“Die Angst ist immer da”

Gerechtigkeit für Sergio Der Aktivist aus Salitre wurde 2019 erschossen (Foto: Alke Jenss)

Costa Rica steht im deutschsprachigen Raum für Vieles: paradiesisches Tourismusziel, Pionier der erneuerbaren Energien, Land ohne Armee, sichere Zone im zentralamerikanischen Chaos. Die Realität ist, wie immer, komplexer. Was aber die Wenigsten mit dem Land verbinden, sind gewaltvolle Landkonflikte.

Im Süden Costa Ricas, in der Provinz Puntarenas, müsste man die Augen jedoch sehr fest verschließen, um diese Konflikte zu übersehen. Viehzucht und Ananasplantagen prägen die Landschaft um das Städtchen Buenos Aires. Die Plantagen grenzen fast unmittelbar an mehrere indigene Territorien an. Pablo Sibar kommt aus Térraba und gehört zur indigenen Bevölkerungsgruppe der Brörán. Er ist Koordinator des nationalen Zusammenschlusses Indigener Gemeinschaften FRENAPI (Frente Nacional de los Pueblos Indígenas).

Pablo und andere Aktivist*innen haben begonnen, sich gegen jahrzehntelang staatlich geduldete illegale Landnahmen zu wehren. Térraba, eigentlich indigenes Territorium, ist ein Flickenteppich privat bewirtschafteter Fincas und industrieller Viehzucht. Viele Nicht-Indigene bewirtschaften das Land hier seit Jahrzehnten ohne rechtliche Grundlage.

2018 haben Aktivistinnen um Pablo eine Finca besetzt, die den Nutzerinnen als Ferienhaus und Jagdgebiet diente. Die Aktivist*innen ließen sich bisher nicht wieder von dort vertreiben und nutzen die Finca, der sie den Namen Crun Shurin gaben, zur Selbstversorgung. 16 Familien teilen sich die 600 Hektar. Zunächst erreichten sie mit dem zuständigen Staatsanwalt und dem Verwalter die Abmachung, der Fall werde im Rahmen der restaurativen Justiz, einem relativ schnellen Schlichtungsverfahren verhandelt. Doch der vormalige Nutzer „konnte immer nicht teilnehmen, nicht unterschreiben, vergaß angeblich die Termine“, erinnert sich Pablo. „Kurz vor dem ersten Jahrestag, also im Januar 2019, erhielten wir den ersten Räumungsbescheid. Der Richter argumentierte, der vorige, unrechtmäßige Nutzer Eladio Ramírez habe das vorrangige Nießrecht auf den Besitz. Es gelang uns, Berufung einzulegen und so blieben wir hier auf der Finca.“ Im Mai 2019 konnten sie die verbliebenen Arbeiter*innen mit dem Vieh vom Gehen überzeugen. „Und ein Jahr später, im Jahr 2020, kamen die Ramírez, um alles zu holen, die Maschinen, die Zäune, die Tore, die Häuser, alles.“

Ein Projekt der Wiederaneignung

Das Projekt der Wiederaneignung ist auch ein Projekt der teilweisen Renaturierung. Aus Viehweiden wird Wald, Wildtiere siedeln sich wieder an. „Aquí hay vida“ („Hier gibt es Leben“), sagt Pablo Síbar. „Man sagt mir, ich sei faul, idiotisch, weil sie sagen, wir hätten die Finca ungenutzt gelassen – tatsächlich lassen wir einen Teil des Landes regenerieren. Weil das Leben etwas wert ist“. Zugleich produziert die Gruppe inzwischen genug Nahrungsmittel auf der Finca, um auch andere zu versorgen. Sie haben Orangen- und Mangobäume gepflanzt, Mais, Maniok und Nutzpflanzen wie Tiquisque. Um die zuvor wegen der Verschmutzung durch Vieh kaum nutzbaren Wasserquellen haben sie Wiederaufforstung betrieben, so dass die Finca mit Wasser versorgt ist. Pablo ist überzeugt davon, dass die langjährige und erfolgreiche Mobilisierung gegen den Diquís-Staudamm (siehe LN 537) einen harten Kern an Leuten zusammengebracht hat. Das costa-ricanische Institut für Elektrizität archivierte das Megaprojekt im Jahr 2018 nach anhaltenden Protesten. Der vorgesehene Stausee hätte an die 10 Prozent der Territorien der Teribe (Brörán) geflutet. Die Aktivist*innen haben jahrzehntelange Erfahrung in der indigenen und Umweltbewegung und kennen die entsprechenden Räume, „sie wissen zu kämpfen”, sagt eine Unterstützerin.

Das Thema der Landkämpfe reicht weit zurück: Im Jahr 1977 hatte das costa-ricanische Parlament das Gesetz zum Schutz der indigenen Bevölkerungsgruppen des Landes verabschiedet und damit festgeschrieben, dass indigenes Territorium nicht einfach verkauft oder angeeignet werden kann. Die Grenzen der Territorien gelten bereits seit den 1950er Jahren, Térraba erhielt seinen gemeinschaftlichen Landtitel 1956. Keiner der späteren illegitimen Nutzer*innen des Landes kann also behaupten, in gutem Glauben gehandelt zu haben.

Staatliche Maßnahmen, die das Gesetz durchsetzen, gab es jedoch nicht. Im Gegenteil, auch der Staat beschneidet die Territorien. So wurde 2004 der Landtitel Térrabas leicht geändert und verkleinert, ohne Abstimmung mit der dort lebenden Bevölkerung. Besonders problematisch ist Folgendes: Der costa-ricanische Staat vergab die Verwaltung indigener Territorien an die sogenannte Assoziation für indigene Entwicklung ADI (Asociación de Desarrollo Indígena). Die ADI „vertritt“ und „verwaltet“ per Gesetz das indigene Gebiet, untersteht aber faktisch der staatlichen Nationalen Direktion für Entwicklung der Gemeinschaft (DINADECO) und ist somit staatlich eingesetzt. Sie „regiert“ das Territorium also auch dann, wenn eine große Mehrheit der dort Lebenden das ablehnt. In Térraba hat die ADI besonders vehement die staatstreue Idee von Fortschritt und Entwicklung durch Investitionen vertreten und den Bau des Diquís-Staudamms offen befürwortet. „Personen, die den Staudamm stark unterstützen, konnten Machtpositionen in der ADI einnehmen“, heißt es in einem Bericht an die Interamerikanische Menschenrechtskommission. Für die Rückgabe illegitim angeeigneten Landes an die indigene Gemeinschaft hat sich die ADI in Térraba dagegen nie eingesetzt. Ihr Präsident „ist nicht für Kulturinitiativen, er ist nicht für den Schutz der Ressourcen, er ist für nichts, was mit dem Thema Indigene zu tun hat“, sagt Paulino Nájera, der mit seiner Frau Fidelia seit Jahrzehnten Wiederaufforstung betreibt. Offenbar lässt die ADI Viehzüchter*innen auf Landstrichen ihr Vieh weiden, die von Institutionen wie dem staatlichen Wasserversorger oder der Schulverwaltung bezahlt wurden. Sie gilt als korrupt.

