Indigene Völker 
unter Beschuss

“Empörung ohne Handeln bringt nichts”: Politisches Symbol des regionalen Widerstands des CRIC (Fotos: Consejo Regional Indigena del Cauca (CRIC))

El Palo ist ein kleines Dorf in der Gemeinde Caloto im Norden des kolumbianischen Departamentos Cauca. Es ist aber nicht einfach irgendein Dorf. El Palo ist eine unsichtbare Grenze und ein Gebiet von großer geostrategischer Bedeutung, da es direkt an der Kreuzung der Straßen nach Toribío, Corinto und Santander de Quilichao liegt. Gleichzeitig ist El Palo geschichtlich relevant. Um das Dorf zu erreichen, muss man zwei historische Schauplätze von Gewalt und Widerstand durchqueren.

Der erste ist die Farm El Nilo, auf der am 16. Dezember 1991 paramilitärische Gruppen 21 Menschen der Nasa, einer indigenen Gruppe, folterten und ermordeten – nur wenige Monate nach der Verkündung der neuen kolumbianischen Verfassung, durch welche indigene Völker wie die Nasa ihr Land zurückerhalten sollten. Ermittlungen des Gerichts für öffentliche Ordnung in Cali ergaben, dass das Massaker in Zusammenarbeit mit staatlichen Sicherheitskräften verübt worden war. Der Fall wurde vor die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH) gebracht, welche die kolumbianische Regierung aufforderte, das Volk der Nasa durch die Übergabe von 15.000 Hektar Land zu entschädigen. Der zweite bedeutsame Ort ist die Farm La Emperatriz. Hier haben die Nasa 2014 im Rahmen des „Prozesses der Befreiung der Mutter Erde (uma kiwe)“ Zuckerrohrmonokulturen angepflanzt – ein Protest gegen die Nichteinhaltung der Versprechen und Verpflichtungen des Staats.

Vorbei am Dorf El Palo steigt die Straße bis zum Rand eines Tals an, von dem aus man in etwas über einer Stunde das indigene Reservat Toribío erreicht. Hier sind die cabildos (indigene Räte, Anm. d. Red.) von Toribío, Tacueyó und San Francisco im plan de vida des Nasa-Projekts vereinigt. (Dabei handelt es sich um einen Ansatz zur Stärkung der Autonomie, Gemeinschaft, Lebensqualität und kulturellen Identität der indigenen Bevölkerung, Anm. d. Red.)

Trotz der Schönheit seiner Landschaft ist das Gebiet stark von wirtschaftlicher und soziopolitischer Gewalt betroffen: Der Drogenhandel hat einen Großteil der lokalen Wirtschaft übernommen und bei Auseinandersetzungen um die Kontrolle der Drogenhandelswege werden täglich Menschen ermordet. Gemeinsam mit den Gemeinden Corinto und Miranda ist Toribío Teil des „Marihuana-Dreiecks“. Dazu gehören auch Gebiete, in denen sich der illegale Koka-Anbau konzentriert (Argelia, El Tambo, López de Micay), denen Drogenhandelswege entspringen (Río Naya) und in denen bewaffnete Akteure besonders präsent sind (Buenos Aires, Suárez, Santander de Quilichao, Caloto, Caldono, Morales und Silvia). Das Dreieck stellt einen der Brennpunkte des bewaffneten Konflikts im Departamento Cauca dar.

