Indigene Völker 
unter Beschuss

“Empörung ohne Handeln bringt nichts”: Politisches Symbol des regionalen Widerstands des CRIC (Fotos: Consejo Regional Indigena del Cauca (CRIC))

El Palo ist ein kleines Dorf in der Gemeinde Caloto im Norden des kolumbianischen Departamentos Cauca. Es ist aber nicht einfach irgendein Dorf. El Palo ist eine unsichtbare Grenze und ein Gebiet von großer geostrategischer Bedeutung, da es direkt an der Kreuzung der Straßen nach Toribío, Corinto und Santander de Quilichao liegt. Gleichzeitig ist El Palo geschichtlich relevant. Um das Dorf zu erreichen, muss man zwei historische Schauplätze von Gewalt und Widerstand durchqueren.

Der erste ist die Farm El Nilo, auf der am 16. Dezember 1991 paramilitärische Gruppen 21 Menschen der Nasa, einer indigenen Gruppe, folterten und ermordeten – nur wenige Monate nach der Verkündung der neuen kolumbianischen Verfassung, durch welche indigene Völker wie die Nasa ihr Land zurückerhalten sollten. Ermittlungen des Gerichts für öffentliche Ordnung in Cali ergaben, dass das Massaker in Zusammenarbeit mit staatlichen Sicherheitskräften verübt worden war. Der Fall wurde vor die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH) gebracht, welche die kolumbianische Regierung aufforderte, das Volk der Nasa durch die Übergabe von 15.000 Hektar Land zu entschädigen. Der zweite bedeutsame Ort ist die Farm La Emperatriz. Hier haben die Nasa 2014 im Rahmen des „Prozesses der Befreiung der Mutter Erde (uma kiwe)“ Zuckerrohrmonokulturen angepflanzt – ein Protest gegen die Nichteinhaltung der Versprechen und Verpflichtungen des Staats.

Vorbei am Dorf El Palo steigt die Straße bis zum Rand eines Tals an, von dem aus man in etwas über einer Stunde das indigene Reservat Toribío erreicht. Hier sind die cabildos (indigene Räte, Anm. d. Red.) von Toribío, Tacueyó und San Francisco im plan de vida des Nasa-Projekts vereinigt. (Dabei handelt es sich um einen Ansatz zur Stärkung der Autonomie, Gemeinschaft, Lebensqualität und kulturellen Identität der indigenen Bevölkerung, Anm. d. Red.)

Trotz der Schönheit seiner Landschaft ist das Gebiet stark von wirtschaftlicher und soziopolitischer Gewalt betroffen: Der Drogenhandel hat einen Großteil der lokalen Wirtschaft übernommen und bei Auseinandersetzungen um die Kontrolle der Drogenhandelswege werden täglich Menschen ermordet. Gemeinsam mit den Gemeinden Corinto und Miranda ist Toribío Teil des „Marihuana-Dreiecks“. Dazu gehören auch Gebiete, in denen sich der illegale Koka-Anbau konzentriert (Argelia, El Tambo, López de Micay), denen Drogenhandelswege entspringen (Río Naya) und in denen bewaffnete Akteure besonders präsent sind (Buenos Aires, Suárez, Santander de Quilichao, Caloto, Caldono, Morales und Silvia). Das Dreieck stellt einen der Brennpunkte des bewaffneten Konflikts im Departamento Cauca dar.

Entschlossen trotz Bedrohung Jugendliche geraten besonders ins Visier bewaffneter Gruppen

Am Nachmittag des 16. März 2024 entführte die in der Gegend agierende bewaffnete Gruppe Front Dagoberto Ramos einen Jugendlichen aus der Gemeinde Toribío zur Zwangsrekrutierung. Bei der Front handelt es sich um Dissident*innen der FARC-EP, welche sich zum selbsternannten Zentralen Generalstab (EMC) zusammengeschlossen haben. Aufgrund der Entführung versammelte sich die Gemeinde im Ortsteil La Bodega, um die Befreiung des Jugendlichen zu fordern. Dort schoss die Front auf die indigene Garde und die Teilnehmenden und verletzte mehrere Personen. Francia Liliana Pequi berichtete später erschüttert: „Dann drehte ich mich um und die ganze Gemeinde lief verängstigt rückwärts, rannte weg (…), denn sie schossen. Sie waren schwer bewaffnet. Zuerst schossen sie in die Luft, und als wir sie nicht gehen ließen, fingen sie an, auf alle Leute zu schießen, die da waren.“