Das Recht auf Eigentum setzt der Staat sehr selektiv durch; die Rechte der Indigenen scheinen zweitrangig. Seit den 70er-Jahren versuchen die Gemeinden vor den Gerichten die Durchsetzung des Gesetzes zu erreichen, auch wenn internationale Instrumente wie die ILO-Konvention 169 in der Rechtsprechung zu den Besetzungen langsam Anwendung finden. 2010 hatte die Polizei einige der Aktivist*innen, die heute auf der Finca Crun Shurin leben, aus dem Parlamentsgebäude geworfen, weil sie dieses besetzen wollten bis ein Gesetz für indigene Autonomie verabschiedet würde. „Als der Staat uns aus dem Parlament schleifte, entschieden wir: sollen sie uns doch von unserem Land schleifen, wir holen uns dieses Land zurück“, so Pablo. Eine Räumung von Crun Shurin scheint faktisch noch immer möglich, auch wenn dies eigentlich indigenes Territorium ist: „Die Angst ist immer da.“

Diese Angst ist nicht unbegründet, denn die Aktivist*innen sind immer wieder direkter Gewalt ausgesetzt. 2020 zirkulierte ein Video mit rassistischen Drohungen: „Hoffentlich kommt bald jemand an die Regierung, der die Hosen anhat, um sie zu jagen und ein für alle Mal aus unserem Land zu werfen“, hieß es dort. Am 13. und 14. März 2021 erhielten Pablo und andere Aktivist*innen zum wiederholten Male Morddrohungen und rassistische Verleumdungen. Einer der Accounts, von denen die Drohungen kamen, gehörte einem Mitarbeiter eines Landbesetzers. Im Juli 2020 hatte ein anderer Arbeiter versucht, Pablo umzufahren. Jehry Rivera, ein weiterer Aktivist aus Térraba, war nur ein paar Monate zuvor, am 24. Februar 2020, ermordet worden. Sergio Rojas Ortiz, langjähriger Wegbegleiter von Pablo Síbar aus dem nahen Salitre, wurde am 18. März 2019 in seinem Haus erschossen.

Erst Ende Februar 2023 sprach ein Strafgericht der Region in Pérez Zeledon Juan Eduardo Varela als Mörder von Jehry schuldig. Er habe vorsätzlich gehandelt. Varela hatte im August 2022 öffentlich gesagt: „Ich war es, der ihn umgebracht hat“. Am 17. Juli setzte das Berufungsgericht diesen einzigen Verdächtigen wegen angeblicher Formfehler allerdings wieder auf freien Fuß. Audionachrichten kursierten, in denen Viehzüchter die Annullierung des Urteils feierten. Bei Jehrys Familie und Aktivist*innen wie Pablo Síbar bleibt das Gefühl zurück, dass der costa-ricanische Staat sie nicht vor Gewalt schützt, sondern diese durch Großprojekte eher noch befördert.

Die aktuelle Politik verspricht Verunsicherung

Die aktuelle Regierungspolitik verspricht diese Verunsicherung, die viele Lateinamerikaner*innen teilen, weiter voranzutreiben. Costa Rica durchlebt eine Haushaltskrise, da diverse Schuldenposten 2023 fällig werden. Diese machen über ein Fünftel des Haushaltes aus, für Zinsen ist ein weiteres Fünftel vorgesehen. Präsident Rodrigo Chaves setzt neben Austerität auf liberalisierende Wirtschaftsmaßnahmen. Chaves hat zudem die indigenen Gemeinden dazu aufgerufen, keine Landrücknahmen mehr durchzuführen, da diese eine „feindselige Stimmung schaffen“ würden. Sie „schüren Gewalt“, sagte ausgerechnet der Vizeminister für Gerechtigkeit und Frieden, Sergio Sevilla, im November 2022. Auf einer Reise ins südliche Costa Rica im Februar bestärkte Chaves die ADI als Repräsentationskanal für die indigenen Gemeinden und ignorierte deren Kritik. Der staatliche Plan zur Rückgabe von Land, den es durchaus gibt, hat seit Jahren keine Fortschritte gesehen. Geld gibt es hierfür kaum.

“Morddrohungen gab es im letzten Jahr keine mehr”, sagt Pablo. Er vermutet, die aufgeheizte Stimmung sei etwas abgeflaut, da sie in Térraba keine weiteren Landrücknahmen versucht hätten. Dem Bild von Costa Rica als demokratischer, friedlicher Ausnahmestaat in Zentralamerika verleiht Pablos Geschichte dennoch tiefe Risse.

AUTONOMIE IN BEWEGUNG

In ganz Lateinamerika gibt es Ansätze „von unten“, die das staatliche Gewaltmonopol herausfordern. Das zweifellos bekannteste Beispiel ist die zapatistische Bewegung. Seit dem Aufstand im Jahr 1994 wurde eine eigene Infrastruktur aufgebaut und eigene Strukturen der Selbstregierung etabliert. Dieses schillernde Beispiel gelebter Autonomie ist bei Weitem nicht das einzige. Vor allem innerhalb indigener Gemeinschaften wird Autonomie schon lange diskutiert, gefordert und gelebt.

Teils werden Autonomie-Prozesse vom Nationalstaat gefördert, etwa in der bolivianischen Verfassung ist das Recht auf indigene Autonomie verankert. Auch die kolumbianische Verfassung sieht unter anderem die Ausübung territorialer Autonomie für indigene Gemeinschaften vor. Der abgelehnte Verfassungsentwurf Chiles hätte für indigene Gemeinschaften „Autonomie und Selbstverwaltung“ innerhalb eines „plurinationalen und interkulturellen Staates“ beinhaltet.

Zudem unterstützen internationale Mechanismen wie die UN-Deklaration über die Rechte indigener Völker oder die ILO-Konvention 169 die Autonomie-Forderungen indigener Gemeinschaften.
Doch die Umsetzung in die Praxis ist schwierig. Gemeinschaften, die sich auf ihr Recht zur autonomen Kontrolle ihrer Territorien, einem Leben basierend auf den eigenen kulturellen Praktiken berufen, werden daran behindert und mit Repressionen überzogen.

Gleichzeitig wird innerhalb der Gemeinschaften teils kontrovers diskutiert, wie die Autonomierechte ausgelebt werden sollen und in welchem Verhältnis dazu der Nationalstaat stehen sollte.
Die tatsächliche Ausübung von Autonomie steht vielerorts am Anfang oder wird in kleinen Schritten erprobt. An dieser Stelle kann keine auch nur annähernd vollständige Übersicht der verschiedenen Prozesse erfolgen, aber einige wenige Schlaglichter auf weniger bekannte Ansätze sollen in einem Dossier, das sich mit „progressiven Regierungen“ in Lateinamerika beschäftigt, trotzdem nicht fehlen:

Guardias indígenas in Ecuador
Am Atrato-Fluss
In Guna Yala
Mapuche und indigene Autonomie

GUARDIAS INDÍGENAS IN ECUADOR

Ein aktuelles Beispiel für die Ausübung von Autonomie und Selbstbestimmung durch indigene Gemeinschaften in Ecuador sind die sogenannten gemeinschaftlichen Wächter*innen (guardias comunitarias y populares). In einer Stellungnahme der guardias indígenas vom 15. September 2022 wird die Position mehrerer Gemeinschaften in Bezug auf das, was sie als Strategie zur Verteidigung der Gebiete gegen den Extraktivismus und die Intervention der kolonisierenden Lebensweisen bezeichnen, dargestellt: „Auf der Grundlage des Rechts, in den angestammten Gebieten zu regieren und Gesetze zu erlassen, sind wir entschlossen, unsere gemeinschaftliche guardia indígena zu stärken, die aus dem Mandat unserer Ältesten hervorgegangen ist“. In diesem Ansatz wird der Logik des staatlichen Gewaltmonopols teils widersprochen.