Entschlossen trotz Bedrohung Jugendliche geraten besonders ins Visier bewaffneter Gruppen

Am Nachmittag des 16. März 2024 entführte die in der Gegend agierende bewaffnete Gruppe Front Dagoberto Ramos einen Jugendlichen aus der Gemeinde Toribío zur Zwangsrekrutierung. Bei der Front handelt es sich um Dissident*innen der FARC-EP, welche sich zum selbsternannten Zentralen Generalstab (EMC) zusammengeschlossen haben. Aufgrund der Entführung versammelte sich die Gemeinde im Ortsteil La Bodega, um die Befreiung des Jugendlichen zu fordern. Dort schoss die Front auf die indigene Garde und die Teilnehmenden und verletzte mehrere Personen. Francia Liliana Pequi berichtete später erschüttert: „Dann drehte ich mich um und die ganze Gemeinde lief verängstigt rückwärts, rannte weg (…), denn sie schossen. Sie waren schwer bewaffnet. Zuerst schossen sie in die Luft, und als wir sie nicht gehen ließen, fingen sie an, auf alle Leute zu schießen, die da waren.“

Unter den Verletzten befand sich auch die 62-jährige mayora (indigene Autorität, Anm. d. Red.) Carmelina Yule Pavi, Mitglied der Garde und indigene Anführerin. Sie starb am Sonntag, den 18. März, an ihren Verletzungen.

Angesichts dieser Ereignisse reagierten die indigenen Gemeinden und der Regionale Indigene Rat im Cauca (CRIC) mit Nachdruck und auf verschiedenen Ebenen. Die traditionellen Autoritäten erließen mit Hilfe der indigenen Sondergerichts­barkeit Haftbefehle gegen die Anführer der bewaffneten Gruppe, während die indigene Garde Streifzüge durchführte, um die illegale bewaffnete Gruppe aus dem Gebiet zu vertreiben. Der schwere Angriff auf die indigene Gemeinde war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und die nationale Regierung dazu veranlasste, den mit der EMC bestehenden bilateralen Waffenstillstand auszusetzen.

Widerstand gegen die Gewalt bewaffneter Gruppen CRIC und weitere indigene Gemeinden schließen sich zusammen

Obwohl dieser Waffenstillstand schon vorher nicht eingehalten worden war und die indigenen Gemeinden und Gebiete von Gewalt betroffen sind, hat sich die Situation seit dem 17. März deutlich verschlechtert. Die Militarisierung des Territoriums und die Offensiven der Nationalen Armee gegen die illegalen bewaffneten Gruppen führen zu fast täglichen Kämpfen, bei denen die Zivilbevölkerung häufig Opfer von Übergriffen wird. Auch die Angriffe von FARC-EP-Dissident*innen auf indigene Gemeinschaften haben zugenommen: Drohungen, Angriffe mit Sprengkörpern, Zwangsrekrutierungen und illegale Straßensperren sind an der Tagesordnung. Außerdem haben die Dissident*innen den Plan bekanntgegeben, jede*n Vertreter*in des CRIC als militärisches Ziel einzustufen.

Marisol Peña, indigene Autorität von Tacueyó, einer Gemeinde von Toribío, klagt: „Wir sind militärische Ziele, weil wir immer deutlich gemacht haben, dass unsere Autoritäten im Gebiet bleiben werden, um das Leben zu verteidigen.“ Der Tod der mayora Carmelina letzten Monat sei für die Gemeinden der Auslöser gewesen, auf die Straße zu gehen, Druck auszuüben und zu sagen: Wir werden nicht mehr zulassen, dass sie uns ermorden, dass sie unsere Jugendlichen mitnehmen und töten. Die Gemeinden sind fest entschlossen, die Kontrolle über ihr Gebiet zurückzuholen.

Heute befinden sich die indigenen Gemeinden und Gebiete von Cauca in einer ähnlichen humanitären Notlage wie in den dunkelsten Jahren des bewaffneten Konflikts. Wie Francia Liliana Pequi berichtet, hört man Schüsse, es gibt Konfrontationen und ständige Drohungen, weil sie sich nicht zum Schweigen bringen lassen. „Wir sind nicht wie die, die meine Großmutter ermordet haben – wir werden uns nicht verstecken.“

¡Guardía guardía, fuerza fuerza! Die Guardía Indígena kämpft für ein Leben in Frieden

