasa viel mehr als nur Anbaufläche. Das Leben beginnt mit der Verbindung zum Territorium, mit den Tieren und Pflanzen, mit der gesamten Umwelt, mit der zusammengelebt wird. Die Nasa nennen das: Harmonie. Ein allumfassender Begriff, der das Leben zwischen den Menschen und mit der Natur beschreibt. Den Weg dorthin weisen die Ältesten und Ahnen der Gemeinschaft, die mayores genannt werden. Der westliche Kapitalismus hingegen mit seinem Raubbau an Natur und Mensch erzeugt Disharmonie in den Beziehungen; das erklärt mayor Julio, wie er liebevoll genannt wird. Julio Cesar Caldón, so sein vollständiger Name, trägt eine Brille mit dicken Gläsern und dunklem Rand; er hat ein auffallend rundes Gesicht. Vor dem Interview pustet er Tabakrauch in die Luft und gen Erde und wiederholt das mehrfach. Er sei in Verbindung mit den Wolken getreten, um sich über den anstehenden Regen auszutauschen, erklärt er und im Gespräch wird deutlich, wie die Nasa die Welt denken. Der 53-Jährige ist dabei einer jener hochgeschätzten Älteren der Bewegung, die wesentliche Weichen des Autonomieprozesses mitgeprägt haben. 20 Jahre lang war er „Gouverneur“, gewählte Führungspersönlichkeit seines Cabildos, wie die Indigenen ihren Gemeinderat nennen. Über den Cabildos steht nur die Asamblea, die Vollversammlung, in der die wesentlichen Entscheidungen von allen Gemeindemitgliedern getroffen werden. Ein eigenes Regierungssystem erfordert auch ein eigenes Bildungssystem und so half mayor Julio dabei mit, die erste staatlich anerkannte indigene Universität Lateinamerikas aufzubauen: die UAIIN.

Es ist die Antwort auf ein Unbehagen: „Das staatliche Bildungssystem wurde uns aufgezwungen und wir haben 1.000 Dinge dadurch verloren. Wenn ich heute an einer Schule als Lehrer Koka kaue, dann werde ich schief angesehen. Außerdem wurden wir genötigt, Spanisch zu lernen und unsere eigenen Sprachen zu vergessen.“

Mayor Julios Stimme senkt sich etwas: „Ich spreche zum Beispiel keine unserer Sprachen und nur schlechtes Spanisch, weil es mich nicht ausdrückt in meiner Essenz, sondern ich das Gefühl habe, in einer fremden Sprache zu sprechen.“

Aber die Kritik geht noch tiefer: „Die staatliche Form von Bildung basiert auf Lehrplänen, die von oben nach unten funktionieren: vorgegebene Bücher lesen, Hefte führen, Tabellen ausfüllen“, erklärt Julio. „Es gab nie eine Schule, die wirklich anders funktionierte. Die Klassenzimmer hatten immer vier rechtwinklige Wände und eine Tür. Es sind Orte, die einen einsperren und nicht darüber hinaus denken lassen.“ Menschen Wege zu versperren und ihnen eine Richtung vorzugeben, erzeuge Disharmonie.

„Machen statt kopieren.“

Die Schulen des CRIC und die seit 2018 staatlich anerkannte Universität wollen es jetzt anders machen. Es gibt keine Lehrenden, sondern alle Beteiligten sind dinamizadores, etwa „Impulsgebende“. Die Universität hat keinen festen Standort, sondert wandert in die verschiedenen Reservate, wo der Unterricht stattfindet. „Wir haben immer gesagt: Die Universität sollte zu den Leuten in die Dörfer gehen und nicht anders herum, denn unser Ziel ist nicht, dass die jungen Leute ihre Dörfer verlassen, sondern sie darin zu bestärken, dass sie dort bleiben, während die anderen Universitäten die jungen Menschen in die Stadt locken, um dort dem Kapitalismus zu dienen.“

Die Klassenräume in den Dörfern haben nur ein Dach, aber keine Wände: „So kann die Bildung hinein und hinaus gehen.“ Überhaupt findet das Lernen aber eher unterwegs statt als an einem festen Ort. „Wir lernen bei der Gemeinschaftsarbeit oder bei jeder Begegnung.“ In der Schule wird Mathematik anhand des Webens von Stoffen gelehrt. Bei Reisen sollen die Studierenden die verschiedenen Reservate kennenlernen und so eine Einheit formen. Mayor Julio fasst das so zusammen: „Sprechen und machen statt kopieren.“

Aber: „Wir bilden uns zuerst zu 200 Prozent mit unserer eigenen Bildung und dann in der westlichen Form. Erst lernen wir, wo wir selbst herkommen und dann, was es außerhalb noch gibt. Aber das darf uns nicht von unserem eigenen Weg abbringen.“ So umfasst die Universität zehn Studienrichtungen, die hier „Gewebe“ genannt werden, zum Beispiel: Wiederbelebung der Mutter Erde, Indigene Justiz oder Buen Vivir („Gutes Leben“). Letzteres ist das Äquivalent zu Politikwissenschaft. „Dabei steht im Zentrum die Frage: Wie erträumen wir uns unser Leben und Land? Wie können wir in Kontakt mit Erde, Wasser und Sonne leben?“, erklärt Julio.

Der CRIC hat darauf in den letzten Jahren einige Antworten gefunden. So wurde eine eigene Krankenkasse gegründet, die mittlerweile staatlich so subventioniert ist, dass sie allen Indigenen kostenlose schulmedizinische Versorgung ebenso wie traditionelle Behandlungsmethoden und Rituale ermöglicht. Dazu kommt ein eigenes Rechtssystem: Mitglieder der Gemeinden, die gegen die Regeln des Zusammenlebens verstoßen, werden nicht vor einen Richter geführt oder gar ins Gefängnis gesteckt. Stattdessen berät die gesamte Gemeinschaft, welche Maßnahmen eine Veränderung des Straffälligen ermöglichen. Dabei leisten sie Gemeinschaftsarbeit oder erhalten in Rehabilitationszentren spirituelle Unterstützung.

Zunehmend versucht der CRIC auch auf eigenen wirtschaftlichen Beinen zu stehen. Manche indigene Gemeinden haben nach Jahrhunderten von Vertreibung nicht mehr genug fruchtbares Land, um sich selbst mit ausreichend Lebensmitteln zu versorgen. Außerdem schützen die Menschen im CRIC Wälder und Wasserläufe, sodass 60 Prozent ihres Territoriums Naturschutzgebiet sind. „Ökonomisch betrachtet ist das aber eine Herausforderung“, erklärt Aparicio Rios, Spezialist für indigene Ökonomie aus dem Reservat Paniquita. Seine Idee: „Wir müssen uns in dieser Welt mit anderen sozialen Bewegungen organisieren, um eine eigene Ökonomie aufzubauen.“ So organisierte er vor einigen Jahren mit der Zentralen Kooperative des CRIC den Import von 35 Tonnen Salz von den indigenen Wayuu im Nordosten des Landes um so einen solidarischen Handel zwischen indigenen Völkern aufzubauen. Mittlerweile sei das Projekt aber eingeschlafen. Alle zwei Jahre wechseln aus demokratischen Gründen alle Funktionsträger*innen im CRIC. „Aus administrativer Sicht ist das nicht gut. Alle zwei Jahre neue Leute auszubilden, die dann effizient arbeiten, ist schwierig“, bemängelt Rios mit Blick auf sein Ziel: „In dieser Welt ist die Wirtschaft der entscheidende Machtfaktor, damit wir dem kolumbianischen Staat wirklich auf Augenhöhe entgegentreten können.“ Noch hängen die Reservate am Tropf staatlicher Finanzierung oder ausländischer Fördermittel, welche die formalisierten Organisationen und Verbände akquirieren.

Wie es in Zukunft vielleicht einmal anders funktionieren könnte, zeigen die Stände unterhalb des großen Bühnenzeltes. Hier bewerben Kooperativen aus den indigenen Gemeinden ihre eigenen Produkte: Wein aus der Andenblaubeere, Öl aus der Inka-Erdnuss Sacha Inchi und Koka-Bier.

Während Neugierige hier unten die Produkte begutachten, schallt von der Hauptbühne der Lautsprecher über das Festgelände: „Compañeros, kauft lieber unsere eigenen Getränke als Coca-Cola.“ Es folgen weitere Hinweise für das Gemeinschaftsleben: „Compañeros, gestern Abend haben Leute mit Schuhen auf den Stühlen getanzt und jetzt sind die voll mit Schlamm.“ oder „Compañeros, der Chirrincho (Schnaps) ist lecker, aber wer nachts zu viel trinkt, verpasst morgens die politischen Diskussionen.“ Es wird kollektiv gedacht, nicht individuell. Dazu passend: Kaum jemand läuft unbegleitet über die Veranstaltungsfinca und auch alle Zelte sind in großen Gruppen mit Gemeinschaftsküchen organisiert.

Doch nicht alles ist harmonisch innerhalb der Gemeinschaft, darüber spricht Luciana Velazco, Regionalkoordinatorin des Programms für Frauen des CRIC. „Wir machen seit 26 Jahren Arbeit gegen patriarchale Gewalt, aber innerhalb der Organisation sind wir kaum sichtbar“, kritisiert sie. „Die Mehrheit unserer Frauen leiden unter psychischer und physischer Gewalt. Das wissen wir schon sehr lange. Aber wenn Frauen Vorfälle melden, hören ihnen die Autoritäten kaum zu.“ Deswegen organisieren Luciana und ihre Mitstreiterinnen Bildungsangebote für Frauen, um patriarchale Gewalt als solche zu erkennen und melden zu können. Doch es geht um mehr: „Dass andere wissen, dass ich misshandelt werde, erzeugt oft Scham. Aber in unseren Treffen schaffen wir einen vertrauensvollen Raum, in dem die Frauen von ihren Erfahrungen berichten“, erklärt Luciana. Eines der zentralen Probleme sei das fehlende Verständnis unter den gewählten Autoritäten, von denen ein Großteil Männer sind. Hinzu kommt: „Wir sind im CRIC nur drei Regionalkoordinatorinnen und das reicht einfach nicht aus, um mit allen Autoritäten ins Gespräch zu kommen.“

So wäre auch eine Weiterentwicklung des autonomen Justizsystems notwendig, „denn viele der Autoritäten sind der Meinung, dass häusliche Gewalt ein Problem ist, dass im Privaten gelöst werden muss und nicht von der gesamten Gesellschaft. Es gibt auch nicht wirklich eine Strategie für die Unterstützung von betroffenen Frauen, zum Beispiel durch psychologische Hilfe.“ Dazu komme es nach einer Anzeige oft zu einer Reviktimisierung durch den Ehemann, der Rache an seiner Frau übt. […]


Mayora Blanca Eine der ältesten und weiterhin aktiven CRIC-Mitglieder

Mayora Blanca Andrade: Die alte Radikale

Die mayora Blanca kommt nur langsam voran beim Gang durch die Menge. Ständig fragen sie Menschen, ob sie ein Foto mit ihr machen können. Dabei fällt auf: Es sind vor allem Jugendliche, die ein Bild mit einer der Gründer*innen des CRIC ergattern möchten. Die mayora Blanca nickt dann und lächelt, sie hat eine sehr zarte und liebevolle Art. Aber sie nimmt kein Blatt vor den Mund wenn es darum geht, die Jugend zu kritisieren: „Manchmal denke ich heute darüber nach, wie es damals war und dann denke ich: Heute ist der Kampf viel einfacher geworden. Viele Menschen kommen, um das bereits fertig gekochte Essen zu verspeisen.“ Sie meint die Früchte des jahrelangen schwierigen Kampfes der Vorgängergenerationen. Dank ihnen verfügen die Gemeinden heute über mehr Land und Ressourcen.

