KEINE UNANTASTBARKEIT FÜR INDIGENES TERRITORIUM

Am 13. August 2017 verabschiedete das bolivianische Parlament das „Gesetz zum Schutz sowie zur ganzheitlichen und nachhaltigen Entwicklung des Indigenen Territoriums und Nationalparks Isiboro Securé (TIPNIS)“. Das TIPNIS, ein 12.000 Quadratkilometer großes Gebiet in Zentralbolivien, das 1965 zum Nationalpark und 1990 zum indigenen Territorium erklärte wurde, genießt bis jetzt einen besonderen Schutzstatus. Beim Inkrafttreten des neuen Gesetzes würde dieser aufgehoben. Denn obwohl das erklärte Ziel „Schutz und Entwicklung“ des TIPNIS ist, legalisiert es unter anderem den Bau von Straßen durch das Gebiet.

Genau dies sollte vor sechs Jahren durch ein anderes Gesetz verhindert werden, das dem TIPNIS 2011 den „Status der Unantastbarkeit“ verliehen hatte. Die Erlassung jenes Gesetzes war der Verdienst der tausenden von Indigenen, die im August 2011 zu einem 600 km langen Protestmarsch nach La Paz aufgebrochen waren und sich weder durch Drohungen der Regierung noch durch die massive Polizeigewalt hatten einschüchtern lassen (siehe LN 450).
Das TIPNIS gilt als eines der artenreichsten Gebiete weltweit und beheimatet hunderte von Tier- und Pflanzenarten. Dies ist auch der Tatsache zu verdanken, dass die Industrialisierung bisher keinen Einzug gehalten hat. Die 62 Gemeinden mit ihren rund 12.000 Einwohner*innen – Angehörige von drei verschiedenen indigenen Völkern – sind zur Zeit nur über die Flüsse erreichbar.

Die vorgesehene Route ist 60 km entfernt vom Großteil der indigenen Gemeinden.

Laut der bolivianischen Regierung soll die neue Schnellstraße das nun ändern. Doch diese Argumentation birgt einige Ungereimtheiten. So ist die vorgesehene Route 60 km entfernt vom Großteil der indigenen Gemeinden, die damit gar nicht in den Genuss der angepriesenen Vorteile kämen. Stattdessen soll die Straße durch den weniger stark besiedelten Südteil des TIPNIS führen, der bereits 2011 durch den Bau eines ersten Teils der Schnellstraße erschlossen wurde. Dort haben sich Binnenmigrant*innen aus dem andinen Hochland angesiedelt, die auf einer Fläche von 1.500 Kilometer Kokablätter anbauen – illegal, wie der bolivianische Anwalt Alcides Vadillo erklärt: „Der Status des TIPNIS als Nationalpark und Indigenes Territorium verbietet, dass Externe sich dort niederlassen oder den Boden bewirtschaften. Dennoch leben in dieser Zone bereits 100.000 Kokaproduzent*innen.“ Vadillo ist Regionaldirektor der bolivianischen NGO „Fundación Tierra“ (zu deutsch „Stiftung Erde“) in Santa Cruz de la Sierra und arbeitet seit Jahrzehnten mit indigenen Gemeinden im Tiefland Boliviens zusammen.

Die indigenen Gemeinden im TIPNIS befürchten, dass sie mit jedem weiteren Meter Straße mehr Land verlieren – Land, dessen legale Grundeigentümer*innen sie auf Grund des Status des TIPNIS als Indigenes Territorium eigentlich sind. „Auf der Basis des neuen Gesetzes wird hier viel abgeholzt und zerstört werden“, sagt Fabián Gil, Präsident des Zentralkomitees der TIPNIS-Gemeinden. „Wir werden mitnichten von dieser Straße profitieren, ganz im Gegenteil: Es werden Unternehmen kommen, um sich an den natürlichen Ressourcen hier zu bereichern.“

Tatsächlich hat die bolivianische Regierung bereits Konzessionen an zwei Konzerne vergeben, um im TIPNIS nach Ölvorkommen zu suchen, betont der Anwalt Vadillo. Er hält die Befürchtungen der Indigenen um ihr Territorium für absolut berechtigt: „Eine Enteignung dieser Art ist eine Verletzung der gesetzlich festgelegten Grundrechte dieser indigenen Gemeinden. Ganz zu schweigen vom Schaden an der Umwelt, den die großflächige Abholzung im TIPNIS zur Folge hätte“.

Die Aufhebung des Status der Unantastbarkeit des TIPNIS durch das im August erlassene Gesetz hat landesweit zu anhaltenden Protesten geführt. Ende August verabschiedeten einige Gemeinden des TIPNIS eine Resolution, in der sie sich klar gegen das Gesetz und den geplanten Straßenbau aussprechen und erklären, dass das Betreten des TIPNIS durch „Fremde“ fortan verboten sei. Sie seien zwar nicht aus Prinzip gegen eine Straße, jedoch gegen die Route mitten durch das Herz des Nationalparks.