Als Folge der Schießerei wurden in dem Gebiet Kontrollpunkte eingerichtet. Francia Liliana Pequi erklärt dazu: „Hier, wo wir sind, ist ein strategischer Punkt, weil sie sich vorher hier aufhielten. (…) Jetzt sind wir diejenigen, die diesen Kontrollpunkt haben.“

Nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens von La Habana im Jahr 2016 gab es eine kurze Phase relativer Ruhe im Land. So auch im Departamento Cauca, welches eine lange Geschichte mit der sechsten Front der FARC-EP hat. Es gehört zu den am stärksten vom bewaffneten Konflikt betroffenen Gebieten, insbesondere nach dem Auftauchen paramilitärischer Gruppen in den 1990er und 2000er Jahren.

Doch bereits 2018 wurde die Situation in den Gebieten wieder kritischer. Dies geschah zeitgleich mit dem ersten Jahr der friedensfeindlichen Regierung von Iván Duque, dem politischen Ziehsohn des ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe. Die Ursachen für diese Verschlechterung waren Versäumnisse des Staates in Bezug auf die Landreform, Landrückgabe, den Ersatz illegaler Anbaukulturen und die territoriale Entwicklung. Darüber hinaus bot die Regierung den indigenen Gemeinschaften keinen Schutz und weigerte sich das Wirtschafts- und „Entwicklungs“-Modell in Frage zu stellen, womit die historischen und strukturellen Ursachen der Gewalt intakt blieben. Infolgedessen haben sich neue bewaffnete Gruppen schnell die nach der Demobilisierung der FARC-EP „freigewordenen“ Gebiete einverleibt, die der Staat noch immer nicht mit an die Grundversorgung angeschlossen hatte. Neben den schon länger existierenden, bewaffneten Gruppen wie der Nationalen Befreiungsarmee (ELN) haben sich neue bewaffnete Akteure organisiert. Insbesondere Dissident*innen der FARC-EP, die sich vom Friedensprozess losgesagt haben und heute unter dem Kommando von Iván Mordisco stehen. Diese bewaffnete Gruppe ist im ganzen Land mit Einheiten präsent und ihr Interesse gilt dem Drogenhandel sowie der sozialen und territorialen Gebietskontrolle. Obwohl sie sich auf den politischen Diskurs und die Erinnerung der FARC-EP beziehen, haben diese Gruppen keinen wirklichen ideologischen Gehalt.

Dies spiegelt gut das neugestaltete Szenario des bewaffneten Konflikts wider: Es geht nicht um den Kampf bewaffneter Gruppen mit einem sozialen Bezug, die die Macht ergreifen wollen um die Politik und das Modell des Landes grundlegend zu verändern. Vielmehr handelt es sich um verschiedene Konflikte mit territorialem Fokus auf geostrategische Gebiete mit illegalen Wirtschaftszweigen. Natürlich geht das Ausmaß der Gewalt viel weiter und überschneidet sich mit historischen Konflikten um Landbesitz, sowie mit Interessen transnationaler Akteure an der Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Auch Faktoren der historischen Ausgrenzung von indigenen Völkern, Afroamerikaner*innen und Bäuer*innen bleiben bestehen.

Übergriffe im Cauca 800 Opfer im Jahr 2023 (Statistik: Consejo Regional Indigena del Cauca (CRIC))

Fest steht, dass die Zivilbevölkerung am meisten leidet. Insbesondere die indigenen Gemeinden und Gebiete sind dem Konflikt stark ausgesetzt. Im Jahr 2023 zählte der CRIC 800 indigene Opfer der verschiedenen Übergriffe in den traditionell indigenen Gebieten. Die Zwangsrekrutierung von Minderjährigen, Ermordungen, Drohungen und Zwangsvertreibungen stellten hierbei die häufigsten Menschenrechtsverletzungen dar. Für das aktuelle Jahr wurden bereits 320 Opfer gezählt. Die am meisten gefährdeten Bevölkerungsgruppen sind Jugendliche und diejenigen, die eine Führungsrolle ausüben und das Gebiet verteidigen, weil sie ein Hindernis für die Interessen der bewaffneten Gruppen darstellen.