Unter den Verletzten befand sich auch die 62-jährige mayora (indigene Autorität, Anm. d. Red.) Carmelina Yule Pavi, Mitglied der Garde und indigene Anführerin. Sie starb am Sonntag, den 18. März, an ihren Verletzungen.

Angesichts dieser Ereignisse reagierten die indigenen Gemeinden und der Regionale Indigene Rat im Cauca (CRIC) mit Nachdruck und auf verschiedenen Ebenen. Die traditionellen Autoritäten erließen mit Hilfe der indigenen Sondergerichts­barkeit Haftbefehle gegen die Anführer der bewaffneten Gruppe, während die indigene Garde Streifzüge durchführte, um die illegale bewaffnete Gruppe aus dem Gebiet zu vertreiben. Der schwere Angriff auf die indigene Gemeinde war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und die nationale Regierung dazu veranlasste, den mit der EMC bestehenden bilateralen Waffenstillstand auszusetzen.

Widerstand gegen die Gewalt bewaffneter Gruppen CRIC und weitere indigene Gemeinden schließen sich zusammen

Obwohl dieser Waffenstillstand schon vorher nicht eingehalten worden war und die indigenen Gemeinden und Gebiete von Gewalt betroffen sind, hat sich die Situation seit dem 17. März deutlich verschlechtert. Die Militarisierung des Territoriums und die Offensiven der Nationalen Armee gegen die illegalen bewaffneten Gruppen führen zu fast täglichen Kämpfen, bei denen die Zivilbevölkerung häufig Opfer von Übergriffen wird. Auch die Angriffe von FARC-EP-Dissident*innen auf indigene Gemeinschaften haben zugenommen: Drohungen, Angriffe mit Sprengkörpern, Zwangsrekrutierungen und illegale Straßensperren sind an der Tagesordnung. Außerdem haben die Dissident*innen den Plan bekanntgegeben, jede*n Vertreter*in des CRIC als militärisches Ziel einzustufen.

Marisol Peña, indigene Autorität von Tacueyó, einer Gemeinde von Toribío, klagt: „Wir sind militärische Ziele, weil wir immer deutlich gemacht haben, dass unsere Autoritäten im Gebiet bleiben werden, um das Leben zu verteidigen.“ Der Tod der mayora Carmelina letzten Monat sei für die Gemeinden der Auslöser gewesen, auf die Straße zu gehen, Druck auszuüben und zu sagen: Wir werden nicht mehr zulassen, dass sie uns ermorden, dass sie unsere Jugendlichen mitnehmen und töten. Die Gemeinden sind fest entschlossen, die Kontrolle über ihr Gebiet zurückzuholen.

Heute befinden sich die indigenen Gemeinden und Gebiete von Cauca in einer ähnlichen humanitären Notlage wie in den dunkelsten Jahren des bewaffneten Konflikts. Wie Francia Liliana Pequi berichtet, hört man Schüsse, es gibt Konfrontationen und ständige Drohungen, weil sie sich nicht zum Schweigen bringen lassen. „Wir sind nicht wie die, die meine Großmutter ermordet haben – wir werden uns nicht verstecken.“

¡Guardía guardía, fuerza fuerza! Die Guardía Indígena kämpft für ein Leben in Frieden

Als Folge der Schießerei wurden in dem Gebiet Kontrollpunkte eingerichtet. Francia Liliana Pequi erklärt dazu: „Hier, wo wir sind, ist ein strategischer Punkt, weil sie sich vorher hier aufhielten. (…) Jetzt sind wir diejenigen, die diesen Kontrollpunkt haben.“

Nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens von La Habana im Jahr 2016 gab es eine kurze Phase relativer Ruhe im Land. So auch im Departamento Cauca, welches eine lange Geschichte mit der sechsten Front der FARC-EP hat. Es gehört zu den am stärksten vom bewaffneten Konflikt betroffenen Gebieten, insbesondere nach dem Auftauchen paramilitärischer Gruppen in den 1990er und 2000er Jahren.