Zwar liegt ein Vorschlag für eine alternative Route am Rand des TIPNIS vor, doch laut Vadillo hat dieses Projekt wenig Chance auf Umsetzung: „Sowohl von Norden als auch von Süden her sind Kabereits so große Teile der Straße fertiggestellt, dass im Grunde nur noch 40 Kilometer fehlen, um sie durchgängig zu machen. Außerdem würde die Alternativroute den Kokaproduzent*innen nicht dienen.“

Der bolivianische Präsident Evo Morales scheint im TIPNIS vor allem die Interessen der Kokabäuer*innen zu vertreten.

Den Grund, warum der Kokasektor so viel Macht hat, sehen die TIPNIS-Gegner*innen in der Tatsache, dass der bolivianische Präsident Evo Morales auch Präsident der Vereinigung der Kokabäuerinnen und -bauern ist und im TIPNIS vor allem ihre Interessen zu vertreten scheint. Dazu werden parteipolitische Interessen vermutet: Im Departemento Beni, in dem der nördliche Teil des TIPNIS liegt, ist die Opposition gegen die Regierung von Evo Morales sehr stark. Eine Ansiedlung von regierungstreuen Wähler*innen, wie es die Kokabäuerinnen und -bauern sind, würde sich daher positiv auf seinen politischen Rückhalt in der Region auswirken.

Obwohl Regierungsvertreter*innen Anti-TIPNIS-Aktivist*innen offen drohen und sowohl Bewohner*innen als auch Mitarbeiter*innen von NGOs vor Ort von bolivianischen Sicherheitskräften tätlich angegriffen und teilweise festgenommen worden sind, reißen die Proteste nicht ab. „Die indigenen Gemeinden organisieren sich, um ihren Widerstand zu artikulieren und um Protestaktionen durchzuführen“, erklärt Fabián Gil. „Doch wir brauchen Allianzen. Deshalb rufen wir nationale und internationale Organisationen, unsere Brüder und Schwestern aller indigener Völker im Hoch- und Tiefland sowie die ganze Bevölkerung Boliviens dazu auf, uns in unserem Kampf um unser Land sowie um die Verteidigung der Natur unterstützen. Ein weiterer großer Protestmarsch ist nicht ausgeschlossen.“

Dank Sozialer Netzwerke verbreiten sich Nachrichten aus dem sonst unzugänglichen Gebiet und vermitteln einen Eindruck der Besorgnis in den indigenen Gemeinden. „Ich bin zutiefst besorgt über das Straßenbauprojekt“, erklärt eine Yuracaré-Indigene in einem Videointerview und kämpft mit den Tränen. „Dabei denke ich nicht nur an uns, sondern auch an unsere Söhne und Enkel. Jetzt leben wir frei und in Frieden auf unserem Land. Doch mit der Straße wird es hier keine Tiere mehr geben – und wovon sollen unsere Enkel dann noch leben?“. Fabián Gil gibt zu bedenken, dass die Zerstörung des TIPNIS nicht nur für seine Bewohner*innen, sondern für das ganze Land Konsequenzen hätte: „Das TIPNIS ist die grüne Lunge Boliviens“, sagt er. „Es geht uns alle etwas an.“

Tatsächlich ist das Thema auch weit abseits des TIPNIS-Gebiets täglich präsent – nicht nur in den Medien, sondern auch auf den Straßen und Plätzen der drei Großstädte La Paz, Cochabamba und Santa Cruz de la Sierra. Hier sind es vor allem junge Aktivist*innen, Künstler*innen und Student*innen, die seit Wochen Protestmärsche und öffentlichkeitswirksame Aktionen aller Art organisieren. Auf dem Hauptplatz von Santa Cruz ist seit Anfang August eine Mahnwache präsent, es werden Unterschriften gesammelt und mehrmals pro Woche finden Konzerte, Film- und Theatervorführungen sowie Diskussionsforen statt, um so viele Menschen wie möglich zu mobilisieren. „Uns geht es vor allem darum, die Leute zu informieren und zu sensibilisieren“, sagt Alejandra Crespo, eine Ökonomin, die bereits an den Protesten 2011 federführend beteiligt war und heute zum harten Kern der „Bewegung für die Verteidigung des TIPNIS“ gehört.

„Wenn wir es schaffen, das Bewusstsein für den Umweltschutz und die Rechte von Indigenen zu stärken, können wir die Zukunft unseres Landes verändern“, ist sie überzeugt. „Wir müssen uns zusammenschließen, um weiter für eine bessere und gerechtere Gesellschaft zu kämpfen – weit über den Fall des TIPNIS hinaus!“ Das laute, medienwirksame Engagement dieser jungen Bewegung ist neu und reißt viele mit. „Man spricht bereits von der Generation TIPNIS“, sagt Alcides Vadillo. „Während der Kampf meiner Generation, die während einer Diktatur aufgewachsen ist, der Kampf für Demokratie war, setzen sie sich für Umweltschutz ein – und ich nehme diese Bewegung als sehr stark wahr. Dies vermittelt Hoffnung.“

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