Die Auswirkungen sind jedoch viel weitreichender und von struktureller Natur. Sie beschränken sich nicht auf die humanitäre Notlage, die die indigenen Völker im Cauca erleben und die sich seit Mitte März 2024 verschlimmert hat. Die grundlegende Auswirkung ist ein andauernder Völkermord. Durch den Einsatz von physischer Gewalt, Rekrutierungsstrategien und sozialer Kontrolle können die indigenen Gemeinden ihre Autonomie und ihre eigene Regierung nicht voll entfalten, was den möglichen Verlust ihrer Identität mit sich zieht. Auch wenn die verschiedenen bewaffneten Akteure in den Gebieten diejenigen sind, die die Gewalt ausüben, so sind die Hauptverantwortlichen doch die Feinde des Friedens, der Autonomie der indigenen Völker und des strukturellen Wandels des sozioökonomischen Modells unseres Landes.

Eigene Bildung von unten Aus dem Herzen von Abya Yala

Aus dem Südwesten Kolumbiens kommt deshalb der Weckruf an die Welt: Die indigenen Völker des CRIC stehen unter Beschuss. Der 53-jährige Organisationsprozess, der auf dem Widerstand der Indigenen Garde unter der Führung der 139 traditionellen Autoritäten beruht, wurde zum militärischen Ziel erklärt. Es ist trotzdem wichtig, weiterhin auf den Frieden zu setzen und Mechanismen für multilaterale Waffenstillstände zu schaffen. Die indigenen Territorien und Gemeinden müssen dabei aktive Akteure beim Aufbau einer echten Alternative zu Krieg und Ausbeutung sein.

Auch Francia Liliana Pequi teilt diese Meinung. In Gedanken an ihre Großmutter betont sie, dass sie eine große Anführerin war und sich sehr für die Rechte der Frauen eingesetzte. In Bezug auf den sehnlichst erwünschten Frieden in der Region fügt sie hinzu: „Sie hat viel für den Prozess getan. Auch wenn sie nicht mehr bei uns ist, weiß sie, dass wir ihr unendlich dankbar sind, dass sie uns den Weg für diesen wunderschönen Prozess geebnet hat.“

„DIE GUERILLAS BEGANNEN ALS SELBSTVERTEIDIGUNGSGRUPPEN“

Wie muss man sich das Panorama der Selbstverteidigung in Mexiko vorstellen?
Es gilt zwischen Selbstverteidigungsgruppen, den sogenannten autodefensas, und Gemeinschaftspolizei zu unterscheiden. Unter Gemeinschaftspolizei verstehe ich Sicherheitskräfte, die in indigenen Gemeinden auftreten und die einem normativen System verpflichtet sind. Sie müssen sich vor den Gemeindeversammlungen verantworten. Selbstverteidigungsgruppen hingegen sind bewaffnete Zivilisten, die sich selbst organisieren, um ihre Gemeinden zu verteidigen. Sie sind aber nicht an ein normatives System gebunden oder Rechenschaft schuldig. Hinzu kommt als wichtiges Moment die indigene Identität der Gemeinschaftspolizei, um die einen von den anderen zu unterscheiden.