Doch bereits 2018 wurde die Situation in den Gebieten wieder kritischer. Dies geschah zeitgleich mit dem ersten Jahr der friedensfeindlichen Regierung von Iván Duque, dem politischen Ziehsohn des ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe. Die Ursachen für diese Verschlechterung waren Versäumnisse des Staates in Bezug auf die Landreform, Landrückgabe, den Ersatz illegaler Anbaukulturen und die territoriale Entwicklung. Darüber hinaus bot die Regierung den indigenen Gemeinschaften keinen Schutz und weigerte sich das Wirtschafts- und „Entwicklungs“-Modell in Frage zu stellen, womit die historischen und strukturellen Ursachen der Gewalt intakt blieben. Infolgedessen haben sich neue bewaffnete Gruppen schnell die nach der Demobilisierung der FARC-EP „freigewordenen“ Gebiete einverleibt, die der Staat noch immer nicht mit an die Grundversorgung angeschlossen hatte. Neben den schon länger existierenden, bewaffneten Gruppen wie der Nationalen Befreiungsarmee (ELN) haben sich neue bewaffnete Akteure organisiert. Insbesondere Dissident*innen der FARC-EP, die sich vom Friedensprozess losgesagt haben und heute unter dem Kommando von Iván Mordisco stehen. Diese bewaffnete Gruppe ist im ganzen Land mit Einheiten präsent und ihr Interesse gilt dem Drogenhandel sowie der sozialen und territorialen Gebietskontrolle. Obwohl sie sich auf den politischen Diskurs und die Erinnerung der FARC-EP beziehen, haben diese Gruppen keinen wirklichen ideologischen Gehalt.

Dies spiegelt gut das neugestaltete Szenario des bewaffneten Konflikts wider: Es geht nicht um den Kampf bewaffneter Gruppen mit einem sozialen Bezug, die die Macht ergreifen wollen um die Politik und das Modell des Landes grundlegend zu verändern. Vielmehr handelt es sich um verschiedene Konflikte mit territorialem Fokus auf geostrategische Gebiete mit illegalen Wirtschaftszweigen. Natürlich geht das Ausmaß der Gewalt viel weiter und überschneidet sich mit historischen Konflikten um Landbesitz, sowie mit Interessen transnationaler Akteure an der Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Auch Faktoren der historischen Ausgrenzung von indigenen Völkern, Afroamerikaner*innen und Bäuer*innen bleiben bestehen.

Übergriffe im Cauca 800 Opfer im Jahr 2023 (Statistik: Consejo Regional Indigena del Cauca (CRIC))

Fest steht, dass die Zivilbevölkerung am meisten leidet. Insbesondere die indigenen Gemeinden und Gebiete sind dem Konflikt stark ausgesetzt. Im Jahr 2023 zählte der CRIC 800 indigene Opfer der verschiedenen Übergriffe in den traditionell indigenen Gebieten. Die Zwangsrekrutierung von Minderjährigen, Ermordungen, Drohungen und Zwangsvertreibungen stellten hierbei die häufigsten Menschenrechtsverletzungen dar. Für das aktuelle Jahr wurden bereits 320 Opfer gezählt. Die am meisten gefährdeten Bevölkerungsgruppen sind Jugendliche und diejenigen, die eine Führungsrolle ausüben und das Gebiet verteidigen, weil sie ein Hindernis für die Interessen der bewaffneten Gruppen darstellen.