Während der Mobilisierungen 2019 war die guardia indígena in den Städten aktiv, um die Selbstverteidigung der Demonstrierenden zu organisieren und auf die staatliche Repression zu reagieren.
Der ehemalige Präsident Lenin Moreno diffamierte in Komplizenschaft mit dem Medienapparat die organisierte Form der Verteidigung und bezeichnete die guardia indígena als Terroristen. Die rassistische Propaganda geht sogar so weit, die Organisationen als bewaffneten Arm von Drogenhändlern zu bezeichnen oder sie als Paramilitärs zu brandmarken. Die Kriminalisierung von autonomen Praktiken kommt nicht nur in Mobilisierungen wie denen vom Oktober 2019 oder Juni 2022 zum Ausdruck, sondern auch im täglichen Leben der Gemeinschaften und in ihrem Kampf gegen Bergbau, Monokultur und Vertreibung, insbesondere im Hochland und im ecuadorianischen Amazonasgebiet.

Die Handlungen des Staates stehen im Widerspruch zum Verfassungsauftrag, der Ecuador als plurinationalen Staat und das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerungen und Nationalitäten anerkennt. Viele staatliche Maßnahmen unterstützen dieses verfassungswidrige Handeln. Das 2011 erlassene Strafgesetzbuch stellt zum ersten Mal Tatbestände wie Terrorismus und Sabotage unter Strafe. Dies wird genutzt, um die Verteidigung der Territorien und Gemeinschaften, die von anderen Kosmovisonen geprägt sind, zu stigmatisieren und kriminalisieren.

Indigene und Afro-Gemeinschaften gründen ihre politische, soziale, spirituelle und wirtschaftliche Organisation auf die Gemeinschaft und der ihr innewohnenden Beziehung zum Territorium. All dies geschieht gegen den Strom, denn die Auferlegung einer neoliberalen Logik standardisiert die Lebensweisen in Richtung einer bestimmten Norm. Diejenigen, die sich ihr widersetzen, werden, wie die Kämpfe gegen Extraktivismus und Ausbeutung zeigen, kooptiert, kriminalisiert oder ermordet.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier „Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika“. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

IN GUNA YALA

Mola-Kunsthandwerk der Guna Tradition und Tourismus verbinden – eine der Herausforderungen für autonome indigene Strukturen (Foto: Lupo Cordero für Proyecto Nativo)

In Panama gibt es sechs indigene Autonomiegebiete, die zusammen etwa ein Viertel des Staatsgebietes einnehmen. Drei davon gehören zur Gruppe der Guna, je eines zu den Gruppen der Ngäbe-Buglé, der Emberá und der Naso. Das älteste Autonomiegebiet ist Guna Yala, ein etwa 200 Kilometer langer Streifen der karibischen Küste Panamas mit vorgelagerten Inseln, der erst seit einigen Jahren durch eine Straße mit dem Rest des Landes verbunden ist.

Bereits Kolumbien hatte 1870 ein ausgedehntes Autonomiegebiet der Guna anerkannt, dessen Status aber mit der Unabhängigkeit Panamas 1903 zunächst wieder erlosch. Im Jahr 1925 gab es nach territorialen Konflikten sowie Diskriminierungen und Misshandlungen seitens der vor Ort stationierten Polizeikräfte einen bewaffneten Aufstand der Guna, der schließlich zur offiziellen Anerkennung des Guna-Territoriums führte.
Kern der Selbstverwaltung sind zwei Versammlungen: der allgemeine, politische Kongress (Congreso general guna, CGG) sowie der spirituelle Kulturkongress (Congreso general de la cultura guna). Der CGG besteht aus Abgesandten aller Gemeinden und trifft politische Entscheidungen, die für alle Gemeinden verbindlich sind. Jedem Dorf sowie dem Gebiet als Ganzes stehen ein Sagla bzw. mehrere Saglagan (Plural) als politische und spirituelle Autoritäten vor. Der CGG hat einen Generalsekretär sowie verschiedene Sekretariate, etwa für die Verteidigung des Territoriums, für Information oder für Tourismus. Jede Gemeinde hat zusätzlich eigene Regeln.

Wirtschaftliche Interessen haben wie in vielen indigenen Gebieten stets zu Konflikten mit Staat und Unternehmen geführt. Ihre Autonomie und die geographische Abgeschiedenheit haben den Guna bisher jedoch dabei geholfen, sich erfolgreich gegen Großprojekte wie Staudämme oder Minen zu wehren. Herausforderungen für die Autonomie gibt es trotzdem. Der Bau der ersten Straße in das Gebiet wurde von den Einheimischen etwa mit dem Ziel vorangetrieben, Panama-Stadt schneller erreichen zu können. Mit der Straße kamen viele Tourist*innen, die zwar neue Verdienstmöglichkeiten, aber auch Müll und Umweltschäden brachten und auch die traditionelle Selbstversorger*innenwirtschaft störten. Ein Gleichgewicht zwischen Landwirtschaft und Tourismus wurde hier nicht von Anfang an mitgedacht.

Der Staat investiert zwar in Infrastruktur wie Schulen, Krankenstationen oder Wasserleitungen, für Projekte zur Stärkung ihrer Autonomie oder Kultur sind die Guna jedoch meist auf das Einwerben zusätzlicher Mittel angewiesen, etwa bei Entwicklungsbanken oder Botschaften. Gelungen ist ihnen dies etwa für die derzeit ablaufende, schrittweise Einführung zweisprachigen Unterrichts an den Schulen.

Junge Guna nehmen die Struktur des CGG zuweilen als anfällig für Korruption wahr, zudem sind politische Entscheidungsfindungen bei den Guna traditionell Männersache. Es werden Stimmen laut, die dies nicht mehr als zeitgemäß empfinden. Der Wandel braucht vermutlich etwas Zeit.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

MAPUCHE UND INDIGENE AUTONOMIE

Foto: Periódico Resumen via Flickr (CC BY-NC 2.0)

Innerhalb der Mapuche-Gemeinden auf chilenischem Staatsgebiet gibt es verschiedene Konzepte rund um das Thema Autonomie. All diese können jedoch aufgrund der restriktiven chilenischen Gesetzgebung, die jeden Anflug von Autonomie im Rahmen eines zentralistischen Einheitsstaates unterdrückt, in der Praxis nur schwer umgesetzt werden. Da es keine einheitliche Vertretung der Mapuche gibt, gibt es auch keinen Konsens wie Autonomie umgesetzt werden sollte.

Im Rahmen der Verfassungsdebatte wurde auch in der chilenischen Öffentlichkeit über das Konzept der Plurinationalität diskutiert. Diese Debatte war jedoch für viele Mapuche lebensfern und wurde darüber hinaus an den Wahlurnen abgelehnt. Das Konzept stellte lediglich einen institutionellen Ausweg dar, um das Recht der indigenen Bevölkerungen anzuerkennen, ihr Schicksal als „Nation“ zu bestimmen.

Ein weiterer Vorschlag stammt von der Organisation Wallmapuwen, die in der Vergangenheit versucht hat, sich als politische Partei zu etablieren. Wallmapuwen schlägt regionale Autonomien vor, in denen die Mapuche auf der Grundlage von Regionalparlamenten vertreten sein könnten. Der Versuch eine politische Kraft zu werden scheiterte jedoch.

