Die Gefahr bleibt

Kalter Putsch Ausschnit aus dem LN-Cover nach dem Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff in Brasilien

Die Editorials als kollektiv verfasster Meinungsbeitrag der Redaktion werden bei den Lateinamerika Nachrichten normalerweise auf der Sitzung zum Redaktionsschluss und erneut während des monatlichen Produktionswochenendes besprochen. Nach dem erzwungenen Rücktritt von Evo Morales im November 2019 wollten wir darauf jedoch nicht warten. War es ein Putsch, was da passiert war? Die Sachlage war auf den ersten Blick nicht ganz eindeutig. Die Nachrichten aus Bolivien und auch die Diskussionen in den sozialen Medien überschlugen sich, die Redaktion erhielt laufend Anfragen nach ihrer Sicht auf die Dinge. Wir merkten, dass eine Stellungnahme von uns hermusste. Völlig außerhalb des normalen Heftzyklus’ trommelten wir die Redaktionsmitglieder zusammen und diskutierten einen Abend lang über Bolivien, unser Raum war brechend voll. Am Ende stand eine gemeinsame Analyse, die den Putsch klar als solchen bezeichnete und die wir dann online gestellt haben. Kein anderer Text auf unserer Homepage wurde in den letzten Jahren innerhalb kurzer Zeit von so vielen Leuten gelesen wie dieser.

Was die LN in dem Sondereditorial „Die Putsche unserer Zeit“ herausgearbeitet haben: Die Strategien der radikalen Rechten haben sich geändert. Wenn diese heute ihre Interessen gefährdet sieht, greift sie nicht mehr zwangsläufig zu „klassischen“ Militärputschen, um linke Regierungen zu stürzen – heute behauptet sie, „Menschenrechte“, „Demokratie“ und die vermeintliche Freiheit zu verteidigen. Durchgesetzt werden die Interessen der Unternehmerseite durchaus auch mit Gewalt – das zeigte die tödliche Repression gegen Protestierende in Bolivien eindrücklich. Der Machtwechsel an sich verläuft jedoch meist scheinbar unblutig, gut vorbereitet durch Stimmungsmache in den Medien und einen Staats- und Justizapparat, den die Rechte ohnehin nie aus den Händen gegeben hat.

Auch deutsche Unternehmen sahen in einem Bolivien unter Morales ihre Interessen in Gefahr

Die LN waren eine der ersten Stimmen im deutschsprachigen Raum, die sich gegenüber den Ereignissen in Bolivien klar positionierten. Viele andere Medien taten sich da schwerer. Die taz zögerte sichtlich, den Staatsstreich als einen solchen zu benennen und suchte anfangs gar die Schuld bei Morales selbst. Andere Zeitungen wie die Zeit interviewten die Putschistin Jeanine Áñez als vermeintlich legitime „Übergangspräsidentin“. Wie der gesammelte Wertewesten erkannte die Bundesregierung die neuen Machthaber*innen ohnehin sofort an – auch deutsche Unternehmen sahen in einem Bolivien unter Morales ihre Interessen in Gefahr. Die Rolle der von den USA dominierten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die den Putschist*innen mit dem sich später als unhaltbar erweisenden Wahlfälschungsvorwurf den Boden bereitete, zeigt die internationale Dimension der „Putsche unserer Zeit“.

Dass Bolivien den Schlusspunkt der „Putsche unserer Zeit“ darstellt, muss bezweifelt werden

Dass es sich beim Putsch gegen Evo um kein isoliertes Phänomen handelte, wurde schon im Editorial von 2019 betont. Zuvor war die Rechte gegen die Regierungen von Dilma Rousseff in Brasilien, von Manuel Zelaya in Honduras und von Fernando Lugo in Paraguay nach ähnlichen Mustern vorgegangen. Auch dass Bolivien den Schlusspunkt der „Putsche unserer Zeit“ darstellt, muss bezweifelt werden. Bezüglich der Absetzung von Perus Präsidenten Pedro Castillo Ende letzten Jahres lassen sich zumindest Parallelen finden. Oftmals sorgt die Rechte und ihr Justizapparat in Lateinamerika jedoch vor und verhindert linke Regierungen bereits im Voraus. Spätestens seit den 2010er Jahren wird für derlei Machenschaften auch der Begriff Lawfare genutzt: das politisch motivierte Beugen von Recht gegen progressive Politiker*innen. Aktuelle Beispiele dafür sind die Urteile gegen die ehemalige Präsidentin und aktuelle Vize Argentiniens Cristina Fernández de Kirchner, die ihre erneute Kandidatur unmöglich machen, oder die Verhinderung der indigenen Aktivistin Thelma Cabrera als Präsidentschaftskandidatin in Guatemala.

Trotz gewalttätiger Repression nach dem Staatsstreich konnte die „Bewegung für den Sozialismus“ (MAS) nur rund ein Jahr nach dem Sturz von Evo Morales wieder an die Macht kommen. Zu verankert war sie in der indigenen Bevölkerung, die sich in Massen mobilisierte und das Land teilweise lahmlegte. Auch in anderen Ländern feierten weggeputschte Bewegungen und Parteien ein Comeback: So in Brasilien, wo seit Anfang des Jahres wieder Lula regiert; ebenso in Honduras, wo es nach dem Sturz Zelayas etwas länger dauerte, bis Xiomara Castro ins Präsidentinnenamt gewählt wurde.

In die Freude hierüber mischt sich Sorge. In allen drei genannten Ländern existiert heute eine starke gesellschaftliche Polarisierung. Mit Ausnahme Boliviens, wo die MAS jedoch durch innerparteiliche Konflikte geschwächt ist, verfügen die linken Regierungen zudem über keine eigene Mehrheit im Parlament. Das birgt die Gefahr, dass Anhänger*innen enttäuscht werden, wenn eigene Projekte am Widerstand der Opposition scheitern. Am Ende könnte das zukünftige Wahlsiege der Rechten begünstigen. Zwar zeigen die Entwicklungen in Brasilien, Honduras und Bolivien, dass die „Putsche unserer Zeit“ keinen nachhaltigen Erfolg haben müssen. Die Gefahr, dass die Rechte zurückschlägt, ist jedoch keineswegs gebannt. Ein Grund dafür ist, dass hohe Militärs und Richter*innen oft weiterhin mit ihr sympathisieren, auch wenn ihnen nun ein*e progressive Präsident*in vorsteht. In Bolivien etwa hat Präsident Arce im November 2022 nach einer großen Protestwelle in Santa Cruz, der Hochburg der Rechten, bereits zum zweiten Mal seit seinem Amtsantritt die oberste Führung der Streitkräfte ausgewechselt. Das tat er, um einem möglichen neuen Putsch zuvorzukommen.

Martin Schäfer ist seit 2018 Mitglied der LN-Redaktion und interessiert sich für die Kämpfe indigener Bewegungen.
Frederic Schnatterer ist Mitglied der LN-Redaktion und interessiert sich für das Spannungsverhältnis von Realpolitik und Revolution.

NICHT ALLES HARMONISCH

Für die MAS läuft nicht alles rosig Präsident Luis Arce und Expräsident Evo Morales bei einer Demonstration (Foto: ABI)

Als Luis Arce im Oktober 2020 mit 55 Prozent der gültigen Stimmen und großem Vorsprung zum Präsidenten des Plurinationalen Staates Bolivien gewählt wurde, war das Ergebnis in dieser Deutlichkeit für viele eine große Überraschung. Die Wahl brachte somit die Erkenntnis: Die Bewegung zum Sozialismus (MAS) kann auch ohne ihre Identifikationsfigur Evo Morales, Präsident von 2006 bis 2019 und immer noch Parteivorsitzender, Wahlen gewinnen. Sowohl in der Abgeordnetenkammer als auch im Senat erreichte die linke Partei 2020 wieder eine absolute Mehrheit.

Ein Jahr zuvor hatte es noch ganz anders ausgesehen: Die Wahlen 2019 hatten Morales und die MAS zwar gewonnen. Nach Vorwürfen des Wahlbetrugs und tagelangen Protesten auf den Straßen sowie einem Aufstand von Teilen der Polizei forderten Militärs jedoch Morales Rücktritt und er flüchtete aus dem Land. Die Macht übernahm als selbsternannte Übergangspräsidentin die rechte Senatorin Jeanine Áñez, die dann ein Jahr lang an dem Amt festhielt. In den Wochen nach ihrer Amtsübernahme lieferten sich Anhänger*innen aus verschiedenen politischen Lagern gewalttätige Auseinandersetzungen – sowohl untereinander als auch mit Polizei und Militär. Im November 2019 kam es dabei an mehreren Orten zu schweren Menschenrechtsverletzungen, Massakern und außergerichtlichen Hinrichtungen durch die De-facto-Regierung von Áñez, beklagte die Interdisziplinäre Gruppe unabhängiger Experten (GIEI) der Interamerikanischen Menschenrechtskommission in ihrem Bericht vom Juli 2021. Dabei wurden mindestens 37 Menschen getötet und Hunderte verletzt.

Mit der Wahl von Luis Arce ist die Linke wieder an der Macht und die Lage scheint sich beruhigt zu haben. Arce, der als enger Vertrauter von Morales gilt, ist Ökonom und war während dessen Präsidentschaft Wirtschaftsminister. Er steht für den sozial gerechten wirtschaftlichen Aufschwung der vergangenen Jahre in Bolivien. Nach zwei Jahren ist die Bilanz seiner Regierung nicht schlecht:

Die COVID-19-Pandemie hat zwar schmerzhaft die Schwächen der Gesundheitsversorgung in Bolivien aufgezeigt, monatelange Einschränkungen wie Ausgangssperren oder die Schließung der Märkte trafen vor allem Menschen, die ihr Essen und Geld für andere Ausgaben von Tag zu Tag verdienen müssen: Taxifahrer*innen und Busfahrer*innen, Marktverkäufer*innen und die bäuerliche Bevölkerung. Die wirtschaftliche Situation hat sich inzwischen aber erholt, Boliviens Bruttoinlandsprodukt wuchs im Jahr 2021 um 6,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das Land weist derzeit die niedrigste Inflationsrate in ganz Lateinamerika auf, im August 2022 lag sie im Vergleich zum Vorjahresmonat bei 1,6 Prozent.

Die Regierung Arce setzt auf öffentliche Investitionen und verspricht eine Strukturpolitik, die Wertschöpfungsketten zunehmend im Land hält. Nach dem jahrzehntelangen Ausverkauf der heimischen Rohstoffe an ausländische Firmen kündigt die Regierung eine nationale Industrialisierung von Lithium an. Bislang ist Bolivien jedoch weiter stark vom Export von Rohstoffen wie Erdgas und Gold abhängig, und damit auch von der Höhe der Preise auf dem Weltmarkt. Zudem plant die Regierung staatlich finanzierte Megaprojekte, den Bau von Straßen, Industrieanlagen, Gesundheitszentren, Plätzen und Parks im Wert von mehreren Milliarden US-Dollar. So soll bis zum „Bicentenario“, dem 200. Jahrestag der Unabhängigkeit Boliviens am 6. August 2025, die Wirtschaft des Landes gestärkt und die Lebenssituation der Bolivianer*innen verbessert werden.

Sogar der IWF hob Mitte September 2022 die Erfolge des Landes bei der Stabilisierung der Wirtschaft und der Armutsbekämpfung hervor. Er empfahl aber auch, die Bindung der bolivianischen Währung Boliviano an den Dollar-Kurs und staatliche Subventionen wie die für Kraftstoffe zu überprüfen. Präsident Arce lehnte diese „alten Rezepte“ umgehend ab: „Unser soziales, gemeinschaftliches und produktives Wirtschaftsmodell ist souverän und zeigt weiterhin seinen Erfolg beim Abbau sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheiten in Bolivien“, twitterte er.

Auch im Ausland wirbt Boliviens Präsident für das, was er in seinem gleichnamigen Sachbuch als ein „erfolgreiches und gerechtes Wirtschaftsmodell“ beschreibt. Anfang September traf er sich in Brasilien mit Präsidentschaftskandidat Lula da Silva und schenkte ihm das Buch. Zu anderen sich als links verstehenden Regierungen Lateinamerikas suchte Boliviens Staatschef ebenfalls den Kontakt, traf sich in den vergangenen Monaten mit den Präsidenten von Chile und Peru, Gabriel Boric und Pedro Castillo. Mitglieder des chilenischen Verfassungskonvents erkundigten sich außerdem im Zuge der Ausarbeitung einer neuen Verfassung in Bolivien zu Themen wie Plurinationalität.

Als besonders eng gilt das Verhältnis zu Argentinien und dem dortigen Präsidenten Alberto Fernández. Beide Staaten gehören zu den Ländern mit den größten Vorkommen an Lithium weltweit und vereinbarten eine Zusammenarbeit bei der Herstellung von Zellen und Batterien. Im September 2022 präsentierte Luis Arce dann in der UN-Vollversammlung 14 Vorschläge für eine sozial gerechtere Welt, darunter der Zugang zu Gesundheitssystemen für alle Menschen, die Industrialisierung von Lithium zum Wohle aller und als Grundpfeiler einer Energiewende sowie Ernährungssouveränität in Harmonie mit der Erde.

Dennoch ist nicht alles harmonisch in Bolivien. Ausgerechnet an einem nur scheinbar wenig konfliktgeladenen Thema entzündete sich im August 2022 der permanent schwelende Konflikt zwischen der Zentralregierung und der MAS einerseits und ihren politischen Gegner*innen vor allem im östlichen Tiefland Bolivien andererseits: am Zensus. Präsident Arce hatte die für November 2022 geplante Erhebung statistischer Bevölkerungsdaten auf Mitte 2024 verschieben lassen. Darauf folgte ein Aufschrei der Opposition. Der ultrarechte Gouverneur des Departements Santa Cruz, Luis Fernando Camacho, rief im August 2022 zu einem zweitätigen Streik auf und forderte, der Zensus müsse noch 2023 stattfinden. Zuletzt drohten die einflussreichen Bürgerkomitees in Santa Cruz sogar mit einem unbefristeten Streik, falls die bolivianische Regierung dieser Forderung nicht nachkommt.

Denn beim Zensus, der etwa alle zehn Jahre erhoben wird, geht es nicht zuletzt um Geld und politischen Einfluss. Das Departement Santa Cruz gilt als wirtschaftsstärkste Region des Landes, seine Hauptstadt Santa Cruz de la Sierra ist mittlerweile die bevölkerungsreichste Stadt Boliviens und wächst weiter. Eine höhere Zahl an Einwohner*innen bedeutet für Städte und Regionen wiederum mehr finanzielle Zuwendungen aus Steuern und mehr Parlamentssitze. Hinzu kommt der andauernde Konflikt zwischen dem in der Mehrheit politisch konservativen, von Nachkommen der Einwander*innen aus Europa geprägten Santa Cruz und der Zentralregierung in La Paz im Hochland. Luis Fernando Camacho selbst spielte bei den Protesten gegen Morales 2019 eine zentrale Rolle, als er mit der Bibel in der Hand in den Präsidentenpalast eindrang, um Morales zum Rücktritt zu drängen. Den Streik in Santa Cruz bezeichneten Anhänger*innen der Regierung als erneuten Versuch eines rechten Staatsstreichs. Ende August 2022 zogen Zehntausende Menschen bei einem „Marsch zur Verteidigung der Demokratie und des wirtschaftlichen Wiederaufbaus“ von der Millionenstadt El Alto zum Regierungssitz La Paz, um ihre Unterstützung für die Regierung von Präsident Arce zu demonstrieren. „Das Volk will keine Putsche mehr!“, betonte Arce dort in einer Rede. „Es wird sich nicht von der Rechten verführen lassen, weil es seit 2019 gelernt hat, dass die Rechte sich nur die eigenen Taschen füllen und die der Bevölkerung leeren will“. Zum Protest aufgerufen hatten auch Basisbewegungen, die traditionell eng mit der MAS verbunden sind: der Pakt der Einheit, der Dachverband der Gewerkschaften Boliviens (COB) sowie die Organisation indigener Bäuerinnen Bartolina Sisa.

Doch das Verhältnis der Regierung zu anderen Gruppen der Zivilgesellschaft wirkt getrübt. So wurde die frühere Übergangspräsidentin Jeanine Áñez im Juni 2022 für die Amtsübernahme 2019 zu zehn Jahren Haft wegen Verstößen gegen die Verfassung verurteilt, ein Prozess wegen der Massaker im November 2019 steht aber noch aus. Opfer und ihre Angehörigen klagen bis heute darüber, dass sie von der Regierung im Stich gelassen und nicht entschädigt worden seien. Indigene Organisationen und Naturschützer*innen kritisieren die Zerstörung der Umwelt und indigener Territorien durch den Bau von Straßen und Staudämmen sowie durch den Bergbau ebenso wie die immense Abholzung des Regenwaldes für Sojaanbau und Viehwirtschaft. Auch gegen den Machismo und geschlechtsspezifische Gewalt, die allgegenwärtige Korruption, Vetternwirtschaft und die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz werden Proteste lauter. Diese kritischen Stimmen zu ignorieren, könnte für Luis Arce und der MAS durchaus gefährlich werden. Die Mobilisierungen gegen Morales in den drei großen Städten La Paz, Santa Cruz und Cochabamba im Jahr 2019 hatten bereits gezeigt, dass es der MAS in der wachsenden urbanen Mittelschicht an Rückhalt fehlt. Und auch bei den Regionalwahlen im März 2021 erzielte die Partei ein eher durchwachsenes Ergebnis.

Neue Goldgrube Der Lithiumabbau im Salar de Uyuni könnte Bolivien wirtschaftlich nachhaltig stärken (Foto: Coordenação-Geral de Observação da Terra/INPE via Flickr , CC BY-SA 2.0)

Die Wahl von Arce schien auch die Möglichkeit einer leichten politischen Neuausrichtung, doch offenbar ist es für den Präsidenten und Teile der MAS schwierig, den langen Schatten von Evo Morales zu verlassen. Morales selbst hatte Anfang 2020 in seinem damaligen Exil in Argentinien eingeräumt, dass es ein Fehler gewesen sei, 2019 noch einmal anzutreten und für eine insgesamt vierte Amtszeit in Folge zu kandidieren. Jetzt scheint sich der immer noch einflussreiche Parteivorsitzende der MAS für eine Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl 2025 vorzubereiten. Dabei kommt es auch innerhalb der Partei zu Streitereien, die von den oppositionellen Medien genüsslich als Zeichen eines kommenden Zusammenbruchs der MAS gedeutet werden: Anfang September beschwerte sich Morales, dass Regierungsminister Eduardo del Castillo und Teile des Kabinetts einen „Plan Negro“ verfolgten, um ihn zu diskreditieren und seine Kandidatur im Jahr 2025 zu verhindern. Del Castillo antwortete darauf nicht weniger drastisch und bezeichnete die früheren Minister der Regierung Morales als „Krebsgeschwüre“, die den Staatsstreich im Jahr 2019 nicht verhindert hätten. Diese Auseinandersetzungen innerhalb der MAS übertönen im aktuellen politischen Geschehen gesellschaftliche Probleme wie die bestehende gesellschaftliche Ungleichheit und Armut, Kriminalität und Korruption und die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, die strukturelle Diskriminierung von Frauen und Mädchen und Umweltzerstörungen. Gerade diese Themen sind es jedoch, die in einem Land wie Bolivien, in dem die Hälfte der Bevölkerung unter 25 Jahre alt ist, derzeit an Aufmerksamkeit gewinnen. Anfang dieses Jahres waren mehrere Tausend Frauen zum Gerichtshof in La Paz gezogen, um gegen machistische Gewalt und die Korruption in der Justiz zu demonstrieren. In Bolivien werden jedes Jahr mehr als 100 Frauen und Mädchen Opfer von Feminiziden, werden aufgrund ihres Geschlechts getötet. „Ist Dir klar, wie wenige der mehr als 100 Feminizide, die in Bolivien jedes Jahr verübt werden, vor Gericht gebracht werden und wirklich Gerechtigkeit erfahren? Es gibt so viele Fälle von Morden an Frauen, und viel zu häufig bleiben Vergewaltiger und Frauenmörder unter dem Schutz von Staat und Justiz straffrei“, mahnte Kiyomi Nagumo, Aktivistin der ökofeministischen Gruppe Salvaginas.