Die Auswirkungen sind jedoch viel weitreichender und von struktureller Natur. Sie beschränken sich nicht auf die humanitäre Notlage, die die indigenen Völker im Cauca erleben und die sich seit Mitte März 2024 verschlimmert hat. Die grundlegende Auswirkung ist ein andauernder Völkermord. Durch den Einsatz von physischer Gewalt, Rekrutierungsstrategien und sozialer Kontrolle können die indigenen Gemeinden ihre Autonomie und ihre eigene Regierung nicht voll entfalten, was den möglichen Verlust ihrer Identität mit sich zieht. Auch wenn die verschiedenen bewaffneten Akteure in den Gebieten diejenigen sind, die die Gewalt ausüben, so sind die Hauptverantwortlichen doch die Feinde des Friedens, der Autonomie der indigenen Völker und des strukturellen Wandels des sozioökonomischen Modells unseres Landes.

Eigene Bildung von unten Aus dem Herzen von Abya Yala

Aus dem Südwesten Kolumbiens kommt deshalb der Weckruf an die Welt: Die indigenen Völker des CRIC stehen unter Beschuss. Der 53-jährige Organisationsprozess, der auf dem Widerstand der Indigenen Garde unter der Führung der 139 traditionellen Autoritäten beruht, wurde zum militärischen Ziel erklärt. Es ist trotzdem wichtig, weiterhin auf den Frieden zu setzen und Mechanismen für multilaterale Waffenstillstände zu schaffen. Die indigenen Territorien und Gemeinden müssen dabei aktive Akteure beim Aufbau einer echten Alternative zu Krieg und Ausbeutung sein.

Auch Francia Liliana Pequi teilt diese Meinung. In Gedanken an ihre Großmutter betont sie, dass sie eine große Anführerin war und sich sehr für die Rechte der Frauen eingesetzte. In Bezug auf den sehnlichst erwünschten Frieden in der Region fügt sie hinzu: „Sie hat viel für den Prozess getan. Auch wenn sie nicht mehr bei uns ist, weiß sie, dass wir ihr unendlich dankbar sind, dass sie uns den Weg für diesen wunderschönen Prozess geebnet hat.“

KEINE UNANTASTBARKEIT FÜR INDIGENES TERRITORIUM

Am 13. August 2017 verabschiedete das bolivianische Parlament das „Gesetz zum Schutz sowie zur ganzheitlichen und nachhaltigen Entwicklung des Indigenen Territoriums und Nationalparks Isiboro Securé (TIPNIS)“. Das TIPNIS, ein 12.000 Quadratkilometer großes Gebiet in Zentralbolivien, das 1965 zum Nationalpark und 1990 zum indigenen Territorium erklärte wurde, genießt bis jetzt einen besonderen Schutzstatus. Beim Inkrafttreten des neuen Gesetzes würde dieser aufgehoben. Denn obwohl das erklärte Ziel „Schutz und Entwicklung“ des TIPNIS ist, legalisiert es unter anderem den Bau von Straßen durch das Gebiet.

Genau dies sollte vor sechs Jahren durch ein anderes Gesetz verhindert werden, das dem TIPNIS 2011 den „Status der Unantastbarkeit“ verliehen hatte. Die Erlassung jenes Gesetzes war der Verdienst der tausenden von Indigenen, die im August 2011 zu einem 600 km langen Protestmarsch nach La Paz aufgebrochen waren und sich weder durch Drohungen der Regierung noch durch die massive Polizeigewalt hatten einschüchtern lassen (siehe LN 450).
Das TIPNIS gilt als eines der artenreichsten Gebiete weltweit und beheimatet hunderte von Tier- und Pflanzenarten. Dies ist auch der Tatsache zu verdanken, dass die Industrialisierung bisher keinen Einzug gehalten hat. Die 62 Gemeinden mit ihren rund 12.000 Einwohner*innen – Angehörige von drei verschiedenen indigenen Völkern – sind zur Zeit nur über die Flüsse erreichbar.

Die vorgesehene Route ist 60 km entfernt vom Großteil der indigenen Gemeinden.