Die mayora Blanca nahm nach der Ermordung ihres Ehemanns 1982 eine Führungsposition im CRIC ein, während sie sich weiter um ihre drei Kinder kümmerte. „Wir haben nichts einfach so erreicht. Alles war ein Kampf und wir mussten laut sagen: Das sind unsere Rechte!“ Wer im CRIC war, hatte es schwer. Die Stigmatisierung war groß, berichtet die mayora. „Heute wollen alle Anführer des CRIC sein. Die Leute haben ihre Technik und ihre Autos. Sie laufen nicht mehr, deswegen sind die Anführer von heute dick geworden.“ Dabei ist klar, dass die mayora Blanca mit jedem Satz eine tiefere Bedeutung als das Profane ausspricht. Noch etwas passt ihr nicht von der aktuellen Linie mancher CRIC-Anführer*innen: „Früher hatten wir eine starke Abneigung gegen Verhandlungen mit dem Staat. Ich glaube, dass wir hier an Kraft verlieren. Ich hab immer gesagt: Wir als Indigene sind keine Bettler. Wir brauchen keine Legalität, weil wir Legitimität haben. Sie müssen uns zurückgeben, was sie uns über die vielen Jahre gestohlen haben, dafür braucht es keine Verhandlungen.“

Was sie sich für die nächsten 50 Jahre CRIC wünscht? „Manchmal denke ich: Warum sollte Kolumbien nicht auch mal einen indigenen Präsidenten haben so wie Bolivien?“

Fortsetzung aus unserer Juni-Ausgabe hier

HARMONISIERUNG STATT STRAFE

Foto: Israel Rivera, Cátedra Jorge Alonso, Universidad de Guadalajara

Wie wird in den indigenen Gemeinschaften im Norden des Cauca mit Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt umgegangen?
In der kolumbianischen Verfassung von 1991 ist festgeschrieben, dass wir in unseren Territorien unser eigenes indigenes Rechtssystem ausüben. Es gibt viele Bereiche, in denen wir uns mit den vielen Formen von Gewalt auseinandersetzen: Erstens die cabildos, Räte, die regelmäßig aus Mitgliedern der indigenen Gemeinschaften gewählt werden. Die cabildos arbeiten jeweils mit einem Justizteam. Dieses Team nimmt alle Arten von Anklagen entgegen, führt Ermittlungen durch und ruft die asamblea ein. Die asamblea ist eine Versammlung der gesamten Gemeinschaft und gilt als höchste Autorität. In Anwesenheit aller werden dann die Anklage und die Beweise vorgetragen. In jedem Rat wird unter Mitarbeit verschiedener Kommissionen diskutiert und entschieden, welche Art von „Heilmittel“, das heißt welche Art von Behandlung im jeweiligen Fall angemessen ist. Von Bestrafung ist keine Rede, denn es wird davon ausgegangen, dass eine gewalttätige Person nicht in Harmonie ist und deshalb harmonisiert werden muss. Es wird also gemeinschaftlich bestimmt, welches Heilmittel dem oder der Täter*in zugesprochen wird.

Was können wir uns unter Harmonisierungen von Gewalttätern vorstellen und welche Heilmittel gibt es?
Im Gegensatz zu gewöhnlichen Gefängnisstrafen, bei denen isoliert und bestraft wird und die Sträflinge nach der Haft noch schlechter dastehen als zuvor, ist das Ziel, sie nicht noch weiter zu isolieren. Es wird stattdessen versucht, ein Heilmittel aus zwei Teilen anzuwenden: Je nach Gewaltdelikt, bestehendem Gefahrenpotential des oder der Täter*in und Systematik der Gewalt werden in den asambleas dafür Peitschenhiebe oder Zeit am Fußblock verhängt [hier wird der oder die Täter*in kopfüber zwischen zwei Holzpfählen aufgehängt; Anm. d. Red.]. Diese Maßnahmen werden von den Sicherheitskräften der Gemeinschaft ausgeübt. Andererseits findet auch ein Ritual mit spirituellen Anführer*innen statt, die auf Nasa Yuwe, der Sprache der Nasa, tegualas heißen: Mit Hilfe von spezifischen Geistern und Heilpflanzen, je nach Disharmonie, wird der oder die Täter*in kosmogonisch-spirituell orientiert und der Körper harmonisiert, damit es der Person anschließend besser geht. In der zweiten Instanz werden die Gewalttäter dann in fast allen Territorien in sogenannte Harmonisierungsstellen geschickt. Das sind Gemeinschaftshäuser, wo die Täter*innen bleiben und alle mögliche Arbeiten verrichten, die in der Gemeinschaft anfallen. Ob nun gerade Zuckerrohr geerntet, Mais gepflanzt, oder etwas anderes geschehen muss, die Täter*innen werden angehalten für das Wohl der Gemeinschaft zu arbeiten, und nicht in einer Zelle eingesperrt zu sein.

Wird das Rechtssystem des Staates mit eingebunden?
Ja, mit der staatlichen Justiz wird auch kooperiert. Bei besonders schweren Fällen, also bei Feminiziden oder auch bei anderen Tötungsdelikten werden von der Gemeinschaft Hafturteile von bis zu 20, 40 oder 60 Jahren verhängt. In diesen Fällen werden die Täter in die Gefängnisse der staatlichen Justiz geschickt. Der Gemeinderat bleibt für sie verantwortlich, aber sie gehen dennoch ins Gefängnis. Es sollte aber klar sein, dass sowohl das externe staatliche als auch unser internes Rechtssystem angesichts der Gewalt gegen Frauen nicht wirklich funktioniert. Frauen werden in all diesen Räumen in ihren Rechten verletzt. Die compañeras aus der Frauenbewegung sprechen häufig von einer Reviktimisierung der Betroffenen. So ist es häufig der Fall, dass, nachdem eine Frau ihren Partner wegen häuslicher Gewalt angeklagt hat und für diesen eine Harmonisierung in der Gemeinde beschlossen wurde, vom Täter nach seiner Rückkehr nach Hause noch größere Gewalt ausgeht als vorher.

Gibt es innerhalb der autonomen Strukturen auch Unterstützungsstrukturen für Betroffene von sexualisierter Gewalt?
In Fällen von geschlechtsspezifischer Gewalt und Gewalt gegen Frauen und Kinder sind in den Gemeinderäten oftmals eigene Familienräte zuständig. Unter dem Schirm des Frauen- oder Familienprogramms des regionalen Zusammen-schlusses indigener Räte gibt es auch Zuständige, die diese Beschwerden entgegennehmen. Es gibt also verschiedene Räume und Instanzen, an die sich die Betroffenen wenden können; die wirkliche Unterstützung für die Opfer begrenzt sich aber weitestgehend auf psychologische Hilfe. Das ist ein schlimmer Missstand.

Obwohl wir indigene Völker sind und Wissen und Praktiken bewahrt haben, die uns das Überleben in über 5000 Jahren Patriarchat, bald 600 Jahren Kolonisierung und 200 Jahren des Nationalstaats gesichert haben, sind wir auch Produkte dieser Gesellschaft und von all diesen Formen der Unterdrückung geprägt. Obwohl wir also so lange überlebt haben, kann niemand leugnen, dass unsere Organisationen und wir selber von Patriarchat, Kolonialismus und Staat beherrscht sind. Das erklärt, dass Gerechtigkeit insbesondere für Frauen, die Opfer sexualisierter Gewalt werden, nicht funktioniert. Die indigene Rechtssprechung hat uns zumindest Land, Organisierung, Gemeinschaft, Bildung, Gesundheit und Unabhängigkeit von staatlicher Justiz gesichert sowie viele andere Errungenschaften gebracht. Aber wir müssen uns eingestehen, dass diese eigene Rechtssprechung im Fall patriarchaler Gewalt, vor allem wenn sie gegen Frauen gerichtet ist, nicht so gut greift wie in anderen Fällen. Das liegt auch daran, dass es vorwiegend Männer sind, die auch in den Strukturen der indigenen Rechtssprechung in den entscheidenden Ämtern sitzen, und oft sind dies Freunde oder Verwandte der Vergewaltiger.

Wie steht die Frauenbewegung im nördlichen Cauca zu diesen Misständen?
Die Frauen kämpfen schon lange gegen die Gewalt und Ungerechtigkeit, die uns widerfährt. In jüngster Zeit wird etwa das Konzept der Disharmonie, welches die letzten Jahrzehnte über verwendet wurde, von Frauen kritisiert, weil sie der Ansicht sind, dass mit diesem Konzept mehr das Wohlergehen des Täters als das der Opfer im Mittelpunkt steht. Tatsächlich zeigen die zunehmenden Fälle von Reviktimisierung von Frauen, dass es nur wenige wirklich gelöste Fälle von Gewalt gegen Frauen gibt.

Wenn wir das Ganze noch tiefergehender betrachten, sehen wir, dass es leider noch keine Struktur und keinen Prozess in der Gemeinschaft gibt, der sich mit patriarchaler Gewalt als solcher befasst. Diese kann nicht nur auf Aggression und Gewalt gegen Frauen reduziert werden, sondern schließt im weiteren Sinn auch die Disharmonisierung der Mutter Erde mit ein, die Umweltzerstörung in unseren Territorien. Die inneren Widersprüche der patriarchalen Gewalt werden aber weiter unter den Teppich gekehrt. Ebenso wie der Machismo, ein Übel, das in unseren Gemeinschaften sehr stark ist.