Ökofeministische Ansätze zeigen Auswege aus der Krise auf

Ökofeministische Ansätze zeigen Auswege aus der Krise auf

Zu diesen neuen, progressiven Forderungen gehört auch der Anspruch, dass die linke Regierung das häufig betonte Leben im Gleichgewicht mit der Mutter Erde verwirklicht und das neo-extraktivistische Wirtschaftsmodell Boliviens mit der Ausbeutung von Rohstoffen und dem großflächigen Anbau von Soja und der Viehwirtschaft für den Export überdenkt. Die Geschichte Boliviens ist geprägt von der Ausbeutung von Ressourcen auf Kosten der Menschen und der Natur – erst durch die spanischen Invasoren, die Silber aus Bolivien raubten, nach der Unabhängigkeit machten dann lokale Eliten und transnationale Konzerne mit Zinn und Kautschuk ein Vermögen.

Diesen historischen Fehler will die bolivianische Regierung beim Metall Lithium nicht wiederholen und kündigt deshalb eine Industrialisierung des Rohstoffes im eigenen Land an. Nach Lithium gibt es weltweit eine sehr große Nachfrage, der seltene Rohstoff gilt als Schlüsselmetall in der Batterietechnologie für Elektrofahrzeuge. Bolivien verfügt im Salar der Uyuni, dem größten Salzsee der Erde, über etwa ein Fünftel der weltweit bekannten Vorkommen an Lithium. Von Bedeutung ist deshalb, wie die Regierung den Abbau und eine Industrialisierung umsetzt, die Ansprüche der am Salar de Uyuni lebenden Gemeinschaften regelt und gleichzeitig mögliche Umweltzerstörungen durch den Abbau von Lithium und durch den hohen Verbrauch von Wasser für die Gewinnung des Metalls verhindert.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier „Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika“. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

DIE URBANE BASIS FEHLT

Für die Regierung auf die Straße Die Marcha por la patria von MAS-Anhänger*innen in Achica Arriba, kurz vor La Paz (Foto: Josué Antonio Castañeta – ABI)

„Hier ist dein Volk, Bruder Lucho, es wird dich nicht verlassen“ rief Evo Morales dem aktuellen Präsidenten Luis Arce auf dem Plaza San Francisco im Zentrum von La Paz zu, als die Marcha por la patria (Marsch für das Vaterland) in der Innenstadt der Andenmetropole ankam. Der amtierende Präsident zeigte sich sichtlich gerührt und hatte Tränen in den Augen. Zuletzt hatten sich immer mehr Verbände und soziale Organisationen dem Marsch angeschlossen, auch die mächtigen Nachbarschaftsvereinigungen des benachbarten El Alto, die FEJUVES, beteiligten sich an der Mobilisierung. Deren Vizepräsident Ramón Quispe ließ verlauten: „El Alto hat sich immer darin ausgezeichnet, die Demokratie zu verteidigen und das werden wir auch weiterhin machen.“

Die Regierungspartei Movimiento al Socialismo (MAS) und die sozialen Bewegungen sahen sich gezwungen, die Demonstration der Unterstützung für die aktuelle Regierung auf der Straße zu organisieren, nachdem die Administration Arce durch Proteste der Opposition unter Druck geraten war. Diese hatten seit Oktober mit Streiks und Blockadeaktionen begonnen und so auf sich aufmerksam gemacht. Vor allem die Bürger*innenkomitees aus Santa Cruz und Potosí sahen sich unter Zugzwang. Die Ermittlungen wegen des erzwungenen Rücktritts von Evo Morales 2019 und den Massakern in Senkata und Sacaba (siehe LN 547 und LN 549) hatten bereits dazu geführt, dass Luis Fernando Camacho, der Gouverneur von Santa Cruz, wie auch sein Vater von der Staatsanwaltschaft zur Vernehmung vorgeladen wurde.

Camacho, zentrale Figur der Ereignisse im Jahr 2019, als Militärs den Rücktritt von Evo Morales forderten, ist auf einem Video zu sehen, das auf Dezember 2019 datiert ist. Dort erläutert er Mitstreiter*innen, dass sein Vater mit Führungsfiguren der Militärs und der Polizei gesprochen habe, um diese davon zu überzeugen, nicht gegen die Proteste vorzugehen, die schließlich zum Sturz von Evo Morales führten. Viele sehen in dem Video einen Beweis, dass es sich bei den Ereignissen vor zwei Jahren um einen Putsch handelte.

Opposition geht in die Offensive

Mit den Protestaktionen, die am 11. Oktober begannen, versuchte die Opposition wieder in die Offensive zu gelangen. Gelegenheit bot das Gesetz 1386, das die Bekämpfung von Geldwäsche und der Finanzierung von Terrorismus regeln sollte. Der Präsident des Bürger*innenkomitees von Santa Cruz, Rómulo Calvo sprach von „politischer Verfolgung“. Auch Händler*innen wendeten sich gegen die Rechtsverordnung. Diese fürchteten, dass der Staat die Gewinne der informellen Ökonomie abschöpfen wolle.

Die Ablehnung des Gesetzes durch die zwei unterschiedlichen Sektoren der Gesellschaft führte zu einer starken Dynamik, die die Regierung letztendlich zwang, das Gesetz zurückzunehmen. Dabei kam es zunächst nur lokal begrenzt zu Streikmaßnahmen. Die MAS versuchte es mit einer Gegenmobilisierung, die in einigen Regionen, wie in La Paz, auch gelang. Hier war von den angekündigten Blockaden so gut wie nichts zu verspüren. Und selbst in der Hochburg der Opposition, Santa Cruz, wurde der Streik nur teilweise befolgt. In Stadtvierteln in denen die MAS Anhänger*innen hat, kam es zum Teil zu Ausschreitungen zwischen Befürworter*innen und Gegner*innen.

Dass die Regierung dennoch das Gesetz zurückzog und der Opposition damit einen Überraschungserfolg bescherte, lag daran, dass es Arce nicht gelang, die Händler*innen und Fernfahrer*innen davon zu überzeugen, dass das Gesetz gegen Geldwäsche den informellen Sektor nicht betreffen würde. Das Kommunikationsdesaster der Regierung führte dazu, dass die Bürger*innenkomitees in der Debatte die Oberhand gewannen. Als es zu einem eilig einberufenen Runden Tisch durch die Regierung in der ersten Novemberhälfte Absagen der Berufsverbände hagelte und die Fernfahrer*innen mit landesweiten Blockaden drohten, nahm die Regierung das Gesetz zurück.

Der Sieg der Opposition führte auch zu Kritik aus den eigenen Reihen. Juan Ramón Quintana, unter Morales Minister des Präsidialamtes, monierte: „Wir sind in eine schwierige Lage geraten, unseren Genossen in der Regierung und im Parlament fehlte die notwendige politische und ideologische Reife, um auf die Straße zu gehen und das Gesetz zu verteidigen.” Nicht zuletzt deshalb formierte sich der Marsch auf La Paz. Die MAS möchte nicht wieder, wie 2019, auf der Straße in die Defensive geraten. Insbesondere die erfolgreichen Mobilisierungen in den drei großen Städten La Paz, Santa Cruz und Cochabamba zeigten damals, dass es der MAS an Rückhalt in den Städten fehlt. Der Analyst Boris Ríos weist darauf hin, dass der populäre urbane Sektor ohne Koordination gewesen sei und die Partei auf diesen Teil der Gesellschaft nicht eingehen würde.

Das gilt auch für kleinere Städte im andinen Hochland. Yhilmer Poma ist dort seit einigen Monaten im Stadtrat für die Liste Jallalla in Viacha, einer Stadt vor den Toren El Altos. Der Aktivist setzt sich seit Jahren für Verbesserungen in der Jugendpolitik der Kommune ein, „Jallalla war offen für unsere Vorschläge, die MAS nicht“ meint der junge Politiker. Nun macht er Politik für die Liste des „Mallkus“, Felipe Quispe, der im Jahr 2020 den Widerstand im Departamento La Paz gegen die Übergangsregierung Añez in La Paz koordinierte und im Januar vergangenen Jahres überraschend an einem Herzinfarkt gestorben ist. Das Departamento La Paz wurde bei den Regionalwahlen Anfang des Jahres von Jallalla gewonnen, nicht von der MAS. In El Alto trat die bekannte Politikerin Eva Copa für die Liste an, nachdem sie von Evo Morales nicht als Kandidatin der MAS für die zweitgrößte Stadt Boliviens berücksichtigt wurde. Sie gewann prompt mit knapp 70 Prozent, dem Stimmenanteil, den die MAS in der Stadt bei den Präsidentschaftswahlen holte.

Die MAS, so meint Stadtrat Poma, sei sehr hierarchisch strukturiert und würde von oben dirigiert. So war es auch im Wahlkampf in Viacha und sei es jetzt in der Arbeit im Stadtrat: „Mit den jüngeren Stadträten*innen der MAS ist die Zusammenarbeit und der Austausch möglich, aber mit den Älteren ist es sehr schwierig.“

Solange dieses hierarchische Prinzip herrscht, wird es für die MAS schwer sein, eine solide Basis in den Städten aufzubauen. Zwar will die Partei das nun unter Führung von Evo Morales angehen. Aber die Mobilisierung des Marsches für das Vaterland hat gezeigt, dass es immer noch die traditionelle Basis der MAS ist, wie die Frauenorganisation Bartolina Sisa, die indigenen Organisationen des Einheitspakts (Pacto de Unidad) und des nationalen Gewerkschaftsverbandes COB, der den Marsch federführend orga-*nisierte, die das Rückgrat der Macht bilden.

Das Problem ist in der MAS bekannt. Der Analyst Gabriel Villalba, der die Regierung unterstützt, ist davon überzeugt, dass sich die MAS hier erneuern muss, wenn sie in den Ballungszentren eine solide Basis zurückgewinnen will. Zwar sind die Städte nach wie vor durch die Migration vom Land geprägt, die Migrant*innen seien inzwischen jedoch in der dritten Generation, so Villalba, „ihre Eltern sind vom Land in die Stadt gekommen, aber die jetzige Generation hat in der Stadt eine Schule besucht, ist zur Uni gegangen. Diese Generation hat eine andere Perspektive, die sich von denen ihrer Eltern und Großeltern unterscheidet. Wenn man am historischen indigenen Subjekt hängen bleibt, das aus dem ländlichen Raum kommt, hat man kein klares Panorama. Heute geht es nicht mehr nur darum, die Leute aus der Armut zu holen, sondern es gilt zu erklären, wohin die Reise gehen soll, dafür braucht es Projekte der Zukunft.“

Zum Beispiel in der Jugendpolitik, für die sich Yhilmer Poma im Stadtrat von Viacha einsetzt. Und hier, so der Jungpolitiker, ginge es zumindest auf kommunaler Ebene oftmals weniger um die Parteizugehörigkeit als um die Person, wie das Ergebnis für Eva Copa in El Alto gezeigt habe. „Die MAS setzte auf die Partei, aber auf der kommunalen Ebene entscheidet die Person, nicht die Partei.“ Für den aktuellen Konflikt interessiert sich Poma nur am Rande: „Die zwei politischen Kräfte werden sich weiterhin gegen-*überstehen, aber die Mobilisierungen werden sich jetzt totlaufen, nächstes Jahr gibt es vielleicht eine neue Runde“, meint er schulterzuckend.

Dort die proletarisierten Indigenen, hier die kreolische weiße Oberschicht

Sollte es so kommen, dann bleibt das Patt im Herzen Südamerikas bestehen. Die MAS ist zwar die politisch stärkere Kraft, wird die Opposition aber nicht besiegen können. Diese wiederum wird versuchen, mit Aktionen die Regierung zu schwächen. Eine konstruktive Opposition wird es mit den Bürger*innenkomitees, den Oppositionsparteien Creemos (Wir glauben) und Comunidad Ciudadana (Bürgergemeinschaft) nicht geben. Sie sind ebenfalls in der Vergangenheit verhaftet, wenngleich in einer anderen, der der katholischen Republik, in der die rassistisch begründeten Klassenverhältnisse klar waren: dort die proletarisierten Indigenen und hier die kreolische weiße Oberschicht.

Anfang Dezember veranstaltete die MAS in Mizque ihren elften Kongress auf dem Land in Zentralbolivien. Im staatlichen Fernsehen zählte der Vorsitzende der Partei, Evo Morales, die Organisationen auf, die an der Versammlung teilnahmen. Es war vor allem die traditionelle Basis, die anwesend war. Dem ehemaligen Präsidenten zufolge gehe es „um die Auswertung des Marsches fürs Vaterland, wir wollen sehen, welche neuen Mobilisierungen möglich sind“. Er sprach davon, dieses Mal auf die Hauptstadt Sucre und Santa Cruz, die Hochburg der Oppositionellen, zu marschieren. Er sprach von dem historischen Kampf gegen den kolonialen Staat und gegen den Neoliberalismus. Zu Ideen, wie Wählerschichten in den Ballungszentren gewonnen werden können, wie sich die MAS erneuern könnte, um an die veränderten Realitäten im Land anzudocken, sagte er kein Wort.

DER LANGE SCHATTEN VON EVO MORALES

Wie weiter? Präsident Luis Arce und Parteichef Evo Morales beim 26. Jahrestag der MAS (Foto: Ricardo Carvallo Terán, ABI, frei verfügbar)

Die Freiheit von Jeanine Áñez endete versteckt in einem Bettkasten. Früh am 13. März wurde sie unter einer Matratze im Haus ihrer Verwandten in Trinidad, der Hauptstadt des Departamentos Beni, von Polizeikräften entdeckt, dann festgenommen und nach La Paz geflogen. Der Vorwurf der Generalstaatsanwaltschaft: Beteiligung am damaligen Putsch gegen Präsident Evo Morales, außerdem Verschwörung, Aufwiegelung und Terrorismus. Morales und die Bewegung zum Sozialismus (MAS) hatten bei den Wahlen im Oktober 2019 zwar gesiegt, unter Vorwürfen des Wahlbetrugs wurde Evo Morales jedoch mit Unterstützung von Militärs zur Flucht aus dem Land gezwungen (LN 547). Die Macht übernahm als selbsternannte Übergangspräsidentin Jeanine Áñez, die sich dann ein Jahr lang an dem Amt festhielt.

Am Tag vor Áñez’ Festnahme waren bereits zwei frühere Minister ihrer De-facto-Regierung verhaftet worden: Rodrigo Guzmán (Energie) und Álvaro Coimbra (Justiz). Weitere Minister*innen sind auf der Flucht, darunter der ehemalige Innenminister Arturo Murillo und der frühere Verteidigungsminister Fernando López; beide hatten sich direkt nach dem Wahlsieg der MAS im Oktober 2020 in die USA abgesetzt. Auch ehemalige Polizeikommandeur*innen und hohe Militärs werden von der Justiz gesucht.

Der Vorstoß der Staatsanwaltschaft kam nicht überraschend, viele hatten ihn längst erwartet. Bemerkenswert ist allerdings der Zeitpunkt nur sechs Tage nach den Regionalwahlen, bei denen am 7. März 2021 Gouverneur*innen, Regionalparlamente und Bürgermeister*innen neu bestimmt wurden. Wurde mit der polarisierenden Aktion absichtlich gewartet bis nach dem Wahltag? Oder sollte damit politische Handlungsfähigkeit gezeigt werden? Nach dem großen Erfolg bei der Präsidentschafts- und Parlamentswahl im Oktober 2020 erreichte die MAS nun bei den Regionalwahlen ein eher durchwachsenes Ergebnis, kann ihre Macht in ländlichen Regionen aber festigen: In den vier größten Städten Boliviens, Santa Cruz, El Alto, La Paz und Cochabamba verpasste sie wie schon 2015 das Bürgermeisteramt, in anderen Großstädten verlor sie deutlich. Bei den Wahlen der Gouverneur*innen siegte die MAS in drei der neun bolivianischen Departamentos, in vier weiteren erreichte sie die Stichwahl am 11. April.

Áñez räumte den Militärs per Dekret Straffreiheit ein


Die Rechte Boliviens verzeichnete bei den Regionalwahlen einige Erfolge, bleibt dabei aber zersplittert: In der Oppositionshochburg Santa Cruz siegte bei der Gouverneurswahl der rechtsklerikale Populist Luis Fernando Camacho, der im November 2019 die Proteste gegen Evo Morales organisiert und dann mit Bibel und Nationalflagge in den Händen den alten Präsidentenpalast in La Paz symbolisch zurückerobert hatte. Neuer Bürgermeister in La Paz wird Iván Arias, ein ehemaliger Minister der Regierung von Áñez. Während Camacho und Arias sich mit ihrer geplanten Amtsübernahme Anfang Mai Immunität vor Strafverfolgung sichern könnten, bleibt diese für Jeanine Áñez unerreichbar: Sie kandidierte im Amazonas-Departement Beni als Gouverneurin, landete bei der Wahl aber nur auf dem dritten Platz.

Innerhalb der MAS hatte die Auswahl mancher Kandidat*innen zuvor für Streit gesorgt. In El Alto, der Stadt Potosí und Cochabamba beklagten protestierende Parteianhänger und verbündete soziale Bewegungen, dass Evo Morales als Parteivorsitzender die Kandidat*innen per dedazo, per Fingerzeig, bestimme, statt die Parteibasis entscheiden zu lassen. Besonders hitzig war der Konflikt in El Alto, Boliviens zweitgrößter Stadt, die von ländlicher, indigener Bevölkerung und starken sozialen Organisationen geprägt ist: Dort wurde die populäre ehemalige Senatspräsidentin Eva Copa trotz großer Chancen auf das Amt als Bürgermeisterin von der MAS-Parteispitze nicht aufgestellt – Copa entschied sich deshalb für eine Kandidatur in der neuen Gruppierung Jallalla La Paz, mit der sie die Wahl mit überragenden 69 Prozent der Stimmen gewann. Im Departamento Pando wird die frühere MAS-Politikerin Ana Lucía Reis für eine andere Partei Bürgermeisterin der Hauptstadt Cobija, die Stichwahl um das Gouverneursamt erreichte Regis Richter, der zuvor von sozialen Bewegungen als MAS-Kandidat bevorzugt, dann aber von der Parteispitze abgelehnt wurde.

Es brodelt an manchen Stellen innerhalb der MAS. Dabei hatten manche kurzzeitig eine mögliche Neuaufstellung der MAS vorausgesehen, als im Oktober 2020 Luis Arce mit 55 Prozent der gültigen Stimmen und großem Vorsprung zum Präsidenten des Plurinationalen Staats Bolivien gewählt worden war. Das Ergebnis war damals in dieser Deutlichkeit eine große Überraschung, genauso wie die Erkenntnis: Die MAS kann auch ohne ihre Identifikationsfigur, den Parteivorsitzenden und langjährigen Präsidenten Evo Morales (2006-2019) gewinnen. Nach fast 14 Jahren an der politischen Macht gab es innerhalb sozialer Bewegungen und der MAS gerade von Seiten junger Menschen durchaus den Wunsch, die Korruption und den machismo stärker zu bekämpfen und Themen wie Feminismus und Umweltschutz mehr zu berücksichtigen. Es schien der Zeitpunkt einer Abnabelung gekommen − von Evo Morales und seinem einflussreichen Umfeld in Regierung und Partei. „Wir werden regieren, indem wir auf das bolivianische Volk hören“, hatte Vizepräsident David Choquehuanca noch als Kandidat vor der Wahl 2020 erklärt, „und sie fordern, dass die Entourage [von Morales] nicht zurückkehrt.“ Doch nur einen Tag nach der Vereidigung Arces am 8. November 2020 überquerte Morales von Argentinien aus die Grenze zu Bolivien, wo er von Tausenden Anhängern empfangen und auf einem Konvoi durch das halbe Land begleitet und bejubelt wurde.