Laut der bolivianischen Regierung soll die neue Schnellstraße das nun ändern. Doch diese Argumentation birgt einige Ungereimtheiten. So ist die vorgesehene Route 60 km entfernt vom Großteil der indigenen Gemeinden, die damit gar nicht in den Genuss der angepriesenen Vorteile kämen. Stattdessen soll die Straße durch den weniger stark besiedelten Südteil des TIPNIS führen, der bereits 2011 durch den Bau eines ersten Teils der Schnellstraße erschlossen wurde. Dort haben sich Binnenmigrant*innen aus dem andinen Hochland angesiedelt, die auf einer Fläche von 1.500 Kilometer Kokablätter anbauen – illegal, wie der bolivianische Anwalt Alcides Vadillo erklärt: „Der Status des TIPNIS als Nationalpark und Indigenes Territorium verbietet, dass Externe sich dort niederlassen oder den Boden bewirtschaften. Dennoch leben in dieser Zone bereits 100.000 Kokaproduzent*innen.“ Vadillo ist Regionaldirektor der bolivianischen NGO „Fundación Tierra“ (zu deutsch „Stiftung Erde“) in Santa Cruz de la Sierra und arbeitet seit Jahrzehnten mit indigenen Gemeinden im Tiefland Boliviens zusammen.

Die indigenen Gemeinden im TIPNIS befürchten, dass sie mit jedem weiteren Meter Straße mehr Land verlieren – Land, dessen legale Grundeigentümer*innen sie auf Grund des Status des TIPNIS als Indigenes Territorium eigentlich sind. „Auf der Basis des neuen Gesetzes wird hier viel abgeholzt und zerstört werden“, sagt Fabián Gil, Präsident des Zentralkomitees der TIPNIS-Gemeinden. „Wir werden mitnichten von dieser Straße profitieren, ganz im Gegenteil: Es werden Unternehmen kommen, um sich an den natürlichen Ressourcen hier zu bereichern.“

Tatsächlich hat die bolivianische Regierung bereits Konzessionen an zwei Konzerne vergeben, um im TIPNIS nach Ölvorkommen zu suchen, betont der Anwalt Vadillo. Er hält die Befürchtungen der Indigenen um ihr Territorium für absolut berechtigt: „Eine Enteignung dieser Art ist eine Verletzung der gesetzlich festgelegten Grundrechte dieser indigenen Gemeinden. Ganz zu schweigen vom Schaden an der Umwelt, den die großflächige Abholzung im TIPNIS zur Folge hätte“.

Die Aufhebung des Status der Unantastbarkeit des TIPNIS durch das im August erlassene Gesetz hat landesweit zu anhaltenden Protesten geführt. Ende August verabschiedeten einige Gemeinden des TIPNIS eine Resolution, in der sie sich klar gegen das Gesetz und den geplanten Straßenbau aussprechen und erklären, dass das Betreten des TIPNIS durch „Fremde“ fortan verboten sei. Sie seien zwar nicht aus Prinzip gegen eine Straße, jedoch gegen die Route mitten durch das Herz des Nationalparks.

Zwar liegt ein Vorschlag für eine alternative Route am Rand des TIPNIS vor, doch laut Vadillo hat dieses Projekt wenig Chance auf Umsetzung: „Sowohl von Norden als auch von Süden her sind Kabereits so große Teile der Straße fertiggestellt, dass im Grunde nur noch 40 Kilometer fehlen, um sie durchgängig zu machen. Außerdem würde die Alternativroute den Kokaproduzent*innen nicht dienen.“

Der bolivianische Präsident Evo Morales scheint im TIPNIS vor allem die Interessen der Kokabäuer*innen zu vertreten.

Den Grund, warum der Kokasektor so viel Macht hat, sehen die TIPNIS-Gegner*innen in der Tatsache, dass der bolivianische Präsident Evo Morales auch Präsident der Vereinigung der Kokabäuerinnen und -bauern ist und im TIPNIS vor allem ihre Interessen zu vertreten scheint. Dazu werden parteipolitische Interessen vermutet: Im Departemento Beni, in dem der nördliche Teil des TIPNIS liegt, ist die Opposition gegen die Regierung von Evo Morales sehr stark. Eine Ansiedlung von regierungstreuen Wähler*innen, wie es die Kokabäuerinnen und -bauern sind, würde sich daher positiv auf seinen politischen Rückhalt in der Region auswirken.