Ich möchte eine erwähnen, die besonders gegen diese Missstände gekämpft hat: die soziale Aktivistin Cristina Bautista Taquinás. Sie wurde am 29. Oktober 2019 gemeinsam mit vier kiwe tegnas (Nasa Wayu für indigene Sicherheitskräfte) von bewaffneten Akteuren geradezu massakriert, während eines Einsatzes zum Schutz der Gemeinschaften gegen die Narco-Industrie und die verschiedenen Formen der Gewalt gegen unsere Territorien. In den wenigen Jahren, die sie als indigene Autorität von Tacueyó gedient hat, war sie eine wichtige Verteidigerin der Frauen. Unter all unseren Autoritäten der letzten Jahrzehnte war sie diejenige, die sich am meisten dem Schmerz der Frauen angenommen und mit uns gefühlt hat. Denn sie hat selbst seit Kindestagen unter all den Formen der Gewalt gelitten, die wir Frauen in und außerhalb unserer Territorien erleben. Sie sagte: „Wenn wir sprechen, töten sie uns. Wenn wir schweigen, töten sie uns auch. Also sprechen wir!“

“DEN BEWAFFNETEN EIN STEIN IM SCHUH”

Guillermo Tenorio Vitonas
ist Mayor der Nasa-Paez-Indigenen und von der UNESCO anerkannter Hüter spirituell-kulturellen indigenen Erbes. 1971 gründeten er und zwölf weiteren Personen den Consejo Regional Indígena del Cauca (CRIC) und war anschließend mehrere Jahre dessen Vorsitzender. Heute ist er der letzte noch lebende Mitbegründer des CRIC. Wegen seines Einsatzes wurde der über 70-Jährige mehrfach zum Ziel von Mordanschlägen. Nach einem von Paramilitärs verübten Schusswaffenattentat im Dezember 2019 hält er sich seit Februar 2020 in Deutschland auf und berichtet über die Situation indigener Gemeinden in Kolumbien.
(Foto: Tininiska Zanger)


 

Herr Tenorio Vitonas, warum leben Sie zurzeit in Deutschland?
Ich wurde in Kolumbien vom Paramilitär und mafiösen Strukturen verfolgt. Ich habe eine sehr kritische Haltung gegenüber dem Anbau und Handel mit Drogen und habe das 2018 auch in einer Gemeindeversammlung geäußert. Ich rief die Gemeinde dazu auf, kein Marihuana anzupflanzen, denn das macht nur Probleme. Die Menschen sollten sich für unsere kollektiven Gebiete Gedanken über den Anbau anderer Produkte machen.

Unsere Versammlungen werden immer von Paramilitärs infiltriert. So wurde ich ab 2018 zum militärischen Ziel. Anfänglich ignorierte ich die Drohungen und arbeitete weiter in der Gemeinde. Im August 2018 fand der erste Mordversuch statt, als ich mit meiner Frau auf der Kaffeeplantage arbeitete. Daraufhin erstattete ich bei der Staatsanwaltschaft in Popayán Anzeige und bat sie um Schutz. Sie gaben mir lediglich eine kugelsichere Weste, ein Handy und einen Leibwächter. Nach dem dritten Attentat, als ich keinen Leibwächter mehr hatte, musste ich im Februar 2020 nach Deutschland kommen.

Ein Punkt des Friedensabkommens ist ein Programm, um verbotene Anbaukulturen zu ersetzen – funktioniert das im Cauca?
Im Moment ist Marihuana die Hauptanbaukultur. Die ersten Ernten waren sehr lukrativ. Ein Pfund Marihuana kostete 300.000 Pesos (ca. 70 Euro, Anm. d. Red). Bisher ist hier noch nie ein so teures Produkt angebaut worden und das motivierte immer mehr Menschen, in das Geschäft einzusteigen. Wir indigenen Räte waren schon immer dagegen und baten die Leute, mit dem Anbau aufzuhören. Aber der Staat unternimmt nichts gegen den Drogenanbau. Im Gegenteil, das Militär hat ihn stattdessen gefördert und Marihuana-Saatgut verteilt. Sein Ziel ist es, den Zusammenhalt der indigenen Gemeinschaften zu schwächen. Sie wollen, dass wir untereinander in Konflikte geraten und uns in Fraktionen aufteilen: Auf der einen Seite diejenigen, die Marihuana anbauen, und auf der anderen Seite wir als Teil der indigenen Selbstverwaltung. Und wir werden immer weniger.

Wie sehen Sie das „ethnische Kapitel“ des Abkommens?
Das ist ein sehr wichtiger Teil. Darin steht, dass der Staat Land aufkaufen wird, um es an indigene Gemeinschaften, Bauern und Afrokolumbianer weiter zu geben. Das klingt zwar gut, aber bisher haben wir keinen einzigen Hektar Land bekommen.

Wie ist derzeit die Menschenrechtssituation im Cauca?
In der ersten Hälfte des Jahres 2019 begann eine schreckliche Mordwelle. Jeden Tag wurden ein oder zwei Menschen ermordet. Aktuell ist es in meinem Heimatort Toribío im Nordosten ruhig, aber in anderen Orten im Cauca ist die Situation kritisch. Die letzten Morde in Kolumbien richten sich vor allem gegen die junge Bevölkerung, zum Beispiel das Massaker an den sechs Jugendlichen in Tambo, den neun in Nariño, den anderen fünf in Cali…

Was sind die Gründe für diese Morde?
Das war und ist schon immer die Politik der Ultrarechten. In allen diktatorischen Ländern sind die Jugendlichen das primäre Ziel der Repression, denn die Jugend ist am stärksten politisiert. Sie sind bei den Protesten am aktivsten. Die Mehrheit der indigenen Selbstschutzorganisation (Guardia Indígena, Anm. d. Red.) ist jung. Die Morde sollen die Angst schüren.

Ihr Ziel ist, soziale Aktivisten, indigene Gemeinden, Afrokolumbianer und Bauern im ganzen Land zum Verstummen zu bringen, – diejenigen, die Land fordern. Sie wollen sich das ganze Land aneignen, so wie es Ex-Präsident Álvaro Uribe bereits vor vielen Jahren in anderen Regionen getan hat.

Viele aus der indigenen Gemeinschaft werden von der paramilitärische Gruppe Águilas Negras ermordet. Sie verteilten Flugblätter, auf denen alle Aktivisten als Ziele bezeichnet wurden. Dort stand auch, dass die sozialen Aktivisten Präsident Iván Duque nicht regieren lassen, dass sie ihre Proteste einstellen und den Mund halten sollen. Wer still sei, dem geschehe auch nichts. Aber im Cauca gibt es eine Protestkultur. Deshalb greifen sie uns an. Im Moment stehen alle 126 Mitglieder des CRIC im Fadenkreuz.

Welche bewaffneten Akteure bedeuten derzeit eine Bedrohung für den CRIC?
Wir erhalten vor allem Drohungen von rechten paramilitärischen Gruppen, besonders von den Águilas Negras. Aber auch die wiederbewaffneten Splittergruppen der FARC und der ELN (Nationale Befreiungsarmee, Anm. d. Red.) sind in der Region aktiv. Alle bewaffneten Akteure versuchen das indigene Territorium zu kontrollieren, dabei sind wir ein Stein im Schuh.

Hat sich durch das Friedensabkommen etwas im Cauca verändert?
Die indigene Bewegung unterstützt weder linke noch rechte bewaffnete Gruppen. Deshalb hatten wir vor dem Abkommen viele Probleme mit den FARC. Sie ermordeten viele aus unserer Führung. Nach dem Abkommen herrschte zwei Jahre lang bemerkenswerte Ruhe. Es fiel kein einziger Schuss, es gab keine Toten. Aber sobald Iván Duque sein Amt angetreten hatte, kam die Gewalt erneut in die Region – allerdings verändert. Es gibt keine bewaffnete Konfrontation zwischen der Regierung und der FARC mehr, sondern selektive Gewalt. Die Leute dringen mit Listen in Häuser ein und ermorden diejenigen, die auf den Listen stehen. Es ist eine neue Art der Kriegsführung und sie kommt aus der ultrarechten Politik. Nicht nur im Cauca, sondern in ganz Kolumbien verletzt die Regierung unsere Menschenrechte.

Gibt es aktuell gar keinen Dialog mit der Regierung?
Das Paramilitär agiert nicht selbstständig. Als wir die Flugblätter erhielten, haben wir die Innenministerin kontaktiert. Wir erzählten ihr von den Morddrohungen und der Aufforderung, Iván Duque in Ruhe zu lassen. Wir haben den Eindruck, dass die Morde in unserer Region von der Regierung beauftragt werden. Die Innenministerin antwortete lediglich, dass die indigene Selbstschutzorganisation sechs Angehörige des Paramilitärs festgenommen habe und sie nicht der Polizei übergeben hätte. Wir vertrauen der Polizei jedoch nicht. Wir haben in der Gemeinde Orte, in denen wir die Paramilitärs festhalten. Die Festgenommenen erzählten uns, sie hätten direkte Anweisungen und finanzielle Unterstützung von Regierungsseite erhalten. Heute wissen alle, dass die Regierung eng mit dem Drogenhandel und dem Paramilitär verbunden ist (siehe auch LN 553/554).

Sie provozieren uns durch die ständigen Morde. Die indigene Gemeinschaft wollte jedoch noch nie zu den Waffen greifen. Unsere Position war schon immer und ist weiterhin die friedliche Mobilisierung. Ich denke, so finden wir auch eine viel größere Unterstützung für unseren Kampf, als wenn wir Waffen hätten. Zudem haben wir oft genug erlebt, wie sich die Gewalt entwickelt. Dem Land und der Zivilbevölkerung wird großer Schaden zugefügt, aber es werden keine großen Veränderungen erreicht.

Was erwartet der CRIC vom Staat?
Wir stellen weiterhin Forderungen an die Regierung. Im Oktober findet eine landesweite Mobilisierung gegen die Regierung statt. Iván Duque muss sich von den paramilitärischen Gruppen distanzieren, sie dazu auffordern, ihre Waffen abzugeben und Teil des Zivillebens zu werden. Wir haben aber keine Hoffnungen, dass uns staatliche Sicherheitskräfte schützen. Der Präsident militarisierte nach den Morden die Region weiter. Eine Woche nach der Ermordung des Ratsmitglieds Cristina Bautista war Duque im Cauca und sagte, er würde 2.500 Soldaten schicken. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits fünf große Militärstützpunkte. Wozu benötigen wir noch mehr?