Es brodelt an manchen Stellen innerhalb der MAS


Nachdem Morales nach einem Jahr im Exil zurückkehrte und als Parteivorsitzender der MAS im Regionalwahlkampf allgegenwärtig war und aus der ersten Reihe Entscheidungen trifft, scheint Präsident Arce häufig im langen Schatten der Identifikationsfigur Morales zu stehen. Am Tag der Festnahme von Áñez war es Morales, der sich via Kurznachrichtendienst Twitter meldete und in einem Tweet forderte: „Für Gerechtigkeit und Wahrheit für die 36 Todesopfer, die mehr als 800 Verwundeten und die mehr als 1.500 bei dem Staatsstreich illegal Inhaftierten. Dass die Täter und Komplizen der Diktatur, die die Wirtschaft ausgeplündert und das Leben und die Demokratie in Bolivien angegriffen haben, untersucht und bestraft werden.“ Áñez und die früheren Minister selbst nannten ihre Festnahmen „illegal“, sie sprachen von „politischer Verfolgung“ und „Machtmissbrauch“. Zu ihrer Unterstützung organisierten die rechten Bürgerkomitees von Santa Cruz, La Paz und Cochabamba große Kundgebungen.

Die Verhaftung von Áñez und Co. schlug auch international Wellen. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) forderte die Freilassung der Gefangenen „bis zu unparteiischen Prozessen“ und schlug eine internationale Kommission zur Untersuchung der letzten Regierungsperiode des ehemaligen Präsidenten Morales bis zur Gegenwart vor − ein Vorschlag, den zwölf ehemalige Präsident*innen der Region, darunter Luiz Inácio „Lula“ da Silva und Dilma Rousseff aus Brasilien, in einer gemeinsamen Erklärung entschieden ablehnten. Die USA forderten die Freilassung von Áñez und ihren Ministern, die Europäische Union und das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte forderten ordentliche Verfahren und eine transparente Justiz frei von politischem Druck. Der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador bewertete dagegen die Aufnahme des Verfahrens positiv.

Jeanine Áñez und ihre ehemaligen Minister sitzen nun erst einmal sechs Monate in Untersuchungshaft. Ihnen werden von der Generalstaatsanwaltschaft vor allem zwei folgenschwere Vorwürfe gemacht: Erstens der des Staatsstreichs, wobei die Opposition zur Verteidigung von Áñez argumentiert, diese habe gemäß der Rangfolge in der bolivianischen Verfassung das Amt als Präsidentin übernommen. Deshalb werden in Bolivien jetzt auch gründlich entscheidende Details diskutiert: Wann und warum genau hatte sich Morales 2019 zum Rücktritt und zur Flucht entschieden? War das, als ihn Oberbefehlshaber des Militär unter Druck setzten oder war der entscheidende Auslöser bereits zuvor die bröckelnde Unterstützung durch Verbündete wie den mächtigen Gewerkschaftsdachverband Central Obrera Boliviana (COB)? Auch die Rolle der geplanten Ausbeutung von Lithium und eine vermutete Finanzierung des Putsches durch die Regierung Großbritanniens wird ausgiebig erörtert.

Der zweite schwerwiegende Vorwurf der Anklage sind die Massaker in Senkata (La Paz), Sacaba (Cochabamba) und anderen Orten an Demonstrant*innen, bei denen im November 2019 nach offiziellen Ermittlungen mindestens 35 Menschen getötet und 833 verletzt wurden. Nach der Machtübernahme war es damals in mehreren Landesteilen zu massiven Kundgebungen für Evo Morales und gegen die rechte De-facto-Regierung gekommen, und zu Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften und zwischen verschiedenen politischen Lagern. Einen Tag nach ihrer Vereidigung als Präsidentin erließ Jeanine Áñez das Dekret 4078, das dem Militär bei Einsätzen zur Herstellung der öffentlichen Ordnung Straffreiheit einräumte – praktisch die Erlaubnis für das Militär, die Proteste mit brutaler Gewalt zu beenden. Und erst 20 Tage später, als die Proteste im Land nachließen, wurde das Dekret wieder aufgehoben.

Jeanine Áñez und die anderen Angeklagten sitzen nun erst mal sechs Monate lang in Untersuchungshaft. Boliviens Justizminister Iván Lima forderte bereits eine Strafe von 30 Jahren Haft für Áñez. Luis Arce meldete sich zweieinhalb Wochen nach der Festnahme von Jeanine Áñez dann doch noch und bekräftigte, dass die Justiz eine Strafverfolgung wegen Putsches verfolge: „Wir stellen hier noch einmal klar, dass es im November 2019 einen Staatsstreich gab“, sagte Arce am 1. April. Die Menschen würden Gerechtigkeit fordern, und diesem Wunsch werde man nachkommen, betonte er.

ZWEITE CHANCE FÜR DIE MAS

SymboltrachtLuis Arce und David Choquehuanca bei einer Zeremonie in der Aymara-Stätte Tiwanaku (Foto: ABI, frei verfügbar)

Comeback nach einem Jahr: Mit Luis Arce stellt die Bewegung zum Sozialismus (MAS) den neuen Präsidenten Boliviens. Damit war nach dem erzwungenen Abgang von Evo Morales ins Exil am 11. November 2019 nicht zu rechnen. Damals schien die seit 2006 währende Regierungsära der MAS für längere Zeit beendet. Doch jetzt steht sie vor einem Neuanfang an der Regierung. Luis Arce, der Präsidentschaftskandidat der MAS, gewann die Wahlen am 18. Oktober mit 55 Prozent bereits im ersten Wahlgang, und sowohl in der Abgeordnetenkammer als auch im Senat konnte seine Partei wieder eine absolute Mehrheit erzielen. In beiden Kammern verlor sie jedoch ihre Zwei-Drittel-Mehrheit, deshalb braucht sie für wichtige Entscheidungen wie die Wahl des Generalstaatsanwalts jetzt Stimmen aus anderen Parteien.

Das Ergebnis ist in dieser Deutlichkeit eine große Überraschung, genauso wie die Erkenntnis: Die MAS kann auch ohne Evo Morales gewinnen. Und die selbsternannte Übergangspräsidentin Jeanine Áñez ist fast ein Jahr nach dem Putsch gegen Morales Geschichte, Bolivien hat wieder ein demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt.

Für den Triumph der MAS gibt es viele Gründe. Evo Morales war und ist deren Identifikationsfigur. Aber bei der Wahl 2019 kandidierte er für eine vierte Amtszeit, die dritte in Folge unter der neuen Verfassung Boliviens von 2009 ­– dabei lässt diese nur eine Wiederwahl zu. Das verärgerte auch ehemalige Mitstreiter*innen und erleichterte der Rechten die Mobilisierung.

Morales und die MAS siegten zwar im Oktober 2019, unter Vorwürfen des Wahlbetrugs wurde Morales jedoch aus dem Amt geputscht und zur Flucht aus dem Land gezwungen. Er selbst hat Anfang dieses Jahres in seinem Exil in Argentinien eingeräumt, dass es ein Fehler gewesen sei, noch einmal anzutreten.

Die MAS musste für die Neuwahl andere Kandidaten suchen und fand das passende Duo: Luis Arce ist Ökonom und war 13 Jahre Wirtschaftsminister unter Morales, er steht für den wirtschaftlichen Aufschwung der vergangenen Jahre in Bolivien und sprach als Bewerber auch die städtische Mittelschicht an. Der künftige Vizepräsident David Choquehuanca war lange Zeit Außenminister und rechnet sich der indigenen Nation der Aymara zu; er war der Kandidat der sozialen Bewegungen und der ländlichen, indigenen Bevölkerung.

Für die MAS sprach auch die Hoffnung auf Konjunkturerholung unter Ex-Wirtschaftsminister Luis Arce. Die Corona-Pandemie verschärfte die wirtschaftliche Krise in Bolivien, wegen sinkender Marktpreise verringerten sich bereits zuvor die Einnahmen durch den Export von Erdgas. Die De-facto-Regierung hielt die Landeswährung Boliviano zwar stabil, aber monatelange Einschränkungen wie Ausgangssperren oder die Schließung der Märkte traf vor allem Menschen, die Essen und Miete von Tag zu Tag verdienen müssen: Busfahrer*innen, Marktverkäufer*innen, Bäuerinnen und Bauern. Und Schätzungen zufolge arbeiten mehr als zwei Drittel der Bolivianer*innen in solchen informellen Jobs, also ohne Arbeitsvertrag und Sozialleistungen.

Áñez hielt sich fast ein Jahr an der Macht und verschob die Neuwahlen immer wieder

Die Angst, dass sich die wirtschaftliche Situation weiter verschlechtert, war bei vielen so groß wie die Hoffnung, dass sich die Lage mit der Rückkehr des Ex-Wirtschaftsministers erholen könnte und eine MAS-Regierung die weniger privilegierten, von der Krise besonders betroffenen Menschen, stärker unterstützen würde, beispielsweise durch direkte staatliche Geldzahlungen.

Auch die politische Konjunktur sprach für die MAS. Die selbsternannte Übergangsregierung von Áñez sollte eigentlich innerhalb von 90 Tagen Neuwahlen organisieren. Tatsächlich hielt sie sich fast ein Jahr an der Macht und verschob die Abstimmung immer wieder. Von der Corona-Pandemie und der Wirtschaftskrise heillos überfordert, erlangte die De-facto-Regierung Aufmerksamkeit durch Vetternwirtschaft, Zugeständnisse an Oligarchen im Agrarsektor und einen Skandal um den überteuerten Kauf von Beatmungsgeräten.

Nach den Massakern vom November 2019 in Sacaba und Senkata, als Sicherheitskräfte auf Demonstrant*innen schossen und dem neuesten Bericht einer Parlamentskommission zufolge mindestens 20 Menschen von Kugeln getötet wurden, zeigten Áñez und die zuständigen Minister wenig Tatendrang bei der Aufklärung. Mehr Eifer bewiesen sie darin, die Angst vor Evo Morales und der MAS zu schüren und deren Anhänger rassistisch zu beleidigen: Im Januar warnte Áñez via Twitter vor einer Rückkehr der „Wilden“. Gleichzeitig versuchten die Machthaber und ihre Verbündeten, eine Teilnahme der MAS an den Wahlen per Gericht zu verhindern.

Mit Arce und Choquehuanca hat die MAS nun eine zweite Chance. Er werde die Wirtschaft erneut zum Laufen bringen und das Land wieder einen, versprach Luis Arce nach der Wahl. Angesichts der Krise wird es für die künftige Regierung wohl schwieriger, Stabilität und Wachstum zu garantieren. Es bietet sich aber die Gelegenheit, das extraktivistische Wirtschaftsmodell Boliviens mit der Ausbeutung von Rohstoffen und dem großflächigen Anbau von Soja für den Export zu überdenken, da dies die Natur und indigene Territorien zerstört. Zudem ziehen sich Gräben durch die bolivianische Gesellschaft, zwischen Indigenen im Hochland und Indigenen im Tiefland, zwischen Stadt und Land, Arm und Reich, soziale Ungleichheit und Rassismus sind allgegenwärtig.

Der Neustart bietet für die MAS auch die Möglichkeit einer Neuausrichtung nach fast 14 Jahren an der Regierung bis November 2019, vielleicht sogar einer Abnabelung von Evo Morales. Arce gilt als Verbündeter des früheren Präsidenten, der seine Rückkehr nach Bolivien für den 9. November angekündigt hat, einen Tag nach der für den 8. November angesetzten Amtseinführung von Arce. Auf Fragen zu einer politischen Rückkehr von Morales antwortete Arce bislang verhalten: „Er kann jederzeit ins Land zurückkehren, denn er ist Bolivianer. Aber ich habe zu entscheiden, wer Teil der Regierung ist und wer nicht.“

OLIGARCHIE ESSEN DEMOKRATIE AUF

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NADESDHA GUEVARA OROPEZA

ist Anwältin und Menschenrechtsaktivistin und vertritt einige der Opfer des im November 2019 durch das bolivianische Militär in Senkata verübten Massakers. Sie hat bei den Vereinten Nationen eine Reihe von Beschwerden zu Menschen- rechtsverletzungen eingereicht und kooperiert mit der Assoziation für Men- schenrechte in Bolivien, die die Menschenrechte aus einer dekolonialen Perspek- tive betrachtet und sich für die verarmten Sektoren im Land einsetzt. Guevara sieht sich in der Tradition des andinen Widerstands von Tupac Amaru II, Micaela Bastidas und Tupac Katari (indigene Anführer*innen, die im 18. Jh. gegen die Kolonialmacht Spanien rebellierten) sowie deren Ziel eines vereinigten Hispano- amerikas. Sie nutzt ihren Beruf als Anwältin zur Durchsetzung des Suma Qamaña (Aymara) bzw. Sumak Kawsay (Quechua), dem in der boliviani- schen Verfassung verankerten indigenen Konzept des “Guten Lebens”.

(Foto: Privat)


Können Sie uns etwas über den politischen Kontext des Putsches in Bolivien erzählen?

Der Putsch in Bolivien ereignete sich im Kontext verschiedener Szenarien. Hier spielt zunächst die Agrarindustrie von Santa Cruz de la Sierra eine wichtige Rolle. Dieser Sektor strebte nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die politische Macht an, von der er seit 14 Jahren ausgeschlossen war. Nachdem die Regierungspartei MAS eine strategische Allianz mit der Agraroligarchie eingegangen war, wurden ihr politische Zugeständnisse in der Exekutive und Legislative gemacht. Die haben sie auch dazu genutzt, paramilitärische Gruppen zu bilden, wie wir jetzt sehen.

Zudem stand die MAS vor internen Herausforderungen, wie der Konsolidierung des plurinationalen Staates und der Bildung einer neuen Führungsspitze. Diese erwiesen sich als Versäumnisse, die die bolivianische Mittelschicht später zu ihrem Vorteil nutzte. Ein weiterer Fehler war es, zuzulassen, dass anstelle der Indigenen-, Kleinbauern- und Arbeiterbewegung die Mittelschicht zum historischen Subjekt des Kampfes wurde.

Aus geopolitischer Perspektive ist das Interesse an unseren natürlichen Ressourcen gewachsen, vor allem am Lithium. Hinzu kam, dass die bolivianische Mittelklasse behauptete, dass sie unter der Regierung der MAS in einer Diktatur lebe und für ihre Freiheit kämpfe. Die hauptsächlichen Ursachen des Putsches waren jedoch der politische Machtkampf und die Kooperation der Regierung mit den oligarchischen Sektoren.


Wie kam es vor diesem Hintergrund zu dem Putsch?

Nach dem Referendum vom Februar 2018, bei dem sich das Volk gegen die Möglichkeit einer dritten Kandidatur von Evo Morales zur Präsidentschaftswahl entschied, ließ dieser sich vom Verfassungsgericht seine Wiederaufstellung genehmigen. Als Morales die Präsidentschaftswahl im Oktober 2019 gewann, erhob die Organisation Amerikanischer Staaten den Vorwurf des Wahlbetrugs, woraufhin die rassistische Gewalt der paramilitärischen Gruppen gegen das Volk und gegen Repräsentanten der MAS begann und viele Politiker der MAS zurücktraten. Der Rücktritt von Evo Morales verursachte ein Machtvakuum und nachdem seine Nachfolgerin, Adriana Salvatierra, ebenfalls zurückgetreten war, wurde Jeanine Áñez auf nicht-demokratischem Weg von Polizei und Militär als Präsidentin eingesetzt.

Kaum an der Regierung, verbrannten sie die Wiphala, Flagge und Symbol der indigenen Nationen, und machten deutlich, dass die Indigenen an den Platz zurückgekehrt waren, der ihnen ihrer Ansicht nach zustand. Nachdem Áñez dem Militär und der Polizei per Dekret Immunität zusicherte, verübten diese im November 2019 die Massaker von Sacaba und Senkata, die von der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte als solche anerkannt wurden.


Was waren die Folgen des Putsches bezüglich der politischen Verfolgung und der Funktion der Rechtsinstitutionen in Bolivien?

Die ersten Folgen waren die Massaker und ein politischer Pakt, welcher die MAS im Parlament entmachtete und die Durchführung von Wahlen garantieren sollte. Dies war zunächst das einzige Ziel der De-facto-Regierung. Doch mit dem Ausbruch von Covid-19 begann eine noch kompliziertere Periode, die den Klassenkampf verstärkt, den Rassismus verdeutlicht und in der keines der strukturellen Probleme des Landes gelöst wird.

Unter der De-facto-Regierung gibt es einen institutionellen Kollaps und alles bewegt sich nur noch ausgehend von Regierungsanweisungen. Es gibt politisch Verfolgte der MAS, und solche, die ihr nicht angehören und deren einziges Vergehen es war, die Regierung zu kritisieren. Seit den Massakern gibt es Gefangene, die auf illegale und willkürliche Art und Weise inhaftiert wurden. Frauen mit pollera wurden von Militärs und Polizisten vergewaltigt (in Bolivien ist die pollera eine typische Bekleidung der indigenen Frauen und Kleinbäuerinnen, Anm. d. Red.). Der argentinische Fotograf Facundo Molares befindet sich weiterhin in Gefangenschaft, ebenso wie viele Frauen noch immer in den Strafanstalten für Frauen inhaftiert sind.

Der institutionelle Bruch zeigt sich auch darin, dass die paramilitärischen Gruppen von der Regierung nicht nur toleriert, sondern auch finanziert werden. Vor einigen Tagen ließ die Regierung verlauten, dass es politisch angemessen sei, die Demonstranten zu erschießen. Hinzu kommt, dass in Bolivien drei Millionen Arbeitslose und ein Anstieg der extremen Armut erwartet werden. Das Gesundheitssystem wurde privatisiert, das Schuljahr wurde aufgrund der Pandemie ausgesetzt.

Das sind die Folgen des Putsches und eines Staates, der kein Rechtsstaat ist und der auf Kritiker das Strafrecht anwendet, das diese nicht als Bürger behandelt, sondern als Terroristen brandmarkt. Aufgrund dieser Situation sehen sich die sozialen Bewegungen nun gezwungen, sich zu äußern. Gleichzeitig schürt die Regierung Hass und stigmatisiert diejenigen, die von ihrem Recht auf Protest Gebrauch machen, als Angehörige der MAS. Die Bevölkerung ist unzufrieden und mobilisiert sich, aber gleichzeitig ist sie auch tief getroffen, denn seit neun Monaten ist kein neuer sozialer Pakt (gemeint ist ein gesellschaftliches und politisches Übereinkommen zur Überwindung der Spaltung der Gesellschaft, Anm. d. Red) ausgehandelt worden.


Wie ist die aktuelle Situation in Bolivien und wie ist es zu den erneuten Mobilisierungen gekommen?

Viele sahen in den Wahlen, die für den 6. September angesetzt waren, einen politischen Ausweg. Zwar bestand Unsicherheit darüber, welche Partei gewinnen würde, aber es wurde angenommen, dass ein neuer sozialer Pakt verhandelt werden würde. Dann jedoch gab der Wahlprüfungsausschuss bekannt, dass sich die Wahl auf den 18. Oktober verschieben würde. Daraufhin wurde in El Alto ein Treffen von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften einberufen und dem Wahlprüfungsausschuss ein Ultimatum von 72 Stunden gestellt, um zum ursprünglichen Wahltermin zurückzukehren. Würde dies nicht geschehen, käme es zu nationalen Blockaden.