Gänzlich außerhalb staatlicher Institutionen verfolgen Organisationen wie die Coordinadora Arauco-Malleco (CAM) de-facto-Landrückgewinnungs-Prozesse mittels Besetzungen von angestammten Territorien, die von Unternehmen bewirtschaftet, bzw. von Siedlern bewohnt waren. Dieses Vorgehen bedeutet, über die Ausübung „territorialer Kontrolle“, das Land in einen produktiven Raum zu verwandeln, der auf den Traditionen der Mapuche basiert und somit die „Entwicklung“ des Territoriums neu definiert. Zusammengefasst argumentiert die CAM, dass es ohne Territorium keine echte Autonomie geben kann.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

„WIR SIND SICHTBARER“

DORA MUÑOZ
arbeitet seit rund zwanzig Jahren in der Öffentlichkeitsarbeit bei ACIN. ACIN ist der Verband der indigenen Räte des Nord-Cauca und vertritt 22 Territorien der indigenen Ethnie der Nasa. Dora Muñoz stammt aus der Region von Corinto im Cauca.
(Foto: Privat)

Ihr Ehemann José Miller Correa wurde am 14. März in der Nähe von Popayán ermordet.
Ich habe den Mord an vielen Freunden und Freundinnen erlebt, aber nie an einer Person, die mir so nahestand wie José Miller Correa, meinem Ehemann und compañero. Das Maß an Ungerechtigkeit ist kaum zu erklären – es ist ein Albtraum. Mein Freund für das Leben, mein Ehemann ist nicht mehr da – ich mag kaum aufwachen. Er wurde mir entrissen von einem Moment zum anderen. Nichts rechtfertigt die Ermordung eines Menschen, ich verstehe es nicht. Wir können uns doch nicht an den Tod, an die Morde an unseren Repräsentanten gewöhnen – das darf nicht sein.

Wir können uns nicht mit Sätzen zufrieden geben wie dass wir uns im Post-Konflikt bewegen, dass es eine Folge der Landkonflikte sei oder des wachsenden Drogenhandels oder derartige Argumente – das kann nicht sein. Der Tod lässt sich nicht rechtfertigen.

Ich kann nicht sagen, was meine Situation ist. Es ist ein Moment der Unsicherheit, auch ein Verlust von Hoffnung. Es ist eine Zäsur, denn die Konsequenz ist, dass ich nicht weiß, wie es weiter geht – es ist eine Leere in mir. Ich warte, dass dieser Schmerz sich in Kraft verwandelt, denn ich habe ein Kind, um das ich mich kümmern muss.

Hier bei ACIN hat sich in den letzten Jahren viel verändert, es wurde viel aufgebaut, so wie das Gebäude, in dem wir uns gerade befinden. Hilft das, um Strukturen zu erhalten und Perspektiven für eine neue Generation aufzubauen?
Es ist richtig, dass der ACIN und seine Strukturen deutlich kräftiger sind. Ökonomisch steht die Organisation auch anders da, sie bietet mehr Perspektiven, das Niveau ist gestiegen und wir sind vor allem durch Projekte gewachsen. Projekte mit internationalen Organisationen, aber auch mit staatlichen. Das hat dazu geführt dass es einige Familien gibt, die heute deutlich besser dastehen als früher. Allerdings denke ich, dass der politisch-organisatorische Prozess stärker sein könnte. Wir könnten klarer, strukturierter und politischer sein – unsere Identität als Nasa, unsere Sprache, unsere Wurzeln stärker herausarbeiten.

Gibt es Widersprüche, eine Fraktionierung innerhalb der Organisation?
Ja, die gibt es – und es gibt Interessen. Die sind auch ökonomischer Art. Ich frage mich, ob wir vom Weg abgekommen sind, ob wir zurück zu den Wurzeln müssen. Das sind Fragen, die innerhalb des ACIN im Raum stehen und die ich, aber auch andere stellen. Sind wir zu materialistisch geworden, spielt der Konsum eine zu große Rolle, sind wir noch so nah dran an der Mutter Erde? Oder ist die Mutter Erde für einige unter uns zu einer Ware geworden, die Koka produziert. Beeinflusst der Drogenhandel und –schmuggel unsere Realität, hat er zu viel Einfluss gewonnen, verlieren wir unsere Jugend an Drogenbanden oder an den Anbau der Koka?

Droht der ACIN in Ihren Augen den Weg, den klaren Kurs zu verlieren?
Ja, das denke ich. Die Verhandlungen mit und der Erhalt von Mitteln durch die Regierung hat einen korrumpierenden Effekt. Ich bin mir sicher, dass die Regierung niemals das Ziel hatte, uns als indigene Organisation zu unterstützen. Das Interesse liegt viel mehr darin, eine Fraktionierung herbeizuführen und die Mittel, die wir erhalten, unterliegen natürlich immer Bedingungen. Das ist sicherlich nicht immer erkannt worden und deshalb haben wir auch zu wenig nach Alternativen gesucht.

Die Kokaanbau-Quote steigt, auch in indigenen Territorien – ein Risiko?
Ja, denn es gibt in den comunidades große ökonomische Probleme und die Drogenbanden offerieren der jungen Generation Geld, versuchen Einfluss zu gewinnen – das ist ein immenses Risiko. Das ist ein zentraler Grund, weshalb die ACIN ebenfalls nach ökonomischen Optionen sucht, aber welches Produkt kann es mit dem Potential von Koka und Marihuana aufnehmen? Wir haben innerhalb des ACIN und des indigenen Rates CRIC (siehe auch LN 563 und LN 564) wirtschaftliche Projekte, die im Einklang mit der Natur funktionieren, die versuchen, die natürlichen Ressourcen zu erhalten, sie zu schützen und zu regenerieren, zu erweitern. All das ist sehr wichtig und da sind auch Fortschritte gemacht worden.

Welche Rolle spielt dabei der Zugang zu Land, die Landfrage, Ursache für den Bürgerkrieg, der spätestens 1964 begann und in dieser Region um Santander de Quilichao weiterhin präsent ist?
Wir klagen unser Recht auf traditionelle Territorien ein. Es gibt mehr als 1.000 Verträge mit der Regierung, die nicht erfüllt wurden – nur im Kontext der Landfrage. Die Älteren sagen, die Bevölkerung wächst, das Land nicht. Das bringt die Situation auf den Punkt. Im Norden des Cauca wird auf Territorien, auf die wir Anspruch erheben, Zuckerohr für die Produktion von Ethanol angebaut, obwohl es ein alarmierendes Defizit an Nahrungsmitteln gibt – das ist ein Widerspruch, den wir anprangern.

Im November 2016 wurde das Friedensabkommen mit der FARC-Guerilla unterzeichnet. Was hatten Sie damals für Hoffnungen und was ist geblieben?
Wir hatten die Hoffnung, dass das Morden endet, dass die permanente Bedrohung Vergangenheit ist, dass wir uns in unseren Territorien sicher bewegen können. Anfangs erfüllte sich diese Hoffnung zumindest teilweise, es gab eine relative Ruhe, eine relative Sicherheit. Die Gewehre schwiegen, die Flugzeuge überflogen nicht mehr unsere Dörfer – es waren Monate der Hoffnung. Dann ereigneten sich die ersten Morde an demobilisierten FARC-Guerilleros und -Guerilleras, die ersten Angriffe auf soziale Anführer und Anführerinnen kamen hinzu und die ersten bewaffneten Banden tauchten auf. Nicht eine oder zwei, es sind etliche Gruppen. Für uns ist es schwer, uns zu orientieren, wer in welchem Gebiet aktiv ist – wir stehen zwischen allen Fronten. Schlimmer noch, es kursieren immer wieder Pamphlete, die uns und vor allem unsere Anführerinnen und Anführer bedrohen. Die Kontrollposten auf den Straßen nehmen zu, erst einer von dieser, dann von jener Gruppe – das wechselt und die Armee mischt immer mit.

Ein weiterer Widerspruch ist, dass in der Nähe von Militär-Camps auch offen Koka oder Marihuana angebaut wird. Wie denken Sie darüber?
Offensichtlich ist, dass die Armee nicht gegen den Anbau vorgeht. Doch die Frage „warum nicht?“ ist schwierig zu beantworten und ich denke, dass die Regierung selbst oder einzelne Ministerien involviert sind. Die Regierung ist Teil des Drogengeschäfts, denn zum Anbau und zur Weiterverarbeitung ist so einiges nötig, was ohne die Mitwisserschaft der Regierung oder einzelner Regierungsstellen gar nicht in die Regionen gelangen könnte. Später müssen die verarbeiteten Drogen wieder aus den Regionen heraus und auch das klappt reibungslos. Warum? Die Antwort liegt auf der Hand.