Die Gegenwart des Militärs gibt dem Paramilitär mehr Kraft. Oft sind Soldaten Teil der paramilitärischen Gruppen. Tagsüber tragen sie ihre Uniform und nachts kleiden sie sich schwarz und tragen Armbinden, auf denen Autodefensas Gaitanistas de Colombia steht. Wenn der indigene Selbstschutz Kontrollen durchführt und diese schwarz gekleideten Bewaffneten verfolgt, flüchten sie in die Polizeiquartiere und Militärstützpunkte. Das ist das Militär, das Iván Duque schickt, um unsere Sicherheit zu gewährleisten.

Wie kann die Situation von der internationalen Ebene aus beeinflusst werden?
Die Europäische Gemeinschaft hat Millionen Euro für die Umsetzung des Friedensabkommens beigesteuert. Wo sind diese Gelder geblieben? Die Regierungen Europas könnten und sollten die Umsetzung des Abkommens einfordern.

Wie reagiert der CRIC auf die Morde?
Mit der indigenen Selbstschutzorganisation verteidigen wir uns selbst. Als immer mehr Mitglieder ermordet wurden, sahen wir als einzigen Ausweg, ihre Anzahl zu erhöhen. Zurzeit gibt es um die 5.000 im Cauca, wir müssen jedoch 10.000 oder 15.000 sein und die Kontrolle von innen erhöhen. Wir versuchen diese Kenntnisse auch mit den Gemeinden von Afrokolumbianer und Bauern zu teilen, damit sie eigene Strategien entwickeln.

SOZIALER PROTEST ZWISCHEN HOFFNUNG UND POLARISIERUNG

Gefährlicher Einsatz Politische Opposition fordert in Kolumbien viele Menschenleben (Foto: Comunicaciones CRIC)

Der Begriff Minga bezeichnet einen kollektiven Arbeitseinsatz und wird in Kolumbien inzwischen auch für politische Versammlungen verwendet. Die derzeit wichtigste heißt „Minga für die Verteidigung des Lebens, des Territoriums, der Gerechtigkeit und des Friedens“. Nach und nach haben sich der Minga-Blockade auf der Panamericana ebenfalls Bauern und Bäuerinnen, Afro-Kolumbianer*innen und indigene Gruppen aus anderen Regionen angeschlossen. Trotz abwechselnd schwerer Regenfälle und brennender Sonne, nahm die Zahl der Protestierenden seit Mitte März eher zu als ab. Die Hauptforderung: Präsident Iván Duque soll in den Cauca kommen, um Rechenschaft abzulegen – über die mehr als tausend vom kolumbianischen Staat nicht erfüllten Abkommen mit den Gemeinden und ihren Organisationen, seine als Unterminierung wahr­­genommene Haltung gegenüber dem Friedensprozess mit der demobilisierten FARC-Guerilla sowie den immer weiter zunehmenden Morden an lokalen Führungspersönlichkeiten und Menschenrechtsverteidiger*innen. 556 solcher gezielten Tötungen verzeichnet das Forschungsinstitut für Entwicklung und Frieden (INDEPAZ) zwischen Januar 2016 und Januar 2019 in Kolumbien, mit einem stetigen Anstieg. Die meisten Morde wurden mit 252 an der Zahl im Jahr 2018 verübt. Die Region Cauca ist in dieser Statistik mit einem Anteil von mehr als einem Fünftel trauriger Spitzenreiter. Aber die Fronten sind verhärtet. Der Präsident weigerte sich wochenlang direkt mit den Protestierenden zu verhandeln und entsendete nur Stellvertreter*innen. „Mit Blockaden verhandeln wir nicht“, wiederholte er immer wieder in einer offensichtlichen Paraphrasierung der gleichen Aussage in Bezug auf Terrorist*innen. Erst am 5. April kam es zu einem Durchbruch bei den Verhandlungen. Die Regierung stellte ein über 230 Millionen Euro schweres Investitionspaket im Rahmen des Nationalen Entwicklungsplanes sowie die direkte Präsenz des Präsidenten in der Folgewoche in Aussicht. Im Gegenzug erklärten sich die an der Minga beteiligten Organisationen bereit, zwar nicht die Minga zu beenden, aber zumindest die Blockade der Panamericana bis auf weiteres aufzuheben.

„Gegen die Minga wird mit militä-rischen Mitteln vorgegangen.“

Bisher setzte Präsident Duque auf die Strategie der Kriminalisierung sozialer Proteste, die sein Verteidigungsminister Guillermo Botero im letzten Jahr mit der Behauptung, alle indigenen Proteste seien vom Drogenhandel finanziert, auf die Spitze trieb. Der Vorwurf, der Protest sei von bewaffneten Gruppen unterwandert oder politisch von der demobilisierten Guerilla FARC kontrolliert, wird seitdem laufend wiederholt. Mitglieder der Regierungspartei Centro Democrático befüttern unter anderem den Twitterkanal #MingaDeLasFarc laufend mit Propaganda. Dass die indigenen Gemeinden seit jeher die Präsenz aller bewaffneten Akteur*innen – egal ob Armee, Guerilla oder Paramilitärs – in ihren Territorien ablehnen und die autonome indigene Justiz regelmäßig Waffen und anderes Kriegsmaterial beschlagnahmt und ausnahmslos vernichtet, wird ignoriert.  Das befördert einerseits die von einigen Vertreter*innen des Regierungslagers betriebene politische Polarisierung der kolumbianischen Gesellschaft, mit fortwährenden Anschuldigungen und Beleidigungen gegen jede Opposition und rechtfertigt andererseits nach außen ein hartes Vorgehen gegen die Blockade. „Gegen die Minga wird mit militärischen Mitteln vorgegangen“, stellt Omar Quirá vom Menschenrechtsprogramm des Indigenen Regionalrats des Cauca (CRIC) fest, welcher als Zusammenschluss von 90 Prozent der indigenen Gemeinden des Cauca maßgebliche Kraft hinter der Minga ist. „Es ist besorgniserregend, dass unter den zur Kontrolle der Minga entsandten Kräften nicht nur Polizisten, sondern auch Soldaten sind. Außerdem gab es mehrere Versuche, die Minga zu infiltrieren. Wir haben ungefähr zehn Militärangehörige identifiziert und an die Defensoría del Pueblo [nationale Ombudsbehörde, Anm.d.Verf.] sowie die UNO übergeben,“ ergänzt Quirá.

Foto: Miguel Boller

Inzwischen sind mehrere Videos veröffentlicht worden, auf denen zu sehen ist, wie Soldaten mit auf Dauerfeuer geschalteten Waffen in Richtung der Protestierenden schießen. Mehrfach wurden auch die Zeltlager der Mingueroas angegriffen, obwohl sie abseits der Panamericana liegen. Militärflugzeuge, Drohnen und Hubschrauber überflogen trotz anders lautender Abmachungen immer wieder die Protestlager und warfen Propagandamaterial oder Leuchtkörper ab. Gleichzeitig versuchten anscheinend auch illegale bewaffnete Gruppen, die Situation zu nutzen, um ihre Positionen zu stärken oder gegen die autonomen Gemeinden vorzugehen, die für sie ein Hindernis bei der Durchsetzung ihres Machtanspruchs darstellen.

Die bisherige Bilanz: Über 100 Verletzte und 11 Tote auf Seiten der Mingueroas, darunter mehr als ein Dutzend durch Schusswaffen Verwundete. Außerdem wurde ein Polizist durch nicht identifizierte Heckenschützen erschossen. Die meisten Toten gab es bei einer noch ungeklärten Explosion in einer Hütte, in der sich mehrere Indigene ausruhten. Laut einem Überlebenden hatten Unbekannte einen Sprengsatz in die Hütte geworfen. Von der Regierungsseite wurden sofort Anschuldigungen laut, die Opfer hätten selbst mit Sprengstoff hantiert.Vom 3. auf den 4. April kam es in Popayán, der Hauptstadt des Cauca, zu massiven Übergriffen auf Gebäude und Installationen des Regionalrats des CRIC als wichtigste Kraft hinter der Minga. Außerdem wurden die Bauernorganisation CIMA und die nationale Ombudsbehörde angegriffen. Mehrere Menschen wurden teils schwer verletzt (siehe Kurznachrichten S.54).
Oberflächlich betrachtet ist der wichtigste Faktor hinter diesen Auseinandersetzungen die in Kolumbien allgegenwärtige Frage nach Landbesitz und einer Agrarreform. Die Bedeutung der Landfrage spiegelt sich auch darin dass die „Integrale Reform des ländlichen Raums“ der erste Punkt der Friedensabkommen von Havanna ist. Laut Daten von Oxfam ist die Ungleichheit in der Landverteilung in Kolumbien weiterhin extrem und hat seit den 1990er Jahren sprunghaft zugenommen: Nur ein Prozent der landwirtschaftlichen Produktionseinheiten kontrollieren über 70 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche.

Hier prallen Welten aufeinander

Im Cauca werden diese Gegensätze besonders deutlich: Auf der einen Seite stehen traditionelle Großgrundbesitzer*innen wie die Zuckerrohrbaron*innen im Norden des Departements, deren Felder sich über tausende Hektar in den am einfachsten zu bewirtschaftenden Ebenen vom Norden des Cauca bis in das Nachbardepartement Valle del Cauca erstrecken. Auf der anderen Seite finden sich tausende Kleinproduzent*innen in den indigenen, afrokolumbianischen und Campesino-Gemeinden, deren Ländereien häufig an den schwer zu bearbeitenden Andenhängen liegen und in vielen Fällen nicht einmal die Größe erreichen, die nach offiziellen Daten für den Unterhalt einer Familie ausreicht. Hinzu kommen relativ neue Akteur*innen wie Cartón Colombia, eine Tochterfirma der europäischen Smurfit Kappa mit Sitz in Irland. 2015 besaß Smurfit Kappa, unter anderem auch Deutschlands größter Hersteller von Kartonverpackungen, in Kolumbien knapp 68.000 Hektar. Mit Slogans wie „Better Planet Packaging“ bastelt die Firma in Europa an ihrem Nachhaltigkeitsimage und schafft es sogar noch, für völlig sterile Fichten- und Eukalyptus-Monokuturen Aufforstungs- und Klimaboni einzustreichen. Hier prallen nicht nur Welten aufeinander, sondern auch Produktionsmodelle: Agrarindustrie und kleine, diversifizierte Produktionsflächen, die neben der Produktion für den Verkauf auch der Selbstversorgung dienen.