Wie angekündigt begannen nach Ablauf der 72 Stunden die Blockaden. Nachdem regierungsnahe Sektoren wie das oligarchische Bürgerkomitee von Santa Cruz verlauten ließen, dass wir von der indigenen Bewegung Bestien seien, dass wir es nicht verdient hätten, Bürger zu sein, und dass wir die Hand beißen würden, die uns zu essen gäbe, erhielten die Blockaden Zulauf. Die Indigenen und Kleinbauern repräsentieren über 80 Prozent der Bevölkerung des Landes und die Indigenen sind in der Verfassung mit 36 Nationen anerkannt. Zudem ließen das Bürgerkomitee und die Regierung verlauten, dass Bolivien „zur Republik zurückkehren“ sollte (gemeint ist eine Rückkehr zur vor der MAS-Regierungszeit gültigen Verfassung, Anm. d. Red.). Diese Vorkommnisse verschärften die Streitigkeiten, weswegen sich die Losung der Mobilisierungen schließlich nicht mehr auf den Wahltermin bezog, sondern auf den Rücktritt von Áñez.

Es wurde versucht, die Blockaden unter anderem mit dem Vorwurf, sie würden den Transport von Sauerstoff für Covid-19 Patienten verhindern, zu delegitimieren. Doch es hat seit zwei Monaten keine Sauerstofflieferungen gegeben und das Gesundheitssystem ist seit neun Monaten praktisch inexistent. Schließlich jedoch akzeptierte das Parlament, in der die MAS die Mehrheit stellt, den neuen Wahltermin am 18. Oktober und hob die Blockaden auf, rief aber gleichzeitig die permanente Alarmbereitschaft aus.


Wie wird es jetzt weitergehen, nachdem der neue Wahltermin akzeptiert und die Blockaden aufgehoben wurden?

Es zeichnet sich ab, dass es zu einer politischen Verfolgung derjenigen kommt, die zu den Mobilisierungen aufgerufen haben. Es wurden diesbezüglich Anzeigen erstattet, die von der Staatsanwaltschaft aufgenommen wurden. In Samaipata wurden 43 Personen auf unrechtmäßige und willkürliche Weise festgenommen. Drei von ihnen befinden sich in Präventivhaft. In San Ignacio de Moxos haben drei Menschen Schusswaffenverletzungen durch die Paramilitärs erlitten und wir haben im Resultat ein in seiner Würde verletztes Volk. Heute sehen wir die Notwendigkeit uns zu organisieren, denn wir wissen, dass der Staat durch Polizei, Militär und Paramilitär darauf vorbereitet ist, das Volk zu unterdrücken. Angesichts der Verschärfung des Problems ist das Einzige, was uns bleibt, eine Volksmacht zu organisieren. Wir wissen nicht, ob die Wahlen tatsächlich stattfinden werden. Aber was wir wissen,ist, dass es notwendig ist, uns zu organisieren, uns zu vereinen und zu kämpfen.

“HAY UN QUIEBRE INSTITUCIONAL”

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NADESDHA GUEVARA OROPEZA

es activista por los derechos humanos y abogada de algunas de las víctimas de la masacre de Senkata, Bolivia, cometida por el ejército boliviano en noviembre del 2019. Realizó una serie de denuncias de violaciones a los Derechos Huma- nos ante las Naciones Unidas y coopera con la Asociación de Derechos Huma- nos en Bolivia, una organización que lucha por los Derechos Humanos desde una perspectiva descolonizadora y que apoya a los sectores más vulnerables, indígenas y campesinos. Guevara se ve en la tradición de la resistencia de Tupac Amaru II, Micaela Bastidas y Tupac Katari (líderes indígenas que se rebe- laron contra el poder colonial español en el siglo XVIII) y su meta de una patria grande. Además Guevara utiliza su profesión como abogada para alcanzar el Suma Qamaña (Aymara) o Sumak Kawsay (Quechua), en español El buen vivir, concepto indígena que fue acogido en la constitución de Bolivia.

(Foto: privado)


¿Nos puede contar sobre el contexto político del golpe de Estado en Bolivia?

El golpe de Estado se da en diferentes escenarios. Uno de los escenarios principales es del sector agroindustrial ubicado en Santa Cruz de la Sierra, la burguesía agroindustrial, que no solamente quería tener el poder económico sino también el poder político que por 14 años les había sido arrebatado. El gobierno del Movimiento al Socialismo (MAS) formó una alianza táctica con este sector y empezó a hacer grandes concesiones de poder político.

Otro escenario es el proceso que se estaba viviendo en el interior del MAS y el proceso de cambio donde había una necesidad de consolidar el estado plurinacional y de hacer una renovación de dirigentes. En ese escenario tuvimos errores estratégicos y eso fue un argumento para una clase media que ya no se sentía pobre y quería sentirse rica. Otro de los errores que se han cometido fue cambiar al sujeto histórico de la lucha. En el último periodo el sujeto histórico ya no era el movimiento indígena, campesino y obrero, el sujeto histórico eran las clases medias.

Otro escenario es geopolítico. Los intereses por nuestros recursos naturales, especialmente por el litio, van cobrando fuerza. Entonces en Bolivia habían empezado a influenciar a las clases medias, las cuales tomaron el discurso de que en estos 14 años de proceso de cambio se había vivido una dictadura, que no vivíamos en democracia y que estaban luchando por su libertad. Y eso nosotros lo identificamos como un efecto, no como una causa. La causa está en esas pugnas de poder y en la coexistencia política con los sectores oligárquicos.


¿ Cómo condujo esto a un golpe de Estado?

En febrero del 2018 habíamos ido a un referendo para decidir si Evo Morales continuaba o no postulándose a la presidencia. Ganó el „No“. Se vuelve a repostular Evo Morales a partir de un control de convencionalidad y sale favorable en el tribunal constitucional plurinacional, lo que le permite ser nuevamente candidato. Y ahí nuevamente el rol geopolítico. Gana Evo Morales, pero bajo el rol nefasto de la Organización de Estados Americanos se da a entender de una manera difusa que hubo un fraude electoral.

Ahí fue donde los grupos paramilitares empezaron a ejercer actos de racismo y de violencia contra el pueblo. El golpe de Estado empieza a crear miedo a partir del ejercicio de la violencia contra los representantes del MAS en la Asamblea Legislativa. Empiezan a quemar las casas, a secuestrar a sus familiares, lo que provocaba la renuncia de muchos ministros, gobernadores y diputados. Después de la renuncia de Evo Morales, que había causado un vacío de poder, y después de la renuncia de la segunda presidenta del senado, Adriana Salvatierra, los policías y los militares dan el poder a Jeanine Áñez para que asuma la presidencia.

Lo primero que hacen al tomar el poder es realizar la quema de la Wiphala, la bandera símbolo de las naciones indígenas, originarias y campesinas. Es decir, demostrar que los pueblos indígenas, originarios y campesinos habían vuelto al lugar „que les correspondía”, fuera del poder. En noviembre de 2019 el ejército y la policía cometen masacres contra la población civil, denunciadas también por la Comisión Interamericana de Derechos Humanos (CIDH). Esas denuncias no han sido investigadas hasta ahora por el Ministerio Público.


¿Cuáles fueron los resultados del golpe en relación a la persecución política y al funcionamiento de las instituciones judiciales en Bolivia?

Hubo un pacto político que garantizaba la realización de las elecciones como único objetivo. Después vino un periodo mucho más complicado con la pandemia del Covid-19. Ahí se hizo mucho más clara esta lucha de clases, se revelaron más aspectos racistas y no se pudo resolver ninguna de las problemáticas estructurales.

Tenemos nueve meses de un gobierno transitorio donde hay un quiebre institucional, donde todo se mueve a partir del poder ejecutivo y de la instrucción del Ministerio de Gobierno. Tenemos perseguidos políticos tanto del MAS como de personas que no son del MAS y que han osado criticar al gobierno. Hay detenidos y aprehendidos de manera ilegal y arbitraria desde las masacres. Muchos de ellos han hecho las denuncias correspondientes ante las instancias internacionales. Tenemos testimonios de mujeres de pollera (falda, vestimenta típica de la mujeres indígenas y campesinas de Bolivia, nota de la redacción) que han sido violentadas por militares y policías. Sigue aprehendido Facundo Molares hasta el día de hoy, está perdiendo su vista en los dos ojos y tiene problemas renales. También siguen aprehendidas muchas mujeres.

La ruptura institucional en Bolivia hace posible que estos grupos paramilitares se refugien bajo el consentimiento y permisibilidad del Estado, porque es el Estado el que financia los grupos paramilitares y mercenarios. Desde el Ministerio de Gobierno se dice que lo políticamente correcto es meter bala a todos los que están movilizados. Hasta el día de hoy se estima que hay tres millones de desempleados en Bolivia y hay personas que están volviendo a la pobreza extrema. Se ha privatizado la salud, se comete corrupción con la salud. El año escolar ha sido clausurado dejando sin escuela a todas nuestras niñas, niños y adolescentes. El problema económico no se ha podido resolver. Entendemos que es una situación muy difícil. Sin embargo, no hay ninguna política social por parte del Estado para mitigar este problema.

Esos son los efectos del golpe, del quiebre institucional del Estado de no-derecho. A quien le provoque cuestionar los problemas estructurales no resueltos se le aplica el derecho penal del enemigo, el que ve a estas personas como no-ciudadanos, tipificándolos como terroristas, como sediciosos o como financiadores de terrorismo. Por eso, los movimientos sociales, el movimiento indígena, campesino, obrero, están asumiendo que tienen que pronunciarse. El gobierno es un precursor del odio, esas personas siempre hacen esas distinciones, estigmatizan a las personas que ejercen su derecho a la protesta como Masistas. Todo eso engloba un quiebre institucional en Bolivia y tiene como resultado un pueblo insatisfecho y movilizado, pero también profundamente golpeado porque en nueve meses no se ha podido encontrar un pacto social en Bolivia (un convenio social y político para superar la polarización de la sociedad, nota de la redacción).


¿Cuál es la situación actual en Bolivia y cómo es que empezaron de nuevo las movilizaciones?

Para muchos la salida política eran las elecciones que se iban a dar el 6 de septiembre, sin una seguridad real de qué partido vaya a ganar, pero sí con la idea de que se vaya realizando un pacto social que pueda afrontar de mejor forma esta situación. El Tribunal Electoral dio el anuncio de que se trasladará la fecha del 6 de septiembre al 18 de octubre. Y eso lleva a un nuevo escenario de confrontación. Se llamó a un Cabildo, un encuentro, en la ciudad de El Alto, y se determinó dar 72 horas al Tribunal Electoral para que vuelva a declarar la fecha de elecciones el 6 de septiembre. De lo contrario se realizarían bloqueos nacionales.

En 72 horas se realizaron los bloqueos nacionales. Los bloqueos empezaron a cobrar más fuerza a partir de las declaraciones de sectores afines a este gobierno, como el Comité Cívico pro Santa Cruz, que señalaban al movimiento indígena como “unas bestias que no merecemos ser ciudadanos y que mordemos la mano de quien nos da de comer”. Los indígenas representan más del 80% de este país, además se reconocen en la Constitución Política del Estado más de 36 naciones indígenas. Miembros del Comité Cívico y también personas afines al gobierno han expresado que deberíamos volver a la república (se refiere a volver a la constitución vigente antes del gobierno del MAS, nota de la redacción). Esos discursos han ido calando en la población y han profundizado las contradicciones, a tal nivel que la consigna del movimiento popular ya no eran las elecciones, sino la renuncia de Jeanine Áñez.

Los bloqueos han empezado a ser satanizados por el gobierno con el argumento de que estos influyen en la falta de oxígeno para los pacientes de Covid-19, a pesar de que el oxígeno hacía falta aquí en Bolivia ya hace dos meses atrás y que la crisis de salud la tenemos ya desde hace nueve meses. Sin embargo, la Asamblea Legislativa donde tiene la mayoría el MAS, aprobó las elecciones para el 18 de octubre. En estos momentos se ha dado la instrucción de desbloqueo, pero con un estado de alerta permanentemente.


¿Cómo va a seguir la situación después de que la nueva fecha para las elecciones sea aceptada y después de que los bloqueos se terminen?

Nosotros estamos monitoreando y denunciando que se está ejerciendo una persecución política a los dirigentes que han llamado a estas manifestaciones. Ya han salido denuncias admitidas por el Ministerio Público. Tenemos 43 aprehendidos de manera ilegal y arbitraria en Samaipata, de los cuales tres están con detención preventiva. Tenemos tres heridos de bala en San Ignacio de Moxos por estos grupos paramilitares y tenemos un pueblo herido en su dignidad. Hoy afrontamos la resistencia popular, afrontamos también la necesidad de organizarnos porque sabemos que el Estado desde los policías, los militares y sus grupos paramilitares están preparados para golpear al pueblo Y hoy, en toda esta agudización del problema solamente nos queda asumir el planteamiento de un poder popular. Tenemos la incertidumbre de si se van a realizar o no las elecciones. No es algo certero para el pueblo, pero de lo que sí tenemos certeza es de la necesidad de organizarnos, unirnos y luchar.

KLIMA DER ANGST

Foto: Jonas Klünemann

In der Kirche des Heiligen Franz von Assisi, im Stadtteil Senkata von El Alto, liegen auf den Bänken mehrere Leichen, eingewickelt in Decken. Darauf liegen Zettel mit den Namen und den Geburtsdaten der Toten. Dazwischen sitzen Angehörige, manche mit einem stieren Blick, andere weinen leise. In einer Ecke, neben dem einfachen Altar der Kirche, ist eine Pritsche aufgestellt, darauf ein Leichnam mit zwei Einschüssen, einem in der oberen linken Brust und einem im Gesicht. Vier Forensiker untersuchen die Leiche. Es ist Mittwoch, der 20. November, ein Tag nach dem Massaker im Stadtteil Senkata von El Alto. „Nicht alle haben ihre Toten in die Kirche gebracht“, meint Carlos, dessen Bruder am Vortag erschossen wurde, „sie trauen den Forensikern nicht. Wir haben beschlossen, uns nicht zu verstecken.“

Die De-facto-Regierung hat in kürzester Zeit ein Klima der Angst geschaffen, das dazu geführt hat, dass viele Menschen eingeschüchtert sind. In der öffentlichen Debatte, die auch die meisten großen Medien in Bolivien mittragen, wurden die Bewohner*innen El Altos pauschal als „MAS-Horden“ und „Terroristen“ abgestempelt. MAS steht für „Bewegung zum Sozialismus“, die Partei des ins Exil nach Mexiko getriebenen Präsidenten Evo Morales, der inzwischen nach Argentinien weitergezogen ist und dort Asyl beantragt hat, kurz nachdem der Mitte-Links-Peronist Alberto Fernández in Buenos Aires die Amtsgeschäfte übernommen hat. Kaum ein*e Journalist*in aus La Paz hat sich die Mühe gemacht, vor Ort zu recherchieren und zu berichten. Einfacher war es, die Verlautbarungen der De-facto-Regierung zu übernehmen. Der Verteidigungsminister Fernando López behauptete noch am selben Tag, die Operation sei friedlich verlaufen, es sei kein einziger Schuss abgefeuert worden. Das wiederholte auch Jeanine Áñez in der ersten Dezemberwoche in einem Interview: „So weit ich weiß, ist alles friedlich verlaufen!“

Laut den Anwohner*innen hat das Militär die tödlichen Schüsse abgegeben, so auch die Auffassung des Sicherheitsexperten Samuel Montaño, er hat Fotos von den Tatorten in Sacaba/Cochabamba und Senkata/El Alto ausgewertet. Es gibt mindestens zwei Fälle, so der Experte, bei dem Soldat*innen geschossen haben.

Von der De-facto-Regierung wird behauptet, es wäre darum gegangen, einen terroristischen Anschlag zu verhindern. In der regierungsnahen Tageszeitung Página Siete hieß es, Anhänger*innen von Evo Morales wollten ein Treibstofflager in Brand setzen. Andere Quellen ließen verlauten, dass Dynamit im Spiel gewesen sei. Bisher gibt es aber keine stichhaltigen Beweise dafür, dass es um mehr ging, als eine Blockade des Treibstofflagers. Augenzeug*innen vor Ort berichten, dass niemand mit Dynamit hantiert hat, „nicht einmal Knallfrösche hatten wir, als Polizei und Militär auf uns schossen“, meint eine Anwohnerin.

Wie die Anwohnerin wollen die meisten anonym bleiben. Es wird von Polizeibesuchen berichtet, wo den Betroffen nahegelegt wird, besser keine Aussagen zu machen, auch anonyme Drohanrufe gibt es. Das bestätigen auch Mitglieder der permanenten Menschenrechtsversammlung. „Es ist sehr schwer, im Moment als Menschen­rechts­verteidiger zu arbeiten. Das Misstrauen der Leute ist sehr groß, außerdem erhalten wir Drohungen von der Regierung“, sagte ein Mitarbeiter gegenüber den LN.

Daher bleibt bisher auch im Dunkeln, wie viele Menschen beim Massaker in Senkata umgekommen sind. Es wird berichtet, dass es neben den zehn offiziellen Toten sechs weitere gibt, bei denen die Familien sich geweigert haben, sie offiziell anzugeben. Zudem gibt es Berichte über mindestens zehn gewaltsam verschwundene Personen, von denen man nicht weiß, ob sie tot sind oder was mit ihnen passiert ist. Darunter soll, nach Zeug*innenberichten, auch ein zwölfjähriges Mädchen sein, das zwei Einschusslöcher aufwies und von Polizist*innen weggeschafft wurde.
Für die bolivianische Öffentlichkeit spielen diese „Details“ kaum eine Rolle. Die Version eines „terroristischen Anschlags“ und eines „friedlichen Polizei- und Militäreinsatzes“ stehen im Vordergrund.

45 Verletzte sind von Hilfsorganisationen in El Alto registriert worden, es wird jedoch von bis zu 100 Verletzten ausgegangen. „Von den Registrierten haben alle Schussverletzungen“, erklärt Danuta Orea, die sich mit um die Verletzten kümmert. „In vielen Krankenhäusern der Stadt wurden die Verletzten wie Terroristen behandelt. In der Holländischen Klinik ist keiner der Verletzten in den normalen Krankenzimmern untergebracht worden, sondern alle wurden im Hof abgestellt.“

Die De-facto-Regierung setzt die Stimmen, die eine unabhängige Untersuchung fordern, unter Druck. Als der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte die Ereignisse untersuchen wollte, wurde von Anhänger*innen der Regierung der Eingang zum dessen Tagungsort blockiert, Zeug*innen sollten an der Aussage gehindert werden. Lokale Menschenrechtsorganisationen wie die permanente Versammlung der Menschenrechte Boliviens oder Aktivist*innen wie die Ombudsfrau für Menschenrechte Nadja Cruz erhalten ebenfalls Drohungen. Als eine Delegation aus Argentinien unter der Leitung von Juan Grabois Ende November das Land besuchte, warnte Innenminister Arturo Murillo, man werde es nicht zulassen, dass „Ausländer aufrührerisch im Land tätig werden“ und man werde die Delegation „sehr genau beobachten“.

Dass die Regierung mehr Interesse an Verschleierung denn an Aufklärung hat, zeigt auch das Angebot, dass sie den Familien der Toten gemacht hat. Jede Familie soll rund 6.500 Euro Entschädigung erhalten, wenn sie darauf verzichtet, den Fall vor ein internationales Gericht zu bringen. Dies soll im Rahmen der „Befriedung des Landes“ geschehen. Im Rahmen der Befriedung wurde auch das Militär in die Kasernen zurückgeschickt und auch ein Dekret, das für die Soldaten*innen Straffreiheit vorsah, wieder zurückgenommen. Eine Maßnahme, die auf internationalen Druck zustande kam und der Tatsache, dass während der zehntägigen Blockade in El Alto der Regierungssitz bereits mit Engpässen bei Lebensmitteln und Benzin zu kämpfen hatte.