Wie soll das funktionieren, auf nationaler und internationaler Ebene, wenn nicht im- und exportiert werden kann – Chemikalien, Drogen, Geld passieren die Grenzen. Wie soll das funktionieren, wenn die ökonomischen Eliten nicht involviert sind? Was sollen wir von Regierung und Militär erwarten?

Haben Sie Hoffnung, dass sich daran mit einer neuen Regierung etwas ändern könnte?
Das ist sehr schwer, denn wir haben es mit Strukturen zu tun, die über Jahre aufgebaut wurden und die sich verfestigt haben. Kleine Änderungen sind mit einer neuen Regierung sicher möglich, aber strukturelle Veränderungen – da bin ich skeptisch.

Welche Rolle spielen Frauen wie Sie in den indigenen Prozessen, beim Aufbau neuer Strukturen?
Eine zunehmend wichtige. Wir sind sichtbarer und werden anerkannt. Auf territorialer, auf organisatorischer und auf familiärer Ebene übernehmen wir mehr Verantwortung und geben die auch an unsere Kinder weiter – die indigenen Gesellschaften wandeln sich. Ich bin als Kommunikationsspezialistin dafür ein Beispiel, Kommunikation nach innen und außen ist wichtig und die Aus- und Weiterbildung spielt eine zentrale Rolle in unseren Strukturen. Wichtig dabei ist, dass diese Prozesse von den Männern oder zumindest von vielen mitgetragen werden. Meine Beziehung mit Miller war dafür ein gutes Beispiel: Wir haben uns gegenseitig beraten und unterstützt. Wir sind gemeinsam gewachsen und nun fehlt er mir.

Miller war ein Kind der cátedra Nasa, geschult unter anderem in den Seminaren des ersten indigenen Priesters Álvaro Ulcué Chocué, der 1988 von Paramilitärs ermordet wurde.
Ja, da beginnt unser Prozess des Eigenen, der Rekonstruktion unserer Geschichte, unserer Identität, unserer cosmovisión (dt. Weltanschauung), unsere Kultur, das Ziel der Wiedergewinnung unseres Landes. Er hat daran teilgenommen, die Jugendorganisationen der Nasa durchlaufen, er stand für Werte, im Diskurs und in der Praxis.

Wie beurteilen Sie die Arbeit der Guardia Indígena (Indigene Selbstverteidigung, Anm. d. Red.)?
Ich bewundere die Arbeit und die Konsequenz der Guardia Indígena. Sie ist ein Beispiel für Aufrichtigkeit, für die grundlegende Verpflichtung für das Gemeinsame, dieses Bewusstsein für gemeinsame Ziele und Werte einzutreten, sie weiterzutragen, zu unterrichten. Sie ist fundamental für den Prozess, sie lebt den Prozess und treibt ihn voran, bildet die Anführerinnen und Anführer von Morgen aus. Die Guardia Indígena hat eine Schlüsselfunktion, sie ist eine Schule und auch eine Lebenseinstellung. Die Guardia Indígena ist eine Verpflichtung, das indigene Territorium und das indigene Leben in allen seinen Facetten zu verteidigen und das ohne Waffen – rein pazifistisch.

„SIE KOMMEN WIE FALLSCHIRMSPRINGER“

Foto: Erwin Melgar

Sie kämpfen gegen illegale Landbesetzung. Wie verläuft diese konkret?
Barba: Die Agrarreformbehörde (INRA) schickt immer wieder Leute hier in die Region, angeblich um Siedlungen zu gründen. Und die beginnen, das Land zu roden, Bäume zu fällen, Holzkohle zu machen, all das zu verkaufen, und dann sind sie wieder weg. Dem müsste INRA eigentlich Einhalt gebieten. Aber sie tun nichts. Auf einer großen Versammlung haben wir deshalb jüngst drei Forderungen beschlossen: Erstens die Annullierung der Landtitel dort, wo überhaupt keine Familien leben, zweitens die Respektierung der indigenen Territorien und drittens die gerichtliche Verfolgung der Landspekulanten.

Woher kommen diese Landspekulanten?
Barba: Es gibt Leute von hier, die denen von auswärts den Weg bereiten, aber die meisten kommen direkt. Eigentlich vertrauen wir erst einmal darauf, dass sie hier Ackerbau betreiben wollen. Wir haben aber nicht die Mittel, das zu kontrollieren. Manche aus dem Hochland kommen mit der Autorisierung der Landreformbehörde, andere besetzen das Land illegal. Die sind noch aggressiver. Und deshalb wehren wir uns.

Das Cabildo von San José hat im März aber auch eine Siedlung von Mennoniten verteidigt, in die eine Gruppe aus dem Hochland unter Schutz der Polizei und des INRA eindringen wollte. Die Mennoniten kommen ja eigentlich auch nicht aus der Chiquitania, sondern aus Paraguay, Belize oder ursprünglich Friesland oder Preußen. Warum verteidigt das indigene Cabildo von San José diese Gruppe?
Barba: Sie sind aber hier in Bolivien geboren und bolivianische Staatsbürger*innen. Und es sind Kleinbauerngemeinden, die Ackerbau und Viehzucht betreiben.

Die Quechua und Aymara, die aus dem Hochland kommen, sind auch in Bolivien geboren.
Barba: Richtig, aber sie kommen meist illegal hierher. Von heute auf morgen tauchen sie irgendwo auf.
Masaí: Wie Fallschirmspringer. Manche wollen wirklich vom Ackerbau leben. Aber andere interessiert nur der Boden und die Ausbeutung der Holzbestände. Da bleibt nichts stehen. Mit der Entwaldung trocknen dann auch die Flüsse aus. Der Suto, der früher San José mit Trinkwasser versorgt hat, ist inzwischen verschwunden. Jetzt müssen wir Brunnen bohren. Auch der See von Concepción trocknet inzwischen zeitweise aus. Und wenn das Wasser verschwindet, dann vertrocknen die Pflanzen und es kommt zu Großbränden. Mit dem Wind in der Trockenzeit kann selbst der kleinste Funke überspringen.
Barba: Manche legen das Feuer auch absichtlich.

Was könnem Sie gegen die Waldrodung tun?
Barba: Wir sind ja nicht vor Ort und bräuchten auch die Mittel, um uns fortzubewegen. Auch würden wir gerne bei Bränden mit unseren jungen Leuten direkt eingreifen. Dafür benötigt man Schutzkleidung, Verpflegung, Transport. Der frühere Bürgermeister sagte uns, dass die Gesetze es nicht erlauben, dass staatliche Gelder oder Gerätschaften an private Institutionen gegeben werden. Dabei sind wir die Ureinwohner hier! Und die MAS (Regierungspartei, Anm. d. Red.) wird uns auch nicht unterstützen, jetzt da sie wissen, dass wir gegen die Landbesetzungen sind.