Dass es gerade im Cauca immer wieder sowohl zu Gewaltausbrüchen als auch zu längeren Auseinandersetzungen zwischen sozialen Bewegungen kommt, hat weitere Gründe. Zum einen haben die unterschiedlichen bewaffneten Gruppen ein hohes Interesse an der Kontrolle sowohl von Anbaugebieten von Koka und Marihuana als auch an den unterschiedlichen Routen in Richtung Pazifik, wo die Drogen zum Export verladen werden. Zum anderen ist wohl nirgendwo in Amerika, mit Ausnahme der zapatistischen Gemeinden in Mexiko, die indigene Autonomie so weit entwickelt wie im Cauca. Der CRIC ist von fünf Gemeinden bei ihrer Gründung 1971 auf inzwischen 126 Gemeinden mit etwa 270.000 Einwohner*innen in der gesamten Region angewachsen. Die indigene Justiz setzt ihre Eigenständigkeit mit viel Selbstbewusstsein durch. Sie beschlagnahmt und zerstört Waffen und Drogen, und große Infrastruktur- oder Bergbauprojekte müssen regelmäßig mit gut organisiertem Widerstand rechnen. Es gibt autonome Schulen, ein eigenes Gesundheitssysstem und die Gemeinden schrecken auch vor Besetzungen von Ländereien der Familien mit Großgrundbesitz nicht zurück. Der Aufbau eigener Strukturen wurde außerdem von Beginn an mit einer juristischen Strategie begleitet. Damit konnten bestehende Normen und sogar Regelungen, die noch aus der Kolonialzeit stammen, subversiv zur Untermauerung von Forderungen und zur Absicherung von Erreichtem genutzt werden. Zusätzlich wurde efolgreich Lobbyarbeit für Gesetzesreformen betrieben, die auch nationale Auswirkungen haben.

Minga ist mehr als eine Blockade

Dadurch haben sich die indigenen Gemeinden des Cauca zu einem Machtfaktor entwickelt, der den bewaffneten Akteuren genauso ein Dorn im Auge ist wie der Regierung und den Großgrundbesitzer*innen. Diese greifen zur Verteidigung ihres Machtanspruchs immer wieder zu Gewalt und Kriminalisierung oder versuchen bei anderen benachteiligten Sektoren Neid auf die politischen und materiellen Errungenschaften der indigenen Bewegung zu schüren und sie gegeneinander auszuspielen. In letzter Zeit ist es dennoch mehrfach gelungen, vor allem die unterschiedlichen Gruppen aus dem ländlichen Raum zu koordinieren und eine gemeinsame Agenda auszuhandeln, so auch bei der aktuellen Minga. José Ildo Pepe, einer der von der Minga benannter Sprecher stellt fest: „Unsere Minga fordert die Umsetzung bestehender Abkommen und Rechte für die afrokolumbianischen Gemeinden, für die Campesinos und für uns Indígenas. Unsere Minga hat nationale Reichweite. Die Themen sind struktureller Art: Land, Schutz des Lebens und der Umwelt, Wasser, nicht nur im Cauca, sondern im ganzen Land. Die Regierung denkt, es geht nur um den von ihr vorgelegten Nationalen Entwicklungsplan. Aber es geht um mehr: Es geht um die Bewahrung des Lebens in seiner Ganzheit.”


(Foto: Comunicaciones CRIC)

 

Diese Sichtweise zeigt sich auch in den anderen Gesichtern der Minga, abseits der Konfrontationen mit der Staatsmacht, von Außenstehenden nur selten wahrgenommen. „Die Kreativität der Menschen, um unter solchen Bedingungen durchzuhalten, ist unglaublich“, erzählt Omar Quirá mit einem breiten Grinsen. „Es wurden zum Beispiel schon Fußballturniere und Unterricht in traditionellen andinen Tänzen mitten auf der Panamericana organisiert. Und ein paar Jugendliche drehen mit einer Kameraattrappe aus Pappe Runden durch die Protestlager, führen Interviews, verbreiten Neuigkeiten und bringen nebenbei die Leute zum Lachen.“ Auch die basisdemokratischen Elemente der indigenen Kultur sind ein wichtiger Bestandteil. „Nach jeder Verhandlungsrunde finden Versammlungen statt, um die Menschen zu informieren, zu hören, was sie denken, politische Themen zu diskutieren sowie Empfehlungen und Anweisungen an die Sprecher*innen und Verhandlungsführer*innen zu vereinbaren“, führt Quirá aus. „All das verwandelt sich in neue Protestformen, stärkt den Zusammenhalt und unsere autonome Kultur.“

 

DER FLUSS FLIESST NICHT

Kein Gold mehr Goldwäscher*innen verloren durch die Flut ihre Lebensgrundlage (Foto: Agencia Prensa Rural , CC BY-NC-ND 2.0)

Puerto Valdivia ist die letzte der vier Stationen unserer Reise. Hier sieht es aus, als hätte der Rio Cauca erst gestern das ganze Dorf überschwemmt und wirklich alle Häuser an der Uferstraße mehr oder weniger verwüstet. Der mitgeführte Sand liegt noch auf den Fußböden der Häuser und bildet Haufen mit zerborstenen Bettgestellen und anderen Möbeln. Kein Mensch lebt mehr hier. Puerto Valdivia gleicht einer tropischen Geisterstadt. „Wir stehen hier im hinteren Teil der Schule,“ erklärt uns Pedro, einer der Vertreter*innen der Vereinigung der traditionellen Goldwäscher*innen (Name von der Red. geändert), der uns durch sein Dorf führt. „Inzwischen sind seit der Überschwemmung sechs Monate vergangen, und die Schulbücher liegen immer noch genau so da.“ Offensichtlich war hier einmal eine kleine Terrasse oder ein Minischulhof. Inzwischen haben alle möglichen Schlingpflanzen die Oberhand gewonnen.

Außer den Aktivist*innen von Movimiento Rios Vivos Antioquia (MRVA) und ausländischen Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen, wie unsere Gruppe, kommt niemand hierher. Wir sind Vertreter*innen von Mitgliedsorganisationen des Netzwerks Zusammenarbeit für den Frieden (ECP). Einige unterstützen bereits seit mehreren Jahren lokale Basisorganisationen in ihrer Kritik an dem Staudammprojekt Hidroituango ca. 170 km nördlich von Medellín. Das Wasserkraftwerk soll eines Tages mit 2.400 Megawatt Stromproduktion 17 Prozent des kolumbianischen Stromverbrauchs liefern. Dazu wird der Cauca, der zweitgrößte Fluss Kolumbiens, auf 76 km Länge aufgestaut. Es ist nur logisch, dass dies mit enormen Auswirkungen auf Flora, Fauna, das lokale Klima und natürlich auch auf die in der Region lebenden Menschen verbunden ist. Nach Schätzungen des renommierten Anwält*innenkollektivs José Alvear Restrepo, das die Betroffenen des Staudammprojekts vertritt, sind ca. 150.000 Menschen direkt davon betroffen. Laut Plan sollte der gesamte Bau Ende 2018 fertiggestellt sein. Doch Ende April 2018 wurde durch einen Erdrutsch einer der Entlastungstunnel an der Staumauer verstopft und am Folgetag durch den Druck des sich aufstauenden Wassers wieder frei gespült. Eine riesige, unkontrollierte Flutwelle entstand und richtete auf ihrem Weg flussabwärts großen Schaden an. Sie riss eine Brücke mit sich, die Hütten der Goldwäscher*innen an beiden Ufern und zerstörte all ihre Habe: Möbel, Haushaltsgegenstände, die Nutzgärten, Boote und Werkzeuge. Auch die Hühner und andere Haustiere ertranken.

Viele Familien lebten im November 2018 noch in provisorischen Unterkünften, die meisten bei Verwandten oder weiter oberhalb auf den angrenzenden Hügeln. 37 Personen saßen immer noch in der Turnhalle von Ituango fest. Ihre Versorgung seitens der Behörden ist prekär. In Eigenarbeit haben sie eine Toilette errichtet und einen kleinen Nutzgarten angelegt, in dem sie Kräuter, Zwiebeln und Tomaten anbauen. Sie fühlen sich von den Behörden im Stich gelassen und sind im Ort mit ihrer Kritik am Staudammprojekt alles andere als wohlgelitten.
Die Zukunft der durch die Flutwelle obdachlos gewordenen Goldwäscher*innen aus Puerto Valdivia ist völlig ungeklärt. Das Betreiberunternehmen, die Stadtwerke von Medellín (EPM), hatte 2008 vor Beginn der Flutung des Stausees einen Zensus der potentiell Betroffenen durchgeführt. Die Kriterien des Zensus haben sie selbst festgelegt und dabei eine ungeklärte Zahl von Einzelpersonen und Familien unberücksichtigt gelassen. Darin liegt eine der aktuellen Schwierigkeiten, denn diese Familien sind jetzt von der Möglichkeit von Entschädigungen durch EPM ausgeschlossen. Die örtlichen Behörden hatten ihrerseits keinen eigenen Zensus über potentiell Betroffene des Staudammprojekts erhoben. Insgesamt sind die Melderegister in Kolumbien auch durch den jahrzehntelangen bewaffneten Konflikt und durch andauernde Vertreibungen lückenhaft und nicht aktualisiert. In Bezug auf das Staudammprojekt fallen nun diese nicht registrierten Personen durch alle Raster.

