Kalter Putsch Ausschnit aus dem LN-Cover nach dem Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff in Brasilien
Die Editorials als kollektiv verfasster Meinungsbeitrag der Redaktion werden bei den Lateinamerika Nachrichten normalerweise auf der Sitzung zum Redaktionsschluss und erneut während des monatlichen Produktionswochenendes besprochen. Nach dem erzwungenen Rücktritt von Evo Morales im November 2019 wollten wir darauf jedoch nicht warten. War es ein Putsch, was da passiert war? Die Sachlage war auf den ersten Blick nicht ganz eindeutig. Die Nachrichten aus Bolivien und auch die Diskussionen in den sozialen Medien überschlugen sich, die Redaktion erhielt laufend Anfragen nach ihrer Sicht auf die Dinge. Wir merkten, dass eine Stellungnahme von uns hermusste. Völlig außerhalb des normalen Heftzyklus’ trommelten wir die Redaktionsmitglieder zusammen und diskutierten einen Abend lang über Bolivien, unser Raum war brechend voll. Am Ende stand eine gemeinsame Analyse, die den Putsch klar als solchen bezeichnete und die wir dann online gestellt haben. Kein anderer Text auf unserer Homepage wurde in den letzten Jahren innerhalb kurzer Zeit von so vielen Leuten gelesen wie dieser.
Was die LN in dem Sondereditorial „Die Putsche unserer Zeit“ herausgearbeitet haben: Die Strategien der radikalen Rechten haben sich geändert. Wenn diese heute ihre Interessen gefährdet sieht, greift sie nicht mehr zwangsläufig zu „klassischen“ Militärputschen, um linke Regierungen zu stürzen – heute behauptet sie, „Menschenrechte“, „Demokratie“ und die vermeintliche Freiheit zu verteidigen. Durchgesetzt werden die Interessen der Unternehmerseite durchaus auch mit Gewalt – das zeigte die tödliche Repression gegen Protestierende in Bolivien eindrücklich. Der Machtwechsel an sich verläuft jedoch meist scheinbar unblutig, gut vorbereitet durch Stimmungsmache in den Medien und einen Staats- und Justizapparat, den die Rechte ohnehin nie aus den Händen gegeben hat.
Auch deutsche Unternehmen sahen in einem Bolivien unter Morales ihre Interessen in Gefahr
Die LN waren eine der ersten Stimmen im deutschsprachigen Raum, die sich gegenüber den Ereignissen in Bolivien klar positionierten. Viele andere Medien taten sich da schwerer. Die taz zögerte sichtlich, den Staatsstreich als einen solchen zu benennen und suchte anfangs gar die Schuld bei Morales selbst. Andere Zeitungen wie die Zeit interviewten die Putschistin Jeanine Áñez als vermeintlich legitime „Übergangspräsidentin“. Wie der gesammelte Wertewesten erkannte die Bundesregierung die neuen Machthaber*innen ohnehin sofort an – auch deutsche Unternehmen sahen in einem Bolivien unter Morales ihre Interessen in Gefahr. Die Rolle der von den USA dominierten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die den Putschist*innen mit dem sich später als unhaltbar erweisenden Wahlfälschungsvorwurf den Boden bereitete, zeigt die internationale Dimension der „Putsche unserer Zeit“.
Dass Bolivien den Schlusspunkt der „Putsche unserer Zeit“ darstellt, muss bezweifelt werden
Dass es sich beim Putsch gegen Evo um kein isoliertes Phänomen handelte, wurde schon im Editorial von 2019 betont. Zuvor war die Rechte gegen die Regierungen von Dilma Rousseff in Brasilien, von Manuel Zelaya in Honduras und von Fernando Lugo in Paraguay nach ähnlichen Mustern vorgegangen. Auch dass Bolivien den Schlusspunkt der „Putsche unserer Zeit“ darstellt, muss bezweifelt werden. Bezüglich der Absetzung von Perus Präsidenten Pedro Castillo Ende letzten Jahres lassen sich zumindest Parallelen finden. Oftmals sorgt die Rechte und ihr Justizapparat in Lateinamerika jedoch vor und verhindert linke Regierungen bereits im Voraus. Spätestens seit den 2010er Jahren wird für derlei Machenschaften auch der Begriff Lawfare genutzt: das politisch motivierte Beugen von Recht gegen progressive Politiker*innen. Aktuelle Beispiele dafür sind die Urteile gegen die ehemalige Präsidentin und aktuelle Vize Argentiniens Cristina Fernández de Kirchner, die ihre erneute Kandidatur unmöglich machen, oder die Verhinderung der indigenen Aktivistin Thelma Cabrera als Präsidentschaftskandidatin in Guatemala.
Trotz gewalttätiger Repression nach dem Staatsstreich konnte die „Bewegung für den Sozialismus“ (MAS) nur rund ein Jahr nach dem Sturz von Evo Morales wieder an die Macht kommen. Zu verankert war sie in der indigenen Bevölkerung, die sich in Massen mobilisierte und das Land teilweise lahmlegte. Auch in anderen Ländern feierten weggeputschte Bewegungen und Parteien ein Comeback: So in Brasilien, wo seit Anfang des Jahres wieder Lula regiert; ebenso in Honduras, wo es nach dem Sturz Zelayas etwas länger dauerte, bis Xiomara Castro ins Präsidentinnenamt gewählt wurde.
In die Freude hierüber mischt sich Sorge. In allen drei genannten Ländern existiert heute eine starke gesellschaftliche Polarisierung. Mit Ausnahme Boliviens, wo die MAS jedoch durch innerparteiliche Konflikte geschwächt ist, verfügen die linken Regierungen zudem über keine eigene Mehrheit im Parlament. Das birgt die Gefahr, dass Anhänger*innen enttäuscht werden, wenn eigene Projekte am Widerstand der Opposition scheitern. Am Ende könnte das zukünftige Wahlsiege der Rechten begünstigen. Zwar zeigen die Entwicklungen in Brasilien, Honduras und Bolivien, dass die „Putsche unserer Zeit“ keinen nachhaltigen Erfolg haben müssen. Die Gefahr, dass die Rechte zurückschlägt, ist jedoch keineswegs gebannt. Ein Grund dafür ist, dass hohe Militärs und Richter*innen oft weiterhin mit ihr sympathisieren, auch wenn ihnen nun ein*e progressive Präsident*in vorsteht. In Bolivien etwa hat Präsident Arce im November 2022 nach einer großen Protestwelle in Santa Cruz, der Hochburg der Rechten, bereits zum zweiten Mal seit seinem Amtsantritt die oberste Führung der Streitkräfte ausgewechselt. Das tat er, um einem möglichen neuen Putsch zuvorzukommen.
Martin Schäfer ist seit 2018 Mitglied der LN-Redaktion und interessiert sich für die Kämpfe indigener Bewegungen.
Frederic Schnatterer ist Mitglied der LN-Redaktion und interessiert sich für das Spannungsverhältnis von Realpolitik und Revolution.