Kritische Stimmen in der Presse werden bedroht und angefeindet

Die De-facto-Regierung fährt eine Doppelstrategie: Während sie aufgrund des Drucks teilweise auf die Gegner*innen zugeht, versucht sie auf der anderen Seite, so weit es geht, Fakten zu schaffen und lässt viele politische Gegner*innen verfolgen. Neben mindestens 34 Toten und 700 Verletzten sind unzählige Mitglieder der MAS, Mitglieder der Wahlbehörde und andere Funktionär*innen verhaftet worden. Auch in wirtschaftlichen Fragen werden Fakten geschaffen. So verabschiedete die Regionalregierung Ende November im Departamento Beni ein neues Agrargesetz, das in Zukunft fast die Hälfte der Fläche des Departamentos als Agrarfläche ausweist – die indigene Bevölkerung wurde dazu nicht konsultiert.

Kritische Stimmen in der Presse werden massiv bedroht und angefeindet. Der bekannte Karikaturist Al-Azar hat aufgrund von massiven Drohungen gegen seine Familie aufgehört, in der Tageszeitung La Razón zu veröffentlichen. Hinter den Drohungen stecken immer häufiger paramilitärisch organisierte Gruppen, die den zivilgesellschaftlichen Bürgerkomitees des Landes nahe stehen, wie die Resistencia Juvenil Cochala aus Cochabamba.
Teile der neuen Machthaber*innen und ihre Unterstützer*innen versuchen, zu verhindern, dass die MAS bei Neuwahlen antritt. Sie müssen befürchten, dass die Partei von Morales bei einem erneuten Urnengang als Siegerin hervorgeht. Der Politologe Fernando Mayorga sieht in der MAS die einzige Kraft, die im ganzen Land eine Basis hat, während die übrigen Akteur*innen, wie zum Beispiel der neoliberale Präsidentschaftskandidat Carlos Mesa, nur im Departamento La Paz eine wirkliche Basis hat.

Die Stimmen, die sich für den Entzug der Zulassung der MAS als politische Partei aussprechen, sehen sich durch den Abschlussbericht der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bestätigt und sprechen von einem „gigantischen Wahlbetrug“. Von „Wahlbetrug“ berichtet das Abschlussdokument zwar nicht, weist jedoch auf schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen im Oktober hin. So gab es eine nicht vorhergesehene Änderung bei der elektronischen Erfassung der Stimmen, bei dem ein Server zugeschaltet wurde, der vorher nicht im System vorgesehen war. Das wertet die OAS als „vorsätzliche Manipulation“. Auch bei den Stichproben der Niederschriften der Wahlergebnisse in den einzelnen Wahllokalen gibt es bei etwa fünf Prozent der Niederschriften Unregelmäßigkeiten. Zudem stellt der Abschlussbericht fest, dass eine Überprüfung des Wahlergebnisses unmöglich ist, da ein Teil der Wahlunterlagen von Gegner*innen der MAS verbrannt wurden. Im Zuge der Unruhen nach den Wahlen gingen in den Departamentos Potosí und Chuquisaca 100 Prozent der Wahlunterlagen, in Santa Cruz immerhin 75 Prozent verloren. Am Montag nach der Wahl steckten Gegner*innen von Morales die lokalen Wahlbehörden in mehreren Departamentos in Brand.
Unter den Bürgerkomitees nehmen die Spannungen inzwischen zu. Luis Fernando Camacho, bisher Vorsitzender des Bürgerkomitees in Santa Cruz, hat sich im Alleingang zum Präsidentschaftskandidaten erklärt und damit Marco Pumari, den Vorsitzenden des Komitees in Potosí, vor den Kopf gestoßen. Eigentlich wollten beide als Duo gemeinsam kandidieren. Neben Camacho haben auch Ex-Präsident Carlos Mesa, der am 20. Oktober gegen Evo Morales angetreten war, und der evangelikale Prediger Chi Hyun Chung bereits ihren Hut in den Ring geworfen. Die MAS will voraussichtlich noch dieses Jahr klären, mit welchen Kandidat*innen sie bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr antreten wird, die voraussichtlich im März stattfinden sollen. Festgelegt hat sich die MAS schon auf ihren Wahlkampfleiter: Evo Morales.

„DIE WAHLEN SIND EINE FALLE“

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Adriana Guzmán Arroyo
ist Aymara, lesbisch und Feministin. Sie gehört der Organisation Feminismo Comunitario Antipatriarcal (Gemeinschaftlicher Anti­patriar­chaler Feminismus) an, die sich in Folge des Massakers im Gas-Krieg 2003 gebildet hat. Die Organisation verortet sich in den Protestbewegungen der Straße und kämpft gegen geschlechterbasierte Gewalt und für die Verteidigung indigener Territorien. (Foto: privat)


Wie würden Sie die aktuelle Situation in Bolivien beschreiben?
Wir erleben in Bolivien einen rassistischen Staatsstreich und Putsch gegen die sozialen Organisationen. Es ist wichtig anzuerkennen, dass es sich um einen Putsch handelt, weil wir andernfalls eine Regierung akzeptieren würden, die sich als demokratisch ausgibt, sich aber mittels Massakern, Kugeln, illegalen Festnahmen und Prozessen durchsetzt, die zu politischen Gefangenen führen. Die De-facto-Regierung hat erzwungen, dass die Geschäfte wieder öffnen und die Kinder wieder zur Schule gehen, um zu zeigen, dass Normalität herrscht. Gemeinsam mit den von ihr kontrollierten Medien hat die De-facto-Regierung eine Kampagne gestartet, in der die sozialen Organisationen, vor allem die Frauen und Indigenen, als diejenigen dargestellt werden, die Konflikte und Chaos wollen. Das stimmt nicht. Wir wollen Gerechtigkeit. Es gibt keine Normalität, nicht nachdem mindestens 34 Menschen ermordet wurden und Straffreiheit herrscht.

Welche Formen der Repression gibt es derzeit durch die De-facto-Regierung?
Das Militär hat sich nicht vollständig zurückgezogen. In bestimmten Stadtvierteln und Gemeinden führen Polizisten viele Kontrollen durch. Polizisten in Zivil, die Mitgliedern von sozialen Organisationen die ganze Zeit folgen, die uns fotografieren, die beobachten, mit wem wir in der Öffentlichkeit sprechen. Sogar heute noch, am 9. Dezember, können sie dich anhalten, dein Handy durchsuchen und dich in eine Gefängniszelle stecken. Viele politische Anführerinnen und Anführer wurden unter erfundenen Vorwänden festgenommen. Wir leben in permanenter Angst und müssen uns ständig überlegen, worüber wir im Bus oder auf der Straße sprechen. Das betrifft sowohl indigene Frauen als auch Männer, aber besonders indigene Frauen.

Inwiefern sind indigene Frauen besonders betroffen?
Nur einen Monat nach dem Putsch haben wir als Frauen bereits viel verloren. Die Angriffe, die Gewalt, die Erniedrigung von indigenen Frauen, die pollera [Anm. der Redaktion: Rock der Aymara- und Quechua-Frauen] tragen. Aufgrund eines neuen Dekrets darf im Außenministerium zum Beispiel niemand mehr in pollera oder mit aguayo [Anm. der Redaktion: Umschlag- und Tragetuch aus gewebter Wolle] arbeiten, alle müssen Anzug und Krawatte tragen.

Die Frauen, die sich gegen Faschismus und Rassismus stellen, wurden dafür bestraft. Vor allem Aymara-Frauen, sowohl in der Stadt als auch in den indigenen Gemeinden. Wir können nicht mehr ohne Angst durch die Straßen laufen wie vor zwei Monaten, weil sich der Rassismus verschärft hat. Vor dem Putsch hat auch Rassismus existiert, aber er war nicht straffrei. Da es einen plurinationalen Staat gab, konnten sie dir nicht einfach sagen „scheiß India“ oder „geh studieren, bevor du mit mir sprichst“. Heute können sie dich voller Abscheu anschauen und den Sitzplatz wechseln. Heute können sie dich überall misshandeln und demütigen. Viele Menschen, die den Putsch nicht direkt unterstützen, nutzen den Moment, um ihren zuvor unterdrückten Rassismus herauszulassen. Heute Morgen ging ich zur Bank und hatte dort einen Streit, weil sie mir sagten, dass ich mit meinen umgebundenen Tragetüchern nicht in der Bank sein darf. Sie fragten mich, warum ich nicht lernen würde, wie man zur Bank geht? Schon jetzt hat sich unser Leben grundlegend geändert.

Welche Rolle spielt die Justiz in dieser Situation?
In dieser Zeit des Putsches mit bewaffneten Gruppen und illegalen Verhaftungen gibt es kein Gesetz. Sie, der Putsch, sind das Gesetz. Du hast niemanden, bei dem du dich beschweren kannst. Wenn ich zum Beispiel verfolgt werde, wen soll ich dann anzeigen und wo? Die Polizei, die tötet? Das Militär? Bei der Justiz, die zu Unrecht Menschen ins Gefängnis bringt? Zwei unserer Genossinnen sind im Gefängnis und werden wegen Terrorismus verfolgt. Eine von ihnen hat mit einer wiphala, der Flagge der indigenen Völker, an einem Protestmarsch teilgenommen, die andere ist ohne Anlass auf der Straße verhaftet worden.

Diese Justiz hat zum Beispiel die Mitglieder des Wahlgerichtshofes inhaftiert, obwohl noch keine Untersuchung einen Wahlbetrug nachgewiesen hat. Die Präsidentin des Wahlgerichts, María Eugenia Choque, eine indigene Aymara, die die pollera trägt, wurde verhaftet, gefoltert und im Fernsehen in Handschellen vorgeführt, so als ob sie eine große Kriminelle wäre, und ohne Recht auf Verteidigung direkt ins Gefängnis gebracht. Andererseits wurden Anfang Dezember zwei verurteilte Frauenmörder freigelassen, ein weiterer steht kurz davor. Zwölf Vergewaltiger sind straffrei geblieben. Da es kein Gesetz gibt, sind die Richter nun vermutlich korrupt. Schon vorher war die Gerechtigkeit für uns Frauen eine schwierige Sache, aber jetzt ist es schlimmer. Wenn du eine Anzeige machst, wirst du verhaftet.

Die De-facto-Regierung hat Neuwahlen versprochen …
Ich und meine Organisation denken, dass die Wahlen eine Falle sind. Entweder die Wahlen werden gar nicht stattfinden oder sie werden unter den Bedingungen realisiert werden, die die De-facto-Regierung diktiert. Momentan gibt es keine Demonstrationen und keine Straßenblockaden mehr. Das hat die De-facto-Regierung erreicht, indem sie eine Vereinbarung mit dem Gewerkschaftsdachverband COB und verschiedenen sozialen Organisationen zur Befriedung des Landes abgeschlossen und Neuwahlen versprochen hat. In dieser Vereinbarung steht, dass die Anführer der Proteste nicht verfolgt werden, aber die Regierung hält sich nicht an ihr Wort.

Wie ist angesichts dessen die Strategie der sozialen Organisationen hinsichtlich der Wahlen?
Manche meinen, dass wir gar nicht an den Wahlen teilnehmen sollten. Andere denken, dass die Partei der Bewegung zum Sozialismus (MAS, Partei des aus dem Amt geputschten Präsidenten Evo Morales, Anm. d. Red.) verschwinden sollte, aber die meisten planen sie wieder als politisches Instrument zu nutzen, denn letztendlich ist es die einzige Möglichkeit, um an den Wahlen teilzunehmen.

Im ersten Moment nach dem Putsch herrschte ein allgemeiner Terror, in dem sich unsere politischen Anführerinnen und Anführer versteckt haben. Nun sind wir in einem zweiten Moment, in dem wir verstehen, dass es uns lähmt, wenn wir uns von der Angst fressen lassen. Also streiten wir auch wieder auf den Straßen. Derzeit gibt es zwei Dimensionen des Kampfes. Zum einen Versammlungen und Diskussionen zwischen den verschiedenen Organisationen, um den Widerstand vorzubereiten. Zum anderen müssen auch die Wahlen vorbereitet und Kandidaten gesucht werden. Für uns als antipatriarchale gemeinschaftliche Feministinnen ist wichtig, dass ein Mann und eine Frau gemeinsam antreten. Wir glauben, dass Bündnisse mit der Mittelschicht nicht mehr funktionieren. Als Evo und Álvaro García Linares (ehemaliger Vizepräsident, Anm. der Red.) Kandidaten waren, repräsentierte Álvaro García die Mittelschicht. Aber die Mittelschicht ist rassistisch und erträgt nicht, dass wir nicht mehr ihre Angestellten sind. Deshalb sind sie auf die Straße gegangen und haben gesagt, dass Evo ein Diktator ist.

Als Wahlen angekündigt wurden, haben die Protestierenden die Blockaden aufgegeben. Sie haben gesagt, dass Sie die Wahlen für eine Falle halten. Wird darüber nachgedacht, wieder zu mobilisieren?
Es war ein Fehler die Blockaden aufzugeben, aber es gab auch einen sehr starken Druck und außerdem fehlende Einigkeit. Es ist nicht wie 2003 während des Gaskrieges, den wir auf der Straße durchstehen konnten. Die Organisationen sind jetzt geschwächter. Wären wir auf der Straße geblieben, wären wir allerdings gestärkt worden, denke ich. Es gibt zwei kritische Momente, die sicher zu einer erneuten Mobilisierung führen werden, weil sie nicht durch Dialog gelöst werden können: Erstens wenn sie versuchen, der MAS unter dem Vorwand von Betrug und Unregelmäßigkeiten die Zulassung als politische Partei zu entziehen – denn das ist einer der Pläne der De-facto-Regierung. Und dann am Tag nach den Wahlen, falls sie durch Stimmen oder Betrug gewinnen.

Dazu kommt noch die wachsende Empörung und Wut über die Toten, über die Straffreiheit und über die Erniedrigung durch die Gewährung einer Entschädigung von 7.000 Dollar pro Toten seitens der Regierung, wenn die Familien unterschreiben, dass sie niemals eine juristische Untersuchung anstrengen werden.

Wer sind die Gruppen im Widerstand? Sind sie sich einig in ihren Forderungen?
Es gibt verschiedene Organisationen im Widerstand gegen den Putsch: Die Kleinbauernvereinigung, indigene Organisationen, Arbeiterorganisationen und Frauenorganisationen. Natürlich gibt es Uneinigkeit. Das hängt auch damit zusammen, dass wir mehr als 13 Jahre Teil des Staates gewesen sind, in denen es große Machtkämpfe und sehr viel Konkurrenz gab, etwa um Ministerämter. Viele Anführerinnen und Anführer repräsentieren die Basis nicht mehr. Aber es gibt Gemeinsamkeiten, zum Beispiel dass die Massaker nicht hingenommen werden und die Verantwortlichen für die Toten nicht straffrei bleiben dürfen. Wir von Feminismo Comunitario Antipatriarcal (Gemeinschaftlicher Antipatriarchaler Feminismus) gehören zum Beispiel nicht zur MAS. Aber wir kämpfen gegen den Staatsstreich, gegen den Faschismus, gegen den Fundamentalismus, gegen die Zwang zur Bibel.

Gleichzeitig müssen wir auch Selbstkritik üben. Uns Feministinnen ist es wichtig, die patriarchalen Pakte von Evos Regierungszeit überwinden zu helfen. Wir haben es nicht geschafft, den Staat zu kontrollieren, die extraktivistische Politik zu beenden, den Kampf gegen Gewalt gegenüber Frauen zur Priorität zu machen. Wir haben es auch nicht geschafft, den Bergbau zu verstaatlichen, denn transnationale US-Unternehmen nehmen sich weiterhin das gesamte Erz des Landes. Ich erzähle das, weil es eine reduzierte Sichtweise des Feminismus gibt, der strukturelle Aspekte ausklammert.

Können Sie das näher ausführen?
Der Feminismus verwechselt oft die Konzepte des Patriarchats und des Machismus. Das hat auch mit der Theorie zu tun, die vor allem in Europa entwickelt wurde, wo zum Beispiel von machistischer Gewalt gesprochen wird. Luis Fernando Camacho etwa, der den Staatsstreich anführt und die reichsten Unternehmer des Landes, die Großgrundbesitzer, vertritt: Menschen wie er haben Kapital und Land, in ihrer täglichen Praxis leben sie von der Ausbeutung von Frauen in ihren Territorien, in ihren Ländern, in ihren Unternehmen, in ihren Fabriken. Sie fördern die Kultur der Gewalt der Bosse; sie vermeiden es Steuern zu zahlen, machen im Bergbau Geschäfte, haben Holzfirmen, fördern den Faschismus. So jemand ist ein Patriarch, auch wenn er wie etwa Camacho in seinen Äußerungen Frauen gegenüber sehr respektvoll ist. Evo Morales ist dagegen bekanntermaßen ein Macho: Er macht Witze über Frauen und glaubt, dass wir Frauen uns doppelt oder dreifach anstrengen müssen, um zu beweisen, dass wir fähig sind. Das ist schlimm für einen Präsidenten, aber dennoch stellt ihn das nicht auf die gleiche Stufe wie die Putschisten. Letztlich ist das Patriarchat etwas Strukturelles, das mit dem Kapitalismus in Verbindung steht, während der Machismus ein Verhalten ist.

Kann der Putsch auch eine Gelegenheit bieten, um Kritiken an Evo Morales‘ Regierung, die aus der indigenen Basis kommen, umzusetzen?
Durch den Putsch haben sich die Organisationen im Kampf, im Widerstand gegen die Unterdrückung auf der Straße getroffen. Dadurch haben wir unsere Zersplitterung erkannt. Es war auch ein Moment der Autonomie, denn nicht alle Protestierenden unterstützten Evo. Wir haben versäumt, die Führungsperson zu wechseln, auch wenn Evo ein wichtiges Symbol in diesem Prozess ist, als indigener Präsident, der von der Straße, aus der Gewerkschaft kommt. Viele haben gesagt, es geht hier nicht nur um Evo, sondern darum, unsere Organisationen wiederaufzubauen, uns wieder zu vereinen mit dem Ziel, den Staatsstreich rückgängig zu machen.

Was können wir von hier aus tun, um Sie zu unterstützen? Was erwarten Sie von Aktivist*innen und den Regierungen in Europa?
Den Putschisten ist es egal, wenn wir im Land protestieren und wenn sie uns töten. Aber die De-facto-Regierung besteht aus Geschäftsleuten, die Rohstoffe durch transnationale Unternehmen aus Europa und den USA ausbeuten lassen wollen. Der internationale Druck tangiert sie. Es ist nötig, dass ihr in Europa und USA gegen diese Unternehmen kämpft, die hier durch Bergbau und Wasserkraftwerke die Wälder zerstören. Mehr noch als uns hier zu unterstützen, brauchen wir, dass ihr dort kämpft, damit diese Unternehmen nicht mehr herkommen. Es ist wichtig, dass der Putsch und die Verbrechen auf internationaler Ebene verurteilt werden und dass die Gewerkschaften, sozialen Organisationen, politischen Parteien, Regierungen, das EU-Parlament und der US-Kongress die De-facto-Regierung als solche betrachten und nicht als demokratisch gewählte. Dieser Druck ist wichtig.