Obwohl Regierungsvertreter*innen Anti-TIPNIS-Aktivist*innen offen drohen und sowohl Bewohner*innen als auch Mitarbeiter*innen von NGOs vor Ort von bolivianischen Sicherheitskräften tätlich angegriffen und teilweise festgenommen worden sind, reißen die Proteste nicht ab. „Die indigenen Gemeinden organisieren sich, um ihren Widerstand zu artikulieren und um Protestaktionen durchzuführen“, erklärt Fabián Gil. „Doch wir brauchen Allianzen. Deshalb rufen wir nationale und internationale Organisationen, unsere Brüder und Schwestern aller indigener Völker im Hoch- und Tiefland sowie die ganze Bevölkerung Boliviens dazu auf, uns in unserem Kampf um unser Land sowie um die Verteidigung der Natur unterstützen. Ein weiterer großer Protestmarsch ist nicht ausgeschlossen.“

Dank Sozialer Netzwerke verbreiten sich Nachrichten aus dem sonst unzugänglichen Gebiet und vermitteln einen Eindruck der Besorgnis in den indigenen Gemeinden. „Ich bin zutiefst besorgt über das Straßenbauprojekt“, erklärt eine Yuracaré-Indigene in einem Videointerview und kämpft mit den Tränen. „Dabei denke ich nicht nur an uns, sondern auch an unsere Söhne und Enkel. Jetzt leben wir frei und in Frieden auf unserem Land. Doch mit der Straße wird es hier keine Tiere mehr geben – und wovon sollen unsere Enkel dann noch leben?“. Fabián Gil gibt zu bedenken, dass die Zerstörung des TIPNIS nicht nur für seine Bewohner*innen, sondern für das ganze Land Konsequenzen hätte: „Das TIPNIS ist die grüne Lunge Boliviens“, sagt er. „Es geht uns alle etwas an.“

Tatsächlich ist das Thema auch weit abseits des TIPNIS-Gebiets täglich präsent – nicht nur in den Medien, sondern auch auf den Straßen und Plätzen der drei Großstädte La Paz, Cochabamba und Santa Cruz de la Sierra. Hier sind es vor allem junge Aktivist*innen, Künstler*innen und Student*innen, die seit Wochen Protestmärsche und öffentlichkeitswirksame Aktionen aller Art organisieren. Auf dem Hauptplatz von Santa Cruz ist seit Anfang August eine Mahnwache präsent, es werden Unterschriften gesammelt und mehrmals pro Woche finden Konzerte, Film- und Theatervorführungen sowie Diskussionsforen statt, um so viele Menschen wie möglich zu mobilisieren. „Uns geht es vor allem darum, die Leute zu informieren und zu sensibilisieren“, sagt Alejandra Crespo, eine Ökonomin, die bereits an den Protesten 2011 federführend beteiligt war und heute zum harten Kern der „Bewegung für die Verteidigung des TIPNIS“ gehört.

„Wenn wir es schaffen, das Bewusstsein für den Umweltschutz und die Rechte von Indigenen zu stärken, können wir die Zukunft unseres Landes verändern“, ist sie überzeugt. „Wir müssen uns zusammenschließen, um weiter für eine bessere und gerechtere Gesellschaft zu kämpfen – weit über den Fall des TIPNIS hinaus!“ Das laute, medienwirksame Engagement dieser jungen Bewegung ist neu und reißt viele mit. „Man spricht bereits von der Generation TIPNIS“, sagt Alcides Vadillo. „Während der Kampf meiner Generation, die während einer Diktatur aufgewachsen ist, der Kampf für Demokratie war, setzen sie sich für Umweltschutz ein – und ich nehme diese Bewegung als sehr stark wahr. Dies vermittelt Hoffnung.“

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