Die Landvergabe erfolgt in der Regel an Anhänger der Regierungspartei. Damit wird Gefolgschaft gesichert. Ein anderes Ziel ist, mehr Präsenz in Regionen zu bekommen, wo die MAS bislang keine Wahlen gewinnen konnte.
Barba: Wir haben schon zwei dieser Landbesetzungen aufgelöst. Eine auf einem Privatgrundstück in Dolores. Wir sind dort mit ein paar jungen Leuten hin. Ich habe mich als Cacique vorgestellt, und gesagt, dass ich im Rahmen der Gesetze handele und auf das Agrarreformgesetz hingewiesen. Und dann habe ich ihnen bis Sonntag Zeit gegeben, das Gelände zu räumen. Die Gesetze sind klar. Bei der Landverteilung müssen die indigenen Völker Priorität haben, dann kommt die ansässige kleinbäuerliche Bevölkerung. Und erst dann Migranten aus anderen Regionen. Wir würden niemanden diskriminieren, sage ich ihnen. So viele sind schon aus dem Hochland gekommen, aber auf legalem Weg. Die Interkulturellen (Eigenbezeichnung der Siedler aus dem Hochland, Anm. d. Red.) versuchen sogar mit Gewalt, sich das Land anzueignen. Und wenn sie argumentieren, dass sie doch alle bolivianische Brüder und Schwestern sind, dann sage ich: Ja, es ist überfällig, dass die Regierung sich endlich mit uns an einen Tisch setzt, dass wir analysieren, welches Staatsland noch verfügbar ist und wer von den hier ansässigen dieses Land benötigt. Und was dann übrig ist, das kann an die Zuwanderer verteilt werden.

Verträgt denn das Ökosystem des Trockenwaldes der Chiquitania eine weitere Abholzung?
Barba: Das muss man sich im Einzelnen anschauen. Die Naturschutzgebiete müssen davon ausgenommen sein. Nur das Staatsland, was für Landwirtschaft geeignet und übrig ist, kann vergeben werden. Hier in San José gibt es nicht mehr viel davon. Aber wir haben auch nicht nur ein Kind. Und unsere Kinder sollten auch die Chance haben, hier weiter zu leben. Sollen sie fortziehen müssen, damit Landbesetzer ihre Geschäfte machen können?
Masaí: Die Regierung will darauf keine Rücksicht nehmen. Und die Leute haben Angst, bei den Regierungsstellen zu protestieren, weil sie Repressalien fürchten. Sie sind die ständigen Auseinandersetzungen auch leid. Die Politik hat ihnen keine Antworten gegeben. Deshalb haben wir uns als Cabildo in dieser Sache organisiert und sind aktiv geworden. Da uns die Verfassung das Recht gibt und wir von keiner politischen Gruppe abhängig sind, können wir das machen. Diese „Casa del Bastón“ (der Sitz des Cabildos, Anm. d. Red.) wird sich deshalb nicht mehr nur um Tänze oder Musik kümmern, sondern um die Verteidigung unserer Territorien. Der indigene Kleinbauernverband Turubó hat sich dafür mit uns verbündet.

Gibt es in der Gemeinde San José de Chiquitos indigene Territorien und sind sie von der Agrarreformbehörde als solche anerkannt?
Masaí: Offizielle Titel haben wir noch nicht. Aber die Verfassung sichert uns die Kontrolle unserer Territorien zu. Deshalb kann nicht jeder einfach hier hin kommen.

Wurde die Titulierung denn beantragt?
Barba: Wir haben die gesamte Dokumentation eingereicht und nie eine Antwort bekommen. Auf die jüngste Resolution der großen Versammlung gab es auch keine Antwort. Wir werden die Unterlagen erneut schicken. Das Einzige, was wir bekommen, sind Konflikte. Einer der unseren ist dabei sogar umgekommen. Aber am Ende haben wir sie stoppen können.

Gibt es auch Verbündete in der Politik?
Barba: Eigentlich müssten alle staatlichen Amtsträger unsere Verbündeten sein. Sie sind auch alle mal aufgetaucht, aber der Bürgermeister und der Subgouverneur haben sich dann nicht mehr blicken lassen. Geblieben sind drei Institutionen: Das Cabildo, der Kleinbauernverband Turubó und das Comité Cívico. Eine, die uns unterstützt, ist die nationale Abgeordnete der Chiquitanía Maria René Alvarez. Aber der Gouverneur (von der gleichen rechtsgerichteten Regionalpartei CREEMOS, Anm. d. Übers.) hat sich bis heute nicht zu unseren Forderungen geäußert.

Die von der OICH (Indigene Organisation der Chiquitanía) gewählte Abgeordnete im Regionalparlament hat keinen Kontakt zum Cabildo von San José?
Barba: Wir sind keine politische Organisation. Wir richten uns nach unseren Sitten und Bräuchen und haben auch nichts mit den unterschiedlichen Aufspaltungen des Dachverbandes der Indigena-Organisationen des Tieflands zu tun. In dem Augenblick, in dem wir uns einer der genannten Organisationen anschließen würden, gäbe es Probleme, Parteienstreit. Dass wir nicht der CIBOB angeschlossen sind, war auch der Grund, warum der Direktor der Agrarreformbehörde uns erst nicht anhören wollte. Das war schon ziemlich unverschämt. Wir brauchen keine politische Anbindung, sagte ich ihm, wir sind durch die Verfassung anerkannt. „Aber ihr seid ja nicht einmal als Organisation registriert“, meinte er. Aber dann hat er es selbst eingesehen.

Als das Cabildo seine große Versammlung der Chiquitano-Gemeinden von San José zur Landfrage organisiert hat, kamen auch Delegationen aus Guarayos und San Ignacio.
Barba: Auch aus Roboré, San Miguel, San Rafaél, alle in der Chiquitanía sind von den Landbesetzungen betroffen. Wir wollen uns deshalb gegenseitig helfen. Wir haben schon eine ganze Reihe von Anzeigen gegen illegale Landbesetzer beim INRA unterstützt, von denen drei Fälle inzwischen gelöst werden konnten. Allerdings gibt es noch vier Dörfer, die sich im Rechtsstreit mit Landbesetzern befinden.

NACH DEM AUFSTAND: DIE RÄTE VON CHERÁN

Ausgiebige Feierlichkeiten Der Feiertag der Jungfrau von Guadalupe wird in der selbstverwalteten Gemeinde festlich begangen (Foto: Paul Welch Guerra)

Vor dem Häuschen neben den Schranken beziehen vier maskierte Männer in dunkelblauen Uniformen Stellung. Es ist 6 Uhr morgens im zentralmexikanischen Cherán, und nur ganz langsam klart es auf. Hier am Ortseingang ist es Zeit für die Wachablösung. Die uniformierten Neuankömmlinge laden und prüfen ihre Maschinengewehre, während die Nachtwache sich schadenfroh scherzend in den morgendlichen Feierabend verabschiedet. Ein großes Schild neben der Straße klärt auf: „Die Indigene Gemeinde von San Francisco Cherán heißt dich willkommen. Hier richten wir uns nach Bräuchen und Traditionen. Wir fordern Respekt, Sicherheit, Gerechtigkeit und die Wiederherstellung unseres Territoriums.“

Die Wachen sind Teil der Ronda Comunitaria, einer indigenen Selbstverteidigungseinheit, die in der 20.000-Einwohner*innen-Stadt für Sicherheit sorgt. Seit 11 Jahren bewachen sie Tag und Nacht die Barrikaden – so nennen die Menschen aus Cherán die Kontrollposten. Gebaut wurden die Barrikaden am 15. April 2011. Es ist der Tag, an dem sich Cherán erhoben hat, um Drogenkartelle, illegale Holzfäller sowie die korrupten politischen Parteien aus ihrer Stadt zu werfen. Der Beginn einer tiefen politischen Umwälzung, die so keiner in Cherán geplant hatte.