Der alltägliche Kampf ums Überleben macht die Entwicklung von Zukunftsperspektiven schwierig. Dennoch kristallisieren sich zwei Optionen heraus, die bei genauerem Blick mit ähnlichen Schwierigkeiten verbunden sind: Rückkehr an den ursprünglichen Ort oder Umsiedlung an etwas höher gelegene Orte. Insbesondere die ehemaligen Bewohner*innen von Puerto Valdivia, deren Häuser überflutet wurden, wollen nicht dorthin zurückkehren, sehen sich jedoch durch EPM dazu gedrängt. Mit ein paar Reparaturen an den Häusern wäre der Fall für das Unternehmen erledigt – so scheinen sie zu kalkulieren. Dabei wirken zumindest die Häuser an der Uferstraße nicht so, als würde eine Reparatur helfen, sondern eher, als müssten sie wieder ganz neu aufgebaut werden. Aber davon abgesehen, haben die Menschen Sorge, dass sich eine Flutwelle wie im Mai jederzeit wiederholen könnte – und auch Menschenleben kostet. An allen Häusern der Uferstraße ist ein kleiner Aufkleber zu finden: „KEINE RÜCKKEHR!“

Eine unkontrollierte Flutwelle entstand und richtete flussabwärts großen Schaden an

Die meisten wollen in höher gelegene Orte umgesiedelt werden. Dazu benötigen sie allerdings finanzielle und technische Unterstützung, um Fuß zu fassen und eine kleine Landwirtschaft aufzubauen oder die vorherige zu erweitern, so dass sie den Lebensunterhalt sichert. Andere konzentrieren ihre Forderungen und ihr Engagement auf eine Rückkehr zur vorherigen Situation. Dies beinhaltet notwendigerweise einen Rückbau beziehungsweise Abriss der Staumauer und keine Inbetriebnahme des Kraftwerks. Wie realistisch diese Option auch angesichts der enormen bereits getätigten Investitionen sein kann, ist schwer zu beurteilen. Und selbst wenn es einen Rückbau gäbe, bliebe unklar, ob ähnliche Lebensbedingungen der Flussanrainer*innen wieder hergestellt werden könnten.

Im Stausee wurden Fische ausgesetzt, allerdings schmecken sie nach verfaultem Holz

Viele Generationen lang bestand eine Besonderheit der Lebens- und Wirtschaftskultur der Region darin, dass die Familien über eine diversifizierte Einkommensstruktur verfügten. Das Goldwaschen und Fischen fand direkt am und im Fluss statt. Die meisten Familien etwas weiter oben in den Hügeln verfügen auch über ein Stück Land zur Selbstversorgung und über kleine Kaffeefelder. Mit diesen vier Pfeilern konnten sie ihren Lebensunterhalt ziemlich stabil sichern und Jahre mit schlechteren Ernten oder geringen Fischbeständen wirtschaftlich ausgleichen. Durch das Staudammprojekt wurden alle vier Einkommens- und Versorgungspfeiler gleichzeitig beeinträchtigt oder zunichte gemacht. Während bereits zuvor klar war, dass das Goldwaschen durch die Flutung des Stausees als Einkommensquelle wegfallen würde, war nicht vorherzusehen, dass auch die Subsistenzwirtschaft nicht mehr möglich sein würde. Denn die Flutung des Stausees hat auch eine Veränderung des Mikroklimas hervorgerufen, so dass weder die Kaffeeernte noch die Anpflanzungen zur Selbstversorgung gedeihen. Was den Fischfang betrifft, so wurden zwar im Stausee wieder Fische ausgesetzt, allerdings sind diese nach Angaben der Betroffenen ungenießbar, weil sie nach verfaultem Holz schmecken würden: vor der Flutung wäre die Biomasse nicht vollständig entfernt worden. Kurz- und mittelfristig benötigen die betroffenen Familien Unterstützung bei der Umsiedlung und dem Aufbau von stabilen Einkommensmöglichkeiten. Längerfristig ist aber überhaupt nicht klar, welche dies sein und wo sie entwickelt werden können. Beides hängt von politischen Entscheidungen rund um das Staudammprojekt ab.

Überschwemmtes Haus am Fluss  Zahlreiche Anwohner*innen wurden obdachlos (Foto: Christiane Schwarz)

So zeigt sich am Ende der Reise ein düsteres Bild: Hauptsächlich bleiben die Unsicherheiten und Fragezeichen bestehen. Seriöse Prognosen können nicht abgegeben werden. Wird das Kraftwerk in Betrieb genommen und wenn ja, wann? Kann ausreichende Sicherheit gewährleistet werden, so dass es die Familien wagen, nach Puerto Valdivia und an die Flussufer zurückzukehren? Wie entwickelt sich das Mikroklima in den kommenden Jahren im Bereich des Stausees? Ermöglicht es stabile Ernten für Kaffee und Subsistenzwirtschaft? Natürlich gibt es in der Region auch Menschen, die sich neue wirtschaftliche Möglichkeiten durch den Staudamm und größeren Wohlstand für die schwer zugängliche Region erhoffen. Das Betreiberunternehmen rührt die Werbetrommel in diesem Sinne. Auf den ersten beiden Stationen unserer Reise, Toledo und Sabanalarga, konnten wir uns davon ein Bild machen. Als Sponsor der Dorffeste war EPM dort auf Plakaten, Schirmen und in den Getränkebuden omnipräsent. Das MRVA zeigt Anfeindungen und Bedrohungen ihrer Mitglieder immer wieder bei den Behörden an und macht sie auch international bekannt. Im Jahr 2018 wurden bislang die meisten Bedrohungen verzeichnet. Zwischen Januar und dem 10. Dezember 2018 verzeichnet MRVA 108 Aggressionen gegen Kritiker*innen des Staudammprojekts, darunter Bedrohungen, Stigmatisierungen, physische Verfolgung, illegale Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Die Aussichten für 2019 sind leider nicht besser. Anfang Februar wurden die Schleusentore in der Staumauer geschlossen, so dass kurzfristig der Wasserpegel flussabwärts stark abfiel. In der Folge sind unzählige Fische verendet. Der Kampf der Menschen um ihre Lebensgrundlage, den Cauca Fluss, und gegen das Wasserkraftwerk wird 2019 weitergehen.

 

HINHALTETAKTIK UND RÜCKSCHRITTE

Die Region Cauca wirkt malerisch, doch sie ist umkäpft  Foto: tacowitte, Flickr (CC BY 2.0)

Der CRIC vertritt seit 47 Jahren die indigenen Gemeinschaften der Nasa im Cauca. Warum sind Ihre Erwartungen an die erste Verhandlungsrunde mit der neuen kolumbianischen Regierung so gering?
Für uns_ist es offensichtlich, dass die Vereinbarungen zur Verbesserung der Situation der indigenen Gemeinden durch die Regierung verschleppt und nicht eingehalten wurden._Die in der Verfassung von 1991 festgelegten kollektiven Rechte für Indigene und Afrokolumbianer*innen wurden unter den nachfolgenden Regierungen, vor allem unter Pastrana, Uribe und Santos weitgehend außer Acht gelassen und zurückgeschraubt. Das auf dieser Verfassung basierende Gesetz 1060 und die Anerkennung indigener Selbstverwaltung waren dabei nie Selbstläufer. Die Tatsache, dass nur drei indigene Gemeinden, die Nasa, die Misac und die Isiapidadas, von insgesamt zehn Gemeinden im Cauca eigene Selbstverwaltungsstrukturen aufbauen konnten, war das Ergebnis von sozialen Kämpfen und von der Vernachlässigung und Behinderungen durch den Staat. Das Ganze wurde aber durch den Konflikt erschwert: Es gab Vertreibungen und Indigene werden als Anhänger der FARC stigmatisiert. Hinzukommen Drogenanbau und illegaler Bergbau. Darüber hinaus gab es nach 1990 eine Invasion von radikalen Evangelikalen im Cauca, welche die Gemeinden bis heute spalten. Trotz aller Schwierigkeiten gab es von unserer Seite viele Versuche, mit den jeweiligen Regierungen zu verhandeln. Am 18. und 19. Januar gab es die erste Verhandlungsrunde mit der neuen Regierung in Popayán, die bereits in der letzten Runde mit der Santos-Regierung vereinbart war.

Wie geht es jetzt weiter?
Der im Januar 2019 vorgelegte Vierjahresplan der Regierung wurde nicht mit uns abgesprochen. Das gilt auch für andere Projekte der Regierung, beispielsweise bei Investitionen, die theoretisch im Rahmen eines Beratungsprozesses angekündigt werden müssen. Es ist also nichts Besonderes mit Regierungsvertretern zu sprechen; denn eine Einflussnahme auf den lokalen Entwicklungsplan lässt sich nur durchsetzen, wenn man sich zu Wort meldet und Präsenz zeigt. Wir machen diesbezüglich Druck in den Verhandlungen, dass es verbindliche Vereinbarungen und Haushalte für die autonome indigene Verwaltungen gibt. Aufgrund des Stillstands bei der Umsetzung des Planes haben wir – die indigenen Autoritäten – nun unseren eigenen Vierjahresplan vorgelegt. Im Zuge unserer Vorschläge sollen Schritte gegangen werden, damit die Bürgermeistereien klare Befugnisse erhalten, die bislang oft nur auf dem Papier stehen. Im Prinzip war das bereits 2013 vereinbart.

Was erwarten Sie von der Regierung Duques?
Nach unseren gegenwärtigen Erfahrungen sind unter der Präsidentschaft von Iván Duque eher Rückschritte zu erwarten. Unsere Forderungen stehen teilweise im Gegensatz zu den offiziellen Entwicklungszielen der Regierung – die ja auf Großprojekte und Zentralismus setzen. Das geht auch aus dem Entwurf des nationalen Entwicklungsplans der Regierung hervor, der seit dem 10. Februar im Kongress diskutiert wurde.
Wir wissen gegenwärtig zum Beispiel fast nichts über die Details, über die darin enthaltenen Vorschläge für die sogenannten Investitionsgebiete und unternehmerische Entwicklung als auch was dabei für die Pazifikregion vorgesehen ist. Um unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen, mobilisieren wir zum großen Protestmarsch der Indigenen und Campesinos im Cauca.

Wie ist das im Zusammenhang mit den Friedensverträgen zwischen der Regierung und der FARC zu sehen?
Der CRIC hat nie direkt an den Verhandlungen mit der FARC teilgenommen, sondern nur über die Vertreter*innen der Zivilgesellschaft – zum Beispiel Frauen und Indigene, die auch in Havanna waren. Zwar wurden immerhin rund 60 Prozent der vereinbarten Punkte verwirklicht, aber noch sind wesentliche Vereinbarungen nicht umgesetzt worden. Dazu gehört die finanzielle Unterstützung bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft, Sicherheitsgarantien und Infrastruktur. Ein wichtiger Punkt für uns ist die Untätigkeit der Regierung in Sachen Drogenanbau. Seit dem Friedensschluss 2016 haben sich nach Angaben der UN die Anbauflächen von Coca, Amapolla und Mariuhana in Kolumbien von 43.000 Hektar auf 250.000 Hektar erweitert. Das betrifft vor allem uns, hier im Cauca. Auch das ist ein Ausdruck mangelnder Perspektiven und schlechter Umsetzung der Vereinbarungen.

Hatten für Euch die Verhandlungen mit der ELN praktische Bedeutung?
Während der Verhandlungen hatten wir im letzten Jahr bei Beratern der ELN angefragt, ob und wo konkret diese Gruppe militärische Einheiten im Cauca unterhält, die unsere Interessen berühren. Bis zum Abbruch der Friedensverhandlungen hatten wir allerdings keine Antwort darauf erhalten.