“LAS ELECCIONES SON UNA TRAMPA”

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Adriana Guzmán Arroyo
es aymara, lesbiana y feminista comunitaria. Es parte de la organización Feminismo Comunitario Antipatriarcal, una organización que viene de la masacre del gas del 2003. Viene de la lucha contra el patriarcado en la calle y lucha principalmente contra la violencia hacia las mujeres y por la defensa del territorio. (Foto: privado)


¿Cómo caracterizaría la situación actual en Bolivia?
En Bolivia vivimos un golpe de estado, un golpe racista hacia las organizaciones sociales. Es importante para nosotras que se reconozca, porque de lo contrario, estaríamos aceptando un gobierno que se impone con masacre, con balas, con detenciones y procesamientos ilegales, y con presos políticos. El gobierno tiene una campaña con los medios de comunicación para mostrar que en Bolivia hay dos grupos, el grupo de aquellos que quiere la normalidad, la paz, el trabajo, y el grupo de los que queremos el conflicto, o sea el problema somos las organizaciones sociales – principalmente, las mujeres y las indígenas. Y eso no es así. En realidad, las organizaciones queremos justicia, queremos vivir con un gobierno que no sea una dictadura ni un masacrador. El gobierno ha obligado a que los negocios vuelvan a funcionar y a los niños a que vayan a la escuela. Nosotras también necesitamos trabajar para comer, pero no podemos volver a la normalidad con un gobierno de facto, con la impunidad, con la injusticia de 34 personas asesinadas en la masacre, los cuerpos, las personas desaparecidas y los presos políticos.

¿Cómo describiría la ofensiva del gobierno hacia la resistencia?
A pesar de que el gobierno de facto ha dicho que daría garantías a los dirigentes políticos y a pesar de que haya convocado a la paz, los militares no se han retirado del todo. Hay mucho control en determinados barrios, hay muchos policías de civil, que todo el tiempo están siguiendo y fotografiando a quienes somos de organizaciones sociales, a quienes ya hemos hablado públicamente. Aún hoy, 9 de diciembre 2019, hay policías de civil que pueden detenerte, revisar tu celular y llevarte a la celda. Todavía hay muchos dirigentes que están siendo procesados. Se les están inventando causas, juicios. Por distintos motivos la represión sigue en medio de esta cortina de impunidad y desinformación. Hay un miedo permanente a hablar en espacios públicos, miedo de lo que no puedes decir en el bus, de cosas que no puedes hablar en la calle. Esto es un tema principalmente para los indígenas, pero, sobre todo, para las mujeres indígenas.

¿Cómo han sido afectadas las mujeres indígenas en particular?
En este mes de golpe ya ha habido grandes pérdidas. Los ataques, la violencia, el escarmiento, la humillación a las mujeres de pollera, a las mujeres indígenas. Por ejemplo, la cancillera ahora ha sacado un decreto en el que dice que nadie que trabaje en la cancillería puede llevar pollera, ni aguayos, todos tienen que vestir traje y corbata. O sea, no puede haber más indígenas en la cancillería, y si los hay, no pueden vestirse como indígenas.

Han dado escarmiento a las mujeres que pueden posicionarse frente al fascismo, al racismo; principalmente mujeres indígenas, mujeres aymaras, o que se reconocen como tales.  Ya sea que vivamos en la ciudad o en las comunidades, de cualquier manera, ya no podemos andar como andábamos hace dos meses, tranquilas en la calle, porque el racismo se ha profundizado. Antes también había racismo, pero no era impune. Como había un estado plurinacional, una discusión de las organizaciones, no podían humillarte, discriminarte impunemente en la calle. No podían decirte “india de mierda” o “anda a estudiar y después me respondes”. Hoy si pueden hacerlo. Hoy la gente puede mirarte con asco y cambiarse de asiento. Hoy pueden maltratarte en cualquier lugar, porque el golpe ha desatado ese racismo y mucha gente, que tal vez no está directamente apoyando al golpe, aprovecha el momento para mostrar su racismo. Porque su racismo estaba contenido. Entonces le da asco que estemos en la calle. Esta mañana he ido al banco y he tenido una discusión, porque me han dicho que no puedo estar con bultos en el banco. Me dijeron: “¿Por qué no aprendes a ir al banco?” Ahora, la gente puede ser racista impunemente. Nuestra vida ha cambiado.

¿Cuál ha sido el rol del sistema judicial en esta situación?
En este tiempo de golpe, donde ha habido grupos armados, donde hay detenciones ilegales, no hay ley. La ley es el gobierno mismo, el golpe. No tienes a quien recurrir y entonces la justicia comienza a operar con su cara más patriarcal. No tienes con quién quejarte. Por ejemplo, a mí, si me persiguen, ¿a quién voy a denunciar? ¿a la policía que mata? ¿a los militares? ¿a la justicia que ha encarcelado injustamente? Nosotros tenemos dos compañeras en la cárcel procesadas por terrorismo, porque una estaba en una marcha con una wiphala, la bandera de los pueblos indígenas, y otra estaba pasando por ahí, ni siquiera estaba en la marcha.

Esa justicia, por ejemplo, ha encarcelado a las autoridades de la corte electoral. No hay una investigación aún, que haya comprobado que hubo fraude. Pero están encarcelados. La presidenta de la corte electoral, María Eugenia Choque – una mujer indígena, aymara de pollera – ha sido detenida, torturada, exhibida en la televisión con esposas como si fuera una gran delincuente y ha sido transferida directamente a la cárcel sin derecho a la defensa. Por otro lado, a comienzo de diciembre han sido liberados dos femicidas, dos asesinos de mujeres que ya tenían sentencias. Han quedado impunes 12 violadores y estamos en un juicio de otro femicida que está a punto de quedar impune. Los jueces, como no hay ley, son corruptos. Si antes ya era difícil la justicia para las mujeres, hoy es peor. Ya no puedes ni siquiera hacer una denuncia, sino vos terminas detenida.

¿Qué opina sobre las elecciones que anunció el gobierno?
Nosotras como organización creemos que las elecciones son una trampa. Es muy difícil que el actual gobierno de facto vaya a una elección donde tienen la posibilidad de perder. Ellos van a suspender las elecciones o a manipularlas para mantenerse en el gobierno. Si pierden van a generar otra vez una movilización y desestabilización con el fin de no dejar el gobierno. Ahorita ya no hay movilizaciones ni bloqueos, ni cortes de rutas, ni marchas. Ya se ha desmovilizado. El gobierno de facto ha logrado eso diciendo que las elecciones son la solución, haciendo un acuerdo de paz. Pero ese acuerdo se incumple.

 ¿Cuál es la estrategia de las organizaciones sociales para las elecciones?
Hay quienes creen que no se debe ir a elecciones. Otros creen que el Movimiento al Socialismo (MAS) tiene que desaparecer. Ahí hay diferentes posiciones, hay fragmentación evidentemente. Hay ruptura en muchas organizaciones y hay organizaciones indígenas que no están de acuerdo con el MAS. Pero la gran mayoría está pensando en volver a utilizarlo como instrumento político, porque al final es el único que queda. Es la única sigla posible para ir a las elecciones.El primer momento del golpe ha sido de terror generalizado, donde los dirigentes se han escondido. Era muy difícil encontrar dirigentes en la calle. Ahora estamos en un segundo momento, entendiendo que nos vamos a paralizar si nos dejamos comer por el miedo. En este momento hay dos dimensiones de la lucha, una es estar en cabildos permanentes, en discusiones más amplias entre las organizaciones para ir preparando la resistencia. La otra es prepararse también frente a las elecciones. Aunque crea que son una trampa, igual hay que prepararse, buscar candidatos, discutir entre las organizaciones. Nosotras creemos que si se participa en las elecciones, se debe hacerlo con una fórmula indígena. Creemos que ya no son posibles los pactos con la clase media. Cuando fueron candidatos Evo y Álvaro García Linares, Álvaro García representaba a la clase media, a la intelectualidad. Pero es esa clase media la que hoy es racista, no soporta que ya no seamos sus empleadas. Por eso ha salido a protestar diciendo que el Evo era dictador, que quiere tener toda la administración del Estado.

Cuando se anunciaron las elecciones para marzo cesaron las manifestaciones. Pero, ustedes piensan que pueden ser una trampa. ¿Están pensando en volver a manifestar?
Primero, fue un error parar las movilizaciones, pero había una presión muy fuerte y una desunión en nuestras organizaciones sociales. No es como en el 2013 en la masacre del gas, en la que pudimos resistir en las calles. Las organizaciones están más debilitadas, pero pienso que en la calle nos hubiéramos fortalecido.

Yo veo dos momentos de riesgo. El primero, cuando intenten anular las siglas del MAS, porque ese es uno de los planes que tiene el gobierno de facto. Allí habrá movilizaciones. Y si no, el día después de las elecciones cuando ganen, ya sea por los votos o con fraude. Para nosotras esto no se va a poder resolver dialogando, esto se va a tener que resolver en las calles. Yo veo esos dos momentos concretos acompañados por la indignación por los muertos, por la impunidad y por la humillación, humillación causada por el gobierno dando una indemnización de siete mil dólares por muerto y haciendo que las familias firmen que jamás van a hacer una investigación.

¿Cuáles son los grupos en resistencia? ¿Hay unidad?
Las organizaciones que estamos esperando para volver a las manifestaciones son: la Confederación de Campesinos, organizaciones de los pueblos originarios, organizaciones obreras y organizaciones de mujeres. No hay unidad, porque el haber estado en el Estado por más de 13 años ha hecho que esa unidad se rompa. Entre las organizaciones había mucha disputa de poder, mucha competencia, por ejemplo, por cargos de ministros, y había muchos dirigentes que ya no representan a las bases. Pero si hay cosas comunes como, por ejemplo, que no se puede permitir la masacre. Ellos no pueden quedar impunes por los muertos. Nosotras del Feminismo Comunitario Antipatriarcal no somos parte del MAS, pero estamos en lucha y resistencia frente al golpe de estado, frente al fascismo, frente al fundamentalismo, frente a la imposición de la Biblia.

Pero también necesitamos hacer una autocrítica. Como feministas, es importante para nosotras hacer nuestro aporte sobre los pactos patriarcales que ha habido en el gobierno de Evo Morales. No hemos logrado hacer un control del estado, no hemos logrado que se acaben las políticas extractivistas, no hemos logrado que la lucha contra la violencia hacia las mujeres sea una prioridad. No hemos logrado nacionalizar la minería, las transnacionales estadounidenses siguen llevándose todo el mineral del país, sin parar, regalado. Digo esto porque a veces hay una mirada reducida del feminismo, como que no se ocupa de los asuntos estructurales.

¿Podría profundizar un poco más en esto?
Yo creo que el feminismo a veces confunde los conceptos del patriarcado y del machismo. Tiene que ver también con la teoría que se ha hecho principalmente en Europa donde se habla, por ejemplo, de violencia machista. Para nosotras la violencia es patriarcal. Por ejemplo, este empresario Luis Fernando Camacho quien encabeza el golpe de estado y representa a los empresarios con más dinero del país, es decir, a los terratenientes, sí es un patriarca. Ellos tienen el capital, tienen tierras, explotan a hombres y a mujeres, fomentan una cultura de violencia que tienen los patrones; evaden impuestos, tienen negocios en el extractivismo, tienen empresas madereras, fomentan el fascismo. Entonces una persona así sí es un patriarca; a pesar de que Camacho en su discurso respeta mucho a las mujeres, no ha hecho ningún comentario machista, pero racista sí. Por otro lado, no es una novedad que Evo Morales sea machista: hace chistes sobre las mujeres, cree que las mujeres tenemos que esforzarnos el doble o el triple para probar que somos capaces. Y eso era aún peor porque Evo no es cualquier hombre, es el presidente. Aun así, esto no lo pone en el mismo lugar que a los fascistas que están haciendo el golpe de estado. Evo no es patriarca. Por último, el patriarcado es estructural y el machismo es una conducta.

¿Cómo ve esta cuestión de la autocrítica en el actual proceso que están viviendo las distintas organizaciones sociales?
Con el golpe de estado las organizaciones nos encontramos en la calle, en la lucha, en la resistencia, en la represión y nos dimos cuenta de que estábamos fragmentadas. Como decía, ser parte del poder y del Estado nos había hecho también daño. Esa autocrítica ha salido de las calles, nos hemos olvidado de nuestros valores: “no seas flojo, no seas mentiroso, no seas ladrón”. Esos son los principios que tenemos como pueblo, nuestra cosmovisión. Nos hemos olvidado de eso. También ha sido un momento de autonomía, no es que todas las manifestaciones en la calle respondían a Evo. Nos hemos olvidado de rotar la autoridad, porque si bien Evo es importante por ser un símbolo en este proceso – es un presidente indígena que no viene de la universidad, viene de la calle, viene del sindicato – había muchas organizaciones que decían que este ya no es un asunto solamente del Evo, sino de cómo nos reconstruimos como organizaciones. Hay que aprovechar este momento para reconstruir, para sanar esas heridas, para volver a unificarnos entre organizaciones con el fin de revertir el golpe de estado.

¿Qué espera de lxs activistxs y de la política europea en ese proceso?
Al gobierno golpista no le importa si dentro de Bolivia protestamos o nos matan. Sin embargo, el gobierno está conformado por empresarios y ellos tienen intereses madereros, tienen interés en el gas, en el petróleo de empresas transnacionales fundadas con dinero de Europa y de los Estados Unidos. Entonces les va a preocupar la presión internacional. Más que nos apoyen a nosotras aquí, necesitamos que luchen allá para que esos capitales que vienen a nuestros territorios, que devastan los bosques con la minería y las hidroeléctricas ya no lleguen aquí. Se necesita solidaridad internacional para posicionarse frente al golpe. Es importante que los sindicatos, las organizaciones sociales, los partidos políticos a través de sus diputados en la Unión Europea, en el Congreso de los Estados Unidos, denuncien internacionalmente al golpe y a los crímenes y que reconozcan que es un gobierno de facto, no un gobierno democrático. Esa presión va a ser muy importante.

EVOS UNVOLLENDETER SCHACHZUG


Salzhügel im Salar de Uyuni Unter den bolivianischen Salzseen liegen die größten Lithiumreserven der Welt (Foto: Pierre Doyen via flickr.com, CC BY-NC-ND 2.0)

Irgendwann in den turbulentesten Tagen der jüngeren bolivianischen Geschichte schickte die bolivianische Regierung eine kurze Mitteilung an die Öffentlichkeit. Zehn Tage nachdem sich Evo Morales zum Sieger in der ersten Runde der Stichwahl erklärt hatte und sechs Tage vor dem Putsch der Opposition erklärte der Präsident die Rücknahme des Dekrets über die Gründung eines deutsch-bolivianischen Joint Venture zur Lithiumindustrialisierung. Gründe nannte er nicht.

Und so tappten in den Tagen darauf selbst Insider im Dunkeln. Wolfgang Schmutz, Chef des deutschen Unternehmens ACI Systems, das den Zuschlag für den Abbau der Lithiumvorkommen erhalten hatte, erklärte, er habe beim Duschen morgens im Radio von der Entscheidung der bolivianischen Regierung erfahren. Da er noch nicht offiziell informiert worden sei, arbeitete seine Firma erst einmal weiter an den Plänen für die Lithiumförderung. Die Bundesregierung erklärte sich genauso ahnungslos und selbst in höheren Kreisen von Morales’ Partei MAS, der Bewegung zum Sozialimus, wusste man nichts.

Umso überraschender war es, als Evo Morales eine Woche nach seiner Flucht nach Mexiko vor einer dpa-Kamera erzählte, dass er, wäre er noch Präsident, das Projekt doch realisieren wollte. Ein in Bolivien weitgehend unbekanntes Interview. Was war passiert, dass Evo Morales so kurzfristig eines seiner Paradeprojekte stoppte?

Noch im Dezember 2018 sah die deutsch-bolivianische Lithiumwelt ganz anders aus. Beide Seiten sparten bei der Vertragsunterzeichnung zur Förderung des bolivianischen Lithiums nicht mit Superlativen. Für die einen sollte es der große, selbstbestimmte Schritt zur Industrialisierung werden, für die anderen die Zukunftsgarantie der nationalen Automobilindustrie. Neben dem Präsidenten war der bolivianische Außenminister Diego Pary extra gekommen, und auch der deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier ließ es sich nicht nehmen, die Gründung des Gemeinschaftsunternehmens aus der bolivianisch-staatlichen YLB und der baden-württembergischen ACI Systems zu verkünden.

Kurzfristig stoppte Morales sein Paradeprojekt

Ab 2022 sollten 30.000 bis 40.000 Tonnen Lithiumhydroxid pro Jahr gefördert und eine Batteriefabrik gebaut werden. Die deutsche Seite (ACI mit Unterstützung des Fraunhofer-Instituts und der thüringischen K-Utec) sollte die Technik liefern, die bolivianische trug derweil die Hauptinvestitionslast, sollte dafür aber auch mit 51 Prozent Anteilen die Oberhand über das Unternehmen behalten. Als Teil des Deals sollte das Lithium zunächst einmal exklusiv nach Deutschland exportiert werden, das sicherte der deutschen Automobilindustrie den Zugriff auf das Basismaterial für Elektroautobatterien und der bolivianischen Seite einen Abnehmermarkt.Es sollte der erste Schritt der Ausbeutung der größten Lithiumreserven der Welt sein, die unter den bolivianischen Salzseen liegen. Die Regierung Evo Morales wollte die Asymmetrien der Weltwirtschaft brechen und nicht wie seit 400 Jahren nur Rohstofflieferant für die Industrienationen sein, sondern weitere Wertschöpfungsketten im eigenen Land behalten.

Statt der vorgesehenen 70 Jahre hielt der Deal wohl nicht einmal ein Jahr – zumindest nach aktuellem Stand.

Ausbeutung der größten Lithiumreserven der Welt

„Die Hauptmotivation für Evos Entscheidung war, die Proteste in Potosí einzudämmen“, vermutet Ressourcenexperte Oscar Campanini vom bolivianischen Dokumentations- und Informationszentrum CEDIB. Diese Protestbewegung entwickelte sich von April bis August 2019 in der Stadt Potosí, Hauptstadt der Region Potosí in deren Westen in Uyuni die großen Lithiumreserven liegen.Dabei ging es der Widerstandsbewegung vor allem um die niedrige regionale Beteiligung an den Gewinnen des Lithiumprojekts. Gerade einmal die gesetzliche Mindestquote von drei Prozent wurde dem Departamento Potosí zugestanden und das auch nur auf die Gewinne der reinen Rohstofferlöse. Beim Erlös aus weiterverarbeiteten Produkten wie Batterien greift die Beteiligung nicht.

Während der Gouverneur von Potosí seiner Partei MAS und seinem Chef Evo Morales die Treue hielt und die Pläne der Regierung unterstützte, führte das Bürgerschaftskomitee (Comité Cívico Potosinista) die Proteste an. An der Spitze: Marco Pumari – ein bisher national unbedeutender Lokalpolitiker, der Sohn eines Bergmanns ist und seine indigenen Wurzeln verleugnet. Unter Pumari forderte das Komitee elf statt drei Prozent Beteiligung und schaffte es außerdem, ein schon lange schwelendes Gefühl der Benachteiligung in einen immer stärker werdenden Regionalismus umzuwandeln. In Potosí lagern historisch einige der größten Schätze des Landes und trotzdem ist es bis heute eine der ärmsten Regionen Boliviens. Auf den Anti-Lithium-Demonstrationen wurde die Flagge von Potosí zum Standardutensil.

Das Bürgerschaftskomitee von Potosí, getragen von lokalen Vereinen, Unternehmer*innen und Organisationen, rief zum regionalen Streik gegen das Projekt auf und entwickelte sich zu einer wichtigen oppositionellen Kraft des Moments. So sehr, dass sich die Regierung der MAS kurz vor den Wahlen auf einen Dialog einließ. Morales versprach, in eine Batteriefabrik in Potosí zu investieren und den Hauptsitz der staatlichen Lithiumfirma YLB nach Uyuni zu verlagern.