Treten Gemeindepolizei und Selbstverteidigungsgruppen parallel auf?
In zehn der 36 Bundesstaaten Mexikos existieren Selbstverteidigungsgruppen und Gemeinschaftspolizei nebeneinander. In Chiapas existieren sie natürlich in Form der Zapatisten. In Guerrero gibt es mit etwa 25 Gruppen die meisten bewaffneten Gruppen, fast in der Hälfte aller Landkreise. In Oaxaca existieren sie auf eine institutionelle Art und Weise und werden vom Staat akzeptiert. Zudem treten sie noch in Michoacán, San Luis Potosí, Chihuahua, Veracruz und Yucatán auf. In Puebla und Jalisco waren die Selbstverteidigungsgruppen und Gemeindepolizei nur von vorübergehender Natur.
Meinen Sie eingangs mit „normativen System“ das, was in Mexiko als indigene Usos y Costumbres (Sitten und Gebräuche) bezeichnet wird?
In Mexiko versteht man Usos y Costumbres vielmehr als eine juristische Extrawurst, eine indigene romantische Nostalgie, mit der jeder beliebige Sachverhalt gerechtfertigt wird. Im Bundesstaat Oaxaca haben die Usos y Costumbres jedoch einen positiven Wert und haben verfassungsrechtlichen Status. Wenn ich von normativem System spreche, dann geht es um eine Rechtspraxis. Es ist vergleichbar mit dem englischen Begriff des Common Law, ein Gewohnheitsrecht, das heute in den Gemeinden praktiziert wird. Es ist eben nicht nur ein kleiner Teil einer Tradition, auf die sich nostalgisch bezogen wird. Von den 520 Gemeinden in Oaxaca werden in 417 die Amtsträger nach den Usos y Costumbres bestimmt. In Guerrero gibt es ein spezielles Gesetz, das den Gemeinden zugesteht, ihre Gemeindepolizei aufzustellen. Aber das ist alles. Im Rest Mexikos gibt es keine anerkannte rechtliche Grundlage für die Usos y Costumbres. In Guerrero haben die Gemeindepolizisten jetzt auch einen juristischen Apparat entwickelt. Sie stehen also auf zwei Beinen: öffentliche Sicherheit und Rechtsprechung. Die Selbstverteidigungsgruppen handeln dagegen nur im Bereich öffentliche Sicherheit ohne Recht zu sprechen.

Was passiert dann, wenn die Selbstverteidigungsgruppen Leute festnehmen?
In Michoacán gab es verschiedene Fälle von Selbstjustiz. Aber normalerweise werden die Gefangenen den offiziellen Amtsträgern übergeben.

Kann man aus einer linken Perspektive zwischen „guten“ und „schlechten“ Selbstverteidigungsgruppen unterscheiden?
Ich sage es mal so: In den ländlichen Gemeinden gibt es die lange Tradition der bewaffneten Selbstverteidigung seit der Mexikanischen Revolution (1910 – 1919; Anm d. Red.). Die modernen linken Guerillas haben als Selbstverteidigungsgruppen begonnen. In Chihuahua gab es 1965 eine bewaffnete Guerrilla namens Grupo Popular Guerillero. Sie bildete sich als Reaktion auf Landraub durch Großgrundbesitzer. Es kam zur bewaffneten Selbstverteidigung, da das Militär äußerst brutal eingegriffen hatte. Später tauchten dann die Guerillas von Genaro Vázques und Lucio Cabañas in Guerrero auf, die auch aus einer bewaffneten Selbstverteidigung hervorgegangen waren. Genaro Vázquez leistete zuerst zivilen Widerstand gegen einen Wahlbetrug, auf den die Regierung mit Repression antwortete. Die Guerilla von Lucio Cabañas entstand als Antwort auf die Repression gegen unbequeme Lehrer. Danach flohen sie in die Berge und bildeten dort die Guerilla. Die Zapatisten entstanden als eine Gruppe der Selbstverteidigung gegen die Kaziquen. Ein Teil der Selbstverteidigungsgruppen, die zurzeit in Mexiko agieren, kann man auf diese Weise verstehen: Es sind Bewegungen, die eine Reaktion auf die Unsicherheit durch die organisierte Kriminalität und die Untätigkeit oder Komplizenschaft des Staates darstellen. Diese Bewegungen werden so zum Ausdruck einer Macht der Bevölkerung und eine Verteidigung der eigenen Interessen.