Wie ist die Lage für Euch in Sachen Verfolgung und Ermordung von Angehörigen der Guardia Indígena. Gab es Drohungen gegen Euch?
2019 sind schon mehr als 10 unserer Anführer ermordet worden. Unter anderem fordern wir deshalb Sicherheitsgarantien für uns. Einige von uns sind mehrfach bedroht worden. Ich möchte keine Namen nennen, aber zum Beispiel ist die Provinzhauptstadt Popayán mittlerweile ein gefährliches Pflaster für uns geworden.

 

WEDER GOLD NOCH KOCHBANANEN

Foto: Daniela Rivas G.

Sie haben den Goldman-Umweltpreis erhalten. Was bedeutet das für Sie?
Ich habe gemischte Gefühle. Ich finde es gut, dass der Kampf von afrokolumbianischen Frauen anerkannt wird. Das ist wichtig für die Gemeinden und die nächsten Generationen. Es ist wichtig, sichtbar zu machen, dass wir Teil des globalen Kampfes für die Umwelt sind und Alternativen für die Landnutzung entwickeln. Ich zeige mein Gesicht, aber es ist eine kollektive Würdigung all der Menschen, die auf diesem Weg gestorben sind.

Was war der Auslöser für Ihre Aktivität?
Ich fing mit fünfzehn an, mich politisch zu engagieren. Motiviert hat mich die Umleitung des Flusses Ovejas für den Staudamm La Salvajena, der in den 1980er Jahren gebaut wurde. Dieses Projekt hat bereits damals Menschen vertrieben, die dabei ihre Einnahmequellen und die Beziehung zu dem Fluss Cauca verloren haben. Mitte der Neunziger Jahre wollte die Regierung im Namen von Fortschritt und Entwicklung eine Wirtschaftsordnung etablieren, die nicht im Sinne der Gemeinden war. Außerdem hatte ich eine besondere Beziehung zu dem Fluss. Es ist mehr ein Gefühl, etwas, das da ist, das Teil unseres Selbst ist. Das Land ist für uns ein Wesen, das lebt. Ich war oft im Fluss schwimmen oder habe mit anderen Gold gewaschen. Wir kochten dort, wuschen unsere Kleidung oder gingen nachts dorthin fischen.

Die Gemeinden haben damals die Umleitung des Flusses verhindert. Wie haben Sie diesen Prozess des Widerstands erlebt?
Eine gute Freundin von mir war die Sprecherin einer Gruppe von Jugendlichen. Da ich gerne Ausflüge machte, bat ich sie darum, mich mitzunehmen und so begann ich, die Treffen zu protokollieren. Im Anschluss habe ich dann die Gemeinde darüber informiert. Als ich 16 war, hatte ich schon einen Sohn. Am Anfang war es sehr schwierig, aktiv zu sein und mich um mein Kind zu kümmern, aber ich blieb dabei. Ich habe viel gelernt und dabei die Bedeutung meines afrokolumbianischen Daseins besser verstanden.

Wie war es, als der illegale Goldabbau begann?
Am Anfang sahen wir das nicht als großes Problem, denn es bedeutete Arbeit für die Leute in der Region. Ich habe selbst dort gearbeitet. Aber dann sahen wir die negativen Effekte. Wir verloren die Orte, wo wir arbeiteten, schwammen oder fischten. Für den Abbau wurde Quecksilber benutzt und das Flusswasser verschmutzt. Die großen Maschinen zerstörten die Flussufer und hinterließen riesige Löcher. Die waren so tief, dass es Erdrutsche gab, einmal starben 25 Menschen auf einmal. So etwas war mit den traditionellen Methoden vorher nicht passiert.

Der illegale Goldabbau ist Teil des Finanzierungsmodells der bewaffneten Gruppen. Wie hat sich das in der Region bemerkbar gemacht?
Die Präsenz bewaffneter Akteure rund um den illegalen Bergbau bedeutet Unsicherheit für die Gemeinde. Damit gehen Menschenrechtsver- letzungen, Morde und Bedrohungen von Aktivist*innen einher, Prostitution breitet sich aus. Ein Stück goldhaltiges Mineral wird von den Maschinenbetreibern für Sex gehandelt. Frauen sind besonders betroffen, denn wir waren diejenigen, die auch vorher traditionellen Goldabbau betrieben haben. Aber früher gingen wir zwei Tage die Woche in die Minen, die anderen Tage waren wir auf den Feldern. Erst als die Maschinen kamen, wurden die Felder aufgegeben und man ging jeden Tag in die Mine. Die Wirtschaft und Nahrungssicherheit in der Region waren damit zerstört. Am Ende gab es weder Gold noch Kochbananen. Gar nichts.

Welche Rolle spielen in diesem Kontext die großen Bergbauunternehmen?
Das Problem ist nicht nur der illegale Bergbau, denn die Abbaurechte wurden bereits vergeben, bevor dieser in der Region ankam, aber ohne Befragung der Gemeinden. 2001 gab es Paramilitärs in der Region und die Bevölkerung war verängstigt. Das Massaker von Naya (Paramilitärs ermordeten 24 Menschen und vertrieben circa 3.000 weitere, Anm. der Red.) hat seine Spuren in den Gemeinden hinterlassen. Als 2009 die großen Unternehmen in der Region ankamen und die ersten Räumungsbefehle erteilt wurden, organisierten wir uns und sagten: „Wir gehen hier nicht weg!“ Wir haben eine Widerstandsgruppe gegründet, Lobbyarbeit in den USA gemacht und eine Klage gegen die Bergbauunternehmen eingereicht, die wir 2010 gewonnen haben. Aber der illegale Bergbau ist geblieben. Ich wurde Vertreterin im Netzwerk afrokolumbianischer Organisationen CPN und musste mich den illegalen Bergbaubetreibern gegenüberstellen. Ich und andere aus der Gemeinde bekamen Todesdrohungen. Viele mussten die Region verlassen.

2014 organisierten Sie die „Mobilisierung afrokolumbianischer Frauen für die Sorge um Leben und Lebensraum“, einen Marsch vom Cauca bis in die Hauptstadt …
Damals sagte die Regierung des Verwaltungsbezirks Cauca, dass es in der Region 2000 Bagger gebe, die illegalen Bergbau betreiben. 2000! Und das obwohl Cauca so ökologisch wertvoll und vielfältig ist! Dort entspringen die meisten Flüsse des Landes. Ich habe überall versucht, Anzeige zu erstatten, aber irgendwann wusste ich nicht mehr weiter. Wir organisierten den Marsch nach Bogotá, um die Folgen des illegalen Bergbaus öffentlich zu machen. Als Frauen forderten wir, dass für die Umwelt gesorgt wird, so wie wir uns um unsere Kinder kümmern. Am Ende schlossen wir einige Verträge mit der Regierung, aber diese wurden nicht eingehalten. Aber wir haben dadurch an innerem Zusammenhalt gewonnen.

Der Frauenmarsch hat gezeigt, dass die Zivilgesellschaft Druck auf die Regierung ausüben kann. Welche Rollen spielen die Frauenbewegungen in diesem Kontext?
In Kolumbien gibt es sehr viele Frauenorganisationen. Noch existiert der weiße Feminismus, der die zusätzliche Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe oder Einkommensklassen nicht wahrnimmt. Es gibt aber auch Frauen in ländlichen Regionen, die solche technischen Begriffe nicht kennen. Es ist wichtig, intersektional zu denken. Frauen sind der Antrieb von politischen und sozialen Kämpfen. Auch wenn sie manchmal nicht an vorderster Front stehen, gestalten sie den Alltag. Es ist aber auch wichtig, dass Männer und Frauen zusammen das patriarchale System dekonstruieren und es gemeinsam verändern. Wirmüssen den Feminismus anders denken. Man kann kein Feminist sein kann, ohne Rassismus und das Wirtschaftssystem zu bekämpfen.

WEITER QUERELEN UM STAUDAMM HIDROITUANGO

Foto: Flickr.com / Hidroituango (CC BY 2.0)

Der mit geplanten 2,4 Gigawatt künftig größte Staudamm Kolumbiens, Hidroituango, der im Mai dieses Jahres kurz vor dem Bruch stand, weswegen zehntausende Menschen zwischenzeitlich zwangsumgesiedelt werden mussten, sorgt weiter für erbitterten Streit. Während hunderte Zwangs­evakuierte in überfüllten Behelfsunterkünften ausharren, die Widerstandsbewegung Ríos Vivos weiterhin vor den anhaltenden Risiken warnt, weist der Kontrollrechnungshof in seinem neuesten Prüfungsbericht auf 35 Konstruktionsfehler und Unregelmäßigkeiten bei Hidroituango hin.

Daraufhin ließ der Gouverneur des Departamentos von Antioquia, Luis Perez, erklären, für die Planungsfehler sei die unter Vertrag genommene Baufirma verantwortlich, es würden jedenfalls keine weiteren öffentlichen Gelder für den Bau bereitgestellt werden.

Indessen ließ die staatliche Mehrheitseigentümerin IDEA erklären, sie hoffe, dass die Versicherung den absehbaren Schaden der in Zukunft entgangenen Gewinne den Eigentümern von Hidroituango entschädigen werde. Die Versicherungspolicen decken LN-Recherchen zufolge insgesamt bis zu 3,178 Milliarden US-Dollar ab. Mit bis zu 2,55 Milliarden US-Dollar werden dabei Schäden am Bau und an Maschinen abgedeckt. Weitere 628 Millionen US-Dollar decken die sogenannten „entgangenen Gewinne“ ab. Die Versicherungspolicen indes sehen keine Versicherungsleistungen für Schäden bei Dritten vor. Die Betroffenen gehen beim Versicherungsschutz mal wieder leer aus.