30.000 bis 40.000 Tonnen Lithiumhydroxid pro Jahr

Doch an den Beteiligungsquoten wollte die Regierung festhalten und deswegen war es für Campanini auch „kein wirklicher Dialog auf Augenhöhe“.

Als dann in den Nachwahl-Wirren der Druck auf Morales und die MAS stieg, zogen von Potosí mehrere Karawanen Richtung La Paz um den Rücktritt des Präsidenten zu fordern. Als sich auch die Bergbau-Kooperativen, die trotz eines angespannten Verhältnisses immer hinter der MAS gestanden hatten, als wichtiger Machtfaktor den Protesten anschlossen, stoppte Evo Morales kurzerhand die bisherigen Pläne für den Lithiumabbau, um die frühere MAS-Hochburg Potosí zu besänftigen. Es konnte ihn nicht retten.

Das Militär putschte und Evo Morales meldete sich aus dem Exil per Video: Wäre er noch Präsident, würde das Lithiumprojekt umgesetzt. Im selben Video sagte er, die Opposition in Potosí wüsste nicht, wie viel Schaden sie dem Land verursache und sei von chilenischen Berater*innen über die Lithiumpläne getäuscht worden. Chile dient dabei in Bolivien durch die Wegnahme des Meerzugangs als Dauerfeindbild. Evo erklärte im selben Video noch etwas Bemerkenswertes: Die Verhandlungen mit den Bürgermeister*innen und Vertreter*innen der Region Uyuni im Westen des Departamento Potosí über eine Autonomie von Potosí seien schon sehr fortgeschritten gewesen. Wollte Evo also die lithiumreiche Region aus dem Departamento Potosí abspalten und sich so der lauten Beteiligungsforderungen entledigen? Dabei hätte ihm in die Karten spielen können, dass in Uyuni wiederum ein Benachteiligungsgefühl gegenüber der Stadt Potosí herrscht.

Zumindest spielte dieses zentralistische Politikverständnis einer zweifelhaften Opposition in die Hände. Das Bürgerschaftskomitee und Marco Pumari konnten so eine durchaus legitime Forderung nach höherer Beteiligung für sich vereinnahmen. Nach dem Sturz der MAS-Regierung hatte sich Pumari mehrfach an der Seite des rechtsradikalen Bürgerkomitee-Führers Luis Fernando Camacho aus Santa Cruz gezeigt. Zuletzt erklärte er, bei den nächsten Präsidentschaftswahlen gemeinsam mit Camacho kandidieren zu wollen.

Die Bundesregierung soll vermitteln

Somit scheint das Lithium statt zum Segen der Ära Morales zu ihrem Fluch geworden zu sein. Während Pumari sich als Regionalist einen Namen gemacht hat, musste Juan Carlos Cejas, MAS-Gouverneur von Potosí, unter Bedrohungen zurücktreten. Immerhin schaffte es die MAS, jemand aus den eigenen Reihen als Nachfolger einzusetzen.
Inwieweit sich die deutsche Seite auf Neuverhandlungen mit einer zukünftigen Regierung einlässt, bleibt abzuwarten. Von Seiten des Unternehmens ACI Systems wurde geäußert, dass man dort von einer Fortsetzung des Projekts ausgehe, jedoch die rechtliche Situation gemeinsam mit bolivianischen Partnern prüfe. ACI Systems will am bisherigen Vertrag festhalten und fordert die Bundesregierung zur Vermittlung auf. Auch Ressourcenexperte Campanini kann sich nicht vorstellen, dass mit der Rücknahme des Dekrets das letzte Wort im deutsch-bolivianischen Deal bereits gesprochen ist: „Ich glaube nicht, dass es so einfach ist, eine solche Entscheidung zu treffen, die so sehr die bilateralen Beziehungen zu Deutschland betrifft.“

DIE PUTSCHE UNSERER ZEIT

17.11.2019

Aufgrund der Diskussionen darüber, wie die Geschehnisse in Bolivien politisch einzuordnen sind, wollen wir unsere Position als Redaktion der Lateinamerika Nachrichten transparent machen. Die Ereignisse überschlagen sich derzeit. In der letzten Woche haben wir noch nach einer gemeinsamen Position zum Rücktritt von Evo Morales und dem Putsch gesucht. Angesichts der Rücksichtslosigkeit und Geschwindigkeit, mit der die neuen Machthaber*innen in Bolivien ihre reaktionären Ziele verfolgen, tritt dies nun schon fast in den Hintergrund.
 
Wenn das bolivianische Militär in Zukunft auf Demonstrant*innen schießt, muss es keine Konsequenzen fürchten. Nur wenige Tage nach ihrer Selbsternennung zur Präsidentin von Bolivien unterzeichnete die zweite Senatsvizepräsidentin Jeanine Áñez am 15. November ein Dekret, das  dem Militär bei der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung” Straffreiheit zusichert. Kurz darauf töteten in Cochabamba mutmaßlich Schüsse der Polizei mindestens neun Menschen
 
Die eskalierende Gewalt in Bolivien macht nochmal deutlich, dass die Übergangsregierung nicht demokratisch ist. Sie ist das Ergebnis eines Putsches: Weil die Amtszeit von Evo Morales regulär noch bis Ende Januar gelaufen wäre. Weil er auf den öffentlichen Druck hin Neuwahlen angekündigt hat. Weil er nur Stunden danach durch das Militär gedrängt wurde, zurückzutreten es war kein freiwilliger, sondern ein erzwungener Rücktritt. Zwar war Morales’ Wahl von Betrugsvorwürfen überschattet. Schon vor einer Klärung der Vorwürfe hat die rechte Opposition jedoch das Ergebnis abgelehnt und auf Umsturz gedrängt.
 
Sehen wir uns die Putsche der letzten Jahre an – Honduras (2009), Paraguay (2012), Brasilien (2016) – so laufen sie nicht mehr nach dem Schema der früheren Militärdiktaturen der 1960er und ’70er Jahre ab. Keine Militärjunta mehr, die einen Präsidentenpalast stürmt und alle Anwesenden umbringt oder in Folterlager steckt. Die Rechte hat sich verändert: Sie hat die Strategie entwickelt, undemokratische Aktionen mit demokratischem Vokabular zu vereinnahmen und versucht so, ihnen politische und parlamentarische Legitimität zu verleihen. 
 
Das beginnt mit der angeblichen Verteidigung der „Menschenrechte“, der Freiheit” und der „Meinungsfreiheit“, die unter den progressiven Regierungen in Gefahr sei, und führt dann über die Aneignung der Protestformen auf der Straße schließlich zu einer scheinbar demokratischen Legitimität eines Machtwechsels. Dabei sind die Bemühungen rechter Bewegungen und Parteien, sich einen demokratischen Anstrich zu geben, rein äußerlich und nicht sonderlich nachhaltig. Es geht höchstens um unternehmerische Freiheit. Die Gewalt kommt erst danach, sie ist nicht so öffentlich wie in den 1970ern, aber dennoch real.
 
In El Alto, der zweitgrößten Stadt Boliviens direkt neben der Hauptstadt La Paz, mobilisierten an diesem Wochenende Unterstützer*innen von Evo Morales. Sicherheitskräfte schossen scharf auf sie. Gegner*innen der MAS-Bürgermeisterin der Stadt Vinto, Patricia Arce, übergossen sie mit roter Farbe und schleppten sie barfuß und mit geschorenem Kopf durch die Straßen. Wiphala-Flaggen wurden verbrannt – das Symbol der Plurinationalität, das die verschiedenen indigenen Sprachen und Kulturen als festen Bestandteil Boliviens anerkennt. Diese und andere Gewalttaten befördert Boliviens neue De-Facto-Regierung. Und es könnte noch schlimmer werden.
 
Die Akteur*innen des rassistischen und klassistischen Umsturzes bezeichnen diesen als verfassungsmäßig. Als Jeanine Áñez sich selbst zur Präsidentin ernannte, stand sie jedoch vor einem nicht funktionsfähigen Parlament: Die Mehrheit der Abgeordneten war abwesend – ob aus Protest oder aus Angst vor Repression. Sie ist nicht demokratisch legitimiert. Und selbst wenn sie es wäre, bestünde ihre Aufgabe als Interimspräsidentin in erster Linie darin, Neuwahlen auszurufen – stattdessen lässt sie politische Gegner*innen verfolgen und krempelt die bisherige Außenpolitik Boliviens um, wie etwa durch den Austritt aus dem Regionalbündnis ALBA. Unabhängig davon, wie kritisch oder wie solidarisch man mit Evos Regierung ist, steht fest: Diejenigen, die nun den Machtanspruch erheben, sind keine Demokrat*innen. 

 

EVO MORALES IM ABWÄRTSTREND

Konfrontation Protest in La Paz im Oktober (Foto: Paulo Fabre via wikimedia, CC BY-SA 4.0)

„Ich habe dreimal Evo Morales gewählt“, erklärte mir eine Bekannte kurz nach der Wahl in einem mondänen Café im reichen Süden von La Paz und seufzte, „dieses Mal ging es wirklich nicht mehr, aber Carlos Mesa konnte man eigentlich auch nicht wählen.“ Das Statement bringt das ganze Dilemma derjenigen zum Ausdruck, die in der Präsidentschaftswahl gerne Kandidat*innen gesehen hätten, die sich mit Vorschlägen, wie sie das Land gestalten wollten, einbringen. Stattdessen wurde seit Anfang des Jahres in Bolivien vor allem darüber gestritten, wer ein legitimer Kandidat für die Wahlen sei.
Evo Morales lastet ganz klar der Makel an, dass er in einem Referendum 2016 kein Mandat für eine weitere Wiederwahl erhalten hatte. Eine knappe Mehrheit stimmte damals gegen eine Verfassungsänderung. Damit blieb die Amtszeit eines Präsidenten oder einer Präsidentin auf zwei direkt aufeinanderfolgende Wahlperioden beschränkt. Das Verfassungsgericht hebelte diese Regelung Ende 2018 für Evo Morales aus und ebnete so den Weg zur erneuten Kandidatur.
Das umstrittene Wahlergebnis liegt im Rahmen des Erwartbaren. Evo Morales verlor massiv an Stimmen, blieb dennoch mit Abstand Wahlsieger, der zweitplatzierte rechtskonservative Carlos Mesa schnitt etwas stärker ab als erwartet. Auf dem dritten Platz landete als Überraschungskandidat Chi Hyun Chung, der durch sein strikt konservatives, antifeministisches und homophobes Familienbild den Kandidat der Cruzeños, (der Tieflandbewohner*innen um Santa Cruz) Oscar Ortíz, auf den vierten Platz verwies.
Da es bei der Auszählung der Stimmen am Wahlabend des 20. Oktober zu Unstimmigkeiten kam – zunächst lag Carlos Mesa nur sieben Punkte hinter Evo Morales, am nächsten Tag waren es mehr als zehn Prozentpunkte – akzeptierte die Opposition das Ergebnis nicht. Bereits vor den Wahlen hatte die Opposition eine reguläre Durchführung der Wahlen angezweifelt und verkündet, es würde ein Wahlbetrug organisiert. Am Montag nach den Wahlen kam es im Süden des Landes, in Potosí, Sucre und Tarija zu heftigen Ausschreitungen. Es wurden Straßenbarrikaden errichtet und Büros der Wahlbehörde in Brand gesetzt.

In Santa Cruz rief die Opposition zu einer unbefristeten Blockade auf


In Santa Cruz rief die Opposition zu einer unbefristeten Blockade auf. Seitdem ist die Wirtschaftsmetropole des Landes paralysiert. Auch im Süden des Landes gibt es Blockaden und Proteste. In anderen Regionen, wie dem Regierungssitz La Paz, gibt es zwar Proteste, diese haben bisher jedoch nicht die gleiche Kraft entfaltet. Hier kommt es bisher nur teilweise zu Störungen des öffentlichen Lebens, vor allem wegen Demonstrationen nahe des Regierungspalastes. In El Alto, der zweitgrößten Stadt, die indigen geprägt ist, verläuft das Leben weitgehend normal. Im Panorama der Proteste spiegelt sich die Spaltung des Landes wider, die sich bereits in den Wahlergebnissen zeigten.
„Man kann den Verschleiß von Evo Morales und seine Entfernung von der Bevölkerung nicht mehr leugnen“, meint der Journalist Julio Prado und ergänzt: „Er kam an die Macht, weil er einmal Teil der einfachen Leute war. Aber in den vergangenen fünf Jahren hat er keinen Kontakt mehr zu den Leuten.“ In der Tat haben sich Regierung und Präsident in der vergangenen Regierungsperiode weiter von einer Regierung mit Beteiligung der sozialen und indigenen Bewegungen entfernt und immer mehr mit traditionellen Methoden des Machterhalts regiert. Es handelt sich hier um eine Rückkehr der paternalistischen Republik, in der klientelistische Strukturen und Loyalitätsverhältnisse eine wichtigere Rolle spielen als themenorientierte Politik. Unter diesen Bedingungen ist eine Polarisierung entstanden, die, so der Wirtschaftswissenschaftler Huáscar Salazar, „die Kämpfe wie den Widerstand gegen den Extraktivismus tendenziell unsichtbar macht.“
Das Regierungshandeln basiert schon seit längerer Zeit auf der Vertiefung eines extraktivistischen Wirtschaftsmodells auf der Basis der Ausbeutung von Rohstoffen. Forderungen wie die Autonomie indigener Gebiete, der Schutz von Mutter Erde, einer alternativen wirtschaftlichen Entwicklung oder der Bildungsreform, wurden weitgehend ins Reich der Sonntagsreden verwiesen. Für Gabriel Villalba, ein junger Anwalt aus La Paz und MAS-Anhänger, ist diese Politik notwendig: „Es ist blauäugig, zu glauben, dass ein alternatives Wirtschaftsmodell ohne eine wirtschaftliche Entwicklung möglich ist. Zuerst müssen wir die Wirtschaft mit der Ausbeutung der Ressourcen entwickeln, und dann können wir über Alternativen nachdenken. Wir haben in den vergangenen Jahren große Erfolge erzielt.“

Experten*innen der OAS zählen die Stimmen aufgrund der Wahlbetrugsvorwürfe erneut aus


Die MAS, Partei von Evo Morales, setzte im Wahlkampf von Anfang an darauf, dass die gute Wirtschaftslage ausreichen würde, um die Wähler*innen zu überzeugen, dass es gut sei, weitere fünf Jahre mit der MAS zu leben.
Seit Anfang November ist klar: Es ist alles andere als sicher, ob Morales auch die nächsten fünf Jahre an der Macht bleibt. Im Moment zählen Expert*innen der OAS die Stimmen aufgrund der Wahlbetrugsvorwürfe erneut aus. Das Ergebnis wird in den kommenden Tagen erwartet. Die Opposition hat jedoch bereits angekündigt, dass sie das Ergebnis nur dann anerkennt, wenn die OAS einen Wahlbetrug feststellt und die Wahl annulliert. Zudem werden seit einigen Tagen die Stimmen immer lauter, die einen sofortigen Rücktritt von Evo Morales fordern. Das zeigt, dass in der Opposition immer mehr radikale Kräfte die Oberhand gewinnen. Inzwischen hat Fernando Camacho, Vorsitzender des Bürgerkomitees von Santa Cruz, den Präsidentschaftskandidaten Carlos Mesa als Oppositionsführer in der öffentlichen Erscheinung abgelöst. Der frühere Vorsitzende der Jugendvereinigung Santa Cruz (Unión Juvenil Cruceñista), einer paramilitärisch organisierten ultrarechten Gruppe, die zu Beginn der Regierung von Morales mit rassistischen Aktionen gegen Indigene auf sich aufmerksam machte, redet bei den Versammlungen gerne mit der Bibel in der Hand. Er hat inzwischen offen zum Sturz der Regierung aufgerufen und gebärdet sich in Anlehnung an Venezuelas Oppositionsführer als bolivianischer Guaidó. Im Gegensatz zu Mesa kann Camacho jedoch noch weniger im Hochland punkten, damit hat sich die Spaltung auch regional verfestigt.
Die MAS schart derweil ihre Anhänger*innen um sich. Das sind vor allem die sozialen Organisationen, die seit Jahren im Bündnis mit der Regierung stehen, wie die Frauenorganisation Bartolina Sisa, die nationale Koordination für den Wandel (CONALCAM) oder den Gewerkschaftsverband COB. Das Problem dabei: Die Politik der vergangenen Jahre und die Strategie der Spaltung hat die Loyalitätsverhältnisse innerhalb der Gewerkschaft zur MAS ausgehöhlt. Ein Resultat ist, dass der Gewerkschaftsverband COB in seiner Position gespalten ist. Während die nationale Führung hinter Morales steht, haben sich einige regionale Verbände der Opposition angeschlossen. Auch innerhalb der indigenen Bevölkerung genießt die Regierung lange nicht mehr den Rückhalt.
Die Opposition hat ein größeres Interesse an einer Verschärfung des Konflikts auf der Straße, denn nur so kann sie den Druck auf Morales aufrecht erhalten. Immer wieder kommt es zu heftigen Zusammenstößen zwischen Regierungsanhänger*innen und Oppositionellen. Am 6. November starb in Cochabamba ein Demonstrant, der dritte Tote im bisherigen Konflikt. In diesen Tagen ist der ultrarechte Fernando Camacho erneut nach La Paz gereist. Dort hat er mit den oppositionellen Cocaleros (Bewegung der Cocabäuerinnen und -bauern) eine Verbrüderung inszeniert.

Die Opposition hat ein Interesse an einer Verschärfung des Konflikts auf der Straße


Es scheint so, als ob er schnell eine Entscheidung sucht und den Druck jetzt am Regierungssitz konzentrieren will. „Bis 11. November wird Evo Morales zurücktreten“, hat er angekündigt und ergänzt, „ich bleibe in La Paz, bis die Regierung abgedankt hat.“ Ob die Strategie der Spannung aufgeht, ist jedoch ungewiss. Bisher sind die Truppen, die er in La Paz aufbieten kann, begrenzt. Die Studierenden der Universität UMSA in La Paz haben wenig Kampferfahrung und die Organisation der Kokabäuerinnen und -bauern, ADEPCOCA, mit der er sich verbündet hat, ist durch interne Auseinandersetzungen geschwächt. Die Mittel- und Oberschicht aus den Stadtvierteln Zona Sur und Sopocachi organisieren Blockaden, die aber oft nur von neun bis fünf und mit Mittagspause stattfinden.