Demokratie und Tortillas am Feuer

Von den Barrikaden sind es fünf Minuten Autofahrt in die belebte Innenstadt. Vor der Kirche El Calvario wird heute, wie so oft am Wochenende, ausgiebig mit Blaskapellen, Stepptänzen und Tequila gefeiert. Es ist der Feiertag der Jungfrau von Guadalupe, für die indigene, überwiegend katholische Purépecha-Gemeinde ein wichtiges Ereignis. Kinder spielen bis spät in die Nacht unbeauf-sichtigt auf der Straße. Doch ein großes Wandbild an der Kirchenmauer erinnert an Zeiten, in denen das nicht denkbar gewesen wäre. Es zeigt ein schmerzerfüllt schreiendes Gesicht, eine Gestalt halb Mensch, halb Baum, mit einem Kopf aus Ästen. Der Wald und das menschliche Leben im Leid vereint.

Doña Chepa, die nur wenige Häuser weiter in ihrer offenen Küche sitzt, erinnert sich nur ungern an die Jahre zwischen 2008 und 2011, in denen immer mehr illegale Holzfäller in die Wälder um Cherán eindrangen – geschützt vom berüchtigten Drogenkartell La Familia Michoacana: „Sie kamen täglich bewaffnet mit ihren Pickups hier an. Und das auch noch mit der Selbstverständlichkeit, als würden sie ihr eigenes Haus betreten. Uns blieb nichts anderes übrig als die Köpfe gesenkt zu halten.“ 200 bis 300 Pickups fuhren Anfang 2011 täglich durch die Stadt, um das Holz zu holen. In drei Jahren hat die Gemeinde so über 7.000 Hektar Wald verloren – und ihre Sicherheit: Entführungen, Morde und Schutzgelderpressung sorgten für ein ständiges Klima der Angst.

Auch das Vertrauen in die Politik bröckelt in dieser Zeit immer mehr, denn für viele Bewohner*innen ist die Untätigkeit der Behörden ein Beweis, dass sie längst mit dem Kartell gemeinsame Sache machen. „Ein Schweinegeschäft“ sei die Politik hier schon immer gewesen, meint Doña Chepa. Trotzdem hat die 70-jährige Bäuerin, wie viele andere hier, immer treu die gleiche Partei unterstützt. Bis sie dann selbst maßgeblich dazu beigetragen hat, dass es heute keine Parteien mehr in Cherán gibt.

Avocados oder Wasser

Losgetreten wurde der Aufstand vom 15. April 2011 von 15 Frauen. Die Hiobsbotschaft, dass die Holzfäller inzwischen eine für die Purépecha heilige Wasserquelle im Wald erreicht hätten, markierte eine neue Stufe der Eskalation. Aus purer Verzweiflung und ohne genaueren Plan verabredete sich Doña Chepa im Morgengrauen mit Nachbar*innen vor der Kirche, um die Straße zu blockieren, die direkt zur Quelle führt. Mit Feuerwerken und wildem Kirchenglockengeläute weckten sie die ganze Stadt. „Wer weiß wo die alle herkamen, aber Gott sei Dank kamen viele. Um 8 Uhr hatten wir den ersten Pickup mit Holz blockiert“. Dann, erzählt sie mit leiser Stimme, ging alles ganz schnell. Immer mehr Menschen kamen angerannt, um zu helfen. Fünf Holzfäller wurden entwaffnet, verprügelt und in der kleinen Kirche eingesperrt. Ein Versuch des Kartells in Zusammenarbeit mit der Polizei, die gefangenen Holzfäller zu befreien, konnte wie durch ein Wunder mit Böllern und Steinen verhindert werden – doch ein Cousin von Doña Chepa wurde dabei erschossen. In Rage setzten die Aufständischen mehrere der Holztransporter in Brand – kurz darauf fliehen der korrumpierte Gemeindepräsident und seine Gehilfen. Aus Angst vor Racheakten bauten die Bewohner*innen an allen Ortseingängen Barrikaden. Es beginnt ein fast einjähriger Belagerungszustand. An jeder Ecke entstehen Feuerstellen, an denen Tag und Nacht gekocht, geredet und koordiniert wird.

Heute spielen die Feuerstellen eine zentrale Rolle in der Organisation der Gemeinde. Knapp 200 gibt es auf dem Papier. Jede Stelle entsendet einen Koordinatorin in die wöchentliche Stadtteilversammlung. Die Feuerstelle 37 ½ – eine Abspaltung der Feuerstelle 38 – gehört zu den aktivsten. Unter einem kleinen Holzverschlag direkt am Straßenrand sitzen hier um 22 Uhr etwa zehn Menschen dicht zusammen und wärmen sich an den Flammen – Kleinkinder, Jugendliche, Erwachsene und Senior*innen. Weizentortillas werden mit Käse gefüllt und auf einem Rost erwärmt. Eine feste Tagesordnung gibt es bei den Treffen nie, erklärt Eudelia Madrigal Chávez (57), die mit ihrem Sohn direkt gegenüber wohnt. Tratsch, Berichte aus Nachbarschaftsversammlungen, Handymusik, hupende Autos und politische Entscheidungen verflechten sich zu einem dynamischen Abendprogramm.

Erst Hausfrau, jetzt Ortsrätin Eudelia Madrigal Chávez wohnt mit ihrem Sohn in Cherán und sitzt im Nachbarschaftsrat (Foto: Paul Welch Guerra)

In den Tagen nach dem Aufstand wurden an den Lagerfeuern von Cherán radikale Entscheidungen getroffen: die Verbannung aller Parteien, Wahlen und Behörden, die Gründung einer lokalen Selbstverteidigungseinheit, sowie die Entwicklung einer Rätedemokratie basierend auf Bräuchen der Purépecha. Ein Ältestenrat, ein Rat für Gemeingüter, ein Jugendrat und weitere Räte werden alle drei Jahre durch die Feuerstellen nominiert und anschließend auf Stadtteilversammlungen per Handzeichen gewählt. Schon früh setzte die Gemeinde darauf, ihre Autonomie auch rechtlich gegenüber dem mexikanischen Staat durchzusetzen. Der zweite Artikel der mexikanischen Verfassung sieht das kollektive Recht auf politische Selbstbestimmung für indigene Gemeinden theoretisch vor. Praktisch wurde dieses Recht nie realisiert. Doch 2014, nach jahrelangen Prozessen, gelingt es Cherán sich vor dem Verfassungsgericht durchzusetzen. Die erste offiziell anerkannte selbstbestimmte indigene Gemeindeverwaltung Mexikos war geboren. Ein Meilenstein, aber auch eine große Verantwortung: Wer kümmert sich um die politischen Tagesgeschäfte, wenn es keine Berufspolitiker*innen mehr gibt?

Eudelia hatte das zumindest nie vor. Sie ist immer gerne zu den Lagerfeuern gegangen, doch mit Politik wollte die Hausfrau nichts zu tun haben. Aber alles kam anders, nachdem ihr Mann, wie so viele hier, in die USA ausgewandert und wenig später dort gestorben ist. Der Koordinator von ihrem Lagerfeuer schlug ihr vor, für den Rat der Nachbarschaft zu kandidieren, um auf andere Gedanken zu kommen. Der Rat der Nachbarschaft ist ein Schlüsselgremium in der jungen Rätedemokratie Cheráns, denn er bildet ein Scharnier zwischen Feuerstellen, Stadtteilversammlungen und den Räten, zuvorderst dem Ältestenrat. Er soll Hierarchien abbauen und den Informationsfluss aufrechterhalten. „Ich habe ihm gesagt, dass ich die Grundschule nie abgeschlossen habe und nicht mal schreiben kann. Aber er hat einfach nicht lockergelassen und mir Mut zugesprochen“, erzählt Eudelia schmunzelnd. In Eudelias Familie kam der Vorschlag überhaupt nicht gut an, viel zu groß sei das Sicherheitsrisiko, sich so zu exponieren. Was sie dazu geritten hat, sich dann doch dafür zu entscheiden, kann sie heute selbst nicht mehr so recht erklären. Aber ihre Kandidatur war erfolgreich. Sie ist heute eine von zwölf Nachbarschaftsrät*innen. Sie erzählt das betont nüchtern, doch der Stolz ist ihr anzumerken.