An der Versicherung führend beteiligt ist die Allianz: Deren kolumbianische Tochterfirma ließ auf ihrer Internetseite erklären, dass sie „seit mehreren Wochen die notwendigen Arbeiten voranbringen, um für den Fall bereit zu sein, in dem es erforderlich werde, die Abdeckung ihrer Vertragspolitik zu aktivieren und sofortige Hilfe zu leisten.“

Wie bei solchen Großprojekten üblich wurde die Versicherung für den Fall von Großschäden durch eine Rückversicherung abgesichert. Diese wird normalerweise durch eine Vielzahl an international agierenden Rückversicherern gepoolt, um den potentiellen Großschaden auf möglichst viele Schultern zu verteilen. Führend bei der Rückversicherung von Hidroituango ist der weltgrößte Rückversicherer, die Münchener Rück. Diese sah sich Anfang August gezwungen, einen „Schadensfall in dreistelliger Millionenhöhe“ im Zusammenhang mit dem Staudamm Hidroituango bekanntzugeben. Auch die Hannover Rück musste den gleichen Schritt vollziehen: Deren Finanzchef Roland Vogel aber erklärte, die Hannover Rück erwarte „vergleichsweise geringe Belastungen“ aus dem Zwischenfall. Die Hannover Rück dürfte „der Fall einen niedrigen zweistelligen Millionen-Betrag kosten“, so Vogel.

Weitere Informationen wollten die Versicherungskonzerne den Medien gegenüber nicht preisgeben. Versicherungskonzerne berufen sich in solchen Fällen üblicherweise stets auf Gründe der „Kundenvertraulichkeit“. Die Öffentlichkeit erfährt über solch kritische Großstaudamm-Geschäftsbeziehungen meist erst dann etwas, wenn es größere Unfälle gibt – also dann, wenn der Schaden eine solche Größe erreicht, dass eine Stellungnahme der Firma aus Pflicht zur Kapitalmarktinformation erfolgen muss.

„ÄNGSTE HABE ICH KEINE“

Wie viele Jahre sind Sie bereits bei der FARC?
Seit 34 Jahren.

Wie sind Sie in die Guerilla eingetreten?
Ich trat wie die meisten jungen Menschen ein, die in Armut, von der Gesellschaft ausgeschlossen, aufgewachsen sind. Eines Tages entscheidet man sich für den bewaffneten Kampf als Weg für eine gerechtere, freiere und souveränere Gesellschaft.

Denken Sie, dass der bewaffnete Kampf substanzielle Änderungen für die kolumbianische Gesellschaft gebracht hat?
Substanzielle Änderungen sind noch nicht eingetreten. Das in Kuba unterzeichnete Friedensabkommen öffnet die Türen für den nötigen Wandel in Bezug auf die wirtschaftlich-soziale, politische und kulturelle Entwicklung im Land. Als Organisation zielen wir auf die Entwicklung der ländlichen Gebiete, auf die Reduzierung des Großgrundbesitzes und auf handfeste Garantien für das Recht auf die Landnutzung ab. Die Ländereien von den Kleinbauern, die von der nationalen Armee und den Paramilitärs vertrieben wurden, müssen zurückgegeben und mit technischen, finanziellen und infrastrukturellen Maßnahmen unterstützt werden. Es ist dringend notwendig, das politische Regime Kolumbiens zu demokratisieren, es muss Meinungsverschiedenhei-
ten erkennen und akzeptieren. Gewalt als historisch eingesetztes Instrument für die Machtausübung muss verboten werden. Der Paramilitarismus als Kampfmittel der politischen und wirtschaftlichen Macht muss beseitigt werden.

Haben Sie jemals am bewaffneten Kampf gezweifelt und hatten Sie Ängste während des Fortschreitens des Friedensprozesses?
In Zeiten des bewaffneten Aufstands habe ich nie an dessen Notwendigkeit gezweifelt. Den Prozess in Havanna erlebte ich mit hohen Erwartungen, denn er stellt die Möglichkeit dar, den Wunsch eines Großteils der kolumbianischen Bevölkerung zu verwirklichen, nämlich ein Ende des bewaffneten Konflikts und Ruhe und Hoffnung für die Gesellschaft. Ängste habe ich keine, meine Ambitionen und Erwartungen sind die bestmöglichen und so werden wir dem Prozess zur Implementierung des Abkommens gegenüberstehen.

Wie ist es Ihnen in der ländlichen Übergangszone für die Normalisierung (ZVTN) bis jetzt ergangen?
Wir kamen fristgerecht und unter den im Abkommen festgelegten Bedingungen in die ZVTN. Einige von uns kamen zu Fuß, andere mit dem Boot oder dem Auto. Die lokalen Bedingungen waren und sind immer noch nicht so, wie sie vereinbart wurden. Die Bauarbeiten laufen unglaublich langsam, das Gebiet wurde nicht richtig und zeitgerecht angepasst, die Baumaterialien und Werkzeuge sind unzureichend und die Pläne erfüllen nicht einmal einen Minimalstandard. Im Endeffekt gibt es noch kein Lager. Wir leben in Zeltlagern, so wie zur Zeit der offenen militärischen Auseinandersetzungen.

Finden Sie, dass dies der richtige Weg war, um die Wiedereingliederung ehemaliger FARC-Mitglieder ins Zivilleben zu ermöglichen?
Die Einrichtung der ZVTN war gut durchdacht, es sind verschiedene Schritte zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft vorgesehen. Damit sind Entwaffnung, Registrierung und Herstellung des Personalausweises der Guerilleros und Guerilleras, sowie deren Weiterbildung und medizinische Versorgung gemeint. Doch die Regierung – oder die dafür zuständigen Behörden – waren dieser Situation nicht gewachsen. Das Hauptproblem in den ZVTN ist der Mangel an logistischer Unterstützung, das Essen ist unzureichend oder kommt mit Verzögerungen an, sowie die Versorgung mit Medikamenten. Wir haben kaum Zugang zu Kommunikationsmitteln. Zur Zeit gibt es hier keinen Platz für die Guerilleros, die in Haft sind (und sich nach der Entwaffnung vor Ort versammeln können, Anm. d. Red.), die Zugangsstraßen zur ZVTN sind in einem katastrophalen Zustand.

Gibt es andere Versäumnisse, welche die Umsetzung der im Abkommen vereinbarten Punkte bis jetzt verhindern?
In den Übergangszonen gibt es erhebliche Verzögerungen. Aber sie sind nicht so gravierend wie die kürzlich vom Verfassungsgericht getroffene Entscheidung, das Präsidentialdekret über die Personalaufstockung der nationalen Schutzeinheit (UNP) außer Kraft zu setzten. Diese Behörde soll die Sicherheit derjenigen Personen garantieren, die in Gefahr sind. Dieser Schutz soll auch auf 1280 FARC-Mitglieder ausgeweitet werden, welche die Waffen bereits abgaben und sich in der Legalität befinden. Dazu änderte das Gerichtsurteil die Befugnisse des Parlaments in Bezug auf die Ratifizierung der Gesetze, mit dem Ziel, das Abkommen noch einmal verändern zu können.

Gibt es Kontakt zu den benachbarten Gemeinden?
Lange vor der Einrichtung der Übergangszone hatten wir Kontakt mit den benachbarten Gemeinden. Wir kennen die Probleme der Bevölkerung, ihre Hoffnungen und Ziele, und nun tragen wir aktiv zur Verbesserung ihrer Lebenssituation bei. Wir nehmen die Meinungen und Beobachtungen der Leute auf. Gemeinsam veranstalten wir Tage für gemeinnützige Arbeit oder kulturelle und sportliche Aktivitäten. In diese Zone kommen nicht nur die Nachbarn aus der Gemeinde, sondern auch nationale und internationale Persönlichkeiten, Politiker, Journalisten, Forscher und Akademiker.

Was ist die Rolle der Regierung in dieser, Zone,sind staatliche Institutionen präsent?
Die Regierung hat die militärischen Operationen gegen uns eingestellt, das muss man anerkennen. Darüber hinaus hat sie jedoch nicht viel getan. Ich erinnere mich an Besuche vom Gesundheits- und Agrarwirtschaftsministerium und von der Universidad Nacional – aber die beschäftigte sich ausschließlich mit der Sammlung von Daten, um die Situation in der Zone zu bewerten. Weder konkrete Bauten noch andere Projekte sind sichtbar. Die Meldebehörde hat ihre Aufgabe zum Teil erfüllt und für 50 Prozent der Guerilleros und Guerilleras in dieser Zone Personalausweise erstellt.

Wie ist Ihrer Meinung nach der Prozess der Entwaffnung gelaufen?
Dazu kann ich nur sagen, dass sie die wichtigste und mutigste Entscheidung war, welche wir nach mehr als einem halben Jahrhundert bewaffneten Kampfes treffen konnten.

Wie lange wird Ihr Aufenthalt in der ZVTN dauern und was empfinden Sie bei dem Gedanken, wieder in die Gesellschaft eingegliedert zu werden?
In der ZVTN werde ich die nötige Zeit bleiben, bis das Vereinbarte erfüllt wird. Die Wiederkehr ins politische, wirtschaftliche und soziale Leben gehen wir mit Entschlossenheit an. Uns ist bewusst, dass der Kampf in anderer Form weitergeht, gegen den gleichen Gegner und für die selben Veränderungen, für die wir seit dem letzten Jahrhundert kämpfen. Wir wissen, dass es viele Hindernisse gibt, aber mit unserem Willen und der Unterstützung des Volkes werden wir sie überwinden können.

Welche Risiken oder Bedrohungen sehen Sie für sich persönlich, gibt es bestimmte Sicherheitsgarantien?
Risiken gab es immer, und es wird sie immer geben. Aber unsere Einheit, Disziplin und Fähigkeit, zusammenzuarbeiten, werden die Bedrohungen reduzieren und am Ende werden sie verschwinden. Zum Teil gibt es Pläne für den Schutz von Guerilla-Mitgliedern, die sich mit Aufgaben im Rahmen des Abkommens befassen.

Welche Pläne haben Sie?
Meine Pläne sind diejenigen, welche die Organisation beschließt. Persönlich würde ich gerne die primäre Schulbildung abschließen, die Sekundärstufe besuchen und eine technische Karriere studieren.

Welche Botschaft würden Sie an die Zivilgesellschaft im Ausland senden?
Der deutschen und internationalen Gemeinschaft sage ich, dass Krieg, Ausbeutung und religiöse und ethnische Diskriminierung verwerflich sind. Gleichberechtigung, Toleranz und das Respektieren der Rechte von anderen, sind die höchsten moralischen Werte der Zivilisation. Wir benötigen eine entschlossene internationale Gemeinschaft, die diesen Prozess begleitet. Immer mehr soziale Aktivisten werden in den Regionen Kolumbiens ermordet. Mit Ausnahme von einigen Politikern und Persönlichkeiten scheint die internationale Gemeinschaft über diese Morde nicht sonderlich empört. Kolumbien kann zum Beispiel für die friedliche Lösung von Konflikten werden. Lasst uns unsere Kräfte vereinen und für den weltweiten Frieden arbeiten.

 

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