Die verschiedenen Fraktionen der Opposition sind sich nur in der Ablehnung von Evo Morales einig

Zudem gibt es einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung, die zwar Morales nicht mehr wollen, Camacho aber noch weniger. Viele wollen Camacho nicht folgen, vor allem in La Paz nicht und im indigenen El Alto noch weniger. Die Radikalisierung der Opposition zeigt ihre Schwäche. Denn die verschiedenen Fraktionen einigen sich in der Ablehnung von Evo Morales, ansonsten sind sie aber zersplittert.
Allmählich beginnt sich die Position stärker zu artikulieren, die sich auf keine der beiden Seiten stellt. Maria Galindo, bekannte Feministin in Bolivien, machte bereits vor der Wahl deutlich, dass sie keinen der „Streithähne“ für wählbar hält. Dafür wurde sie von den Evo-Gegner*innen heftig ausgebuht. Fernando Camacho hält sie für einen Faschisten, der weder Frauen, noch die Rechte der Indigenen respektiert. Es sind vor allem Frauen, die in den vergangenen Wochen Versammlungen im ganzen Land organisierten, um alternative Positionen zu bestimmen. Shezenia Hannover, Aktivistin aus El Alto: „In der jetzigen Situation ist es wichtig, die Zivilgesellschaft zu stärken, damit wir die soziale Kontrolle zurück gewinnen und bestimmen können, wer regiert.“ Im Moment scheint es jedoch unmöglich, mit einer themenorientierten Position durchzudringen. Der Journalist Julio Prado sieht hier erst eine Möglichkeit in ein bis zwei Jahren: „Sollte Morales im Amt bleiben, dann bestünde die Möglichkeit, dass sich die Gesellschaft reorganisiert und in zwei Jahren ein Abwahlverfahren organisiert, das wäre laut Verfassung möglich.“

 

WIRTSCHAFT GUT, EVO GUT

„Bolivien sagt Nein“ Slogan des Außenseiterkandidaten Oscar Ortíz (Foto: Paula Fischer)

Die ausgedehnten Waldbrände überschatten Evo Morales’ jüngste Erfolge: Händeschütteln auf der Expocruz, der größten Messe Boliviens, Blitzlichtgewitter, zufriedene Gesichter. Boliviens Präsident verkündete im Juli, dass man mit China übereingekommen sei, Rindfleisch dorthin zu exportieren. Óscar Ciro Pereyra, Präsident der bolivianischen Viehzuchtvereinigung Congabol, zeigte sich hoch erfreut über den Deal. Zur gleichen Zeit unterzeichnete der Präsident ein Dekret, das in den Departamentos Santa Cruz de la Sierra und Beni „kontrollierte Feuer“ im Rahmen des Modells der nachhaltigen Bewirtschaftung des Waldes zuließ, um die landwirtschaftlichen Flächen des Landes zu erweitern. Was dann geschah, waren keine kontrollierten Feuer, sondern ein Flächenbrand in den Trockenwäldern der Chiquitanía im Osten des Landes, der eine Fläche etwa der Größe Brandenburgs vernichtet hat. Jeder Hektar mehr kostet Morales Stimmen. Wirtschaftsexpert*innen warnen schon, dass das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts sich durch die Feuer von den vorhergesagten vier Prozent in diesem Jahr auf zwei Prozent halbieren könne.
Der Journalist Tuffi Aré aus Santa Cruz vergleicht den Wahlkampf in Bolivien mit einem Fußballspiel: „Bis zu den Waldbränden schien die MAS mit 4:2 in Führung zu liegen.“ Man versuchte das Spiel zu kontrollieren, gab sich staatstragend und hielt sich in den Auseinandersetzungen weitgehend zurück. „Jetzt könnte die Situation kippen“, denn wie überall auf der Welt macht sich auch die junge und städtische bolivianische Bevölkerung, die gut ein Drittel der Stimmen und die unentschlossenste Gruppe von Wähler*innen ausmacht, zunehmend Sorgen ums Klima.
Bringen die Feuer in der Chiquitanía den Vorsprung von Evo Morales ins Wanken? Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat die Umfragen der vergangenen fünf Jahre untersucht und kommt zum Ergebnis, dass Morales seit dem Jahr des Referendums 2016 einen Aufwärtstrend verzeichnen konnte. Im November 2016 war die Zustimmung mit 27 Prozent am niedrigsten, als der Staatschef an einer erneuten Wiederwahl festhielt, obwohl er die Abstimmung um die Verfassungsänderung verloren hatte. Seitdem ging es jedoch bergauf. Im ersten Halbjahr erreichten die Zustimmungswerte ein gutes Drittel. Der größte Widersacher von Evo Morales, Carlos Mesa, kam nach der Zusammenfassung der Umfragen lediglich im November 2018 an den Staatschef heran, als er seine Kandidatur verkündete. Seitdem verliert er an Zustimmung und liegt nun bei Zustimmungswerten von 25 bis 27 Prozent. Ein Grund dafür ist die zunehmende regionale Stärke eines weiteren Kandidaten, Oscar Ortíz von der Wähler*innenvereinigung Bolivia Dice No („Bolivien sagt Nein“), die vor allem in den Tiefland-Departamentos hohe Zustimmungswerte erreicht und landesweit auf rund zehn Prozent kommt.
Inwiefern die jeweiligen Einzelumfragen und ihre Zusammenfassung aber ein genaues Bild zeichnen, ist fraglich. Zum einen gibt es die bereits erwähnten städtischen Jungwähler*innen, die weniger an traditionelle politische Lager gebunden sind und sich in den Umfragen unentschlossen zeigen. Zum anderen gibt es die ländlichen Wähler*innen aus den sogenannten zerstreuten Regionen, die von keiner Umfrage erfasst werden. Die im Andenhochland oder im amazonischen Urwald lebende Bevölkerung hat ein anderes Wahlverhalten als die städtischen oder stadtnah lebenden Wähler*innen und macht etwa ein Fünftel der Wähler*innen aus.
Meist liegen diese abgelegenen Regionen geografisch gar nicht sehr abgeschieden. Nicht weit vom Regierungssitz La Paz entfernt, wo die Anden zerklüftet und schwer zugänglich ins Tiefland abbrechen, befinden sich kleine Bergwerkstollen. In den provisorischen Minen wird von kleinen Kooperativen oft Gold geschürft, häufig unter unsicheren Bedingungen und selten unter Einhaltung von Umweltstandards. Die mineros (Bergleute) hatten vor drei Jahren einen heftigen Konflikt mit der Zentralregierung. Mehrere Bergleute wurden von der Polizei getötet, außerdem kam der Staatssekretär Rodolfo Illanes ums Leben, als er in die Hände der protestierenden Bergleute geriet. Es ging damals um die Kontrolle des Bergbaus. Den Konflikt gewann die Bewegung zum Sozialismus (MAS) von Evo Morales, die nach dem Tod des Staatssekretärs mit harter Hand gegen die Kooperativen durchgriff. Bis heute wirkt der Konflikt nach: „Die mineros werden dennoch Evo Morales wählen“, davon ist Veronika Cardenas* überzeugt. Die junge Umweltingenieurin macht Fortbildungen mit den Kooperativen und bereist die abgelegenen Orte des Departamentos La Paz. Ihrer Meinung nach hat die MAS es geschafft, die Führungskräfte der Kooperativen auf ihre Seite zu ziehen. „In letzter Zeit sieht man öfter modernes Gerät in den Bergwerken, das kommt von der MAS“, meint sie, „die Chefs der Kooperativen sind gekauft und die werden dafür sorgen, dass die Mehrheit der Bergleute die Regierung wählen“.
Immer wieder kursieren Gerüchte, dass die MAS Gruppen von Wähler*innen gezielt in solchen Regionen platziert, um den Wahlsieg zu sichern. Grundsätzlich kann sich jede Wählerin und jeder Wähler in Bolivien registrieren lassen, wo er oder sie möchte, der Wohnort verpflichtet nicht zu dortigen Registrierung.
Ob alle abgelegenen Regionen automatisch mehrheitlich die MAS wählen, ist indes nicht ausgemacht.

„Die mineros werden dennoch Evo Morales wählen“

Grundsätzlich ist das Land gespalten. Im Tiefland haben sich Indigene auf den Weg gemacht, um gegen die Feuer im östlichen Tiefland und das Krisenmanagement der Regierung zu protestieren. Auch in den Städten herrscht ein gewisser Unmut über die Zentralregierung. Von daher könnte Tuffi Aré recht damit behalten, die verheerenden Feuer könnten den Präsidenten entscheidende Stimmen kosten, die zumindest zu einer Stichwahl führen könnten. Hunderttausende gingen wegen der Feuer am 4. Oktober in Santa Cruz auf die Straßen und forderten, Morales bei der Wahl abzustrafen. An dem Protestzug nahmen auch indigene Gruppen aus dem Amazonasgebiet teil. Um in der ersten Runde zu gewinnen, müssen mindestens 40 Prozent der Stimmen und ein Vorsprung von zehn Punkten gegenüber dem Zweit­pla­zier­ten erreicht werden._Auf der anderen Seite gibt es auf dem Land Menschen, die die Brandrodungen durchführen und im Prinzip für die Feuer verantwortlich sind. Diese wollen das Vorhaben der Regierung umsetzen, die landwirtschaftlichen Flächen in Bolivien zu erweitern. Und so vom in Aussicht stehenden Geschäft mit China profitieren.
„Natürlich hat unsere Regierungspolitik eine extraktivistische Komponente“ meint Gabriel Villalba, Anwalt und Aktivist der MAS, „alles andere wäre blauäugig.“ Die Ausbeutung der Ressourcen sei notwendig, um das Land zu entwickeln, „erst in einer zweiten Stufe können wir darüber nachdenken, eine andere Wirtschaftsform zu entwickeln.“ Damit meint er die Idee einer gemeinschaftlichen Ökonomie, die im Regierungsprogramm der MAS steht, von der die Partei aber seit geraumer Zeit abgerückt ist. Priorität haben momentan der Bergbau, die Industrialisierung des Batterie-Grundstoffs Lithium und der Ausbau der Landwirtschaft. So hatte es der Vizepräsident Álvaro García Linera vor zwei Jahren in der Zeitung La Razón verkündet. Das Projekt der Industrialisierung Boliviens hat Evo Morales Stellvertreter erst bei einer Rede am 6. August beim Nationalfeiertag betont. Dabei erklärte er auch, dass Bolivien seiner Meinung nach mehr für den Klimaschutz tue als andere Länder, „Bolivien hat laut Weltbank 5.465 Bäume pro Einwohner, Deutschland hat 107 Bäume“. Auch beim CO2-Ausstoß liege Bolivien mit 1,9 Tonnen pro Kopf weit hinter Deutschland, wo pro Einwohner*in immerhin neun Tonnen CO2 verbraucht würden.
Während die MAS versucht, das Thema der größten Waldbrände seit Jahren in der Öffentlichkeit so klein wie möglich zu halten und hofft, dass der Spuk vor den Wahlen vorbei ist, versuchen die beiden Herausforderer Morales’, Carlos Mesa und Oscar Ortíz, naturgemäß politisches Kapital daraus zu schlagen. Beide warfen der Regierung Unfähigkeit in Sachen Brandbekämpfung vor. In der Tat hat die Regierung das Ausmaß der Feuer unterschätzt. Allerdings wissen auch Morales’ Herausforderer, dass zu einer wirtschaftlichen Entwicklung auch eine Ausweitung der landwirtschaftlichen Produktion gehört. Denn trotz der immensen Flächen, die das Land hat, importiert Bolivien noch immer Nahrungsmittel.
Im Wahlkampf bekämpfen sich Oscar Ortíz und Carlos Mesa fast schärfer untereinander, als dass sie Morales angehen. Sie haben es bisher versäumt, eine klare Abgrenzung zur Regierungspolitik im Themenfeld Wirtschaft zu finden. Carlos Mesa versucht mit Korruptionsbekämpfung zu punkten. Oscar Ortíz hat den Hauptpunkt seines Wahlprogramms im Namen seiner Wähler*innenvereinigung Bolivia Dice No zur Wiederwahl von Evo Morales. Dies bezieht sich auf das Referendum von 2016, bei dem eine knappe Mehrheit der Bolivianer*innen gegen eine mögliche Aufstellung von Evo Morales zur Wiederwahl gestimmt hatte. Entgegen dieser Entscheidung hatte das Verfassungsgericht 2017 allerdings seine erneute Kandidatur als Präsident erlaubt. Am 20. September verkündete der Ex-Sprecher der Bürger*innenplattform (Comunidad Ciudadana) von Carlos Mesa, Diego Ayo, in der Presse, Ortíz habe ihm viel Geld angeboten, um einen Krieg gegen Carlos Mesa anzuzetteln.
Die Uneinigkeit der Opposition erhöht die Chancen, dass Evo Morales die Wahl vielleicht schon in der ersten Runde gewinnt. Denn dazu kommt, dass im Land keine Wechselstimmung herrscht und über 50 Prozent glauben, dass der alte Staatslenker auch der neue sein wird. Allerdings mit einem knappen Ergebnis und eventuell einem Parlament, dass von der Opposition beherrscht wird. Denn neben dem Präsidentenamt werden auch die 36 Sitze des Senats und die 130 Mandate im Abgeordnetenhaus neu vergeben.

 

MORALES’ DOPPELMORAL

Illustration: Joan Farías Luan

Eine Fläche etwa so groß wie Schleswig-Holstein ist den Flammen bereits zum Opfer gefallen. Besonders hart trifft es die Savannenregion Chiquitanía im östlichen Departament Santa Cruz. Das wichtige Ökosystem verbindet die beiden größten Biome Südamerikas, den Amazonas und den Gran Chaco. Von der Koordination der indigenen Organisationen des Amazonasbeckens (COICA) wurden Morales und Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro nun gleichermaßen zu unerwünschten Personen erklärt. „Die indigenen Völker machen die Regierungen der Präsidenten Jair Bolsonaro und Evo Morales verantwortlich für den physischen, ökologischen und kulturellen Genozid, der aktuell im Amazonas passiert”, heißt es in einer Erklärung.
Seit seinem Amtsantritt 2006 präsentiert sich Morales, national und international, als Verteidiger der Pachamama (Mutter Erde). „Meine Großeltern, meine Eltern und meine Gemeinschaft haben mich gelehrt, dass das Land unsere Mutter ist, es ist unser Zuhause, das respektiert und geschützt werden muss“, sagte Morales im April 2016 vor der UN-Versammlung. An solchen Worten wird er nun, da ein großer Teil Boliviens in Flammen steht, gemessen. Zu seinem Nachteil, denn seine Politik der vergangenen Jahre hat die aktuelle Katastrophe begünstigt.
Bereits 2015 erließ Morales Regierung das Gesetz 741, das die Rodung von bis zu 20 Hektar großen Grundstücken „zur Entwicklung von Land- und Viehwirtschaft im Einklang mit Mutter Erde“ erlaubt. Tatsächlich ist die Vorlage von nachhaltigen Bewirtschaftungsplänen für eine solche Genehmigung jedoch keine Praxis. Was der Ent­waldung zumindest bisher stellenweise Einhalt gebot, war eine Verordnung von 2001, aus der Zeit vor Morales Präsidentschaft. Diese verlangte zumindest für die Entwaldung in Santa Cruz, wo die Brände momentan besonders verheerend sind, Sondergenehmigungen, und stellte Brandrodung in Forst- und Schutzgebieten unter Strafe.
Im Juli dieses Jahres jedoch änderte Morales diese Verordnung mit dem Dekret 3.973. Dieses erlaubt seitdem „kontrollierte“ Brandrodungen zur Gewinnung landwirtschaftlicher Flächen auch in Santa Cruz und dem angrenzenden Amazonas-Departement Beni. Die Regierung begründete dies mit Bevölkerungswachstum und einer erhöhten internen wie externen Nachfrage nach Nahrungsmitteln. Auf einer Pressekonferenz sagte Morales, Kontrollen seien wichtig, dass es sich aber um kleine Familien handele, die sonst nicht zu essen hätten. „Wovon sollen sie leben? Es geht um einen halben Hektar für Mais, um die Situation des Kleinerzeugers, um einen Hektar Reis zum Überleben. Es sind jetzt andere Zeiten, wir müssen die Normen anpassen“, so Morales.
Umweltorganisationen haben da jedoch ihre Zweifel. Für sie hängen die Brände mit der Entscheidung der Regierung zusammen, die Grenzen für die industrielle Landwirtschaft und Viehzucht zu erweitern. „Die ganze Verwüstung ist das Ergebnis einer irrationalen Wirtschaftspolitik, die auf den Ausbau von Monokulturen und die Ausweitung der Viehzucht abzielt“, heißt es in einer Stellungnahme der Nationalen Koordination für die Verteidigung Indigener und Bäuerlicher Territorien (Contiocap). Das Dekret galt vielen offenbar als grünes Licht für die chaqueos, dem Verbrennen von Wäldern, der billigsten Methode der Entwaldung. Mutmaßlich wurden die Feuer, wie auch in Brasilien, durch Brandstifter aus der Landwirtschaft ausgelöst, um Weideflächen für die exportorientierte Fleischproduktion zu schaffen.
Bisher war Bolivien nicht gerade als Exportland bekannt, aber das soll sich bald ändern. Ende August, als die Flammen in Santa Cruz am höchsten schlugen, feierte Evo Morales im selben Departmento offiziell den Export der ersten Tonnen bolivianischen Rindfleischs für den chinesischen Markt. Erst im April hatte China seinen Markt für bolivianische Fleischimporte geöffnet. Der Präsident des bolivianischen Fleischproduzentenverbands Congabol, Oscar Ciro Pereyra, sagte, das Ziel bestehe darin, bis 2030 eine Produktion von 200.000 Tonnen Fleisch zu erreichen, was einem Umsatz von 900 Millionen Dollar entspricht und Bolivien zu einem der 15 Länder mit den größten Fleischexporten machen würde.
Und auch das Ausmaß der Flächen, die durch Morales Gesetze zur Rodung freigegeben wurden, spricht eine deutliche Sprache. Der Gouverneur von Beni, Alex Ferrier, zeigte sich nach der Unterzeichnung des Dekrets 3.973 erfreut, da dadurch „bis zu neun Millionen Hektar landwirt­schaftliche Nutzfläche entstehen könnten“. Bei einem halben Hektar für Kleinproduzent*innen wäre das ausreichend für 18 Millionen solcher Kleinproduzent*innen – allein in Beni – bei einer Einwohner*innenzahl von elf Millionen in ganz Bolivien.
Mehr als 80 Umweltorganisationen werfen der Regierung nun „Ökozid“ vor und fordern die Abschaffung des Gesetzes 741 und des Dekrets 3.973. Die Regierung der Bewegung zum Sozialismus (MAS) weigert sich jedoch, diese Regelungen aufzuheben. Stattdessen schlug Evo Morales ein großes „Rückgewinnungsprogramm“ für die zerstörten Gebiete vor, das sich auf die Phase nach den Bränden konzentrieren werde. Er verkündete zudem eine „ökologische Pause“, während der der Verkauf von verbranntem Land bis zu dessen Regeneration verboten ist, sodass aus den illegalen Brandrodungen zumindest vorerst kein Profit zu schlagen ist.
Doch noch brennt es und vielerorts ist die Lage nicht unter Kontrolle. Tausende Soldat*innen und Freiwillige kämpfen seit Wochen gegen die Feuer. Nach massivem Druck aus der Zivilbevölkerung hat Morales internationale Hilfe ange­fordert, diese kommt unter anderem aus Argentinien, Peru und Chile. Und auch Russland, China und die EU schicken Geld und Expert*innen.
Eigentlich steckt Bolivien gerade mitten im Wahlkampf. Am 20. Oktober sind Präsidentschaftswahlen, bei denen auch Evo Morales für eine vierte Amtszeit kandidiert. Den Wahlkampf hat Morales derweil offiziell ausgesetzt. Videos im Netz zeigen ihn im blauen Overall der Brigadistas, wie er in Chiquitanía mit Spaten und Wasserschlauch gegen die Flammen kämpft – manchmal ist kein Wahlkampf eben auch Wahlkampf. Lange blieb er jedoch nicht, denn am nächsten Tag erwartete man ihn schon zu der offiziellen Feier anlässlich der ersten China-Fleischexporte.
Morales’ Anti-Umwelthaltung ist nicht neu. Sein Versuch, eine Straße durch den TIPNIS-Nationalpark zu bauen (siehe LN 519/520), markierte bereits vor Jahren das Ende der Unterstützung von Teilen seiner Basis. Obwohl erste Umfragen ein knappes Ergebnis voraussagen, ist es dennoch unwahrscheinlich, dass die aktuelle Kritik an Morales ihn bei den anstehen Wahlen den Sieg kosten könnte. Nichtsdestotrotz steht Evo Morales vor der Herausforderung, seine Fehler zu korrigieren, das heißt das Gesetz 731 und das Dekret 3.973 aufzuheben und eine Gesetzgebung anzuwenden, die Umweltkriminalität verfolgt und bestraft. Andernfalls bleibt unklar, was ihn in Sachen Umweltpolitik von Bolsonaro unterscheidet und seine Inszenierung als Verteidiger der Pachamama rechtfertigt.

 

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