Wie sieht der Unterschied zwischen Gemeindepolizei und Bürgerwehr in Michoacán aus?
In Michoacán laufen Selbstverteidigungsgruppen und Gemeindepolizisten mittlerweile auf fast dasselbe hinaus. Es gab 2008 in unterschiedlichen indigenen Gemeinden Aufstände. Seit dieser Zeit gibt es dort Gemeindepolizei mit einem normativen System. 2014 traten die Selbstverteidigungsgruppen in zwei nicht-indigenen Gemeinden auf, wo große landwirtschaftliche Betriebe sind. In der ersten Zeit waren dort Berater des Militärs anwesend. Aber mit der Zeit schlossen sich andere Akteure im Kampf gegen das Organisierte Verbrechen den Gruppen an, vor allem verarmte Kleinbauern. Und das gibt den Selbstverteidigungsgruppen dann eine andere Richtung und Dynamik. Sie entziehen sich der ursprünglichen Kontrolle.

Sie verändern sich?
Ja genau, das ist eine Veränderung, die auch in der Mexikanischen Revolution stattgefunden hat. Damals hat sich etwas gebildet, was man La bola  – die Lawine – nennt. Eine Sache ist es, wenn bürgerliche Kräfte zum bewaffneten Aufstand gegen die Diktatur aufrufen. Aber wenn sich die Bauern erheben, dann können sie nicht mehr kontrolliert werden und es entstehen Phänomene wie die Revolutionsführer Zapata oder Pancho Villa. Ein bisschen ist das in Michoacán passiert.

Gab es in Michoacán eine besondere Unterstützung der Selbstverteidigungsgruppen durch die großen Unternehmer? Diese zahlen ja an die Mafia vielmehr als die armen Bauern?
Nun, auch die armen Bauern müssen Schutzgelder oder Steuern zahlen. In Michoacán hat sich ein Kartell etabliert, die sogenannten Tempelritter. Die haben nicht nur den Drogenhandel kontrolliert, sondern waren in verschiedenen Wirtschaftsfeldern aktiv. Sie exportierten Eisen nach China. Aus Südkorea wurden Reifen importiert, die der öffentliche Transport benutzen musste. Sie haben Kleidung aus China importiert und mit Markenetiketten versehen. Sie kontrollierten den Handel mit dem Edelholz Sangualica, das in den Armaturen von Rolls Royce und in anderen Luxusgütern verarbeitet wird. Sie hatten eine Armee von tausenden Männern. Sie hatten ein Steuerbüro und forderten Steuern von regionalen und lokalen Ämtern ein, aber auch von Erntehelfern.

Die ganze Bevölkerung musste Steuern zahlen?
Genau, aber sie verliehen auch Geld, zum Beispiel um eine Krankenhausrechnung zu bezahlen, oder sie verschenkten es. Es war eine Art Sozialhilfe-Agentur mit religiösem Überbau. Sie brachten evangelikale Prediger aus den USA nach Michoacán. Sie rekrutierten Leute von den Anonymen Alkoholikern und aus den Institutionen des Drogenentzugs und beeinflussten die Menschen mit ihrer Mystik. So entstand ein Netz, das alle in der Gesellschaft beeinflusste, geprägt von zahllosen Verbrechen, vielen Vergewaltigungen von Müttern und Töchtern. Viele Menschen sind in die USA geflüchtet. Also bildete sich eine Selbstverteidigungsgruppne gegen das Kartell der Tempelritter, ordnete sich in die Logik der Gewalt ein und wurde zu etwas, das man nicht klar definieren kann.