Am nächsten Morgen ist Markt auf dem Rathausplatz von Cherán. Händler*innen aus der ganzen Region verkaufen Kleidung, Heilkräuter und Gemüse aller Art. Doch Avocados aus Cherán sucht man hier vergeblich. Dabei liegt die Stadt eigentlich mitten im wichtigsten Avocado-Anbaugebiet Mexikos. Rund 30 Prozent der weltweit produzierten Avocados stammen aus Michoacán, dem Bundesstaat, in dem Cherán liegt. Ein handgemalter Aushang am Eingang des Rathauses erklärt: „Denkt daran, dass sich alle vier Viertel darauf geeinigt haben, dass der Anbau von Avocados in Cherán verboten ist. Helft uns, unsere Gemeinde frei von Problemen zu halten“.

Gerechtigkeit ohne Staat?

Gleich mehrere Drogenkartelle kämpfen mit Übernahmen von Plantagen und Schutzgelderpressungen um die Vorherrschaft auf dem Avocadomarkt. Das Geschäft mit Avocados boomt weltweit. Für die Kartelle ist die Branche eine ideale Anlagemöglichkeit, um Geld zu waschen. Umweltschützer*innen, die auf die verheerenden gesundheitlichen und ökologischen Folgen des Avocadoanbaus hinweisen, droht der Tod, genauso wie Händler*innen und Bäuerinnen, die nicht kooperieren wollen. Am 11. Februar hatte die USA überraschend einen zweiwöchigen Importstopp von Avocados aus Mexiko erlassen, weil ein US-amerikanischer Agrarinspektor in Michoacán Todesdrohungen erhalten hatte.

Pedro Tapia kennt die Schattenseiten der Avocado-Industrie rund um Cherán gut. Der 46-Jährige war lange Obsthändler, heute arbeitet er für die lokale Wasserverwaltung. „Wir sind die einzige Gemeinde hier, die den Avocadoanbau verboten hat. Sobald du Cherán verlässt, siehst du die Plantagen überall. Doch die Pflanzen brauchen extrem viel Wasser und wir haben sowieso schon zu wenig davon.“ Eine Avocado braucht bis zu 600 Liter Wasser, um zu gedeihen. Die Entscheidung, sie nicht mehr anzubauen, fiel sofort nach dem Aufstand 2011. Aber einfach sei sie nicht gewesen: „Wir essen gerne Avocado hier und verkaufen lässt sie sich auch gut, im Gegensatz zu Mais, bei dem die Preise im Keller sind“. Es wundert Pedro deswegen kaum, dass manche hier in Cherán trotzdem ein paar Avocadobäume in ihren Gärten stehen haben.

Die Wasserknappheit in Cherán ist selbst ohne den Anbau von Avocados ein ernstes Problem. Deshalb hat der Ältestenrat 2015 den Bau einer Regenwasserauffanganlage beschlossen, die größte Lateinamerikas mit einem Fassungsvermögen von 20 Millionen Litern – so groß wie etwa zehn olympische Schwimmbecken. 2016 wurde das Projekt fertiggestellt, auf dem Krater eines Berges direkt hinter der Stadt. Heute will Pedro hier oben den Wasserstand prüfen. Mit zügigem Schritt läuft er den steilen Waldweg hoch und erklärt: „Auf dem Gipfel wird das Wasser aufgefangen und durch ein mehrlagiges Sediment von Steinen, Sand und anderen Materialen gefiltert.“ Am Fuß des Berges steht eine Wasseraufbereitungsanlage, wo das Wasser in Trinkwasserqualität abgefüllt wird. Trinkwasserversorgung war hier, wie im Rest des Landes, weitestgehend privatisiert. Die Rekommunalisierung hat die Wasserpreise nun drastisch reduziert: „Neun mexikanische Pesos (ca. 40 Cent) kostet unser 20 Liter-Behälter, der von Coca-Cola mehr als das Vierfache. Deswegen kaufen jetzt auch alle unser eigenes Wasser.“

Das Regenauffangbecken ist ein Vorzeigeprojekt der jungen Rätedemokratie in Cherán. Doch nicht alle Geschichten nach dem Aufstand sind Erfolgsgeschichten. „In Cherán wird viel von außen reinprojiziert, auch wir selbst müssen aufpassen, Cherán nicht zu romantisieren“, sagt der Lehrer Juan Manuel Rojas. Der 66-Jährige weiß, wovon er spricht. Seit vielen Jahrzehnten ist er in den oppositionellen Kämpfen von Indigenen, Bäuer*innen und Studierenden involviert. Doch dann, 2018, übernahm er zum ersten Mal selbst so etwas wie Regierungsverantwortung, als einer von zwölf K’eris. So heißen die Mitglieder des Ältestenrates, die für jeweils drei Jahre eine zentrale politische Rolle einnehmen. Erst vor wenigen Monaten endete Juans Legislatur im Rat.

Nicht alle Geschichten nach dem Aufstand sind Erfolgsgeschichten

Wenn der Lehrer über die Probleme seiner Gemeinde spricht, tut er das mit einer leisen Stimme und wählt jedes Wort sorgsam. „Wir sind bisher daran gescheitert, die Frage zu beantworten, wie eine Gerechtigkeit basierend auf Traditionen der Purépecha aussehen kann.“ Eine Frage, die sich schon in den ersten Stunden des Aufstandes aufdrängte, nachdem die fünf Holzfäller gefangen genommen wurden. Nur knapp gelang es erfahrenen Gemeindemitgliedern damals, einen Lynchmord an den verhassten Eindringlingen zu verhindern. Aber eine Übergabe der Gefangenen an staatliche Behörden schien ebenfalls undenkbar, zu sehr waren jene selbst mit den Kartellen verbandelt. Nach mehreren Tagen in Haft wollten auch die Gefangenen auf keinen Fall mehr an staatlichen Behörden ausgeliefert werden – zu groß war die Angst, sofort an die Kartelle weitergegeben zu werden und dort wohlmöglich als potenzielle Verräter in Ungnade zu fallen. „Wir haben sie trotzdem übergeben, zwecks mangelnder Alternativen, und dann nie wieder etwas von ihnen gehört.“

Auch 11 Jahre nach dem Aufstand bleibt das Dilemma: Ein juristischer und institutioneller Rahmen auf lokaler Ebene fehlt, um angemessen auf schwere Verbrechen reagieren zu können. „Alle Familien hier kennen sich. Es ist deshalb schwierig, Gerechtigkeit walten zu lassen, ohne dass bei Menschen Ressentiments entstehen. Kleinere Delikte können wir durch Vermittlung lösen, doch bei schweren Verbrechen müssen wir uns an externe Institutionen wenden.“

Zwar gilt Cherán inzwischen als eine der sichersten Städte im Bundesstat Michoacán, doch die gewaltvollen Verhältnisse aus der Umgebung sind hier durchaus spürbar. „Von externen Sicherheitskräften haben wir Hinweise bekommen, dass Cherán nach 2011 zu einem Versteck für Drogenhändler und Drogen geworden ist – denn die Behörden durften ja nicht rein“, erklärt Juan Manuel Rojas. Deswegen kooperieren die Räte heute in Sicherheitsfragen eng mit Landes- und Bundespolizei. Es passt in die pragmatische Linie, die Cherán von anderen indigenen Autonomieprojekten wie den Zapatistas im Süden Mexikos unterscheidet. Für Juan ist klar: „Wir sind Teil des mexikanischen Staates. Wir sind nicht unabhängig und wollen es auch nicht sein“.

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