Wie hat die mexikanische Regierung in Michoacán reagiert?
Von den Selbstverteidigungsgruppen wurden viele offiziell in die Fuerza Rural (Landpolizei unter staatlicher Kontrolle; Anm. d. Red.) integriert. Wen die Regierung nicht disziplinieren konnte, wurde ins Gefängnis gesteckt. Sie haben die Anführer bestochen und gekauft. Sie haben sie bedroht, unterdrückt und eingesperrt. 300 Personen von den Selbstverteidigungsgruppen sind festgenommen. Zehn lokale Anführer wurden ermordet. Es war eine regelrechte Säuberung.
Von wem wurden sie ermordet? Von der Polizei, vom Militär oder …
Oder von wer weiß wem! Es waren lokale Anführer, die eine Scharnierfunktion zwischen dem Staat und den Selbstverteidigungsgruppen erfüllten. Als ein neues Kartell in Michoacán auftrat –Jalisco Nueva Generación – agierte das Kartell der Tempelritter wieder stärker und es traten weitere Selbstverteidigungsgruppen auf. Die Regierung verneint das, da die Selbstverteidigungsgruppen relativ leise auftreten. Aber sie sind da. Die Regierung musste also eingreifen, um die Kontrolle über die Selbstverteidigungsgruppen zurück zu gewinnen. Mehr oder weniger hat die Regierung es geschafft, die Selbstverteidigungsgruppen zu kontrollieren. Nicht aber die Kräfte der indigenen Gemeindepolizei, die haben ihren eigenen Weg weiterverfolgt.

Ein Paradebeispiel der Zusammenarbeit von Staat und Organisiertem Verbrechen sind die 43 verschwundenen Studenten. Was ist Ihre Theorie dazu?
Der Preis, den der mexikanische Staat dafür zahlen muss, dass der Fall nicht glaubwürdig aufgeklärt wird, ist immens hoch, im Inland sowie im Ausland. Die Frage ist doch: Was wird verheimlicht, was diesen hohen Preis rechtfertigt? Da kann es nicht nur um die Vertuschung von verantwortungslosem Handeln gehen, sondern um etwas viel Größeres. Wahrscheinlich ging es um Drogen. Iguala ist ein Schlüsselort des Heroinhandels. Ein Großteil der Heroinproduktion kommt aus Cocula nach Iguala und wird von dort aus weitertransportiert. Die Studenten aus Ayotzinapa kamen ja eher zufällig nach Iguala, sie waren auf dem Weg zu einer Demonstration. In Iguala suchten sie nach Transportmöglichkeiten und beschlagnahmten dann fünf Busse. Davon wurden vier von der Polizei völlig zerschossen. Den fünften Bus hingegen mussten die Studenten verlassen und dieser Bus konnte dann ohne Probleme Iguala verlassen. Vieles deutet darauf hin, dass dieser Bus mit Heroin bestückt war.

ALLE GEGEN ALLE

 

Foto: Ester Vargas (CC BY-SA 2.0)
Foto: Ester Vargas (CC BY-SA 2.0)

Staatliches Gewaltmonopol? Existiert in Mexiko de facto nicht, ebenso wenig die legitime Grundlage dafür. Der Staat ist weder fähig noch willens seine Bürger*innen (und auf keinen Fall die arme Mehrheit) vor Gewalt und anderen Verbrechen zu beschützen. Verschiedene staatliche Behörden bilden Allianzen mit den diversen Gruppen der Organisierten Kriminalität, deren brutale Verteilungskämpfe das Land im Würgegriff halten. In einigen Regionen wiederum sind lokale Banden quasi hegemonial geworden: Sie widmen sich schon längst nicht mehr nur dem Anbau und Handel mit Drogen, sondern kontrollieren auch die Behörden sowie den Rohstoffabbau und erheben Abgaben auf alle ökonomischen Tätigkeiten sowie die Nutzung von Gemeinschaftsgütern. Zudem vergewaltigen sie nach Belieben Frauen und Kinder. Was können Opfer von Verbrechen tun, wenn die Straflosigkeit landesweit 98 Prozent beträgt und die Strafverfolgungsbehörden Teil des Problems sind? Die Antwort vieler betroffener Mexikaner*innen: Sich mit Gleichgesinnten zusammenschließen, bewaffnen und selbst für Gerechtigkeit sorgen.
In seinem neuen Buch widmet sich Luis Hernández Navarro, einer der bekanntesten Journalisten Mexikos und Leitartikelschreiber der Tageszeitung La Jornada, Formen dieser zivilgesellschaftlichen Selbstverteidigung. Wichtig ist ihm die analytische Unterscheidung zwischen Gemeindepolizei (policía comunitaria) und Selbstverteidigungsgruppen (autodefensas). Erste blicken zwar auf eine lange Tradition in den indigenen Regionen Mexikos zurück, haben aber – einerseits inspiriert durch den zapatistischen Aufstand 1994, andererseits durch die Durchdringung des Drogenbusiness des ländlichen Raums und das staatliche Versagen – seit den 1990er Jahren verstärkt Konjunktur. Hernández Navarro zeigt am Beispiel des Bundesstaats Guerrero wie in verschiedenen indigenen Gemeinden die Gründung einer Gemeindepolizei, die sich aus gewählten Bewohner*innen zusammensetzt, erfolgreich für die Einhaltung von Regeln sowie Sanktionierung bei Verstößen sorgen kann. Vom Erfolg beflügelt, schlossen sich diese zur Regionalkoordination CRAC zusammen, die sich allerdings seit 2013 in einer schweren internen Krise befindet. Hernández Navarro verweist auf die Rolle der Regierung des Bundesstaats, die die internen Konflikte anheize, um „die Organisation zu zähmen, ihr die autonomistische Ausrichtung zu nehmen und sie mithilfe finanzieller Bestechung ihrer eigenen Agenda zu unterwerfen“.

Im Auftrag der Zivilbevölkerung Autodefensas in Michoacán (Foto: Ester Vargas CC BY-SA 2.0)
Im Auftrag der Zivilbevölkerung Autodefensas in Michoacán (Foto: Ester Vargas CC BY-SA 2.0)

Selbstverteidigungsgruppen hingegen versteht er als bewaffnete Bürger*innen, die sich gegen „Angriffe der Organisierten Kriminalität und die polizeilichen Übergriffe zu verteidigen suchen. Ihre Mitglieder werden nicht von der Bevölkerung ernannt und sie legen ihr gegenüber auch keine Rechenschaft ab“. Internationale Aufmerksamkeit erreichten die verschiedenen Selbstverteidigungsgruppen in der Zeit 2013/2014 als sie – mit sehr widersprüchlicher Unterstützung durch staatliche Einheiten – das Kartell der Tempelritter fast vollständig aus dem Bundesstaat Michoacán vertrieben (siehe LN 476). An diesem prominenten Beispiel verdeutlicht der Autor auch die Heterogenität dieser Gruppen, die sich teilweise die Konkurrenz der Drogenkartelle zu Nutzen machen.
Insgesamt zeichnet Hernández Navarro ein komplexes Bild der zivilgesellschaftlichen Selbstverteidigung. Bei aller Offenheit und Kritik ist seine Grundsympathie für die (oftmals indigenen und/ oder armen) Protagonist*innen klar, denen kein anderer Weg offenzustehen scheint. Immer wieder veranschaulichen Kurzbiographien den Kontext, der die Leute zu den Waffen greifen lässt. Ein ganzes Kapitel widmet er dem Aufstieg und Bedeutungsverlust der Bewegung für den Frieden mit Gerechtigkeit und Würde (MPJD) um den Dichter Javier Sicilia, die seit 2011 versucht hatte, auf friedliche Weise Mexikos weiteren Sturz in die ungezügelte Gewalt zu stoppen. Ebenso verweist er auf einen entscheidenden ökonomischen Hintergrund des mexikanischen Alptraums, die drastische Verarmung der ländlichen Bevölkerung durch das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA. Ein Ende der organisierten Selbstverteidigung ist für Hernández Navarro nicht in Sicht, ganz im Gegenteil.

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